
Archiv der Kategorie: Belletristik
Uther, Hans-Jörg (Hrsg.) – schönsten Märchen und Geschichten zur Weihnachtszeit, Die
Märchen und Geschichten gehören zur Advents- und Weihnachtszeit wie Lebkuchen oder Kerzenlicht. Diese besondere Sammlung trägt dieser Stimmung Rechnung, wenn auch auf ungewöhnliche Art. Literarische Werke von Theodor Storm, E.T.A. Hoffmann, Oscar Wilde und Theodor Fontane geben sich ein Stelldichein mit Volksmärchen aus Irland, Norwegen, dem Odenwald und der Lüneburger Heide. Alle haben mehr oder weniger mit Weihnachten zu tun, und sei es auch nur ganz am Rande.
Die ersten drei Geschichten über Frau Holle, Nikolaus und Christkind gehören zusammen und erzählen in ganz eigener Weise, wie das Christkind nach Europa kam. Die Mischung aus heidnischen Überlieferungen und christlichem Gedankengut ist für manchen vielleicht überraschend und gewöhnungsbedürftig, gleichzeitig aber auch Darstellung eines Übergangs. Gerade zu einer Zeit, als viele Menschen nicht lesen und schreiben konnten, wurde noch viel in Bildern und Symbolen gedacht, insofern spiegelt sich hier die Christianisierung einer Volksseele, die uns so nicht mehr bewusst ist, weil wir inzwischen schon so lange in einer christlichen Umgebung aufwachsen.
Außer diesen dreien ist lediglich „Das Tannenbäumchen“ ein echtes Weihnachtsmärchen. Die übrigen Volksmärchen haben ihren Bezug zu Weihnachten nur im Zeitpunkt der Handlung, die sich selbst nicht unbedingt um Weihnachten dreht.
Die literarischen Texte dagegen rücken Weihnachten als Fest wesentlich stärker in den Mittelpunkt. Die meisten sind gar nicht als Weihnachtsgeschichten geschrieben, da sie aber großteils für diesen Band onehin zu lang wären, wurden die entsprechenden Abschnitte als Auszüge aufgenommen oder der Text wurde ggf. gekürzt. So entstanden Momentaufnahmen in den unterschiedlichsten Stimmungen, von ausgelassener Fröhlichkeit in „Weihnachtsabend“ aus Wilhelm Raabes „Die Chronik der Sperlinggasse“ über Melancholie in „Da stand das Kind am Wege“ aus Storms „Immensee“ bis hin zu Verzweiflung in Tiecks „Weihnacht-Abend“.
Insgesamt fand ich die Auswahl der Texte recht gelungen, mit zwei kleinen Ausnahmen. „Die verwünschte Burg“, ein irisches Elfenmärchen, spielt zwar an Weihnachten, es fehlt ihr aber im Hinblick darauf jegliches Flair, irgendwie passt sie nicht in den Kontext des Buches. Außerdem wirkt sie gegen Ende abgehackt und hinterlässt das Gefühl, dass das doch nicht alles gewesen sein kann. Ich vermisste einen Kern in der Geschichte. „Der Wolf angelt“ erwähnt das Wort Weihnachten überhaupt nicht, und obwohl die Geschichte an sich nicht wirklich schlecht war, fragte ich mich, warum sie in diese Sammlung aufgenommen wurde. Auch hier fehlt der Bezug zum eigentlichen Thema des Buches.
Oscar Wildes „Der glückliche Prinz“ spielt ebenfalls nicht ausdrücklich an Weihnachten, was in diesem Fall aber überhaupt nicht stört, da die Aussage der Geschichte zu Weihnachten passt.
Entgegen der gängigen Kurzbeschreibung nicht enthalten sind „Die Schneekönigin“ und „Väterchen Frost“, was ich vor allem angesichts der erwähnten beiden „Fehlgriffe“ äußerst bedauerlich finde.
Positiv aufgefallen ist mir, dass die Texte sprachlich nicht überarbeitet wurden, bzw. dass Uther sie nicht in modernes Deutsch übertragen hat. In vielen modernen Ausgaben haben die Märchen dadurch einen Großteil ihres Zaubers verloren.
Dasselbe gilt für die zwölf Illustrationen, die dezent in Schwarzweiß gehalten sind und teilweise aus alten Quellen wie dem Augsburger Bilderbogen stammen. Auch das Bild des Schutzumschlags ist schön gemacht, ganz unaufdringlich und nicht so schreiend grell, wie es heute auch bei Weihnachtssachen bereits oft der Fall ist.
Außerdem hat das Buch ein Quellenverzeichnis, was für mich vor allem im Hinblick auf die Textausschnitte und gekürzten Texte interessant war. Wer Interesse an den vollständigen Texten hat, weiß also, wo er suchen muss.
Alles in allem ein hübsches Bändchen für ein paar ruhige Minuten vor dem brennenden Kamin oder beim Schein von Adventskerzen. Wer etwas sucht, um in der Hektik des Vorweihnachtsgetriebes seine eigentliche Weihnachtsstimmung wiederzufinden, liegt hier bestimmt nicht falsch. Zum Vorlesen für Kinder ist das Buch allerdings nur bedingt geeignet. Die literarischen Texte sind naturgemäß sprachlich und inhaltlich ein paar Stufen zu hoch, aber auch die Volksmärchen sind nicht alle uneingeschränkt kindergeeignet. Am ehesten lassen sich die Märchen um Frau Holle und das vom Tannenbäumchen vorlesen, die stammen aber auch aus einem Kinderbuch mit Weihnachtsmärchen. Der damaligen Zeit entsprechend klingen sie stellenweise etwas kitschig, Kinder wird das aber wohl nicht stören.
Hans-Jörg Uther ist Professor für Literaturwissenschaft an der Uni Essen und außerdem in der Erzählforschung tätig. Er hat eine ganze Liste von Märchensammlungen veröffentlicht, darunter „Sagenschatz“, „Märchenschatz“, „Märchen vom Glück“ und „Das große Buch der Fabeln“. Außerdem ist er Mitherausgeber der Zeitschrift Fabula.
http://gutenberg.spiegel.de/raabe/sperling/sperling.htm
http://gutenberg.spiegel.de/storm/immensee/immensee.htm
http://gutenberg.spiegel.de/fontane/ellernkl/ellernkl.htm
http://gutenberg.spiegel.de/etahoff/floh/floh01b.htm
http://gutenberg.spiegel.de/arndt/msarndt/avenstak.htm
Bret Easton Ellis – American Psycho

Nicholas Christopher – Franklin Flyer

Dunne, Dominick – Zeit des Fegefeuers
|Originaltitel: A Season in Purgatory|
Anfang der Siebzigerjahre lernt der weitgehend mittellose Harrison Burns auf der katholischen Eliteschule Milford den charismatischen Constant Bradley kennen, der einer reichen Unternehmerfamilie entstammt. Zwischen den ungleichen Jungen entsteht eine tiefe Freundschaft und Burns verbringt zunehmend mehr Zeit mit Constant und dessen Familie. Auf deren Landsitz Scarborough lernt er im Laufe der Zeit auch die Schattenseiten und Uneigenheiten des herrischen und skrupellosen Vaters sowie der Schwestern und Brüder von Constant kennen. Gerald Bradley findet als neureicher Emporkömmling trotz aller finanziellen Zuwendungen und Spenden keine Achtung in der alteingesessenen, feinen Ostküsten-Gesellschaft, wozu auch die Gerüchte über seine mehr als zwielichtigen Partner aus New Yorker Mafiakreisen und dubiose Geschäftspraktiken beitragen. Seine Frau Grace setzt alles daran, in der kirchlichen Gesellschaft zu Ehren zu kommen und lebt in einem Dauerzustand religiöser Verblendung, während Gerald seine Söhne mit allen Mitteln in hohe politische Ämter manövrieren will.
Als besonders aussichtsreich gilt der gut aussehende Constant mit seinem einnehmenden Wesen und der Fähigkeit, Menschen zu blenden und zu manipulieren. Aber die dunklen Seiten von Constant sind noch weit bedrohlicher, im Alkoholrausch erschlägt dieser nach einem Tanztreffen der örtlichen Debütantinnen die junge Winnifred Utley, die zwar seiner Einladung zu einem nächtlichen Treffen im Wald gefolgt ist, dann aber seinen sexuellen Wünschen offenbar nicht geneigt war. Der hochmoralische Burns hilft ihm zwar zunächst bei der Beseitigung der Spuren, leidet danach aber unter enormen Gewissensbissen. Gerald Bradley besticht den Jungen mit der Zahlung seines Studiums sowie einem einjährigen Aufenthalt in Europa, worauf sich Burns und Constant dann endgültig aus den Augen verlieren.
17 Jahre später ist Burns ein gefeierter Schriftsteller und Constant auf dem Weg in das amerikanische Repräsentantenhaus. Der alternde Gerald Bradley will Burns, der bereits früher einmal eine Rede für Constant geschrieben hat, zu einem Buch über Familie, Moral und andere Grundwerte überreden, das unter Constants Namen erscheinen und ihm den Weg in die große Politik ebnen soll. Wider besseres Wissen lässt sich Burns zu einem Familientreffen auf dem mittlerweile nach Southampton verlegten Landsitz überreden, bei dem sein lange gehegter Groll gegen seine eigene Mittäterschaft und die Machenschaften der Bradleys endlich ausbricht und sich die Situation dramatisch zuspitzt. Burns teilt sich schließlich den Behörden mit und es kommt zum Prozess gegen Constant, in dessen Verlauf jeder seine ganz persönliche Abrechnung präsentiert bekommt.
„Zeit des Fegefeuers“ ist kein Kriminalroman. Statt um die Aufklärung einer Straftat geht es um Schuld und Sühne, Ehre und Gewissen, moralische Grundwerte des Einzelnen und der Gesellschaft. Dies entwickelt sich langsam und subtil, und über einige Passagen hinweg ist der Unterschied zu einer der typischen, überladenen Familiensagen nicht mehr allzu groß. Die Vielzahl der Personen und deren familiäre Zusammenhänge werden allesamt sehr ausführlich dargestellt, obwohl der Anteil einiger Protagonisten an der eigentlichen Geschichte eher nichtig ist. Bis auf die fast lächerlich anmutende Szene von Burns Kampf mit dem „Hausmafioso“ der Bradleys ist die Geschichte jedoch schlüssig und nachvollziehbar und überzeugt durch eine besondere Atmosphäre und Spannung.
Dominick Dunne schreibt seit 1980 einen Erfolgsroman nach dem anderen, ein Großteil davon wurde verfilmt. Seine Werke gelten zumeist als kritische Beobachtungen der amerikanischen Gesellschaft und werden in den USA zuweilen mit denen Truman Capotes verglichen.
Conroy, Pat – Herren der Insel, Die
Erzählt wird die Geschichte einer Familie, die von Liebe und Hass, von Zärtlichkeit und Gewalt zerstört und zusammengehalten wird. Als die Dichterin Savannah Wingo nach einem erneuten Selbstmordversuch in einer psychiatrischen Klinik von der Therapeutin Susan Lowenstein behandelt wird, macht diese sich auf die Suche nach der Vergangenheit ihrer berühmten Patientin und holt deren Zwillingsbruder Tom nach New York. Tom Wingo übernimmt die Aufgabe, die er seit jeher unfreiwillig inne hat – er ist das Gedächtnis von Savannah. Mit Widerwillen und in Erinnerung an Schweigegelöbnisse seiner Mutter gegenüber, beginnt er die Lebens- und Leidensgeschichte der Wingokinder zu erzählen.
Aufwachsend auf Melrose Island, einer kleinen Insel vor South Carolina, lernen sie das Handwerk des Krabbenfischens von ihrem Vater Henry Wingo, einem einfachen, zur Gewalttätigkeit neigenden Mann, und den Sinn für die Natur von ihrer Mutter Lila, einer ehrgeizig aufstrebenden Frau. Zwischen den Eltern tobt ein immerwährender, mal schwacher, mal heftiger Krieg. Luke, Savannah und Tom entwickeln jeder für sich unterschiedliche Verhaltensmuster, um die nicht vorhersehbaren elterlichen Schlachten, in die sie mit hineingezogen werden, zu verarbeiten. Der Älteste, Luke, ist der Tatkräftige unter den Dreien. Er lenkt die Gewalttätigkeit des Vaters auf sich, um seine Geschwister zu schützen, er greift zum Gewehr, um gegen ihn zu kämpfen, während Tom die Leichtigkeit des Vergessens anstrebt, unterstützt von den Worten seiner Mutter, die alle Kinder zum Schweigen verdammt. Sein Ziel ist es, ein normaler Durchschnittsbürger zu werden, was ihm leider nicht gut gelingt. Savannah hingegen driftet in bedrohliche Wahnvorstellungen ab, hat massive Gedächtnislücken und verwandelt mit Toms Hilfe die traumatischen Erlebnisse in poetische Verse, die sie zwar zu einer erfolgreichen Dichterin machen, aber ihre zerbrochene Seele nicht heilen können, so dass sie in kurzer Zeit mehrere, immer ernster werdende Selbstmordversuche unternimmt. Über allem schwebt das Wort „Callenwolde“, das der Schlüssel zu Savannahs Heilung zu sein scheint, dessen Geschichte jedoch in Tom fest eingeschlossen ist.
Aber auch in der Gegenwart sieht es nicht besser aus: Henry Wingo, unfähig seiner Frau das zu geben, was sie will, zerbricht an der Scheidung, während Lila ihren Aufstieg in die gehobenere Schicht nach langer Planung geschafft hat. Luke wurde als Amokläufer bei polizeilicher Gegenwehr erschossen. Toms Frau hat einen Liebhaber und will sich von ihm trennen, er selbst ist arbeitslos und unzufrieden mit sich. Zynisch und verbittert kämpft er gegen sich selbst, gegen seine eigene Familie und auch gegen die Therapeutin. Savannah liegt im lebensbedrohlichen Zustand in der Klinik und ist wieder einmal auf die Hilfe ihres Bruders angewiesen. Selbst die Therapeutin Susan Lowenstein hat private Probleme, die sie nicht bewältigen kann.
Nach und nach dringt Dr. Lowenstein in die Schreckensgeschichte der Wingos ein, macht sich an die schwere Aufgabe, das Siegel der Verschwiegenheit zu durchbrechen und die Heilung mittlerweile nicht nur von Savannah in Angriff zu nehmen, sondern auch von Tom und nicht zuletzt von sich selbst.
Pat Conroy, aus South Carolina stammend und zur Zeit in Rom lebend, schuf ein Buch, das herzzerreißender und denkanregender kaum sein kann. Lebhaft erzählt er in einem ständigen Wechsel von wunderschönen, verträumten und kalten, selbstzerstörerischen Bildern die Geschichte einer psychoanalytischen Selbstfindung, die den Leser unwillkürlich dazu bringt, auch mal in sich selbst hineinzuhorchen, um vielleicht eine schnelle Analyse seiner eigenen Lebenssituation zu vollziehen.
Erfolgreich verfilmt wurde das Buch unter dem Titel „Der Herr der Gezeiten“ von und mit Barbra Streisand, die die Therapeutin Susan Lowenstein spielt, mit Nick Nolte an ihrer Seite als Tom Wingo.
_Leseprobe:_
|“Ich wünschte, es gäbe keine Geschichte, über die hier zu berichten wäre. Lange Zeit habe ich so getan, als hätte meine Kindheit nicht stattgefunden. Ich hielt sie tief in meiner Brust verschlossen. Nein, ich konnte sie nicht herauslassen, ich folgte dem fragwürdigen Beispiel meiner Mutter. Gedächtnis ist auch eine Sache des Willens, und ich entschied mich gegen mein Gedächtnis. Da ich die Liebe zu meiner Mutter und meinem Vater brauchte, trotz all ihrer menschlichen Schwächen und Gebrechen, konnte ich es mir nicht leisten, sie unverblümt auf die schweren Vergehen anzusprechen, die sie an uns Kindern begangen hatten. Ich konnte sie nicht verantwortlich machen oder ihnen die Schuld an schweren Fehlern geben, die sie nicht hatten verhindern können. Sie hatten ihre eigene Geschichte, eine Geschichte, an die ich mich nur mit Zärtlichkeit und Schmerz zugleich erinnere und die mich all ihre Vergehen an den eigenen Kindern verzeihen ließ. In Familien gibt es kein Verbrechen, das nicht vergeben werden könnte.
Nach Savannahs zweiten Selbstmordversuch besuchte ich sie in New York in einer psychiatrischen Klinik. Ich beugte mich zu ihr hinab, um sie in europäischer Manier auf beide Wangen zu küssen. Nachdem ich tief in ihre erschöpften Augen geblickt hatte, stellte ich ihr eine Reihe von Fragen – wie stets, wenn wir uns nach langer Trennung wiedersahen.
‚Wie war dein Familienleben, Savannah?‘ erkundigte ich mich im Tonfall eines Interviewers.
‚Hiroshima‘, flüsterte sie.
‚Und wie war dein Leben, seit du den sicheren, warmen Schoß deiner fürsorglichen, einträchtigen Familie verlassen hast?‘
‚Nagasaki‘, antwortete sie mit einem bitteren Lächeln um den Mund.“|


