Archiv der Kategorie: Interviews

Buchwurminfos V/2005

Nach wie vor beschäftigt uns die _Rechtschreibreform_. Auch die als unumstritten geltenden Teile der Reform (wie Groß- und Kleinschreibung) könnten nach Auskunft des Vorsitzenden des „Rats für deutsche Rechtschreibung“, Hans Zehetmair, noch nachgebessert werden. Interessant sind auch die beginnenden juristischen Auseinandersetzungen. In Oldenburg hatte eine Schülerin dafür geklagt, dass sie in ihren Klassenarbeiten die alte Rechtschreibung nicht als Fehler gewertet bekommt. Im September entschied das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (OVG) in Lüneburg, dass sie weiterhin die alte Rechtschreibung verwenden darf. Das Gericht bekräftige seine Rechtsauffassung, wonach Schüler Anspruch darauf haben, in der Rechtschreibung unterrichtet zu werden, die in der Gesellschaft allgemein praktiziert wird. Den Schülern dürfen nur Regeln beigebracht werden, die „der Schreibpraxis entsprächen“. Die „allgemeine Akzeptanz“ der neuen, 2004 modifizierten Regeln sei aber zweifelhaft.

Jeder kennt das Phänomen: Preisgünstige neue Bücher erhalten einfach einen Stempel „_Mängelexemplar_“ und werden dann viel günstiger verkauft. Dieser Praxis wurde nun Ende Juli durch ein Grundsatzurteil vom Oberlandesgericht Frankfurt ein Ende gesetzt. Das bloße Kennzeichnen eines neuen Buches als Mängelexemplar rechtfertigt ab sofort nicht mehr die Aufhebung der Preisbindung. Die Verantwortung für die Einhaltung der Preisbindung liegt dabei beim Letztverkäufer. Ein Sortimenter muss nun also genau prüfen, ob Titel, die er als Mängelexemplare eingekauft hat und weiter anbietet, auch tatsächlich Mängel aufweisen. Er kann sich nicht mehr auf den Standpunkt stellen, gutgläubig gehandelt zu haben. Wahrscheinlich wird nun die Zahl der Mängelexemplare deutlich sinken und verschiedene Preiskämpfe werden unterbleiben. Echte Mängelexemplare unterliegen natürlich weiterhin nicht der Preisbindung.

_Harry Potter_ ging mit dem neuesten Band zwar wie gewohnt sofort auf den ersten Platz der Bestseller-Listen, aber das Interesse flaute diesmal schon zwei Wochen nach dem Erstverkaufstag ab, der große Boom scheint vorbei zu sein. Die Preisnachlässe bei Harry Potter beschäftigen nunmehr auch das britische Parlament, da es zu bis zu 70 % Rabatt auf den empfohlenen Verkaufspreis kam. Zum Schutz des Buchhandels müssten Autoren und Verlage ihren Vertriebspartnern solch „exzessive Nachlässe“ untersagen. Das wäre aber ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht. Helfen würde ein fester Buchpreis wie in Deutschland, der war aber in England 1995 zu Fall gebracht worden.

Religiöse Bücher boomen ebenfalls, seit Harry Potter auftauchte, aber seit dem Tod von Papst Johannes Paul II. und der Wahl des _Papstes Benedikt XVI._ verkauft sich vor allem und überraschend das katholische Thema wieder wie nur selten in den letzten Jahrzehnten. Die Nachfrage nach den Papstbüchern ebbt einfach nicht ab, wohl auch wegen des in Köln stattgefundenen Weltjugendtages. Dort kaufte die Jugend selbst aber wenig Bücher, deren Interesse lag eindeutig bei Musik-CDs.

Wie bereits berichtet, steigt demnächst „Focus“ ins _Hörbuch-Download-Geschäft_ ein. Bevor allerdings „Claudio“ (das Projekt von Focus mit dem Hörverlag) ins Netz ging, kam Ende August nach den bisherigen zwei Anbietern Soforthoeren.de und Audible.de ein anderer neuer Anbieter. Diadopo.de geht mit 300 Titeln ins Netz, und den Vorsprung zu den Vorgängern wollen diese Anbieter mit vielfältigen redaktionellen Inhalten und günstigen Konditionen wettmachen.

_Hörbuch-Automaten_: In Deutschland stehen bereits etwa 700 DVD-Automaten, und wer in nächster Zeit die Augen aufmacht, wird in den Städten auch Hörbuchautomaten mit je nach Größe Platz für 400 bis 800 Hörbücher finden. An einer Buchautomatenentwicklung wird auch bereits gearbeitet. In Frankreich werden Taschenbuchautomaten derzeit schon in Metro-Stationen getestet. Verläuft dort der Test gut, folgen Bahnhöfe, Krankenhäuser, Schulen und Universitäten.

Die Agentur |MEMA Messe & Marketing| veranstaltet vom 10. bis 12. November 2006 in der Oberschwabenhalle Ravensburg erstmals die _Hörbuchmesse Hearing 2006_. Die Veranstalter rechnen mit ca. 60 Ausstellern und 5.000 Besuchern. Auf der Messe (Ausstellungsfläche: 3.000 Quadratmeter) sollen alle Themengebiete rund um das Medium Hörbuch angeboten werden. Zudem soll ein Rahmenprogramm mit Lesungen, Voice-Castings, Vorträgen etc. Besucher anlocken. Das Angebot der Messe richtet sich am ersten Tag an den Fachhandel; an den beiden darauf folgenden Tagen direkt an den Endverbraucher. Die Mehrheit der Hörbuchverlage steht dennoch dieser Messe sehr kritisch gegenüber. Fortwährende neue Messen sind für sie nicht leistbar und man konzentriert sich weiterhin auf Leipzig und Frankfurt. Der Markt für Hörbücher geht zwar stetig nach oben, scheint nun aber im Ganzen doch überschätzt zu werden. Es braucht nicht noch weitere Regionalmessen, sondern wichtig sind die bisherigen drei überregionalen – wobei schon da die Hörbuchmesse auf der LitCologne unverändert umstritten bleibt.

Reinhilde Ruprecht, bis Ende 2004 noch Verlegerin von Vandenhoeck & Ruprecht, hat ihren eigenen Verlag gegründet: _Edition Ruprecht_ startet 2006 mit Titeln eines überwiegend geisteswissenschaftlichen Programms.

15 Jahre alt ist nunmehr schon _Faber & Faber Leipzig_, den nach der Wende der frühere „Aufbau“-Verleger Elmar Faber mit seinem Sohn Michael Faber leitet. Bis 1992 stand Elmar Faber an der Spitze von „Aufbau“, dem auch so genannten „Suhrkamp des Ostens“.

Der Verlag _Vittorio Klostermann_ durfte 75-jähriges Jubiläum begehen. Am 1.10.1930 gründete der 28-jährige Vittorio Klostermann seinen Verlag in Frankfurt am Main, für die damaligen Wirtschaftsverhältnisse eine sehr ungünstige Zeit. Zudem war drei Jahre später die Machtergreifung Adolf Hitlers, und einige Autoren der ersten Stunde wie Herbert Marcuse, Karl Löwith, Kurt Rietzler und andere mussten fliehen. Zwölf Jahre bestand das Dritte Reich und das Verlagsprogramm blieb eine Gratwanderung. Bücher von Otto J. Hartmann und Rudolf Hauschka wurden von der Gestapo beschlagnahmt. Hanns Wilhelm Eppelsheimer verlor seine Anstellung, weil er mit einer jüdischen Frau verheiratet war. Werner Krauss wurde zum Tode verurteilt und konnte nur dank des energischen Eintretens von Hans-Georg Gadamer und seinen Freunden überleben. Der Verlag wich auf ideologiefernere Gebiete aus, verlegte zoologische und finanzgeschichtliche Literatur. Juristische Quellentexte und die „Philosophischen Texte“, die Gadamer betreute, wurden für das Studium an der Front und später in den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern benötigt. Der Verlag wurde daher dann bis zu seiner Schließung 1944 sogar als „kriegswichtiger“ Betrieb eingestuft. Da Vittorio Klostermann aber keine Nazi-Umtriebe nachsagbar waren, konnte dieser mit Lizenz der amerikanischen Militärregierung in Frankfurt 1946 neu beginnen. Das war die Zeit der goldenen Jahre, die Bevölkerung hungerte nach guter Literatur und die Höhe der Druckauflagen wurde allein durch die Papierbewilligungen begrenzt. 1978 verstarb Vittorio Klostermann, aber die beiden Söhne waren bereits in die Verlagsarbeit integriert. Der ältere Bruder starb 1992, und seitdem leitet Vittorio E. Klostermann allein den Verlag, dessen Schwerpunkte Philosophie, Rechtsgeschichte, Literaturwissenschaft und Fachliteratur für Bibliothekare sind. Alles nicht ohne Schwierigkeiten, denn Deutsch geht als Wissenschaftssprache im Ausland seit Jahrzehnten drastisch zurück und die notwendigen Auflagenhöhen sind nur durch den starken Exportanteil (Japan, USA, Italien u. a.) zu erreichen. Dennoch steht für den Verlag die Qualität der Bücher weiterhin vor den Interventionen des Marketings. Im Internet findet man ihn unter http://www.klostermann.de.

|Droemer/Knaur| hat sich vom _Battenberg Verlag_ getrennt und ihn an den H. Gietl Verlag verkauft. Battenberg bringt jährlich zehn Novitäten für Münzliebhaber heraus. Mit dem Verkauf will Droemer seine Strategie einer populären Gesamtausrichtung der Programme fortsetzen.

Wie wir berichteten, hatte sich |Rowohlt| vom „Kursbuch“ getrennt. Das erste neue „_Kursbuch_“ erschien nun zum 25. August unter dem Dach des _Zeitverlags_. Herausgeber sind Michael Naumann von der „Zeit“ und, wie schon zuvor, Tilman Sprengler. Das 140- bis 150-seitige und zehn Euro teure Magazin ist jetzt vierfarbig, hat ein kleineres Format und erscheint wie bisher vierteljährlich. Die Auflage, die bei Rowohlt zuletzt auf weniger als 10.000 Exemplare abgesackt war, liegt zum Neustart bei 25.000 Exemplaren. Sie soll verstärkt über den Kiosk vertrieben werden. Das kulturpolitische Blatt ist seit der 68er-Gründerzeit berühmt, und niemand konnte wirklich verstehen, wie Rowohlt dieses Projekt einfach einstellen konnte.

Eigentlich sollte auch „_Die andere Bibliothek_“ bei Eichborn wechseln, worüber wir ebenfalls schon ausführlich berichteten. Es kam deswegen ja zu juristischen Auseinandersetzungen, und das Oberlandesgericht Frankfurt hat nun entschieden, dass die fristlose Kündigung der Vereinbarung durch Hans Magnus Enzensberger nicht gültig ist und er nicht als Herausgeber der von „FAZ“ und |dtv| geplanten _Frankfurter Allgemeinen Bücherei_, die im November starten soll, fungieren darf. Die FAZ hat aufgrund dieses Urteils beschlossen, das Buchprojekt zunächst zurückzustellen.

Die _Brigitte-Edition_, eine 26-bändige, von Elke Heidenreich zusammengestellte Buchreihe, lief wie erwartet gut an. Der erste Band (Enquists „Der Besuch des Leibarztes“) kam sofort in die „Focus“-Bestsellerliste. Den Startauflagen der ersten Titel von 50.000 Exemplaren folgten sofort Nachdrucke.

Nun startet auch der _Stern_ Ende des Jahres eine preiswerte Krimi-Bibliothek mit 24 Romanen. Vertriebspartner ist |Random House|, also ein Schwesternunternehmen aus dem Hause Bertelsmann.

Derzeit laufen die Comic-Editionen von _Bild_ mit |Weltbild| und der _FAZ_.

_Heyne_ startet im November eine neue Taschenbuchreihe: _Heyne Hardcore_. Vorzeitig kam bereits – aufgrund des Dokumentarfilms „Inside Deep Throat“ – wieder „Die Wahrheit über Deep Throat“ von Linda Lovelace heraus. Die neue Reihe richtet sich an Leser, die sich für anspruchsvolle, aufsehenerregende Titel interessieren – Titel, die das Potenzial zum Kultbuch haben. Die Startauflagen bewegen sich zwischen 15.000 und 25.000 Exemplaren pro Titel. In den ersten sieben Titeln geht es um Pornografie, SM-Alpträume, Horror und Drogeneskapaden. Heyne Hardcore spiegelt genau das wider, was in Hollywood oder in der Musikindustrie seit Jahren als extreme Kunst im Mainstream fest verankert ist. Die Bücher sollen provozieren und anecken, aber literarischen Ansprüchen ebenso genügen.

_Egmont Ehapa_ legt das Werk des Disney-Zeichners _Carl Barks_ in einer exklusiven Ausgabe vor. Die „Carl Barks Collection“ ist eine von Geoffrey Blum kommentierte 30-bändige Werkausgabe rund um den Schöpfer von Mickey Mouse und Donald Duck, limitiert auf 3.333 Exemplare in zehn Kassetten, die jeweils drei Bände mit einem Umfang von bis zu 288 Seiten enthalten (Preis pro Kassette: 149 Euro). Die exklusiv gestalteten, neu kolorierten Bände breiten auf mehr als 8.000 Seiten den gesamten Entenhausen-Kosmos aus – darunter auch die verschollen geglaubte Dagobert-Story „King Scrooge I“, die Charles Dickens´ geizigen Mr. Scrooge aus „Ein Weihnachtsmärchen“ zum Vorbild hat. Der deutsche Text der Disney-Storys basiert auf der Übersetzung von Erika Fuchs, die kürzlich mit 98 Jahren verstarb.

Am 22. August ist im Alter von 76 Jahren _Roland Klett_, Mitinhaber des Ernst-Klett-Verlages, gestorben. Im Börsenverein hatte er sich in den 70er Jahren sehr engagiert für Tarifpolitik eingesetzt.

Im September ist auch der Zeichner und Autor _F. K. Waechter_ im Alter von 68 Jahren an einem Krebsleiden verstorben. Er war Mitbegründer der Neuen Frankfurter Schule und des Satire-Magazins „Titanic“, schrieb rund 40 Bücher für Kinder und Erwachsene und ebenso viele Theaterstücke, an deren Inszenierungen und Bühnenbildern er mitwirkte. Richtungsweisend waren seine Bücher „Anti-Struwwelpeter“, „Opa Huckes Mitmach-Kabinett“ und „Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein“.

Die Zahl der Aussteller der kommenden _Frankfurter Buchmesse_ vom 19. – 23.Oktober ist weiter gewachsen, und in diesem Jahr wurde erstmals die Marke von 7.000 Ausstellern überschritten. Premiere haben in diesem Jahr eine Pressemesse, die Frankfurter Antiquariatsmesse und die Ausstellung „Spiele & Spielen“ in Kooperation mit der Spielwarenmesse Nürnberg.

Vor Beginn der Frankfurter Buchmesse, am 17. Oktober, wird der neue _Deutsche Buchpreis_ für den besten Roman des Jahres verliehen, ausgewählt aus 138 Romanen. (www.deutscher-buchpreis.de) Von diesen wurden am 19. September bereits sechs Titel vorgestellt, die es geschafft haben, in die Endrunde zu gelangen. Der Preis ist mit 25.000 Euro dotiert – 2.500 Euro fließen an jeden weiteren Titel von den sechsen der Shortlist. Mit dem Deutschen Buchpreis will der Börsenverein eine Auszeichnung für den besten deutschsprachigen Roman etablieren, die sich an Vorbildern wie dem Prix Concourt in Frankreich oder dem britischen Man Booker-Prize messen lassen soll. Zur Preisverleihung stellt die Stadt Frankfurt den Kaisersaal im Frankfurter Römer zur Verfügung. Gert Scobbel, Grimme-Preisträger und Moderator der 3sat-Sendung „Kulturzeit“, führte durch die einstündige Veranstaltung, die den kulturellen Auftakt der Buchmesse darstellte. Der Börsenverein hofft, dass sein jüngstes Projekt, ähnlich wie der renommierte Friedenspreis, nach und nach internationale Strahlkraft entwickelt – und auf diese Weise der deutschsprachigen Literatur im Ausland den Rücken stärken kann.

Nominiert wurden:
Thomas Lehr, „42“, Aufbau-Verlag 2005, 368 S., 22,90 Euro
Arno Geiger, „Es geht uns gut“, Hanser Verlag 2005, 392 S., 21,50 Euro
Gila Lustiger, „So sind wir“, Berlin Verlag 2005, 260 S., 18 Euro
Daniel Kehlmann, „Die Vermessung der Welt“, Rowohlt 2005, 304 S., 19,90 Euro
Friedrich Mayröcker, „Und ich schüttelte einen Liebling“, Suhrkamp Verlag 2005, 19,80 Euro
Gert Loschütz, „Dunkle Gesellschaft“, Frankfurter Verlagsanstalt 2005, 220 S., 19,90 Euro

Die _Friedenspreisverleihung_ dagegen stellt das eventuell künftige EU-Mitgliedsland Türkei einmal mehr ins völlige Abseits. Mit Bestürzung haben der Stiftungsrat Friedenspreis und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zur Kenntnis genommen, dass die türkische Staatsanwaltschaft _Orhan Pamuk_, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2005 , wegen „öffentlicher Herabsetzung des Türkentums“ angeklagt hat. Dabei droht eine Haftstrafe von mehreren Jahren. „Wir protestieren und fordern den türkischen Staat auf, das Verfahren gegen Orhan Pamuk einzustellen, denn die Freiheit des Wortes gehört zu den Grundwerten einer demokratischen Gesellschaft“, so Dieter Schormann, Vorsteher des Börsenvereins. Auch das PEN-Zentrum Deutschland kritisiert: „Die Anklage ist ein brutaler Angriff auf die Meinungsfreiheit. Die Türkei kann ihre inneren Konflikte nur lösen, wenn sie sich endlich auch den dunklen Seiten ihrer Geschichte stellt“. Die türkische Staatsanwaltschaft legt dem Friedenspreisträger in ihrer Anklage Interview-Äußerungen in einer Schweizer Zeitung zum Völkermord an den Armeniern zur Last, der in der Türkei bis heute offiziell nicht anerkannt wird. Pamuk hatte davon gesprochen, dass in der Türkei eine Million Armenier und 30.000 Kurden umgebracht worden seien. Orhan Pamuk wird am 23. Oktober 2005 in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. In der Begründung des Stiftungsrats heißt es: „Mit Orhan Pamuk wird ein Schriftsteller geehrt, der wie kein anderer Dichter unserer Zeit den historischen Spuren des Westens im Osten und des Ostens im Westen nachgeht, einem Begriff von Kultur verpflichtet, der ganz auf Wissen und Respekt vor dem anderen gründet. So eigenwillig das einzigartige Gedächtnis des Autors in die große osmanische Vergangenheit zurückreicht, so unerschrocken greift er die brennende Gegenwart auf, tritt für Menschen- und Minderheitenrechte ein und bezieht immer wieder Stellung zu den politischen Problemen seines Landes.“ Die Freiheit des Wortes ist Grundlage demokratischer Gesellschaften und damit auch der freien verlegerischen und buchhändlerischen Tätigkeit. Auch der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entstand vor dem Hintergrund dieses Wertes. Er würdigt seit 1950 Persönlichkeiten, die mit ihrer literarischen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Arbeit als Friedensstifter wirken. Anderen türkischen Trägern des deutschen Friedenspreises ging es schon ähnlich: _Yasar Kemal_, der Friedenspreisträger von 1997, wurde 1995 zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Dass nun zehn Jahre später die Staatsanwaltschaft in Istanbul erneut ein Exempel statuieren will, wirft kein gutes Licht auf einen EU-Beitritt der Türkei.

Es gibt nach Frankfurt und Leipzig und der anders gelagerten LitCologne in Köln eine weitere deutsche Buchmesse: _Buch! Berlin_ bietet fünf Wochen nach der Frankfurter Messe vom 25. – 27.November deutschen und internationalen Verlagen die Möglichkeit, sich zu präsentieren, inklusive Direktverkaufserlaubnis am Stand. Die Buchhandlungen in Berlin sind verärgert deswegen. Neben den Verlagsständen gibt es umfangreiches Programm auf mehreren Lesebühnen, darunter Buchvorstellungen für Kinder und Jugendliche und eine Ausstellung für Comic-Art.

|Das Börsenblatt, das die hauptsächliche Quelle für diese Essayreihe darstellt, ist selbstverständlich auch im Internet zu finden, mit ausgewählten Artikeln der Printausgabe, täglicher Presseschau, TV-Tipps und vielem mehr: http://www.boersenblatt.net/.|

Narrenturm

_Verlagsinformationen zu Buch und Autor:_

|Die Welt, ein Narrenturm – Teil eins der polnischen Bestseller-Trilogie um den schlesischen Medikus Reinmar von Bielau, in dem wir erfahren, dass er sich auf der Flucht befindet, einerseits der Liebeskunst wegen, aber auch vor der Inquisition.

Schlesien, im Jahr des Herrn 1422: Reinmar von Bielau »hieb seinem Grauschimmel die Fersen in die Weichen, ritt im Galopp über die blühende Heide auf die waldbestandene Anhöhe zu, hinter der er segenbringende, ausgedehnte Wälder vermutetete«.

Der junge Medikus, von seinen Freunden auch Reynevan genannt, ist auf der Flucht vor seinen Häschern. Der Liebe wegen, genauer gesagt, weil er in flagranti erwischt wurde, mit der schönen Adele von Sterz, Eheweib des sich gerade auf einem Kreuzzug gegen die feindlichen Hussiten befindenden Gelfrad von Sterz. Doch auch die Inquisition könnte sich für ihn interessieren, denn was man im heimatlichen Öls nach seinem stürmischen Abgang bei ihm findet, ist neben medizinischen Schriften so manches, das zumindest den Verdacht auf Hexerei aufkommen lassen könnte.

Der sündige Möchtegern-Lancelot hat also ernsthafte Probleme, vor allem, weil ihm Adele nicht aus dem Kopf gehen will.

So durchquert er auf dem Weg nach Breslau das damalige Mittel-Europa, begegnet dabei allerlei Volk, und auch der Narrenturm der Inquisition bleibt ihm nicht erspart, von dessen Warte aus die Welt bis heute einem einzigen Hauen und Stechen gleicht. Doch halt: Hatten die Chiliasten nicht vorausgesagt, die Welt würde im Februar des Jahres 1420 untergehen?

Andrzej Sapkowski, geboren 1948, ist Literaturkritiker und Schriftsteller. Sein Fantasy-Zyklus über den Hexer Gerald erreicht in Polen inzwischen Millionen-Auflagen und wurde 1998 mit dem Literaturpreis der wichtigsten polnischen Wochenzeitung ›Polityka‹ ausgezeichnet. Die Fortsetzung von ›Narrenturm‹, ›Bozy bojownicy‹ (dt.: ›Gottesstreiter‹), erschien 2004, beide Bände landeten auf Anhieb auf der Bestsellerliste und wurden mehr als hunderttausend Mal verkauft. Andrzej Sapkowski lebt in Lodz und arbeitet derzeit am dritten Band, ›Lux perpetua‹.|

_Leseprobe aus »Narrenturm« von Andrzej Sapkowski:_
PROLOG

Das Ende der Welt brach Anno Domini 1420 doch nicht herein. Obwohl vieles darauf hindeutete, dass es käme.

Die düsteren Prophezeiungen der Chiliasten, die den Weltuntergang ziemlich präzise – nämlich für das Jahr 1420, den Monat Februar und den Montag, der auf den Festtag der heiligen Scholastica folgte – angekündigt hatten, erfüllten sich nicht. Die Tage der Strafe und der Rache, die dem Herannahen des Königreiches Gottes vorangehen sollten, kamen nicht. Obwohl sich die tausend Jahre erfüllt hatten, wurde Satan nicht aus seinem Kerker befreit, und er trat auch nicht hervor, um die Völker an allen vier Enden der Welt zu betören. Weder gingen sämtliche Sünder dieser Welt und alle Feinde Gottes durch Feuer und Schwert, Hunger und Hagel, die Hauer der Bestie, den Stachel des Skorpions zugrunde, noch durch das Gift der Schlange. Vergeblich harrten die Gläubigen der Ankunft des Messias auf dem Tábor, dem Schafberg, auf dem Oreb, Sion und dem Ölberg, vergeblich harrten die |quinque civitates|, die fünf auserwählten Städte, als die Pilsen, Klattau, Laun, Schlan und Saaz galten, auf die Wiederkunft Christi, wie sie die Prophezeiung Jesajas verkündet hatte. Das Ende der Welt brach nicht herein. Die Welt ging nicht unter und brannte nicht. Zumindest nicht die ganze.

Trotzdem ging es recht kurzweilig zu.

Köstlich, diese Biersuppe, in der Tat. Dick, würzig und reichlich geschmalzt. So eine habe ich lange nicht mehr gegessen. Ich danke Euch, werte Herren, für die Bewirtung, ich danke auch dir, Schankwirtin. Ihr fragt, ob ich ein Bier verachten würde? Nein, gewiss nicht. Wenn Ihr erlaubt, dann mit Vergnügen. |Comedamus tandem, et bibamus, cras enim moriemur|.

Der Weltuntergang kam also 1420 nicht, auch nicht ein Jahr später, nicht zwei, nicht drei, und auch nicht vier Jahre später. Die Dinge nahmen, wenn ich so sagen darf, ihren gewohnten Verlauf. Die Kriege dauerten an. Die Seuchen mehrten sich, die |mors nigra| wütete, Hunger breitete sich aus. Der Nächste erschlug und beraubte seinen Nächsten, begehrte dessen Weib und war überhaupt des Menschen Wolf. Den Juden bescherte man von Zeit zu Zeit ein kleines Pogrom und den Ketzern ein Scheiterhäufchen. An Neuheiten hingegen war dieses zu vermelden: Skelette hüpften mit lustigen Sprüngen über die Friedhöfe, der Tod schritt mit seiner Sense über die Erde, der Inkubus stahl sich des Nachts zwischen die zitternden Schenkel der Jungfrauen, und dem einsamen Reiter sprang in der Einöde eine Striege in den Nacken. Der Teufel mischte sich sichtbar in die Alltagsangelegenheiten ein und strich unter den Leuten umher, |tamquam leo rugiens|, brüllend wie ein Löwe, und Ausschau haltend, wen er verschlingen könnte.

Viele berühmte Leute starben in jener Zeit. Ja gewiss, es wurden auch viele geboren, aber es ist wohl so, dass man die Geburtsdaten in den Chroniken nicht verzeichnet und sich dann auch ums Verrecken keiner daran erinnert, außer den Müttern vielleicht, und Ausnahmen machten wohl nur Neugeborene mit zwei Köpfen oder wenigstens mit zwei Pimmeln. Aber was den Tod anlangt, ja, das ist ein sicheres Datum, wie in Stein gehauen.

Im Jahre 1421, am Montag nach dem Mittfastensonntag Oculi, verstarb in Oppeln nach sechsundsechzig verdienstvollen Jahren Johann, appellatus der Weihwedel, ein Herzog aus dem Geschlecht der Piasten und episcopus Wloclaviensis. Vor seinem Tode hatte er der Stadt Oppeln eine Schenkung von sechshundert Mark gemacht. Es heißt, ein Teil dieser Summe sei, dem letzten Willen des Sterbenden gemäß, an das berühmte Oppelner Hurenhaus »Zur Roten Gundel« gegangen. Die Dienste dieses Liebestempels, der sich hinter dem Kloster der Minderbrüder befand, hatte der Bischof, der ein Lebemann war, bis zu seinem Tode in Anspruch genommen – wenn auch gegen Ende seines Lebens nur mehr als Beobachter.

Im Sommer des Jahres 1422 hingegen – das genaue Datum ist mir entfallen – starb in Vincennes der englische König Heinrich V., der Sieger von Azincourt. Ihn nur knapp zwei Monate überlebend, starb der König von Frankreich, Karl VI., der schon seit fünf Jahren vollkommen verrückt war. Die Krone forderte der Dauphin, Karl, ein, der Sohn jenes Irren. Aber die Engländer erkannten seine Rechte nicht an. Denn seine eigene Mutter, die Königin Isabella, hatte schon längst erklärt, er sei ein Bankert, der außerhalb des Ehebettes mit einem Manne von gesundem Menschenverstand gezeugt worden sei. Da ein Bankert den Thron nicht erben kann, wurde ein Engländer zum rechtmäßigen Herrscher und Monarchen Frankreichs, der Sohn Heinrichs V., der kleine Heinrich, der gerade mal neun Monate alt war. Regent in Frankreich wurde der Oheim des kleinen Heinrich, John Lancaster, der Herzog von Bedford. Dieser hielt gemeinsam mit den Burgundern Nordfrankreich – mit Paris –, den Süden beherrschte der Dauphin zusammen mit den Armagnacs. Zwischen den beiden Reichen heulten die Hunde neben den Leichen auf den Schlachtfeldern.

Im Jahre 1423 aber verstarb am Pfingsttage im Schlosse Peñíscola unweit von Valencia Pedro de Luna, der avignonesische Papst, ein verdammter Schismatiker, der sich bis zu seinem Tode und entgegen den Beschlüssen zweier Konzilien Benedikt XIII. nannte.

Von den anderen, die in jener Zeit starben und an die ich mich noch erinnere, verschied Ernst der Eiserne von Habsburg, Fürst der Steiermark, Kärntens, der Krain, Istriens und Triests. Es starb Johann von Ratibor, Herzog aus Piasten- und P¡rzemysliden-Geschlecht gleichermaßen. Jung verstarb Wenzeslaus, der dux Lubiniensis, es starb Herzog Heinrich, der gemeinsam mit seinem Bruder Johann Herr von Münsterberg war. In der Fremde verschied Heinrich, dictus Rumpoldus, Herzog von Glogau und Landvogt der Oberlausitz. Nikolai Tr±ba verstarb, Erzbischof von Gnesen, ein ehrenwerter und fähiger Mann. In der Marienburg starb Michael Küchmeister, der Hochmeister des Ordens der Allerheiligsten Jungfrau Maria. Auch Jakob PÍczak, genannt Fisch, der Müller von Beuthen, starb. Ha, ich muss zugeben, der ist etwas weniger bekannt und berühmt als die oben Genannten, aber er hat ihnen gegenüber den Vorteil, dass ich ihn persönlich kannte und manchmal mit ihm gebechert habe. Mit den früher Erwähnten ist das irgendwie nie zustande gekommen.

Auch in der Kultur nahmen wichtige Ereignisse ihren Lauf. Es predigte der beseelte Bernhardin von Siena, es predigten Jan Kanty und Johannes von Capestrano, es lehrten Johannes Carlerius de Gerson und Pawel Wlodkowic, Christine de Pisan und Thomas Hemerken a Kempis schrieben gelehrte Werke. Vav¡rinec von B¡rzezová verfasste seine wunderschöne Chronik. Andrej Rubljow malte seine Ikonen, es malte Masaccio, es malte Robert Campin. Jan van Eyck, der Hofmaler Johanns von Bayern, schuf für die St.-Bavo-Kathedrale von Gent seinen »Altar des Mystischen Lammes«, ein überaus schönes Polyptychon, das die Kapelle des Jodocus Vyd ziert. In Florenz beendete Meister Pippo Brunelleschi die Errichtung der Kuppel über den vier Schiffen der Kirche Santa Maria dei Fiori. Wir in Schlesien waren auch nicht schlechter – bei uns hat Herr Peter von Frankenstein in der Stadt Neisse den Bau der sehr stattlichen St.-Jakobs-Kirche vollendet. Gar nicht weit von hier, von Militsch, entfernt, wer noch nicht da war und sie noch nicht gesehen hat, dem böte sich jetzt Gelegenheit dazu.

In jenem Jahr 1422 beging der alte Litauer, der polnische König Jagiello, mitten im Karneval in der Burg Lida mit großem Pomp seine Hochzeit – er heiratete Sonka HolszaÒska, ein blühendes, blutjunges Mädchen von siebzehn Jahren, das demnach mehr als ein halbes Jahrhundert jünger war als er. Wie es hieß, war jenes Mädchen wohl eher ihrer Schönheit, denn ihrer Sitten wegen berühmt. Ja, und es sollte auch später noch viel Ärgernis daraus erwachsen. Jogaila aber, als hätte er völlig vergessen, wie man sich eines jungen Weibes erfreut, zog schon im Frühsommer gegen die preußischen Herren, will heißen, gegen die Ritter mit dem Kreuz. So kam es auch, dass der neue Hochmeister des Deutschen Ordens, Herr Paul von Rusdorf, Küchmeisters Nachfolger, gleich nach der Amtseinführung Bekanntschaft mit den polnischen Waffen schließen musste – und zwar eine recht stürmische Bekanntschaft. Wie es da auf dem Ehelager mit Sonka bestellt war, wird man vergeblich zu erfahren suchen, um den Deutschordensrittern den Hintern zu versohlen, war Jogaila aber immer noch Manns genug.

Eine Menge wichtiger Dinge ereigneten sich in jener Zeit auch im Königreich Böhmen. Eine große Erschütterung gab es da, viel Blutvergießen und unaufhörlich Krieg. Wovon rede ich da … Wollet einem alten Mann vergeben, Ihr edlen Herren, aber Furcht ist ein menschlich Ding, und ist schon so mancher für ein unbedachtes Wort am Hals gepackt worden. Auf Euren Wämsern, Ihr Herren, sehe ich wohl die polnischen Wappen der Na?Ícz und der Habdank, und auf den Euren, edle Böhmen, die Hähne der Herren von Dobrá Voda, und die Ritterpfeile von Strakonitz … Und Ihr, Marsjünger, seid ein Zettritz, ich erkenn’s am Bisonkopf im Wappen. Das Eurige, Herr Ritter, das schräge Schachbrett und die Greifen, kann ich nirgendwo zuordnen. Es lässt sich nicht ausschließen, dass du, Frater aus dem Orden des heiligen Franziskus, nicht alles dem Heiligen Officium zuträgst, dass Ihr es tut, Brüder von St. Dominik, ist wohl gewiss. So seht Ihr selbst, dass es mir nicht leicht wird, in einer so internationalen und auch so unterschiedlichen Gesellschaft von den böhmischen Dingen zu berichten, weil ich nicht weiß, wer hier für Albrecht und wer für den polnischen König und den Prinzen ist. Wer hier für Menhart von Hradec und Old¡rich von Roæmberk ist, und wer für Hynek Pt?Ëek von Pirkstajn und Jan Kolda von Æampach. Wer auf des Comes Spytko von MelsztyÒskis Seite steht und wer ein Anhänger des Bischofs von Oels ist. Ich habe gewiss keine Sehnsucht nach Schlägen, aber ich weiß wohl, dass ich welche einstecken werde, weil ich schon mehrmals welche einstecken musste. Wie das, fragt Ihr? Das ist so: Wenn ich sage, dass in den Zeiten, von denen ich erzähle, die tapferen Hussiten den Deutschen heftig das Wams durchgewalkt und sie in drei Kreuzzügen hintereinander zu Pulver und Staub zermahlen haben, dann währt es nicht lang, bis mich die einen aufs Haupt schlagen. Sage ich aber, dass in den Schlachten bei Vítkov, Vynehrad, Saaz und Deutsch-Brod die Häretiker die Kreuzfahrer nur mit teuflischer Hilfe besiegt haben, ergreifen mich die anderen und prügeln mich durch. Daher wär’s mir lieber zu schweigen, aber wenn ich schon reden muss, dann mit der Neutralität eines Berichterstatters – berichten, wie man sagt, |sine ira et studio|, knapp, kühl, sachlich, und ohne einen Kommentar von meiner Seite hinzuzufügen.

So sage ich denn auch nur kurz: Im Herbst des Jahres 1420 lehnte der polnische König Jogaila die böhmische Krone ab, die die Hussiten ihm angetragen hatten. In Krakau wähnte man, dass der litauische dux Witold, der schon immer gekrönt werden wollte, die Krone nehmen würde. Um aber weder den römischen König Sigismund noch den Papst über Gebühr zu ärgern, wurde Zygmunt, der Neffe Witolds und Sohn Korybuts, nach Böhmen gesandt. Er stand am Tage des heiligen Stanislaus im Jahre 1422 im goldenen Prag an der Spitze von fünftausend polnischen Rittern. Aber schon am Dreikönigstag des darauf folgenden Jahres musste das Prinzchen nach Litauen zurückkehren, so wütend waren der Luxemburger und Oddo Colonna, seinerzeit der Heilige Vater Martin V., über die böhmische Thronfolge. Aber schon 1424, am Vorabend von Mariä Heimsuchung, war der Sohn des Korybut zurück in Prag. Diesmal gegen den Willen Jogailas und Witolds, gegen den Willen des Papstes, gegen den Willen des römischen Königs. Das heißt als Aufrührer und Geächteter. An der Spitze ebensolcher Aufrührer und Geächteter. Und nicht nur Tausender, wie vorher, sondern Hunderttausender.

In Prag hingegen fraß der Umsturz, wie Saturn, seine eigenen Kinder, und eine Seite maß sich mit der anderen. Jan von Æeliva, den man am Montag nach dem Sonntag Reminiscere des Jahres 1422 geköpft hatte, wurde schon im Mai desselben Jahres in allen Kirchen als Märtyrer beweint. Kühn stellte sich das goldene Prag auch Tabor entgegen, aber hier hatte die Sense auf den Stein getroffen. Nämlich auf Jan Æiæka, den großen Kämpen. Anno Domini 1424, am zweiten Tage nach den Nonen des Juni, erteilte Æiæka den Pragern bei Malschau am Flüsschen Bohynka eine schreckliche Lehre. Viele, o gar viele Witwen und Waisen gab es nach dieser Schlacht in Prag.

Wer weiß, vielleicht bewirkten die Tränen jener Waisen, dass kurz darauf, am Mittwoch vor dem Festtage des St. Gallus in P?ybyslav nahe der mährischen Grenze Jan Æiæka von Trocnov, oder wie es später hieß, vom Kelch, verstarb. Begraben hat man ihn in Hradec Králové, und dort liegt er. Und so wie vorher die einen seinetwegen geweint hatten, weinten jetzt die anderen um ihn. Dass er sie als Waisen zurückgelassen hatte. Deswegen nannten sie sich »die Waisen« …

Aber daran erinnert Ihr Euch wohl alle noch. Weil das vor noch gar nicht so langer Zeit gewesen ist. Und jetzt sind das schon … historisch gewordene Zeiten.

Ihr wisst doch, werte Herren, woran man erkennt, ob eine Zeit historisch ist? Daran, dass vieles schnell geschieht.

Damals ereignete sich sehr vieles sehr schnell. Der Weltuntergang war, wie gesagt, nicht gekommen. Obwohl vieles darauf hindeutete, dass er kommen würde. Denn es gab – genauso, wie die Prophezeiungen es wollten – große Kriege und große Plagen für das Christenvolk, und viele Männer starben. Es schien, als wolle Gott selbst, dass der Entstehung einer neuen Ordnung der Niedergang der alten vorausginge. Es schien, als nahte die Apokalypse. Als käme die Bestie mit zehn Hörnern aus der Hölle. Als sähe man die vier Reiter im Rauch der Brände und der blutgetränkten Felder. Als ertönten jeden Augenblick die Trompeten und die Siegel würden zerbrochen. Als würde Feuer vom Himmel fallen. Als würde der Stern Wermut auf den dritten Teil der Ströme und auf die Quellen der Wasser fallen. Als würde der irre gewordene Mensch, der die Fußspuren eines anderen auf der Brandstätte erblickte, unter Tränen jene Spuren küssen.

Manchmal war es so schlimm, dass einem, ich bitte um Vergebung, edle Herren, der Arsch auf Grundeis ging.

Das war eine bedrohliche Zeit. Eine böse. Und wenn es Euer Wille ist, so werde ich davon erzählen. Um die Langeweile zu vertreiben, solange der Regen, der uns hier in der Schenke festhält, nicht aufhört.

Ich erzähle, wenn Ihr wollt, von jenen Zeiten. Von den Menschen, die damals lebten, wie auch von jenen, die damals lebten, aber keine Menschen waren. Ich erzähle davon, wie die einen, wie die anderen sich mit dem maßen, was die Zeit ihnen brachte. Mit ihrem Schicksal. Und mit sich selbst.

Diese Geschichte beginnt freundlich und ergötzlich, undurchsichtig und zärtlich – mit einer angenehmen, innigen Liebe. Aber das soll Euch, liebwerte Herren, nicht täuschen.

Lasst Euch dadurch nicht täuschen.

|Prolog aus:
Andrzej Sapkowski: [„Narrenturm“]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3423244895/powermetalde-21
dtv premium im Großformat
740 Seiten
ISBN 3-423-24489-5
Aus dem Polnischen von Barbara Samborska.
© der deutschsprachigen Ausgabe: 2005 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG|
(In dieser Webfassung tauchen verschiedentlich Kompatibilitätsprobleme mit der Darstellung polnischer Sonderzeichen auf, die in der Buchfassung natürlich nicht auftreten.)

Nibelungen-Festspiele Worms

Uns ist in alten maeren
Wunders viel geseit
Von helden lobebaeren
Von grozer arebeit
Von freuden, hochgeziten
Von weinen und von klagen
Von küener recken striten
Muget ihr nun wunder hoeren sagen.

Aus dem Nibelungenlied

Vor vier Jahren begann Worms damit, Nibelungenfestspiele (http://www.nibelungenfestspiele.de) durchzuführen und wurde im ersten Jahr bundesweit als Provinz noch sehr belächelt. Ab dem zweiten Festspieljahr sah das schon anders aus und in diesem Jahr lief es bislang am besten: Alle 13 Vorstellungen der Hebbel-Inszenierung vor dem Nordportal des Wormser Doms waren ausverkauft. Mehr als ausverkauft geht nun einmal nicht, aber über eine künftige Verlängerung von zwei auf drei Wochen wird nun nachgedacht.

Die rund 19.000 Zuschauer aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz bejubelten das Stück von Karin Beier sowie das Starensemble um Maria Schrader, Joachim Król, Manfred Zapatka, André Eisermann, Götz Schubert und Wiebke Puls. „Eine solche Resonanz wie in diesem Jahr haben wir überhaupt noch nicht erlebt. Die Festspiele 2005 verliefen sehr positiv, ich bin rundum zufrieden“, sagt Festspielintendant Dieter Wedel.

Worms kann stolz auf seinen Glanz und Glimmer sein, denn vor fünf Jahren war es ein großes Wagnis, ohne Staatstheater und entsprechende Infrastruktur Festspiele in dieser Größe zu starten. Die Organisation, die im Vergleich zu anderen Festspielstädten nur von wenigen Machern betrieben wird, läuft reibungslos. Die Wormser sind stolz auf ihre Festspiele und das ist wichtig, denn wenn Steuergelder ausgegeben werden, ist es notwendig, dass solch große Events von der Bevölkerung breit unterstützt werden.

Das Rahmenprogramm wurde in diesem Jahr stark aufgewertet und mit hochkarätigen Namen besetzt. Zu den Höhepunkten zählten Veranstaltungen mit Manfred Krug, Christian Quadflieg, Otto Sander und dem Kabarettisten Werner Schneyder. Die Besucherzahlen übertrafen alle Erwartungen: Knapp 6.000 Gäste kamen zu den Lesungen, Konzerten und den Theaterbegegnungen. Das Herrnsheimer Schloss wurde als zweite Festspielstätte hervorragend angenommen.

Die Vorhaben, Worms durch die Nibelungen touristisch aufzuwerten, sind vollkommen aufgegangen. Durch die Festspiele und auch die Nibelungen-Thematik, die sich durch das ganze Jahr hindurchzieht, kommen mehr und mehr Touristen in die Stadt.

In eine riesige VIP-Lounge verwandelte sich der romantische Heylshofpark rund um den Dom: Bunte Lichter, Wasserfontänen, der dunkelrote Drachenblutbrunnen und klassische Klänge sorgten für eine stimmungsvolle Atmosphäre vor und nach den Aufführungen. Das elegante Ambiente zog
jeden Abend hunderte Besucher an. „Einfach sagenhaft“, lautete das Urteil der Gäste. Und mittlerweile zieht auch es auch viele Prominente von Salzburg über Bayreuth nunmehr regelmäßig nach Worms. Das Ambiente vorm Dom ist auch einzigartig. Die erscheinende Prominenz, die zu den Festspielen über sämtliche Aufführungen hinweg anreist, befindet sich natürlich auch immer im Blickpunkt der lokalen Presse, aber diese hier ausführlich zu benennen, erscheint mir nicht relevant. Jedenfalls gibt es bereits bei der Premiere, wie auch sonst allenorts üblich, einen breiten roten Teppich und jede Menge VIPs, umlagert von Fotografen. Der Medienrummel von rund 200 Medienvertretern bei der Premiere war schon sehr ungewöhnlich, zumal es sich ja „nur“ um eine Wiederaufführung der Hebbel-Inszenierung gehandelt hatte. Die Party nach der Premiere im festlich geschmückten, an den Dom grenzenden Heylspark ist mit all seinen Lichtern und Fackeln ein unvergleichliches Erlebnis, das man so nicht anderweitig zu sehen bekommt – weder in Salzburg noch in Bayreuth. Diese Party ging bis morgens um acht Uhr.

Trotz des verregneten Sommers blieb es in Worms während der Aufführungen die meiste Zeit trocken. Nicht eine einzige Vorführung mussten die Veranstalter – im Gegensatz zum Vorjahr – wegen schlechten Wetters absagen. Der Kampf mit dem Wetter – das zudem abends sowohl für die Schauspieler auf der Bühne als auch auf der hohen, windigen Tribüne für Sommerverhältnisse mitunter sehr kalt war – ist bei Freilichtspielen eine große Herausforderung. Einmal musste nach einem Regenbruch kurz vor der Pause fast abgebrochen werden – das Mikrofon von Kriemhild drohte den Dienst zu versagen –, aber auch hier gab es trotz diesen Widrigkeiten am Ende den gewohnten stürmischen Applaus. Doch diesmal applaudierten auch die Schauspieler umgekehrt dem Publikum und demonstrierten damit ihrerseits, dass auch diesem für das tapfere Ausharren Dank gebührte. Die Wormser Bevölkerung und die Sponsoren stehen zu ihren Nibelungen-Festspielen. Nach nur vier Jahren hat es Worms geschafft, sich bundesweit als Festspielstadt einen renommierten Namen zu erobern und als kultureller Leuchtturm zu etablieren.

Die Zuschauer saßen dieses Jahr noch einmal zwei Meter höher als letztes Jahr: auf einer 18 Meter hohen Tribüne, 26 Meter in der Breite. Für Rollstuhlfahrer wurden Rampen eingerichtet. Die normalen Preise rangierten von 25 Euro für die oberen Ränge bis zu 85 Euro für die untersten Plätze. Aber es gab auch Logen zu Preisen von 260 Euro für Einzelplatzkarten und 498 Euro für zwei Personen.

Im kommenden Jahr wird Dieter Wedel auf der Südseite des Doms „Die Nibelungen“ mit einem neuen Ensemble inszenieren. Angedacht ist eine überarbeitete Fassung von Moritz Rinke mit neu geschriebenen Szenen und Schwerpunkten. Die Geschichte endet in der Saison 2006 mit Siegfrieds Tod. Die grausame Rache der Kriemhild wird dann in der Fortsetzung des Stoffes im Sommer 2007 zu sehen sein.

So weit der Einstieg, aber schauen wir uns das Geschehen auch noch im Einzelnen an.

_Hebbel-Inzenierung der Nibelungen von Karin Beier_

In den bisherigen vier Jahren der Wormser Nibelungen-Festspiele mit unterschiedlichen Inszenierungen sahen insgesamt etwa 90.000 Zuschauer das Nibelungen-Drama. Seit zwei Jahren ist Dieter Wedel Intendant des Epos um Liebe und Hass, Politik und Rache am Originalschauplatz vor der atemberaubenden Kulisse des Wormser Doms. Dieses Ambiente ist theatertechnisch sensationell.

Karin Beiers Stück ist eine ernst zu nehmenden Inszenierung. Ihre Fassung ist intimer und konzentrierter als das Rinke-Stück der ersten beiden Festspieljahre. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf den Frauengestalten und ist damit eine sehr andere Nibelungengeschichte als die von Moritz Rinke. Die Geschichte der Frauen im Stück ist viel intensiver und auch die dunkle Seite Siegfrieds wird mehr beleuchtet. Im Grunde haben alle männlichen Schauspieler bei Beier neben den mitreißend intensiven Damen Maria Schrader und Wibke Puls einen schweren Stand. Sonstige Identifikationsmöglichkeiten gibt es da fast keine. Erstmals war dieses Jahr die Inszenierung tontechnisch zudem in Dolby Surround zu hören. Durch Highend-Digitaltechnik mit einem 5.1-Surround-System wurde die eindrucksvolle Inszenierung akustisch rundum erlebbar.

Dabei sind die Protagonisten in Worms auch für die Bevölkerung ansprechbar. Soweit es die aufwendigen Proben und fast täglichen Auftritte erlauben, integrieren sie sich in das städtische Leben, und vor den Vorführungen finden täglich abwechselnd mit allen lockere Talkgespräche bei freiem Eintritt für das interessierte Publikum statt.
Man sieht sie also zwar ständig in der Stadt, aber bei diesen Gesprächen hat man die Gelegenheit, ganz nah an die Darsteller heranzukommen und „live“ etwas über ihre Arbeit auf der Dombühne, aber auch viel „Privates“ zu erfahren. Die Schauspieler zeigen sich dem Publikum und allen Beteiligten dankbar: So fand ein Besuch der Mitarbeiter in der Wäscherei der Lebenshilfe statt, wo man sich bei den Behinderten bedankte, welche die anfallende Wäsche während der Festspielen waschen, trocknen und pflegen. Bei 13 Aufführungen werden alleine schon circa 1.100 Kostümteile gebügelt. Für die Behinderten selbst war das ein großes Ereignis, stolz zeigten sie, wie sie arbeiten, und manch einer brachte auch seine persönlichen Nibelungen-Sammelstücke mit zum Vorzeigen. Auch für den Weltladen waren sie aktiv und kamen zu dessen mit dem entwicklungspolitischen Netzwerk Rheinland-Pfalz organisierten „Nibelungen-Brunch“, wo ein Frühstück mit fair gehandelten Produkten, Musik und Stars zum Anfassen aufgeboten wurden.

Da die Festspiele immer nahtlos in das danach beginnende Bachfischfest – eines der größten Volksfeste am Rhein – übergehen, unternahmen die Schauspieler auch einen gemeinsamen Rundgang über den Festplatz. Diese Führung übernahm André Eisermann, der aus einer Wormser Schaustellerfamilie stammt und das Backfischfest von klein auf sehr intim kennt. Nicht dabei sein konnte Hagen-Darsteller Manfred Zapatka, der als Einziger länger als geplant in Worms verweilen musste. Während der Festspiele hatte er bereits große Schmerzen im Knie, lehnte schmerzstillende Mittel bei den Vorführungen allerdings ab, damit er „unvernebelt“ auftreten konnte. Sofort nach Ende der Festspiele musste er im Wormser Krankenhaus am Meniskus operiert werden und benötigte noch Schonung; die erste Zeit konnte er natürlich nur an Krücken gehen. Das zeigt aber auch ein eigentliches Problem, denn wenn ein Schauspieler generell mal bei den Festspielen ausfällt, steht keine Zweitbesetzung zur Verfügung. Im Vorjahr zum Beispiel war auch schon Wiebke Puls bei den Proben in eine Bühnenöffnung gestürzt und hatte sich „glücklicherweise“ dabei nur das Nasenbein gebrochen. Der damals nachfallende Joachim Kròl blieb unverletzt. Das Ensemble stand trotzdem einige Tage unter Schock.

_Dieter Wedel_
Seit mehr als einem Jahr ist Dieter Wedel Intendant der Festspiele. Er promovierte an der Freien Universität Berlin in den Fächern Theaterwissenschaften, Philosophie und Literatur. Unzähligen Theatererfahrungen folgten eine kurze Zeit als Hörspielautor und dann Engagements fürs Fernsehen sowie erste Filme: „Einmal im Leben“ war der erste TV-Mehrteiler, womit die Erfolgsstory der Familie Semmeling begann. Es folgte die Fortsetzung „Alle Jahre wieder“ und dann gründete er seine eigene Produktionsfirma. Seitdem ist er Autor, Regisseur und Produzent in einer Person. Neben den großen Fernsehproduktionen wie „Kampf der Tiger“ oder „Wilder Westen inclusive“ bleibt er weiterhin Theaterbühnen treu. Für seine TV-Mehrteiler „Der große Bellheim“, „Der Schattenmann“ und „Die Affaire Semmeling“ erhielt er auch international zahlreiche Auszeichnungen. 2002 inszenierte er die Nibelungenuraufführung von Moritz Rinke. Danach wurde er Intendant der Wormser Festspiele.

_Karin Beier_
Sie ist renommierte Theater- und Opernregisseurin. Begonnen hatte sie mit einer eigenen Theatergruppe und führte Shakespears Dramen im Original und unter freiem Himmel auf. Dann folgten eine Regieassistenz am Düsseldorfer Schauspielhaus und seither eigene Arbeiten. Sie inszenierte die deutsche Erstaufführung von „Die 25. Stunde“ von George Tabori sowie Shakespeares „Romeo und Julia“, für das sie 1994 zur Nachwuchsregisseurin des Jahres gewählt wurde. 1995 erarbeitete sie mit vierzehn Schauspielern aus neun Ländern eine mehrsprachige, multikulturelle Inszenierung des „Sommernachttraums“. 1997 schloss sich mit Bizets „Carmen“ ihre erste Oper an. Es folgten unter anderem „99 Grad“, „Das Maß der Dinge“ und „Der Entertainer“. Dieses Jahr inszenierte sie mit kleinen Veränderungen zum zweiten Mal in Worms ein neues Stück nach der klassischen Textvorlage von Friedrich Hebbel. Karin Beier, die, wenn sie nicht arbeitet, ganz alternativ im Norden Schottlands lebt und kleine Lämmer auf die Welt holt, schaut auf ihre zwei Jahre Festspielzeit in Worms gerne zurück. Nachdem sie vor zwei Jahren noch Bedenken hatte, mit Schauspielern aus unterschiedlichsten Sphären des Films und Theaters zu arbeiten, hat sich alles für sie „extrem gelohnt“ und die Ängste waren unbegründet. Keiner des Ensembles hat Starallüren, und nach einem Jahr nach Worms zurückzukommen, war dieses Mal wie eine Heimkehr.

_Maria Schrader_
Sie ist wohl eine der erfolgreichsten deutschen Schauspielerinnen heutzutage. Sie begann ihre Ausbildung am Max-Reinhard-Seminar in Wien. Dann spielte sie an Schauspielhäusern unter anderem in Hannover und Bonn. Ihr Kinodebüt gab sie mit „Robby, Kalle, Paul“. Bekannt wurde sie dann mit Doris Dörries Komödie „Bin ich schön?“. 1999 erhielt sie den Silbernen Bären und den Deutschen Filmpreis für ihre Rolle in „Aimée und der Jaguar“. Von Anfang an spielt sie in Worms die Kriemhild.

_Wibke Puls_
Ausbildung an der Berliner Hochschule der Künste. Danach Schauspielhaus Hamburg. Sie spielt auf mitreißende Art seit Beginn der Festspiele die Brunhild. Vor ihrer Schauspielkarriere machte sie Musik, was sie in den letzten beiden Festspieljahren für die Wormser durch ihren einzigartig intensiven Konzertauftritt mit dem Festspielensemble auch unter Beweis stellt. Sie tritt in Beiers Stück mit nacktem Oberkörper auf, was dieses Jahr in der „Regenbogen-Presse“ für Aufsehen sorgte. „Bild“-Zeitungsüberschrift mit entsprechendem Foto: „Brusthild und die Nippelungen“. Selbst die „Münchner Abendzeitung“ meldete „Die nackten Nibelungen in Worms“. Trotz der kargen Bekleidung hat sie die aufwendigste Maske bei den Aufführungen, denn in der ersten Hälfte vor ihrer Verheiratung mit Gunther trägt sie am ganzen Körper amazonenwilde Tattoos. In der aktuellen Inszenierung der Nibelungen von den Münchner Kammerspielen spielt sie interessanterweise anstelle der Brunhild die Kriemhild und erhielt dafür den Alfred-Kerr-Darstellerpreis.

_Manfred Zapatka_
Ausgebildet an der westfälischen Schauspielschule Bochum, danach an Theatern wie Stuttgart und München engagiert. Er ist einer der großen Charakterdarsteller im deutschen Film und Fernsehen, bekannt z. B. aus der TV-Serie „Rivalen der Rennbahn“ (1989) und in Dieter Wedels Mehrteiler „Der große Bellheim“ (1992). Für die Rolle des Heinrich Himmler in „Das Himmler-Projekt“ (2002) wurde er mit dem Adolf-Grimm-Preis ausgezeichnet. Bei den Nibelungen-Festspielen trat er als Hagen auf. Auffallend war beim Publikumsgesprächsabend mit ihm sein politisches Engagement. Zwar rief er nicht direkt zur Wahl der Linkspartei auf, übte aber starke Kritik an der SPD, für die er früher immer eintrat.

_André Eisermann_
Mit der Rolle des „Kaspar Hauser“ wurde Eisermann 1993 aus dem „Nichts“ heraus international bekannt. Er wurde dafür mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, so z. B. mit dem Darstellerpreis des Internationalen Filmfestes von Locarno, dem Bayrischen Staatspreis und dem Deutschen Filmpreis. Danach folgte der ebenso grandiose Film „Schlafes Bruder“. Für diese Rolle war er für den Golden Globe nominiert. Seitdem er den Bundesfilmpreis bekam, ist er Akademie-Mitglied der Bundesfilmpreisverleihung. Allerdings ist er auch durch verschiedene Lesungen sehr bekannt geworden. Seit Beginn der Wormser Nibelungenfestspiele hatte er die Rolle des Giselher inne. Derzeit spielt er in Füssen im Musical „Ludwig II.“ dessen Bruder Otto. Als Wormser ist er seit seiner Kindheit mit dem Nibelungenthema vertraut, und selbst wenn er im nächsten Jahr nicht mehr zur Besetzung gehören wird, gibt es wie bisher etwas Neues von ihm im Rahmenprogramm der Festspiele. Im nächsten Jahr wird es endlich auch wieder einen großen Film mit ihm geben, ein Projekt, über das bislang aber nirgendwo etwas verraten wird.

_Joachim Król_
Als einer der bekanntesten Schauspieler Deutschlands wird er nach wie vor hauptsächlich mit seiner Rolle im Film „Der bewegte Mann“ von 1994 identifiziert, den er nach seinen Engagements an deutschen Theatern spielte. Für die dortige Rolle des leidenden Norbert Brommer an der Seite von Til Schweiger erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, so etwa den Bambi und den Deutschen Filmpreis. Danach folgten „Rossini“ und, ebenfalls zusammen mit Maria Schrader, der Film „Bin ich schön?“ von Doris Dörries. Auch internationale Filmprojekte folgten („Zugvögel … einmal nach Inari“ und „Gloomy Sunday – Ein Lied von Liebe und Tod“). Als Commissario Brunetti spielte er in Donna Leons Fernsehkrimis und war zuletzt im Kino als Killer in „Lautlos“ zu sehen. In Worms spielte er den König Gunther.

_Götz Schubert_
Er studierte an der staatlichen Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Zunächst Theater auf den Bühnen in Berlin, dann zahlreiche Fernsehproduktionen wie „Der Zimmerspringbrunnen“, „Die Affaire Semmeling“ von Dieter Wedel und der Kinofilm „NAPOLA“. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Für die Wormser ist er mittlerweile der „klassische“ Siegfried-Darsteller geworden und spielte diese Rolle schon bei der modernen Interpretation von Moritz Rinke in den ersten beiden Festspieljahren. Im letzten Jahr fiel er aus, wurde aber für die Wiederauflage des Beierschen Hebbel-Stückes erneut als Siegfried verpflichtet und ersetze Martin Lindow, der zuletzt den Siegfried spielte. Die Siegfried-Rolle bei Beier ist weniger männlich angelegt als die des kahlköpfigen Haudegen bei Rinke. Zuletzt drehte Schubert mit Veronika Ferres den ZDF-Zweiteiler „Neger, Neger, Schornsteinfeger“, davor stand er für Dieter Wedels Zweiteiler „Papa und Mama“ vor der Kamera, der im Januar 2006 im Fernsehen zu sehen sein wird. Im Maxim-Gorki-Theater in Berlin spielt er aktuell neben Jörg Schüttauf in der „Dreigroschenoper“ und als nächstes ebenfalls dort im „Zerbrochenen Krug“ den Dorfrichter.

_Tilo Keiner_
Er war auf der London Academy of Music and Dramatic Art. Neben verschiedenen Theaterengagements (u. a. Trier, Nürnberg und Köln, Hamburg, Bochum, Nürnberg) ging er auch zum Film und Fernsehen, z. B. für TV-Serien wie „SOKO 5113“ oder „Girlfriends“. Dann spielte er im Film „Saving Private Ryan“ unter der Regie von Steven Spielberg. Auch im deutschen Film „Der Ärgermacher“ war er zu sehen. Derzeit gastiert er auch als Musicaldarsteller Harry im ABBA-Stück „Mamma Mia!“ in Stuttgart. Bei den Nibelungen spielte er den Werbel an Etzels Hof und war damit dieses Jahr neu im Ensemble. Er ersetzte die Rolle von Andreas Bikowski (den Werbel vom letzten Jahr).

_Isabella Eva Bartdorff_
Sie spielte die skurrile Tochter Rüdigers und glänzte an der Seite von André Eisermann, der sie als Giselher in diesem Stück heiraten sollte, ganz besonders. Sie studierte Schauspiel an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst und war bereits an Theaterhäusern in Hamburg, Frankfurt, Essen, Bonn und Darmstadt.

_Itzhak Fintzi_
Er gilt in Bulgarien als Superstar und spielte vorm Wormser Dom auf seine charismatische Art den König Etzel. Dass er viele Passagen auf Bulgarisch spricht, macht seine Rolle besonders atmosphärisch.

_Sebastian Hufschmidt_
Er gibt den Gerenot, den Bruder des Königs Gunther. Er spielte an Theatern u. a. in Düsseldorf, Braunschweig und Hannover.

_Josef Ostendorf_
An Schauspielhäusern spielte er in Hamburg, Basel und Zürich. Bekannt ist er auch aus Fernsehfilmen wie „Wolffs Revier“, „Die Männer vom K3“, „Tatort“, „Bella Block“ und „Adelheid und ihr Mörder“. Mehrere Kinofilme sind auch darunter, z. B. „Der Campus“. Bei den Nibelungenfestspielen ist er von Anfang an dabei und spielte in den ersten beiden Jahren den Königsbruder Gernot. Bei Katrin Beier hatte er dagegen die Rolle des Volker von Alzey.

_Michael Wittenborn_
Er spielte an Theatern Hamburg und München. Für Dieter Wedel spielte er im Fernsehen u.a. „Der Schattenmann“, „Der große Bellheim“ und „Die Affaire Semmeling“. Bei den Festspielen spielte er den Markgraf Rüdiger von Bechelarn und ist der Ehemann der Regisseurin Karin Beier.

_Wolfgang Pregler_
Lernte an der Hochschule für Künste in Berlin. Schauspielerfahrung an den Theatern München, Berlin und Hamburg. Ebenso Film- und Fernsehproduktionen wie „Die Affaire Semmeling“ in der Regie von Dieter Wedel (2001) und der internationale Kinofilm „Rosenstraße“ mit Maria Schrader (2003). Auch er gehört zur Urbesetzung und spielte in den ersten beiden Jahren den König Gunther, bei Karin Beier allerdings Dietrich von Bern. Er stammt von den Münchner Kammerspielen.

Nach der letzten Vorstellung, die wie gewohnt mit langem Schlussapplaus endete, drückte Karin Beier jedem Schauspieler ein Glas Sekt in die Hand und es gab zahlreiche Küsschen zu sehen. Auch als die Zuschauertribünen dann leer waren, ging es nochmals gemeinsam auf die Bühne, um Abschied von der großartigen Kulisse vor dem Kaiserdom zu nehmen. Darauf folgte die Abschiedsparty mit Livemusik und einer Stimmung aus Heiterkeit und Melancholie. Lange Umarmungen und auch Tränen, denn dieses Ensemble, das sich menschlich so gut verstand, wird in dieser Zusammensetzung nie wieder zusammenkommen. Dieter Wedel hat angekündigt, für die nächsten Inszenierungen neue Schauspieler nach Worms zu schicken.

_Ein Blick auf die Statisten_

Ohne die Wormser Statisten, die jedes Jahr den Sommer für Proben und Aufführungen opfern, wären die Festspiele nicht vollständig. Es sind viele Wormser involviert, und das bereitet ihnen großen Spaß. Auch eine Hundemeute ist dieses Jahr mit auf der Bühne gewesen, und manche davon haben nach den Festspielen ein neues Herrchen bei den Statisten gefunden.

Manche entpuppen sich dabei als Neueinsteiger mit Karriere-Erwartungen im Schauspielbusiness. Seit dem ersten Festspieljahr besteht einmal im Monat ein regelmäßiger Statistenstammtisch. Trotz der intensiven, fast unbezahlten Arbeitszeit, ist es für alle ein Genuss, mit Größen wie Dieter Wedel oder früher Mario Adorf als Hagen gearbeitet zu haben. Mitunter erscheinen dort auch die Regieassistenz und der künstlerische Leiter der Festspiele, James McDowell.

_Ilka Kohlmann_
Hatte in den ersten beiden Jahren als Statistin angefangen und spielt nun bereits zum zweiten Mal die Mutter von Gudrun. Zwar hat sie nur einen Kurzauftritt, aber natürlich ist jeder Abend auch für sie ein großes Erlebnis, steht sie doch auch beim Schlussapplaus vor stehenden Ovationen mit auf der Bühne. Auch ihr Ehemann Jürgen ist immer dabei, in diesem Jahr als „Hunnen-Trommler“. Auch im nächsten Jahr werden beide wieder gefragt sein.

Ein kleiner Wormser Junge freut sich auch jedes Jahr ganz besonders auf seine Rolle. Er spielt das Kind von Kriemhild und Etzel, auch wenn er anschließend stets geköpft und verstorben die Bühne verlässt.

Dreißig Hunnen sind im Einsatz als Statisten, und deren Maske ist von den Professionellen zeitlich nicht zu bewältigen. Dafür wurde eigens ein Schminkwettbewerb ausgeschrieben und acht Wormser Frauen wurden ausgewählt. Auch für Kostüme und Waffen sind Wormser zuständig. Waffenmeister ist dabei Thomas Haaß, der im Zuge der Nibelungenthematik und der daraus entstanden Gewandeten-Szene ständig in Worms mittelalterlich mitmischt.

_Das Rahmenprogramm:_

_Filme_

Jedes Jahr gibt es ein begleitendes Filmprogramm, aber man kann nicht jedes Jahr die Nibelungen von Fritz Lang oder die Filme aus den 60er Jahren aufführen, und so zeigt man bereits im zweiten Jahr aktuelle Filme aus dem Wirken der Festspielschauspieler. Das waren diesmal Maria Schrader, die zusammen mit Dani Levy in „Meschugge“ die Jüdin Lena Katz spielte, einem Thriller, für den sie für ihre Rolle 1999 den Bundesfilmpreis als beste Hauptdarstellerin erhielt. Joachim Król spielt in „Gloomy Sunday“ eine Dreiecksgeschichte im Budapest der 30er Jahre während der Besetzung durch die Nazis. Und Manfred Zapatka spielte in der Komödie „Erkan und Stefan“ den Verleger Eckenförde, dessen Tochter von den beiden Komikern beschützt werden soll. Die Filme laufen auf großer Leinwand im Open-Air-Kino im Herrnsheimer Schloss. Mit gewöhnlichem Popcorn-Kino hat das also nichts zu tun. Man wird von Festpiel-Hostessen empfangen und steht vor und nach der Aufführung an Stehtischen bei einem Glas Wein zusammen.

_Otto Sander, die Nibelungen-Musiker und die Trommler von Worms_

Otto Sander und Gerd Bessler, der musikalische Leiter der Wormser Hebbel-Inszenierung, gestalteten einen „Heldenabend“ mit Texten und Musik, gespielt vom gesamten musikalischen Ensemble der Festspiele und unterstützt von fünfundzwanzig Trommlern. In den Texten hörte man die Gegensätzlichkeit der Helden durch die Epochen und Länder, und vor allem die Musik war natürlich ein Hörgenuss, in welchem mittelalterliche Motive mit modernen Jazzelementen verschmolzen. Eine Hör- und Augenweide waren vor allem auch die Wormser Trommler, die auf Stahlfässern und Landknechtstrommeln archaische bombastische Rhythmen schlugen. Über neunhundert Besucher sahen sich das an.

_Werner Schneyder und das Ensemble der Nibelungen-Festspiele lesen Richard Wagner_

Der bekannte Kabarettist und Sportmoderator führte durch die Handlung von Wagners „Der Ring des Nibelungen“, und die Schauspieler der Festspiele lasen die Texte. Wahrscheinlich wurde noch nie der ganze „Wagner-Ring“ in so kurzer Zeit in straffer Form dargeboten. Faszinierend waren tatsächlich auch die von Schneyder dargebotenen originalen und ausführlichen Regieanweisungen Wagners, die schmunzeln ließen, da diese selbst mit modernster Technik bis heute unrealisierbar geblieben sind. Auch diese Veranstaltung war ausverkauft, allerdings sicher weniger wegen des Wagner-Themas, sondern als Sympathie-Kundgebung der Wormser für „ihre“ Stars. Es kamen fast neunhundert Besucher.

_Theaterbegegnungen im Herrnsheimer Schloss_

Diese Veranstaltung hat bereits gute Tradition bei den Festspielen und stellt in der Vielseitigkeit des Programmablaufs einen der interessantesten Aspekte im Rahmenprogramm, den man nicht versäumen sollte. Das sehen sehr viele Besucher mittlerweile auch so. Zu den Morgenvorträgen kamen weit mehr als erwartet – man rechnet für solche wissenschaftlich-literarischen Vorträge normalerweise mit einem Interesse von 30 bis 40 Personen, aber die 150 Sitzplätze waren schnell besetzt und weitere etwa 50 standen noch draußen vor der Tür. Teils im schönen Saal des Schlosses, teils unter freiem Himmel, teils in der Remise, treffen sich Zuschauer und Künstler, Politiker, Wissenschaftler, Vertreter aus Kirche und Wirtschaft, um miteinander zu diskutieren, zu lachen und zu streiten. Eine einzigartige intime Gelegenheit, richtig nahe an die VIPs herantreten zu können. In diesem Jahr war das Thema „Was ist deutsch?“.

In den Morgenvorträgen beleuchtete Kulturkoordinator Volker Gallé Literatur und Politik als deutsches Dilemma, Monika Carbe referierte über den Missbrauch von Schiller als Nationaldichter und Gunther Nickel sprach anhand einer Zuckmayer-Rezipation über das Deutschlandbild vom Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Bundesrepublik und wies dabei fast nebenbei die Zuordnung von Ernst Jünger als rechtsgerichteten Autor vom Tisch. Dabei stellte er auch fest, dass dies der Stand der aktuellen Jünger-Forschung sei.

Für die Programmpunkte danach reichte natürlich der Platz mit dem wunderschönen englischen Park dahinter für alle aus – aber auch hier war die Remise dennoch gefüllt bis auf den letzten Platz. Mittags folgten Texte über die Deutschen, gelesen von den Festspiel-Darstellern, von Tacitus bis Willy Brandt – ein sehr aufschlussreiches intensives Erlebnis zum Deutschsein. Höhepunkt war wie schon im letzten Jahr der Auftritt von Wiebke Puls (Brunhilde) mit umgeschnalltem Akkordeon (und meist Zigarette im Mundwinkel) und Itzhak Fintzi (König Etzel), die mit dem Festspiel-Ensemble für ihre eigenen musikalischen Interpretationen der Hebbel`schen Nibelungentexte faszinierten und begeistern konnten. Sehr intim und locker startete bereits der Auftritt: „Hallo, wir sind hier, um ein bisschen Musik zu machen“. Cello, Geige, Trompete und viele subtile Schlaginstrumente präsentierten eine experimentelle musikalische Avantgarde. Die Zuschauer lieben es, wenn Wiebke Puls ins Mikrophon erbärmlich schreit, faucht und haucht. In der Zugabe kam auch Maria Schrader (Kriemhild) auf die Bühne und beide sangen anstatt des bekannten Königinnenstreits die mitreißend zärtliche Version einer Liebeshommage der Königinnen („You are so beautiful“) zueinander und lagen sich danach unter stürmischen Applaus in den Armen. Abgeschlossen wurde mit einer Podiumsdiskussion zum Thema „Was ist deutsch?“ mit Hark Bohm (Filmemacher), Dieter Wedel (TV- und Filmregisseur, Intendant der Festspiele) und Prof. Paul Nolte von der Universität Bremen.

_Jugendblasorchester Rheinland-Pfalz spielte zeitgenössische Kompositionen aus aller Welt und Joern Hinkel las dazu deutsche Reden und Aufsätze aus sechs Jahrhunderten_

Joern Hinkel ist Regieassistent von Dieter Wedel und las Texte von Deutschen über Deutsche, Thesen und Antithesen, Beschwerden, Aufrufe, Zornausbrüche, Gedichte und Gesetzestexte, lächelnd, tobend und analytisch. Dazu gab es zeitgenössische Musik, die von der Heimat erzählte.

_Peer Gynt_

Einer der weiteren Höhepunkte war die Darbietung des Festspielschauspielers André Eisermann, der mit der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz Edward Griegs Schauspielmusik zu „Peer Gynt“ darbot. Das war eine seltene Gelegenheit, die originale Bühnenmusik gelöst vom literarischen Ursprung zu erleben. Neben der Philharmonie waren auch der Wormser Bachchor und „Cantus Novus“ sowie die Sopranistin Caroline Melzer integriert, die zusätzlich das Lied der Solveig sang. Der rote Faden der Schauspielhandlung wurde durch Zwischentexte nachvollziehbar. Den Part der Titelfigur übernahm André Eisermann und machte wie gewohnt seine Lesung zum Erlebnis. Ob nun Goethes Werther oder das Hohelied der Liebe – mit denen er früher Lesungen gab –, schafft er es immer, das Publikum in seinen Bann zu ziehen. Er rezitiert nämlich nicht, sondern verkörpert das, von dem er spricht. Seine jährlichen Vorstellungen im Begleitprogramm der Festspiele sind in Worms seit jeher stets ausverkauft. Aber auch Eva Bartdorff, die ebenfalls Texte las, war ihm ebenbürtig.

_Musikwettbewerb_

Für dieses Jahr hatten die Festspiel-Veranstalter eine ganz besondere Idee und riefen zu Beginn des Jahres zu einem Musikwettbewerb auf, wo jeder Nibelungensongs einreichen konnte. Aus über 50 Liedern wählte eine Jury, bestehend aus SWR, der Popakademie Mannheim und den Festspielen, zehn Bands aus. Diese spielten an zwei Abenden je 30 Minuten Programm und das Spektrum reichte dabei von Reggae, Rap, Pop und Rock über Volksmusik, Country und Dark Wave bis zur Klassik. So verschieden die Stilrichtungen waren, umso unterhaltsamer waren entsprechend auch die Beiträge zum Nibelungen-Thema.

Eine CD dazu ist auch erhältlich, auf der alle ausgewählten Bands „ihren“ Nibelungen-Song präsentieren. Ein Beiheft enthält alle Texte und die Anschaffung macht Freude und ist auch sehr günstig. Die „Musikwettbewerb – Nibelungen-Festspiele Worms“-CD kostet nur 5 Euro und ist erhältlich über info@nibelungen-museum.de.

Enthalten darauf ist auch der Song ‚Siegfried‘ von _Corpsepain_, welche auf der Schwesternseite von |Buchwurm.info|, |POWERMETAL.de|, mit ihrer dunklen Saga-Interpretation des Nibelungen-Themas rezensiert wurden: [„The Dark Saga of the Nibelungs“.]http://www.powermetal.de/cdreview/review-6242.html Sie schlugen sich auch recht gut im Vergleich zu anderen Bands, und wenn ich mich nicht ganz täusche, stieß ich mit meinen Freunden während ihres Auftritts auf „Friedrich“ an (Nietzsche versteht sich). Auch diese CD ist für 9,99 Euro zu beziehen unter info@nibelungen-museum.de.

Das Abschlusslied der CD, ‚Brunhilds Klage‘, stammt von _Weena_, die die besten Interpreten auf dem Festival waren und auch in der Publikumsgunst ganz oben stehen. Sie beschlossen, nachdem sie beim Wettbewerb ausgewählt wurden, eine ganze Rockoper zu den Nibelungen zu verfassen und spielten daher auch ein reines Nibelungen-Set. Thomas Lang ist Rockmusiker und Sylva Bouchard-Beier ausgebildete Opernsängerin. Wie sie zueinander fanden, ist auch eine besondere Geschichte. Thomas kam, um seine Stimme bei ihr ausbilden zu lassen und beide merkten schnell, dass der Crossover aus Rock und Klassik begeistert. Ihre Musik, die in melodischen Passagen in ihrer Heiterkeit an Elemente von |Goethes Erben| erinnert, im Zusammenklang des Beats mit opernartiger Klangfülle aber eher Bands wie |Therion| zuzurechnen ist – und damit natürlich auch an Wagner erinnert –, hat auch wegen der stimmlichen Leistung von Sylva etwas von |Rosenstolz|. Bislang wird die pompöse Zusatzmusik noch durch Synthesizer eingespielt, aber der Auftritt mit einem großen Orchester ist geplant und durch die Zusammenarbeit mit der Festspiel GmbH auch nicht mehr utopisch. Den ersten Teil der Rockoper, „Das Nibelungenlied – Von Betrug, Verrat und Mord“, gibt es bereits auf CD, nächstes Jahr wird der zweite Teil folgen. Auch diese CD ist relativ günstig über das Nibelungen-Museum für 13 Euro zu erwerben: info@nibelungen-museum.de.

Das Festival nannte sich „Coole Sounds für Kriemhild, Hagen & Co.“ und war den Besuch wert. Leider aber waren im Gegensatz zum anderen Rahmenprogramm der Festspiele die beiden Musikfestival-Tage sehr mager besucht, was darauf schließen lässt, dass im nächsten Jahr dieses neue Experiment gestrichen wird. Das wäre sehr schade, denn die Idee war gut und ein Musikfestival ist sicher ein wichtiger Baustein, der einfach noch eine Chance bräuchte, sich zu etablieren. Dass dagegen _Weena_ in einem eigenen Konzert ihre Oper aufführen dürfen, ist mehr als sicher, so umfeiert, wie sie in der lokalen Presse wurden.

_Kikeriki-Theater_

Im dritten Jahr ist dieser Programmpunkt bereits ein durchgehend ausverkaufter Renner während der Festspiele. Das Darmstädter Kikeriki-Theater bot mit „Siegfrieds Nibelungenentzündung“ ein sagenhaftes Blechspektakel um Siggi, Albi und den smarten Lindwurm im Hessen-Dialekt: deftig, heiter und krachig.

_Weiteres Programm_

Nicht nur Nibelungen waren Thema des Rahmenprogramms. Die neue städtische [Literaturinitiative,]http://www.worms.de/deutsch/leben__in__worms/kultur/literaturinitiative-worms__teilnehmer.php der auch |Buchwurm.info|-Schreiber Berthold Röth angehört, trug mit Lesungen bei: _Manfred Krug_ las Bertolt Brecht, _Christian Quadflieg_ las Friedrich Hebbel (immerhin hatte dieser auch das Nibelungen-Festspiel ursprünglich verfasst) und gerne möchte er in einer künftigen Inszenierung einmal den Hagen spielen; _Eva Menasse_ las aus ihrem Debüt-Roman „Vienna“.

Diese Lesungen kosten natürlich Eintritt, aber die_ [Nibelungenlied-Gesellschaft]http://www.nibelungenlied-gesellschaft.de/ _veranstaltete während der gesamten Festspiele morgens um elf Uhr im Historischen Museum kostenlose Vorträge zum Nibelungenthema, die in diesem Jahr den Stoff im Rahmen der europäischen Literaturgeschichte betrachteten. Das Heldenepos ist zweifelsfrei eingebettet in eine europäische Kulturtradition. Das Publikum dafür ist gemischt, es kommen sowohl Wormser als auch Festspielbesucher der Stadt, die sich mit dem Thema näher beschäftigen wollen. Die Vorträge haben wissenschaftlichen Anspruch, sind aber auch für den Laien verständlich gehalten. Im Einzelnen:

„Untergangsszenarien an der Wende zur neuen Zeit – das Nibelungenlied und Hamlet“
„Die Nibelungen in Hebbels Briefen“
„Höfische Heldendichtung im Umfeld des Nibelungenliedes“
„Fantasien von Germanen und Kelten – Fouqués „Held des Nordens“ und Macphersons „Ossian“
„Rüdiger und Dietrich im Nibelungenlied und bei Hebbel“
„Das Nibelungenlied und die Märchen“
„Die Nibelungen als Fantasy-Stoff“ und
„Die Geburt des Rechts aus der Rache – Orestie und Nibelungenlied im Vergleich“.

Normalerweise werden diese Vorträge auch auf die angegebene Website gestellt, jedenfalls findet man dort auch die Vorträge früherer Jahre.

Alles Weitere auch noch en detail aufzuzählen, sprengt den Rahmen dieses Überblicks. Es gab noch mehrere verschiedene Märchenabende mit Harfenbegleitung, Theater-Aktionstage für Kinder und Jugendliche, neben dem Kikeriki-Theater noch weitere neue Kindertheaterstücke um Drachen und Ritter. Da die Festspiele in die Ferienzeit-Programme fallen, gab es darüber hinaus von vielen kleineren Anbietern Thematisches zu Siegfried und den Nibelungen. An weiteren Musikveranstaltungen spielten „Il Cinquecento“ im Dominikanerkloster Musik der Renaissance und „Capella Antiqua Bambergensis“ mittelalterliche Musik. An Ausstellungen zum Nibelungen-Thema gab es gleich vier an verschiedenen Orten: „Siegfriede – Auf der Suche nach Helden unserer Zeit“ (sehr freie, moderne Interpretationen im Kunsthaus und im Historischen Museum), „Bilder zum Nibelungen-Buch im ARUN-Verlag von Linde Gerwin und Nibelungenskulpturen von Jens Nettlich“ (Nibelungen-Museum) – http://www.nibelungenkunst.de/ – und in der Sparkasse eine Bilderreise zu den Schauplätzen des Nibelungenliedes aus dem |dtv|-Buch „Wo Siegfried starb und Kriemhild liebte“.

Für die Wormser Bevölkerung gibt es eineinhalbstündige Backstage-Vorführungen hinter den Kulissen, die einen Blick auf die Masken, das Anprobieren etc. erlauben und durch das tolle Ambiente mit dem Wormser Dom sowieso sehr außergewöhnlich sind. Die Sakristei des Gotteshauses ist abends sogar plötzlich zur Garderobe umfunktioniert, in welcher hektisch die Bekleidung gewechselt wird. Die kirchlichen Vertreter sind da auch ganz ambivalent, sie erlauben wohlwollend das ganze Spektakel, sind aber auch kritisch, dass ihre christliche Kulisse jährlich zur Todesbühne wird, wo ein Schrecken und Schauer auf den anderen folgt.

Neben den Schauspieler-Talkrunden gab es auch ähnliche kleine Gespräche vor Publikum mit sonstig im Rahmenprogramm Tätigen, wie Christian Quadflieg, der ja seinen persönlichen Hebbel in einer Veranstaltung präsentierte. Ebenso mit Otto Sander, auch einer der bedeutendsten deutschen Schauspieler („Die Blechtrommel“, „Das Boot“, „Der Himmel über Berlin“), der über sich und sein Leben sprach, was der SWR live im Radio übertrug.

_Ausblick_

2006 noch nicht, aber 2007 werden die Festspiele eine Woche länger gehen. Das Rahmenprogramm wird noch weiter ausgebaut und qualitativ gesteigert werden. Dieter Wedel will auch während der Festspiele eine Art „Meisterschule“ mit Workshops für Theaternachwuchs aus der Region aufmachen. Dazu wird mit den umgebenden Theatern Kontakt aufgenommen und auch das jeweilige Festspiel-Ensemble eingebunden. 2006 hat auch ein Jugendtheaterprojekt seine Premiere.

An Inszenierungen gibt es in den nächsten beiden Jahren wieder das Stück von Moritz Rinke, das in den ersten beiden Festspieljahren aufgeführt wurde. Mit diesem hatten die Wormser Festspiele 2002 begonnen und es war erstmals wieder eine ganz neue Fassung der Nibelungen. Dies wird nun aber in der Länge stark erweitert, so dass 2006 der erste Teil zur Aufführung kommt und erst 2007 der zweite Teil folgt. Regie wird dann auch wieder Dieter Wedel selbst führen. Die Besetzung des Ensembles soll zur Auflockerung allerdings eine völlig andere sein. Otto Sander ist als Hagen im Gespräch, aber Manfred Zapatka ist gigantisch und schwer ersetzbar. Bleiben werden wohl Maria Schrader als Kriemhild und Götz Schubert als Siegfried. Ein Schauspieler-Team von der Güte des jetzigen Ensembles zusammenzustellen, ist ein großes Problem. Auch soll die Besetzung viel größer sein als dieses Jahr.

Für die Zeit danach denkt man an ein Nibelungen-Musical, die „Nibelungen“ zumindest mit großer Musikbegleitung, wenn nicht sogar an eine Rock-Oper. Selbstverständlich würde für die Rolle des Siegfried dann ein bekannter Rocksänger verpflichtet. Im Ideenspektrum Wedels für das Rahmenprogramm ist auch „Das Leben des Siegfried“ – eine Collage aus Pantomime, Liedern und Szenen, ausschließlich auf Siegfried bezogen, comicstripartig. Nicht umsonst erinnert der Arbeitstitel an Monty Python`s satirischen Filmklassiker „Das Leben des Brian“. Götz Schubert schlägt im Beiprogramm ein Kammerstück vor, in dem geschildert wird, was in den sieben Ehejahren zwischen Kriemhild und Siegfried passiert – „Szenen einer Nibelungenehe“. Oder auch, welche Verbindungen zwischen Siegfried und Brunhild bestehen, schon vor ihrem Zusammentreffen, bei dem sie von den Burgundern getäuscht wird. Die Möglichkeiten für zusätzliche Geschichten in der eigentlichen Sage sind endlos. Das Hebbel-Stück als Inszenierung ist für die nächsten Jahre jedenfalls zu den Akten gelegt.

Leben lieben

Ein Kapitel aus Max Köhlers neuem unveröffentlichtem Roman „Leben lieben“.

Max Köhler wurde 1942 in Pilsen als Sohn eines deutsch-böhmischen Kaufmanns und einer südfranzösischen Kaufmannstochter geboren. Er studierte Malerei und arbeitete als Fotoreporter und Textredakteur bei Tageszeitungen. Seit 1988 lebt er als freier Maler in Schutterwald bei Straßburg.

http://www.koehler-max.de/

_Gott steh uns bei: ein Heimatmaler_

Professor Subers jüngster Bruder Fritz (auch schon vierundfünfzig Jahre alt) war Maler, genauer gesagt „Heimatmaler“. So wurde er jedenfalls in der Schlossenhausener Lokalzeitung genannt. Überflüssig zu sagen, dass der Professor ihn aus ganzem Herzen verachtete, weil er nicht die Kraft hatte, in einem bürgerlichen Beruf zu arbeiten.

Fritz war anfangs nicht sehr glücklich über den Begriff Heimatmaler, den ihm die Lokalzeitung übergestülpt hatte, fand sich aber später damit ab. Gegen Ende seines Lebens trug er ihn gar als Ehrentitel. Da der Zeitgeist alles verächtlich machte, was mit dem Begriff „Heimat“ zusammenhing, fühlte er sich verpflichtet, für die Heimat einzutreten. Er tat das nicht etwa, weil er seine Heimat liebte, ganz im Gegenteil, sie war ihm oft genug zuwider, aber er musste sich aus irgendeinem verqueren Oppositionszwang für alles einsetzen, wogegen die anderen waren, ohne zu begreifen, weshalb sie dagegen waren und er dafür. Fritz war etwas wirr im Kopf und, gelinde gesagt, sehr verträumt. Er konnte sich auf nichts konzentrieren, am allerwenigsten auf seine Bilder. Merkwürdigerweise schadete das seinen Werken nicht. Sie wirkten pointilistisch. Vermutlich war jeder Point einer seiner Konzentrationshöhepunkte.

Er war groß und hatte eine merkwürdige Art zu gehen: Sein Oberkörper blieb dabei relativ ruhig, aber krumm wie ein Fragezeichen, während er die Beine nach vorne warf, fast von sich schleuderte und sein müder verbogener Oberkörper sie ganz behutsam wieder einholte, als ob er mit seinen Beinen eine Pflicht vorgab und sein Körper keine Lust hätte, sie zu erfüllen, es dann aber doch tat, provozierend langsam wie ein renitenter Internatsschüler. Wiegend und schaukelnd eierte unser Mann vorwärts: ein arrogantes Dromedar, das seine Beine losschickte und den höckrigen Oberkörper in die kulturelle Wüste einer mittelbadischen Kleinstadt nachschleifte.

Seine ganze Körpersprache sagte: Lasst mich bloß in Ruhe, ihr seht doch, dass ich schon genug Mühe habe, mich zu bewegen, warum sollte ich also noch etwas tun, wozu ich ganz gewiss nicht in der Lage bin, denn so ungeschickt, wie ich mich bewege, erledige ich auch alles andere, verschont mich mit euren Bitten um dieses und jenes, ich schaffe es nicht.

Und tatsächlich war ihm fast alles im Leben öde Pflicht. Er konnte nicht unterscheiden zwischen Freizeit, Sport, Arbeit oder Vergnügen, ihm war alles gleich zuwider, aber er sah ein, dass er nicht den ganzen Tag im Bett liegen und lesen konnte, obwohl er dies am liebsten tat, und er sich nur von Rückenschmerzen hinlänglich aufgefordert sah, seine Liegestatt zu verlassen. Lesen im Bett war seine einzige Leidenschaft. Anfangs waren es gute Bücher gewesen, denn er hatte keinen schlechten Geschmack, was man bei diesem trägen Mann eigentlich nicht vermutetet hätte, denn auch eine so scheinbare Kleinigkeit wie ein guter Geschmack verlangt eine gewisse Anstrengung, nämlich ihn zu erwerben, aber Fritz war hier ein Naturtalent, er las von Anfang an und ohne dass ihm das einer empfohlen hätte, nur gut geschriebene Bücher. War er einmal durch Unaufmerksamkeit, Bequemlichkeit oder Nachlässigkeit an ein schlechtes geraten, war er in der Regel nicht über die erste Seite hinausgekommen.

Jawohl, Weltliteratur las er, wie er sich stolz immer wieder selbst vorsagte, denn es war ja niemand da, den er darüber hätte aufklären können, weil auch das weibliche Geschlecht ihn mied wie selbstverständlich die Männer, die mit einem Geschlechtsgenossen nichts anfangen konnten, der sein halbes Leben verschlief, verlag oder verlas.

Nur gute Bücher zu lesen, hat jedoch den Nachteil, dass einem irgendwann der Stoff ausgeht, weil es nicht unendlich viel davon gibt, und so sank Fritz nach einigen Jahren Weltliteratur eine Stufe tiefer und fing an, Tageszeitungen zu lesen, weil es davon jeden Tag Nachschub gab. Er las selbstverständlich nur die besten Zeitungen, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, die „Süddeutsche“ und die „Neue Zürcher Zeitung“. Gerade die Zürcher Zeitung machte ihm viel Freude, weil die Schweizer Wörter verwendeten, die es im Deutschen nicht gab.

Fritz amüsierte sich eine Weile mit dem Spiel, die Tendenz eines objektiven Artikels zu erraten, aber eines Tages wurde ihm dies zu langweilig und er fing an, die Lokalzeitung von Schlossenhausen zu lesen. Spätestens hier hätte er sich eingestehen müssen, dass er süchtig nach Lesestoff war, denn las einer die Heimatzeitung, der bei klarem Verstand war? Einmal wurde die Lokalzeitung aus irgendeinem Grunde nicht geliefert und er machte sich mit schweren Entzugserscheinungen über die Gebrauchsanweisung seiner neuen Kaffeemaschine her. Er las sie von sieben Uhr morgens bis etwa zwei Uhr nachmittags und danach hätte er schwören können, dass er immer noch nichts verstanden hatte.

Von einer gewissen Unruhe getrieben, wachte er jede Nacht gegen zwei Uhr auf und wartete von da an auf das Lokalblatt, das gegen vier Uhr vierundzwanzig eintraf. Er las es dann langsam, damit er möglichst viel davon hatte, angefangen von der Nachricht, dass sich die dritte Riege des Turnvereins im „Grünen Baum“ traf, bis hin zu den Sprechstunden des Oberbürgermeisters am Donnerstagabend um acht. Er verglich das Gelesene von Zeit zu Zeit mit seiner Weltsicht, die er sich als Kind durch die Lektüre der „Micky-Maus“-Hefte erworben hatte, und fasste die Diskrepanz in unnachahmlichen Aphorismen zusammen, die ihm bei schlichteren Gemütern den Ruf einbrachten, „durchzublicken“, bei den Kassiererinnen in seinem Supermarkt dagegen Unwillen hervorriefen, weil er sie zu oft wiederholte, ohne sie zu aktualisieren.

Nachdem er alles gelesen hatte, was man in Entenhausen lesen konnte, und ihm der geringe Nutzen einer aus dem Chinesischen übersetzten Gebrauchsanweisung für Kaffeemaschinen klar geworden war, sah er sich nach neuen Gewohnheiten um und stieß dabei auf den Historischen Verein. Er besuchte eine Zusammenkunft des Ausschusses für Vorgeschichte. Hier dominierte ein älterer Herr, der keinen Satz grammatikalisch richtig zu Ende bringen konnte, was auf die Dauer doch ein wenig störte, weil man gezwungen war, zu erraten, was er meinte. Das brachte zwar eine gewisse Würze hinein, weil alle versuchten, zu erraten, was der Vorsitzende gesagt hatte, aber auf die Dauer war es doch ein wenig ermüdend.

So erriet der Ausschuss für Vorgeschichte eines Tages, dass der Vorsitzende meinte, steinzeitliche Opferstätten entdeckt zu haben, weil er Vertiefungen auf großen Felsblöcken im Schwarzwald gefunden hatte, die er für Blutrinnen hielt. Andere Historiker außerhalb des Ausschusses erklärten zwar, das seien Regenrinnen, aber der Ausschuss fand Blutrinnen einfach spannender und einigte sich mit seinem Vorsitzenden auf Blutschalen. Wer geopfert hatte, wurde nicht ganz klar, vielleicht die Kelten, aber wahrscheinlich waren es doch Steinzeitleute. Was sie geopfert hatten, wurde in langen Sitzungen beschlossen, man tendierte zu Tieropfern, ohne Menschenopfer ganz auszuschließen, aber Tieropfer waren deshalb besser, weil es sich möglicherweise bei den Opferpriestern um Vorfahren des Ausschusses für Vorgeschichte gehandelt hatte und keiner rituelle Mörder zu Verwandten haben wollte.

Manche Leute in Schlossenhausen fragten sich natürlich, womit Fritz seinen Lebensunterhalt verdiente. Solche Fragen waren ihm peinlich. Er wollte nicht zugeben, dass er die meiste Zeit des Tages nur im Bett lag und las und so erfand er die Mär vom Kunstmaler, der wenig malte, weil er viel nachdachte. Er wollte niemanden erzählen, dass er von einer sektenbesessenen Tante mit einem undurchsichtigen Vorleben einige hunderttausend Euro geerbt hatte und nicht die geringste Lust verspürte, etwas Vernünftiges zu arbeiten. Das hätte im sozialistischen Schlossenhausen böses Blut gemacht. Weil ihn aber die Leute immer unverschämter nach seiner Malerei fragten, krakelte er ein paar Bilder auf Leinwand und bastelte sich eine Theorie dazu, denn man musste als Maler eine Theorie haben, so etwas wie eine Sendung oder zumindest eine Botschaft, sonst wurde man bei den Verantwortlichen der städtischen Galerie nicht ernst genommen und hatte auch im Künstlerverein einen schweren Stand; ja, man bekam nicht einmal einen Ausweis als Künstler, mit dem man Pinsel zum halben Preis kaufen konnte.

Schlau wie Fritz nun einmal war – denn die Bequemen sind auch schlau, vermutlich, weil sie ständig darüber nachdenken müssen, wie man Beschäftigung vermeidet – erfand er die Theorie, dass man als Maler keine Theorie brauchte, sondern einfach nur das malen sollte, was einem auffiel und das dann möglichst so, dass man es wiedererkennen konnte.

Natürlich ging ein Aufschrei durch die lokale Malszene. Fritz wurde auf der Stelle geächtet und war fortan kein denkender Maler mehr, sondern ein geistig beschränkter Kunsthandwerker. Die Schwierigkeiten mit der städtischen Galerie nahmen zu, was ihn aber nicht weiter störte, denn so konnte er endgültig im Bett bleiben, weil sich keiner um ihn kümmerte, mögliche Kunden mit eingeschlossen.

Aus Langeweile brach er aber eines Tages dann doch eine heftige Auseinandersetzung mit der Leiterin der Galerie vom Zaun, einer promovierten Kunsthistorikerin, die auf der Höhe der Zeit war und Fritz deshalb als parasitäres Subjekt betrachtete. Nicht etwa, weil er im Bett lag und dort nichts tat, sondern weil er ein Mann war und malte. Es gab doch so viele unterdrückte Frauen, die auch malten. Und viel besser malten als Fritz, zeitgemäßer, minimalistischer oder gestischer. Fritz war nicht nur ein parasitärer Maler, sondern malte auch noch nach Ansicht seiner Kolleginnen (die meisten waren Hausfrauen oder Lehrerinnen) viel zu hausbacken und kundenfreundlich. Sein schlimmster Fehler aber war, dass er gut malte. Das war auf keinen Fall zu tolerieren. Musste man nicht als moderner Maler auf Konventionen pfeifen? Wer ließ sich heute noch in das Gefängnis einer guten Malerei einsperren? Mit dem Gegenteil mochte Fritz aber nicht dienen, und so versank er erleichtert, weil keine Nachfrage nach seinen Bildern herrschte, wieder in die Bettkissen, rechts die „Frankfurter Allgemeine“, links Musils „Drei Frauen“ und auf dem Nachttisch Sartres „Wörter“, wovon ihm besonders die ersten drei Seiten gefielen, auf denen der Philosoph seinen Verwandtschaftsgrad zu Albert Schweitzer beschrieb. Fritz Suber hatte das allerdings schon mindestens ein Dutzend mal gelesen, was die Brillanz dieser zweiundsiebzig Zeilen doch ein wenig milderte.

Die Kunsthistorikerin war vom Oberbürgermeister eingestellt worden, weil dieser von der Vision geplagt wurde, eine Stadt von der Bedeutung Schlossenhausens müsse ein Kunstleben haben, um leitende Angestellte und Fabrikanten herzulocken. Sein Plan sah so aus: Ist Kunst da, kommen auch leitende Angestellte. Fehlt Kunst, bleibt diese wichtige Oberschicht weg und die Stadt versinkt in Dumpfheit, ganz abgesehen davon, dass er dann zu wenig Gewerbesteuer einnahm und das Rathaus nicht umbauen konnte.

Nun mochten zwar die Dumpfen in der Stadt die leitenden Angestellten nicht, weil diese in der Regel aus Norddeutschland kamen, und Norddeutsche spätestens seit Luthers Sprachgewohnheiten und dem daraus resultierenden Dreißigjährigen Krieg in Süddeutschland etwa so gern gesehen waren wie Vegetarier in einer Metzgerei.

Aber der Oberbürgermeister verstand nichts von Kunst, weil sein Vater Bote bei der Ortskrankenkasse gewesen war und einen harten Kampf um seine Existenz hatte führen müssen. Deshalb hatte er seinen Sohn auch nicht an die Kunst heranführen können. Nur der Kalender der Krankenkasse hatte im Elternhaus des Oberbürgermeisters an Malerei erinnert. Deshalb wusste der Oberbürgermeister nicht, dass ein kunsthistorisches Studium zur Beurteilung von neuen Kunstentwicklungen wenig taugt, weil ein Kunsthistoriker nur rückwärts blicken kann, wie schon der Name sagt. Das löste natürlich das Dilemma nicht: denn wen sollte er sonst die lokale und internationale Kunstszene beobachten lassen? Er kam einfach nicht auf die Idee, jemanden zu beauftragen, der etwas Geschmack hatte, denn das Beamtengesetz verlangte für eine höhere Stelle ein abgeschlossenes Studium. Es war klar, dass man guten Geschmack nicht einfach studieren konnte, noch dazu, wenn die Professoren auch keinen guten Geschmack gehabt hatten. Außerdem: Wie hätte wohl der Oberbürgermeister jemanden mit gutem Geschmack erkennen können? Da er selbst keinen hatte, konnte er auch nicht sehen, wenn jemand ihn hatte. Und wieso einer Oberbürgermeister werden konnte, der keinen Geschmack und kein Urteil besaß, führte Suber zu tiefgreifenden Überlegungen, an deren Ende die entautorisierten Eliten nach dem verlorenen Kriege standen.

Fritz schien es, als ob eine sich fortpflanzende Fernwirkung des verlorenen Krieges unsere Nation zur Mittelmäßigkeit zwingen würde. Unsere neuen Eliten wollten, so sah es Fritz, nach dem Kriege um keinen Preis der Welt mehr auffallen; nach all den „Auffälligkeiten“ des von uns angezettelten und verlorenen Weltkrieges sicher kein ganz unverständlicher Wunsch. Da unsere neuen Eliten keine Philosophen gewesen seien und auch keine Zeit zum Nachdenken gehabt hätten, seien sie auf den Gedanken gekommen, einfach das Gegenteil von dem zu tun, was die Nationalsozialisten getan hätten. Das aber hätte in eine Sackgasse geführt, weil nicht alles falsch gewesen sei, was die Braunen gesagt oder getan hatten. Wenn beispielsweise ein Nationalsozialist gemeint habe, ein Reh sei braun, könne es nach dem Krieg nicht automatisch grün werden, weil wir den Krieg verloren haben.

Hans Thoma konnte nicht deswegen zum schlechten Maler werden, weil nach dem Krieg alles anders war. Wenn man Thoma verachtete, weil die Nazis ihn verehrt hatten, beging man doch, so schien es Fritz, genau denselben Fehler wie die Nazis, die seine Malerei zur Staatskunst erhoben hatten: Nach dem Krieg gehörte es zur politischen Korrektheit in Westdeutschland, über den Heimatmaler Thoma milde zu lächeln, als habe er es nicht besser gekonnt, weil er eben ein schlichter Junge aus dem Hotzenwald gewesen sei. Keinesfalls war es erlaubt, so zu malen wie er, sonst wurde man vom Kunstbetrieb geschnitten. Das sah dem Mal- und Ausstellungsverbot der Nazis ziemlich ähnlich. Eigentlich war es nur die andere Seite derselben Medaille: „Kunst wird von Staats wegen verordnet – wer anders denkt, wird ausgegrenzt“. Man musste dankbar sein, dass man nicht in ein Arbeitslager kam, wenn man wie Thoma malte. Doch eigentlich landete man ja im Arbeitslager. Da niemand die Bilder kaufte, die im Stil von Thoma gefertigt waren, weil sie politisch unkorrekt waren, musste man letztendlich arbeiten gehen und sich um eine Stelle als ungelernter Arbeiter bemühen, da man ja nichts anderes gelernt hatte als zu malen wie Thoma. Da auf den Akademien nicht gelehrt wurde, zu malen wie Thoma, hatte man es sich wie ein dissidierender Ostblockmaler selbst beibringen müssen. Wagte man sich mit diesen Bildern an die Öffentlichkeit, wurde man zwar nicht verhaftet, aber gnadenlos ausgepfiffen. Man geriet sozusagen in die Sippenhaft des Ausgepfiffen- und Verachtetwerdens. In einem Konzentrationslager hätte man wenigstens Gleichgesinnte neben sich gehabt. Als Thoma-Nachfolger hingegen blieb einem in Westdeutschland nach dem Krieg nur die Einzelhaft der Einsamkeit.

Angefangen hatte dieses geistige Zwangskorsett mit der Gesinnungs-Schnüffelei der Entnazifizierungsbehörden, die einfach die Gesinnungs-Schnüffelei der Nazis kopierten, nur anders herum. Wer blond und blauäugig war, tat fortan gut daran, sich umzufärben, wer den Heimatmaler Hans Thoma liebte, hielt am besten den Mund.

Fritz hätte es übrigens gerne gesehen, wenn sich Ministerialbeamte oder Feuilletonisten wie Enzensberger um diese Fragen gekümmert hätten. Dass sie dazu beharrlich schwiegen, das Problem nicht aufgriffen, ja es anscheinend gar nicht erkannten (sonst hätten sie sich ja dazu geäußert, und man hätte davon gehört), ärgerte ihn maßlos.

Man ist erstaunt, dass sich ein so träger Mann wie Fritz überhaupt ärgern konnte. Ärgern verlangt doch auch einen gewissen Einsatz. Aber er konnte sich über vieles ärgern. Das steigerte sich, weil er ja mit niemanden reden konnte, zu regelrechten Wutanfällen. Sprach er dennoch einmal mit einer Zufallsbekanntschaft, hörte er nicht zu, sondern hing weiter seinen Gedanken nach. So konnte es passieren, dass er mitten in einem harmlosen Gespräch plötzlich einen Wutanfall bekam, der seine Gesprächspartner erschreckte, weil sie nicht begriffen, wie er zustande gekommen war, jedenfalls nur schwer auf die gegenwärtige Situation bezogen werden konnte.

Man könnte nun auch vollkommen berechtigterweise fragen, was Fritz die Eliten nach dem Kriege angingen, er war ja weder Ministerialbeamter noch Dichter. Aber wir müssen einfach feststellen, dass er sich diese Gedanken machte. Er hatte die Angewohnheit, sich um Dinge zu kümmern, die ihn nichts angingen und andererseits Themen zu vernachlässigen, die eindeutig seine Sache waren, wie etwa die, höflich zu sein und sich um seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Das war ja gerade der Ärger, den er in Schlossenhausen verursachte. Er fühlte sich für Dinge zuständig, für die er nicht zuständig war.

Den Oberbürgermeister und den Kulturamtsleiter von Schlossenhausen fesselte zu der Zeit, als die Frage auftauchte, was eigentlich Kunst in Schlossenhausen sei, noch ein anderes Problem, nämlich die Frage, woher sie selbst kamen. Der Oberbürgermeister wollte seinen Vater vergessen machen, weswegen er immer viel zu elegante Kleidung trug, die er für vornehm hielt, aber natürlich gerade damit auf seine bescheidene Herkunft aufmerksam machte, und der andere prahlte ständig mit seinen Ahnen, weil er wusste, dass ihm etwas fehlte, er wusste nur nicht, was es war, aber er ahnte, dass es mit seiner Herkunft zusammenhing. Jedem zufälligen Gesprächspartner erläuterte er, dass er von Luthers Schwiegervater abstamme, was ihm zwar niemand so recht glauben wollte, aber bei Aufsteigern einen großen Eindruck hinterließ, weil es sich so schwer nachprüfen ließ. Wie um alles in der Welt prüfte man nach, ob man von Luthers Schwiegervater abstammte? Kein Wunder, dass Genealogen und Wappenmacher in Schlossenhausen unerwartet Aufträge bekamen, die sie selbstverständlich zur Zufriedenheit der Auftraggeber ausführten.

Irgendwie muss der Kulturamtsleiter aber doch Angst vor ernsthaften Recherchen bekommen haben, denn nach einigen Jahren wandelte er die Geschichte von seiner Herkunft etwas ab. Sie hörte sich dann so an: Meine Vorfahren waren ausnahmslos Pfarrer. Pause. Selbstverständlich nur bis zur Reformation. Hahahaha. Diesen Sketch führte er ungefähr dreimal am Tag auf und hielt sich dabei für zurückhaltend, weil er auf die ständige Erwähnung seines Onkels verzichtete, der Bischof gewesen war und angeblich Hitler dreimal energisch widersprochen hatte.

Die Leiterin der Städtischen Galerie lobte auf Wunsch des Oberbürgermeisters einen Kunstwettbewerb aus, bei dem sie von vorneherein wusste, wer ihn gewinnen würde, nämlich Gerda Breuer, die Freundin der Frau des Oberbürgermeisters, jene schüchtern-zurückhaltende Malerin, die so breiig ausufernd malte und dabei alle Konventionen, die vor 1945 gegolten hatten, missachtete. Um auch sicherzustellen, dass Gerda den Wettbewerb gewann, stellte Kocher-Meier eine Jury zusammen, die aus dem ehemaligen Professor und einer Studienkollegin von Gerda bestand, ganz abgesehen davon, dass der Oberbürgermeister selbstverständlich auch für Breuer war, weil er ein paar Bilder von ihr erworben hatte. Er hatte sie nicht etwa gekauft, weil seine Frau die Freundin von Gerda war, nein, so weit ging sein Vertrauen in die Fähigkeiten seiner Frau nicht, begabte Persönlichkeiten an sich zu binden, sondern weil sein Freund, der Textilunternehmer Reser, es ihm geraten hatte.

Reser verstand zwar auch nichts von Bildern, aber er hatte als Unternehmer Glück gehabt und wollte dieses Glück nun irgendwie „weitergeben“, wie er sich ständig im „Schlossenhausener Tageblatt“ ausdrückte, und dabei von wechselnden, aber immer wohlmeinenden Reportern mit den entsprechenden Fragen versorgt wurde („Sie tun ja unheimlich viel für die Kunst. Weshalb tun Sie das? Das müssten Sie doch eigentlich als erfolgreicher Unternehmer gar nicht“). Gleichzeitig wollte Reser natürlich beweisen, dass er ein vornehmer Mensch war, was sich aus seiner Tätigkeit nicht ohne Weiteres ergab, denn er sammelte in großem Stil alte Lumpen ein und ließ sie in riesigen Werken zu neuen Textilien verarbeiten. Eigentlich hätte das den Grünen in der Stadt gefallen müssen, aber ein Grüner ist auch ein Querdenker, deshalb monierten sie, dass Reser bei diesem Recycling Chemikalien verwandte. Vermutlich hätte er sich abends in eine Spinnstube setzen müssen, um aus seinen alten Lumpen neue Fäden zu ziehen. Es war schwer in Schlossenhausen, den Grünen zu gefallen. Manche versuchten es deshalb erst gar nicht. Irgendwie hatte man bei den Grünen immer das Gefühl, dass sie etwas anderes meinten, als sie beklagten. Etwa so, wie man zum Friseur geht, wenn man Krach mit seinem Vorgesetzten hat.

Reser war entzückt von Gerda. War sie nicht im besten Alter und wunderhübsch? Und so scheu! Und sie malte! Gegen die Konventionen, wie es nach dem Krieg der Brauch war! Hatte er nicht zufällig eine Menge Bilder von ihr? War sie nicht die Kunstlehrerin seiner Kinder? Gab sie ihnen nicht wunderbare Noten? Konnte sie nicht einen Kunstpreis vertragen? Würde das nicht ihren Marktwert steigern? Hatte man als erfolgreicher Unternehmer nicht die Macht und die Freude, einen Preis zu vergeben? Wozu war man schließlich mit dem Oberbürgermeister befreundet und Präsident der Industriekammer? Was ergab das alles für einen Sinn, wenn man nicht Freude daraus zog, oder, wie es Reser ausdrückte, seine geschenkte Freude an andere weitergab?

Außerdem war Gerda in derselben Partei wie der Oberbürgermeister. Da es sich um eine sozialistische Partei handelte, war ein Kampfbund gegen die konservative Reaktion unvermeidlich. Man würde es den bürgerlichen Privilegierten schon zeigen, darin waren sich alle einig, die schlecht erzogene Eltern gehabt hatten. Hatte der Vater des Oberbürgermeisters nicht auch unter den Großkapitalisten oder zumindest unter deren bösen Strukturen gelitten? Hatten diese Kapitalisten ihn nicht unterdrückt und auf Botengänge geschickt, so dass er nie die Möglichkeit hatte, Leiter der AOK-Nebenstelle Rammersweier zu werden? Obwohl er weiß Gott das Zeug dazu hatte?

Aber er, der Oberbürgermeister, hatte sich mit eisernem Fleiß aus seiner Misere des Kunstunverständnisses und schlechten Benehmens herausgearbeitet. Eiserner Fleiß, das war das Zauberwort, mit dem er es diesen Typen wie Fritz Suber, dem Maler, schon zeigen würde. Was tat Suber eigentlich den lieben langen Tag außer spinnen? Wovon lebte er? Er hatte ihm noch keine Bilder abgekauft. Tat das überhaupt jemand? Verdammter Schnösel! Tat nichts, hatte nichts, aber riss das Maul auf! Er selbst hatte sich alles erarbeitet, zwar nicht mit seinen eigenen beiden Händen, aber mit seinen eigenen beiden Gehirnhälften! Und der? Tat nichts und legte sich mit einer promovierten, fleißigen und anstelligen Kunsthistorikerin an, die er, der Oberbürgermeister, eingestellt hatte! War das nicht so etwas ähnliches wie Beleidigung? Beleidigung eines Oberbürgermeisters? Er vertrat schließlich nicht nur sich selbst, sondern auch die Bevölkerung, den Souverän.

Irgendwie musste man diesem Kerl beikommen. Man könnte einfach die Zeit für sich arbeiten lassen. Irgendwann würde ihm schon die Puste ausgehen. Und wenn er Geld hatte, konnte das ja auch nicht ewig reichen. Irgendwann ging auch das größte Vermögen zu Ende. Oh, genähtes Elend! Warum hatte sein Vater kein Vermögen zusammengerafft, dann hätte er es nicht jetzt tun müssen. Obwohl ihm als Oberbürgermeister die Hände gebunden waren. Vielleicht könnte Reser? Vielleicht könnte man …

Mit der gespielten Munterkeit, wie sie Leute zuweilen an sich haben, die ihren Beruf hassen, rief Oberbürgermeister Vetter in die Telefonmuschel: „Doris, Schätzchen, könntest du mir Hans geben?“ Er legte den Hörer auf und lehnte sich zurück. Reser war der Richtige: Mit ihm könnte er so eine Sache durchziehen.

„Hans, du alter Drecksack, was machst du heute Abend?“
„Keine Ahnung“, sagte Reser, „vermutlich muss ich zuhause bleiben, weil ich die letzten drei Tage Termine hatte.“
„Komm doch mit deiner Frau zu uns.“
„Kann ich machen, warte mal, ich schau nur eben in den Terminkalender.“
„Brauchst gar nicht zu schauen“, frotzelte der Bürgermeister, „du hast schon einen Termin bei mir.“
„Stehen nur die Lions drin.“
„Die kannst du schwänzen. Da müsste ich auch hin.“
„Okay.“
„So um acht.“
„Gut.“
„Bis dann.“

Vetter legte auf. Seine Sekretärin stürzte herein. „Sie müssen heute Abend zur Bürgervereinigung Nord-West!“
„Nee“, sagte der Oberbürgermeister.
„Sie haben es fest versprochen“, jammerte Doris, „und ich auch, mindestens dreimal hat Kindler angerufen, ob es auch klappt“.
„Kann nix dafür.“

Vetter hob in gespieltem Bedauern die sorgfältig manikürten Finger, spreizte sie geziert und fuhr sich mit ihnen betont theatralisch durchs gefärbte Haar, wobei er den Kopf affektiert zurückwarf. Er fand es ab und zu lustig, den Neurotiker zu geben, aber Doris war heute nicht nach Lachen zumute; sie hatte diese Szene auch schon zu oft gesehen, um beeindruckt zu sein. Sie gehörte zu seinem Standartrepertoire. Außerdem fand sie, dass sich Neurotiker anders benehmen, nämlich so, wie sich der Oberbürgermeister benahm, wenn er normal war.

„Reser kommt. Er hat nur heute Zeit.“ Vetter fragte sich, wie viel sie mitgehört hatte. Nur den Anfang oder alles? Eigentlich war es ihm egal. Politik ist Politik. Das musste sie langsam wissen, dass hier Notlügen benötigt wurden.
Doris hatte das ganze Gespräch mitgehört. Sie wusste schon seit langem, dass der Oberbürgermeister log. Es machte ihr nichts mehr aus. Am Anfang hatte es sie gestört, wenn er sie mit seinem jungenhaften Lächeln anschwindelte. Heute nahm sie das mit dem selben Gleichmut hin, wie sie das Wetter hinnahm. Sie wollte auch nicht ewig seine Sekretärin bleiben. Sie hatte eine schöne Stimme, die vielleicht eine Kleinigkeit zu dünn geraten war, und sie wollte mehr Zeit mit Singen verbringen, vielleicht sogar Berufssängerin werden. Sie hatte schon eine CD aufgenommen und tingelte an Wochenenden mit lokalen Kapellen über die Dörfer. Das machte ihr viel Freude. Eigentlich lebte sie nur dafür. Der Oberbürgermeister mit seinen Terminen konnte ihr gestohlen bleiben. Irgendwie spürte er das auch. Er hatte deshalb schon seine Fühler nach Ersatz ausgestreckt, damit Doris ihn nicht mit ihrer Kündigung überraschen konnte. Denn „The Games must go on“, wie er ständig witzelte.

Doris sammelte ein paar Notizen auf dem Schreibtisch ein, überhörte die beleidigende Bemerkung Vetters („Was macht das Gezirpe, Inge?“) und ging in das Vorzimmer. Aus diesen dürren Notizen musste sie formvollendete und höfliche Briefe machen. Vetter überließ ihr viel, sogar die Formulierungen. Doris rief den Vorsitzenden der Bürgergemeinschaft Nord-West an.

„Es tut mir leid, Herr Kindler, aber der OB kann heute leider nicht kommen. Das Ministerium hat angerufen. Er muss nach Stuttgart.“
„Er hat es doch so fest versprochen“, jammerte Kindler. „Viele werden nur wegen ihm kommen. Was soll ich denen sagen?“
„Sagen Sie die Wahrheit“, grinste Doris.

Kindler schwor sich, am Abend beim OB vorbeizufahren und in seine Garage zu schauen, ob der grüne Mercedes drinnen geparkt war. Aber gleich darauf wusste er, dass er es nicht tun würde. Aber einmal würde er den Bürgermeister beim Lügen erwischen und es weitererzählen, darauf konnte sich dieser Gockel verlassen. Kindler ahnte nicht, dass die meisten in Schlossenhausen schon wussten, dass der Oberbürgermeister log. Meistens waren es nur höfliche Notlügen gewesen, aber in letzter Zeit dehnte der OB diese Notlügen ein bisschen arg weit aus. Kindler dachte an seinen Onkel, den Friseur, der dem Bürgermeister die Haare färbte. Ein Mann, der sich die Haare färbt, ist irgendwo auch ein Gauner, brummelte Kindler in sein fliehendes Kinn und machte sich auf den Weg in den Festsaal, wo er seinen Mitgliedern erklären würde, dass der Oberbürgermeister ein Arschloch sei und deshalb nicht kommen könne. An ihm blieb immer alles hängen.

|Das verwendete Bild stammt von Max Köhler.|©

Interview mit Per Helge Sørensen

|Per Helge Sorensen ist Spezialist für Internetsicherheit und Kryptographie. Mit [„Intrigenspiel“ 1590 hat Lübbe seinen zweiten Roman in die deutschen Buchläden gebracht, der komplexer ist als sein Vorgänger „Mailstorm“, aber erneut faszinierende Blickwinkel auf die Abgründe der Multi-Media-Gesellschaft eröffnet. Grund genug, um einige neugierige Fragen nach Dänemark zu schicken:|

_Alf Stiegler:_
Wie lange hast du an „Intrigenspiel“ gearbeitet und was war der schwierigste Teil seiner Entstehung?

_Per Helge Sørensen:_
Ich habe an dem Roman volle eineinhalb Jahre gearbeitet. Der schwierigste Teil war definitiv der Anfang. Ich musste den ersten Abschnitt mehrere Male neu schreiben, um die richtige Energie in die ersten Kapitel zu bekommen. Außerdem hatten die ersten fünf Kapitel ursprünglich 120 Seiten. Ich habe sie auf nur 70 Seiten heruntergekürzt.

_Alf Stiegler:_
Wie würdest du die Entwicklung beschreiben, die du von „Mailstorm“ bis zum aktuellen „Intrigenspiel“ durchlaufen hast?

_Per Helge Sørensen:_
Mailstorm ist ein recht traditioneller Thriller – trotz der Handlungsplattform Internet. Irgendjemand wird auf Seite sieben umgebracht und die Hauptfigur hat herauszufinden, warum. Verglichen dazu ist „Intrigenspiel“ ein viel komplexerer Roman. Es gibt keinen Mord, der den Plot vorantreibt. Und die Story ist aus vier verschiedenen Perspektiven heraus erzählt. Außerdem hat sich die Sprache verändert: von der traditionellen, kompakten Thrillersprache in „Mailstorm“ zur ausgefeilter satirischen Sprache in „Intrigenspiel“.

_Alf Stiegler:_
Sind deine Storys schon fertig konstruiert, wenn du zu schreiben beginnst? Oder ziehst du es vor loszuschreiben, um dann zu sehen, wohin dich die Geschichte führt?

_Per Helge Sørensen:_
In Mailstorm kannte ich den kompletten Plot, als ich zu schreiben begann, in „Intrigenspiel“ waren es stattdessen anfangs etwa 2/3 der Handlung. Ich hatte keine Vorstellung, wie die Geschichte enden würde. Sollte Herman verhaftet werden? Sollte er verurteilt werden? Ich war darüber wirklich ein wenig beunruhigt, aber als ich den Punkt erreicht hatte, wo nichts mehr geplant war, hatte ich keine Probleme damit. Das letzte Drittel der Story hat sich praktisch von selbst geschrieben.

_Alf Stiegler:_
Bist du als Autor eher ein „einsamer Wolf“ oder engagierst du dich in deiner lokalen Literatur-Szene?

_Per Helge Sørensen:_
Ich bin eingebunden in die lokale Autorengemeinschaft. Tatsächlich war ich ein Jahr Vorsitzender der dänischen Autorengemeinschaft (von 2004 bis 2005). Aber diese Arbeit betrifft hauptsächlich politische Themen: Vertragsverhandlungen mit Verlegern, Entschädigungen von öffentlichen Bibliotheken an Autoren usw. Was mein Schreiben betrifft, bin ich allerdings ein „einsamer Wolf“.

_Alf Stiegler:_
Wie bist du überhaupt mit Literatur und dem Schreiben in Berührung gekommen?

_Per Helge Sørensen:_
Ich habe 1998 für das dänische Ministerium gearbeitet, Internet- und Sicherheitsfragen betreffend. Irgendwann war ich einfach überarbeitet und musste verschwinden. Also habe ich mir ein Flugzeugticket gekauft, um mich in Kuba für sechs Monate zu entspannen. Dort dachte ich mir dann, dass es durchaus den Versuch wert wäre, über manche der Themen einen Roman zu schreiben, die ich im Ministerium bearbeitet habe (Kryptographie etwa, die ja auch in „Mailstorm“ eine Rolle spielt). Der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte.

_Alf Stiegler:_
Wie wichtig waren deine „digital-rights“-Arbeiten für den Schreibprozess von „Intrigenspiel“ und wie sehr beeinflussen sie deine Autorenarbeit überhaupt?

_Per Helge Sørensen:_
Politik ist ein wichtiger Motor für mein Schreiben. „Mailstorm“ ist auf der Basis von Diskussionen entstanden, die sich um Internetüberwachung und Kryptographie gedreht haben. Eines der wichtigsten Themen in „Intrigenspiel“ ist „freie Meinungsäußerung vs. Pornographie und kontroverse Inhalte“. In dem Zusammenhang sind die Arbeiten, die ich für „digital rights“ verfasse, wichtige Inspirationsquellen.

_Alf Stiegler:_
Beide deiner Bücher behandeln den Missbrauch von Medien – besonders das Internet. Ist dieses Thema dir ein brennendes Anliegen?

_Per Helge Sørensen:_
Auf jeden Fall. Das Internet ist ein sehr mächtiges Medium. Das erste Mal in der Geschichte können sich normale Bürger der ganzen Welt darstellen, ohne von irgendwem zensiert zu werden. Und sie können sich mit Gleichgesinnten austauschen – über den kompletten Globus. Aber die Gesellschaft ist es nicht gewöhnt, mit einer solchen Freiheit umzugehen, vor allem nicht, wenn diese Freiheit dazu verwendet wird, Informationen zu verbreiten, die wir als kontrovers ansehen oder sogar als gefährlich. Wie die Gesellschaft mit dieser Freiheit umgehen soll, ist ein wichtiges Thema der Demokratie. Zum Beispiel: Sollten wir Informationen darüber verbieten, wie man Verbrechen begehen kann (wie man Bomben bauen kann etwa), oder sollen wir nur die Verbrechen selbst verbieten?

_Alf Stiegler:_
Wie viele Erfahrungen aus deinem Alltagsleben haben ihren Weg in „Intrigenspiel“ gefunden? Das Leben von Kristian Nyholm zum Beispiel, oder der Umgang, den die Journalisten des Dagbladet miteinander pflegen – es wirkt so „echt“, dass man es beinahe fühlen kann. Ist das deiner Vorstellungskraft entsprungen, oder gestattest du dem Leser hier Einblicke in frühere Abschnitte deines Lebens?

_Per Helge Sørensen:_
Nyholms Figur basiert tatsächlich auf Erfahrungen, die ich während meiner Arbeit im dänischen Ministerium gemacht habe. Und praktisch alle Szenen mit der Journalistin Camilla sind aus meinen Erfahrungen mit Journalisten entstanden, Erfahrungen, die ich sammeln konnte, wenn ich Interviews über digital rights gegeben habe usw. „Intrigenspiel“ ist sehr stark vom „wirklichen Leben“ beeinflusst.

_Alf Stiegler:_
Aufklärung vs. Unterhaltung; was ist dein wichtigster Schreib-Antrieb?

_Per Helge Sørensen:_
Ich würde sagen, Aufklärung. Aber natürlich muss es auch unterhaltsam sein, sonst verliert man seine Leser.

_Alf Stiegler:_
Ich persönlich mochte es, wie du mit Definitionen gespielt hast, das „Spiel der großen Worte“, wie es Kristian Nyholm genannt hat; Ich schätze, Luhman wäre stolz auf dieses „Man gestaltet die Realität, indem man sie formuliert“. War das deine Absicht?

_Per Helge Sørensen:_
Ich würde gerne sagen, dass dem so ist … Aber … wirklich: Ich habe nie viel von Luhmann gelesen. Ich kenne mich mit Mathematik und dem Ingenieurswesen aus. Das Luhman-Zeug in „Intrigenspiel“ basiert auf ein paar oberflächlichen Blicken, die ich auf die Diplomarbeit eines Freundes geworfen habe. Hm. Trotzdem freut es mich, dass dir das „Spiel der großen Worte“ gefällt. Ich bin auch ziemlich stolz darauf.

_Alf Stiegler:_
Was hältst du überhaupt von Cyberpunk und Science-Fiction? Eher eine Erweiterung des geistigen Horizonts oder Verschwendung von Gehirnkapazität?

_Per Helge Sørensen:_
Wenn es gut gemacht ist, mag ich es sehr gerne. Gibson ist natürlich der Meister. Allerdings handelt es sich dabei nicht um die Art von Romanen, die ich hauptsächlich lese. David Mitchell kann ich wärmstens empfehlen – er verbindet Zeitgenössisches mit SF, Cyberpunk und vielen anderen Einflüssen. „Cloud Atlas“ und „Number9Dream“ sind die besten Bücher, die ich seit Jahren gelesen habe.

_Alf Stiegler:_
Okay, lass uns mal etwas spekulieren: Es gibt die Hypothese, dass wir bereits in einer virtuellen Realität leben. Diese Idee wurde von Moores Gesetz abgeleitet: Wenn Computer alle drei Jahre ihre Prozessor-Kapazitäten verdoppeln, wären wir vielleicht irgendwann in der Lage, perfekte Kopien unserer Realität anzufertigen. Solche virtuellen Realitäten hätten dann die Aufgabe, Konsequenzen von Projekten und Handlungen zu ergründen – ein Was-wäre-wenn-Simulator sozusagen.
Aber falls Moores Gesetz tatsächlich so etwas ermöglichen sollte, gäbe es in der Zukunft eine unvorstellbare Menge solcher virtuellen Realitäten – und der Wahrscheinlichkeitsrechnung entsprechend wäre es viel wahrscheinlicher, in einer dieser virtuellen Realitäten zu leben – nicht etwa in der „wirklichen Realität“. Was hält ein IT-Spezialist von solchen Spekulationen?

_Per Helge Sørensen:_
Hm. Interessant. Kann ich einen Freund anrufen?

Nun, ich denke, die Idee ist einfach aufregend, dass wir in einer „gefälschten“ virtuellen Realität existieren könnten. Natürlich ist das auch ein hervorragender Aufhänger für eine Story. Ich glaube, das ist ein sehr grundsätzlicher Menschheitstraum: Es muss einfach mehr geben, wir leben nicht in der wirklichen Welt und es gibt eine Hintertür zu irgendeinem fremden Ort. Es ist wie der Traum vieler Kinder: Die eigenen Eltern sind nicht die echten Eltern, tatsächlich ist man der Sohn eines Königs, und der wird eines Tages kommen, um einen abzuholen. Wie auch immer, meistens stellt sich heraus, dass deine Eltern auch tatsächlich deine Eltern sind. Es stellt sich heraus, dass man hart arbeiten muss, um diese Hintertür zu finden, hinaus in eine Welt voller Magie.

Um zu den virtuellen Realitäten zurückzukehren: So leid es mir tut, dort gilt genau das Gleiche. Diese Welt ist, so fürchte ich, die wirkliche Welt. Aber wenn man hart genug arbeitet, kann man sich die Magie für sich selbst erschaffen.

Um auf die technischen Aspekte einzugehen: Was ist mit den Computern, in denen diese virtuellen Welten existieren sollen? Diese Computer müssten ja Teil der „wirklichen Welt“ sein. Aber müssten sie nicht genauso in der virtuellen Welt existieren? Müsste in dieser virtuellen Welt (einer perfekten Kopie unserer Welt!) nicht ein virtueller Computer existieren, der wiederum diese virtuelle Welt enthalten müsste? (Kann Gott der Allmächtige einen Felsen erschaffen, der so schwer ist, dass er ihn nicht heben kann?)

_Alf Stiegler:_
Was hältst du vom „Transhumanismus“ und der dort vertretenen These, dass es eines Tages Super-Intelligenzen geben wird, die über den normalen Menschen bestimmen werden?

_Per Helge Sørensen:_
Ich bin ein Skeptiker. Ich habe während meines Studiums ein wenig mit künstlichen Intelligenzen gearbeitet. Obwohl die Geschwindigkeit der Prozessoren und die Speicherkapazität explodieren, sind Computer immer noch ziemlich dumm. Es ist ein Albtraum, wenn man auch nur versucht, einen Computer menschliche Sprache erkennen zu lassen. Rechner dazu zu bringen, eben Gesagtes auch zu |verstehen|, ist noch immer reine Zukunftsmusik. Man darf keinesfalls unterschätzen, wie komplex der menschliche Geist ist!

_Alf Stiegler:_
Andererseits: Die meisten exponentiellen Funktionen flachen irgendwann ab und Moores Gesetz wird es wahrscheinlich irgendwann genauso ergehen. Glaubst du, dass der Gipfel der Computerentwicklung schon an unsere Tür klopft?

_Per Helge Sørensen:_
Nein. Obwohl die technische Entwicklung sich durchaus verlangsamen könnte, glaube ich, dass es ein gewaltiges Entwicklungspotenzial gibt – neue Wege, wie man Computer oder das Internet nutzen kann. Ich würde sogar sagen, dass wir bisher nicht einmal die Spitze des Eisbergs gesehen haben.

_Alf Stiegler:_
Wie sieht es mit DNA-Computern aus? Handelt es sich dabei noch um Science-Fiction, oder greifen Ingenieure bereits auf diese Idee zurück?

_Per Helge Sørensen:_
Momentan ist das noch reine Science-Fiction. Aber das Bild-Telefon war ebenfalls Science-Fiction, als ich noch ein Kind war. Man braucht ja nur einen Blick auf Star Trek werfen … und einen Vergleich zum neuesten Nokia-Handy ziehen.

_Alf Stiegler:_
Neal Stephensons „Snow Crash“ behandelt auf faszinierende Weise eine „Vermählung“ von Religion mit einer ultra-modernen, Technik-geprägten Gesellschaft. Glaubst du, dass es noch Platz für eine Seele in unserer „postreligiösen Gesellschaft“ gibt?

_Per Helge Sørensen:_
Ich denke, es gibt eine Menge Seele in der postreligiösen Gesellschaft: Die Seele innerhalb eines jeden menschlichen Individuums. In meinen Augen ist Religion hauptsächlich eine Ausrede, die (meist von alten Männern) benutzt wird, um das Leben anderer Menschen zu kontrollieren.

_Alf Stiegler:_
„Sex mit Kindern ist der Ersatz, den die postreligiöse Gesellschaft für Blasphemie gefunden hat.“ – Wahr und zynisch. Was hat dich zu dieser Ansicht geführt?

_Per Helge Sørensen:_
Ich habe nach etwas gesucht, das den modernen, säkularen Menschen auf die selbe Weise vor den Kopf stößt, wie sich Muslime durch Kritik an ihrer Religion vor den Kopf gestoßen fühlen. Pädophilie ist mir als einziges Problem eingefallen. Vielleicht liegt das daran, dass Kinder für viele Menschen den Platz von Gott eingenommen haben – das wichtigste Ziel im Leben.

_Alf Stiegler:_
Kontrolle vs. Entscheidungsfreiheit. Würdest du eine Softwarelösung unterstützen, die „grenzüberschreitende Internetpornographie“ aus dem Internet filtern kann, eine Softwarelösung, wie sie die Softwarespezialisten von Kyner vorgeschlagen haben? Ich weiß, das ist eine gemeine Frage …

_Per Helge Sørensen:_
Das Schlüsselwort ist „grenzüberschreitend“. Kyner erzeugt die Illusion, dass es derart extreme Pornographie gibt, dass wir sie loswerden müssen. Obwohl es zweifellos |nicht| illegal ist (also Pädophilie, etc.)! Was Kyner tatsächlich sagt ist, dass diese Art von Information illegal sein |sollte| – aber solange wir damit nicht durchkommen (wegen irgendwelchem demokratischen Bockmist über „freie Meinungsäußerung“), versuchen wir dergleichen auf andere Weise zu ächten: über Filter.

Indem Kyner Worte verwendet wie „grenzüberschreitend“, erzeugt er die Illusion, dass es ein Problem gibt, welches wir zu lösen haben. Obwohl es keines gibt. Übrigens verwendet die EU-Kommission den Begriff „schädlicher Inhalt“.
Tatsächlich ist die Sache ganz einfach: Es gibt zwei Arten von Inhalten:
– illegale Inhalte, um die sich die Polizei und die Gesetze zu kümmern haben,
– legale Inhalte, die man in Ruhe lassen sollte.
Es gibt keinen Grund für Filter.

_Alf Stiegler:_
Was sind deiner Ansicht nach die widerlichsten Entwicklungen der Multi-Media-Unterhaltung?

_Per Helge Sørensen:_
Wenn Streitkräfte die Sprache und Bilder der Spieleindustrie verwenden, um Soldaten zu rekrutieren. Die dänischen Streitkräfte veröffentlichen beispielsweise eine monatliche Broschüre, die wie Werbung für Counter Strike aussieht. Die US-Streitkräfte haben sogar ihr eigenes Rekrutierungs-Spiel entwickelt. Krieg ist kein Computerspiel. Die Streitkräfte sollten es am besten wissen.

_Alf Stiegler:_
Die dänische Literatur hat es schwer, sich einen Weg in deutsche Buchgeschäfte zu bahnen. Hast Du ein paar Underground-Tipps für Skandinavien-hungrige Sørensen-Süchtige?

_Per Helge Sørensen:_
Es gibt einen neuen Roman von Morten Ramsland. In Dänemark war er sehr erfolgreich und wird wahrscheinlich demnächst in Deutschland veröffentlicht. Uneingeschränkte Leseempfehlung!

Falls eher Kriminalromane bevorzugt werden, sollte man Sara Blaedel antesten. Sie ist die neue, dänische „Queen of Crime“.

_Alf Stiegler:_
Welche Lektüre ziehst du persönlich vor?

_Per Helge Sørensen:_
Im Moment lese ich eine Menge zeitgenössische Literatur aus England und Amerika. Allan Hullinghurst. David Mitchell (wie oben schon erwähnt). Jonathan Franzen. Poul Auster. Und den japanischen Guru natürlich: Haruki Murakami.

_Alf Stiegler:_
Gibt es eine Genre, von dem du die Finger lässt?

_Per Helge Sørensen:_
Als ich 13 war, habe ich eine Menge Fantasy gelesen. Ich denke, ich habe genug für den Rest meines Lebens.

_Alf Stiegler:_
Die dritte Veröffentlichung ist die Magische, sagt man im Musikgeschäft. Was dürfen wir von deiner dritten Veröffentlichung erwarten?

_Per Helge Sørensen:_
Den „Großen Dänischen Roman“, der sich mit all den wichtigen Themen der letzten 30 Jahre befasst, in Dänemark, Europa und dem Rest der Welt. Oder um es anders auszudrücken: Ich weiß es noch nicht. 😉

_Alf Stiegler:_
Ein paar letzte Worte für die Leser von Buchwurm.info?

_Per Helge Sørensen:_
Hört nicht auf zu lesen. Die magische Welt ist da draußen.

Reisen und Touristik 2005

Womit beginnt man am besten einen Überblick über die aktuelle Reisebuch-Branche? Ich dachte mir, ich gehe ganz ungewohnt auf die speziellen Nischen-Verlage zuerst ein.

Da wäre z. B. der _Trescher Verlag_, der sich seinen Namen als Osteuropaspezialist errungen hat. Insgesamt ein sehr anschauliches Programm und dabei mit vielen Ländern und speziellen Regionen sogar die einzigen deutschsprachigen Titel.

Sehr speziell und aus der Reihe fallend ist der kleine Spezialverlag _Ilona Huper_, der sich ausschließlich auf Reiseführer für Afrika und Australien beschränkt. Innerhalb einer solchen Nische wird dadurch auch sehr erfolgreich ein ausgezeichnetes Image erzielt. Durch ständige Neuauflagen der Titel ist eine hohe Aktualität gewährleistet. Eine große Besonderheit stellt auch dar, dass alle afrikanischen Titel von den Verlagsinhabern selber geschrieben sind, die seit zwanzig Jahren stets selbstständig, unabhängig und intensiv den afrikanischen Kontinent bereisen. Mit ihren Titeln beschränken sie sich auch auf die Länder, die sie hervorragend kennen.

Einer der weiterhin unabhängigen Verlage ist die _Edition Temmen_ in Bremen, mit einigen sehr feinen Reiseprogrammreihen. Für das touristische Erschließen der deutschsprachigen Heimat und angrenzenden Ländern bietet die kompakte Reihe „Illustrierte Reisehandbücher“ ausführliche Geschichten über das touristische Ziel mit reicher Bebilderung bei kleinem Preis. Als in Bremen ansässiger Verlag, liegen die vorliegenden Titel beim Schwerpunkt Norddeutschland, der Küste und Polen. Etwas teurer sind dann die Bildbandreihen, die in zwei Editionen – eine eher nationale sowie eine internationale – erscheinen. Eine dritte Bildbandreihe „Städteführer“ dagegen ist sehr preisgünstig und damit ein gut kalkuliertes Serviceangebot. Zwei innovative Themenreihen sind im Programm: die Reise- und Lesebücher, die mit einer unvergleichlichen Mischung praktische Informationen mit anderem Lesestoff mischen, sowie die Reihe historischer Reiseberichte. Mit der „Edition Erde“, in welcher Reiseführer für ausgewählte internationale Länder erscheinen, hebt sich der Verlag qualitativ von entsprechender Konkurrenz durchweg um einiges ab. Für diejenigen, die mehr erfahren wollen über Land und Leute, Kunst und Kultur, Geschichte und Gegenwart der jeweiligen Länder, stellen sie die auf dem Markt besten Begleiter für Studienreisen dar. Diese internationale Reihe für Kulturreisende erhielt bei den ITB-Buch-Awards 2005 als einzige der Kategorie „Klassische Reiseführer“ Höchstnoten für die Hintergrundinformationen „Natur, Kultur und Gesellschaft“.

Seit langem hält eigentlich der _Peter Meyer Verlag_ diese ITB-Auszeichnungen, zuletzt 2005 in „Anerkennung hervorragender publizistischer Leistungen“ mit dem Award „Beste Reiseführer-Reihen“ in der Kategorie Individualreiseführer. Diese Preise gelten als Gütesiegel auf dem Reiseführermarkt. Peter Meyer ist ein unabhängiger Verlag, der vor 30 Jahren in der Alternativszene entstand.

Gleich in drei Kategorien erhielt der _Michael Müller Verlag_ die begehrten Awards: Individualreiseführer, City Guides und „Griechische Inseln“. Der Verlag startete in den 70er Jahren, als der Markt von Kunst- und Kulturführern beherrscht wurde, die allerdings die Reiseorganisation selbst nicht berücksichtigten. Mittlerweile gehört Michael Müller unter den vielfältigen Individualreise-Buch-Verlagen zum Marktführer. In allen Titeln werden auch kleinere Sehenswürdigkeiten abseits vom touristischen Hauptstrom beachtet. Anschaulich bieten Übersichtskarten, Stadtpläne und Wanderskizzen die schnelle Orientierung mit allen relevanten Eckpunkten: Anfahrtswege, Entfernungen, Standorte von Museen, Hotels, Restaurants usw. Natürlich fehlt auch nicht die Hintergrundinformation zu Politik, Kultur und landespolitischen Themen. Das Programm umfasst vier Reihen in unterschiedlichen Formaten: Stadt, Region, Land und Tour-Guide.

Ebenfalls ideal für individuelle Entdecker sind die Titel von _Iwanowski`s Reisebuchverlag_. In allen Titeln stehen die Bedürfnisse der Individualreisenden im Vordergrund und mittlerweile sind die Bücher mit detaillierten Reisekarten zum Herausnehmen ausgestattet. Es liegen drei Programmreihen vor: die Reisebücher als ausführlichstes Segment, die Reisegast-Reihe mit Tipps zum Verständnis der jeweiligen Kultur und die erwähnten Reisekarten. Innerhalb dieser Reihen liegen aber auch Stadtführer, Insel- und Wanderführer vor.

30 Jahre ist es her, als sich alternativ reisende Globetrotter zusammentaten, um ihre Erfahrungen in aller Welt anderen Globetrottern zugänglich zu machen. 1984 entstand daraus der _Reise Know-how Verlag_, der, was persönliche Erfahrungen angeht, unverändert der führende Alternativ-Reise-Verlag geblieben ist, und das in einer unüberschaubaren Vielfalt zu allen Regionen dieser Erde. Es gibt die Reisehandbücher, die City-Guides, die Urlaubshandbücher, die etwas dünneren Reisehandbücher „kompakt“, Wohnmobil-Tourguides und auch eine Sachbuchreihe rund ums Reisen allgemein. Dies sind aber nur die eigentlichen Hauptreihen. Das Programm bietet darüber hinaus ist noch viel mehr. Eine sehr wichtige Reihe nennt sich „KulturSchock“ und informiert über die vielleicht doch sehr ungewohnten Denk- und Lebensweisen von Menschen anderer Länder. Ähnlich geartet sind die Reihe „Praxis-Ratgeber für Reisen“ und noch einige mehr. Die auffälligste Unterscheidung zu all den anderen Reisebuchverlagen liegt aber dann noch mal im Zusatzangebot. Im „World Mapping Project“ erscheinen weltweite Landkarten, mittlerweile superreiß- und wasserfest. Um sich verständlich zu machen, bieten die „Kauderwelsch“-Sprachprogramme in den Segmenten „Wort für Wort“ für das wichtigste, „Slang“ für das authentische Vokabular jenseits der sonstigen Fremdsprachenlehrgänge, „Dialekt“ die Sprache der einzelnen Regionen, aber auch „Deutsch für Ausländer“ ist vorhanden. Zu all diesen Reihen gibt es entsprechende Begleit-CDs oder auf CD-ROM auch alles zum digitalen Lernen am PC.

Fehlen darf in dieser Bestandsaufnahme keinesfalls der DuMont Reise Verlag, den sicherlich jeder kennt. Durch den Zusammenschluss des DuMont Reise Verlags mit dem Mairs Geographischer Verlag heißt das Programm neuerdings _MairDumont_, wobei als Reihe der mehr als eingeführte Name wirtschaftlich gesehen konsequent erhalten bleibt. Es gibt eine große Vielfalt verschiedener Programmreihen und insgesamt wohl mit das größte Titelangebot – im Vergleich zu anderen Verlagen – überhaupt. DuMont zeichnet sich selbstverständlich durch seine hohe Seriosität und vor allem Qualität aus.

Ganz wichtig und ein richtiger Klassiker ist auch _Polyglott_ bei Langenscheidt. „Polyglott on tour“ beispielsweise setzt in diesem Jahr neue Maßstäbe mit einer Flipmap, die in einem Etui vorne auf dem Reiseführer aufsitzt. Diese Mini-Karte hat eine patentierte Zick-Zack-Faltung und ist sehr einfach und praktisch, da klein genug, um in jeder Hosentasche Platz zu finden. Eine ganz neue Reihe ist „Polyglott go!“ für Strand-, Aktiv- und Wellness-Urlauber. Auch hier gibt es einen extra Atlasteil. Der schon im letzten Jahr gestartete „Polyglott mobile guide“ wurde weiter ausgebaut; dies sind keine Bücher, sondern regelmäßig aktualisierte Downloads direkt aufs Handy. Der damit erzielte Erfolg in den ersten zwölf Monaten hatte alle Erwartungen weit übertroffen. Bei den Sprachführern gibt es eine neue Reihe „Unzensiertes“ für Jugendliche mit Vokabular aus der Umgangssprache, die man normalerweise nicht erlernt, sodass man sich künftig nicht mehr blamiert in fremden Betten – Szeniges, Ehrliches und Scharfes. Slang, Schimpfwörter und Szeneausdrücke und das für hetero, gay und auch bi. Ein Thermometer zeigt den Schärfegrad der Ausdrücke an, weil ja nicht alles für die Ohren einer Gastfamilie geeignet ist.

Im _Bruckmann Verlag_ erscheint ein vielerlei gewohntes Buchangebot, das sich nicht sonderlich absetzt. Die Reihen umfassen einige interessante Einzeltitel mit Länderportraits, sind ansonsten vollkommen auf Outdoor, Trecking und Tourenführer ausgerichtet (Radführer, Wanderführer, Genusstouren, Auto- und Motorradtouren). Ähnlich gelagert ist der _J. Berg Verlag_ mit seinen Wander- und Freizeitführern, die allerdings vollkommen regional begrenzt sind und die bayrische Heimat erleben lassen. Der ähnlich firmierende und dadurch verwechselbare _Berg Verlag Rother_ hat sich ebenso auf Wanderbücher und Wanderziele spezialisiert, allerdings nicht in solch regional begrenzter Weise. Diese über 170 Titel zu den beliebtesten Regionen sind mit ihren sehr zuverlässigen Tourenvorschlägen mit Schwierigkeitsbewertung und einem Farbfoto zu jeder Wanderung sowie farbigem Wanderkärtchen im Maßstab 1 : 50000 sehr zu empfehlen. Zusätzlich gibt es Bildbände und diverse Multimedia.

Und solcherart Nischen sind weiteren Verlagen nicht fremd. Der auf Sport spezialisierte _Delius Klasing Verlag_ führt in seinem Wassersportprogramm unter dem Label „Maritime Reiseführer“ eine ganze Reihe Törnführer für die Reise mit dem privaten Schiff. Diese Führer sind ideal für Planung und Reise selbst, und liefern exakte Pläne und Beschreibungen von Häfen und Ankerbuchten sowie jede Menge Information für die Reisevorbereitung, zu Liegeplätzen, Ansteuerung und Versorgungsmöglichkeiten vor Ort.

Unzählige andere Nicht-Reisebuch-Verlage, die dennoch Reisenden programmatisch etwas zu bieten haben, wären natürlich in großer Zahl ebenso aufzuführen. Dies würde den thematischen Rahmen allerdings sprengen. Deswegen nur als Beispiel vielleicht der _Picus Verlag_, welcher eine sehr anspruchsvolle belletristische Reihe „Lesereisen und Reportagen“ mit umfangreicher Backlist anbietet. Ähnliches bietet seit langem sehr spezialisiert auch _Frederking & Thaler_, der _Peter Hammer Verlag_ und auch der _Malik Verlag_ (Piper). Über Landeskundliches informiert auch _C.H. Beck_.

Die Branche hat trotz Terrorismus oder Naturkatastrophen einen weiterhin hohen Stellenwert. Es wird heutzutage immer noch viel gereist, wenn auch wieder öfter in die heimatlichen Regionen – wo der Markt mittlerweile aber auch entsprechend bedient wird. Die Konkurrenz untereinander ist selbstverständlich groß und alle überlegen, wie sie direkt am Kunden bleiben können, und das geschieht vor allem über Service-Leistung. Da bietet sich das Internet an. Deswegen folgen nun am Ende die jeweiligen Internet-Adressen der vorgestellten Verlage. Es lohnt sich, da ein wenig zu stöbern und diejenigen Anbieter, die Foren, News und Aktuelles bieten, selber herauszufinden.

http://www.meyer-reisefuehrer.de/
http://www.loose-verlag.de/
http://www.reise-know-how.de/
http://www.michael-mueller-verlag.de/
http://www.tondok-verlag.de/
http://www.edition-temmen.de/
http://www.hupeverlag.de/
http://www.trescherverlag.de/
http://www.rother.de/Rother.htm
http://www.bruckmann-verlag.de/
http://www.delius-klasing.de/
http://www.reisebuch.de/

Individualreiseführer von Iwanowski’s


http://www.footprintbooks.com/
http://www.lonelyplanet.com/
http://www.ulysse.ca/
http://www.roughguides.com/
http://www.moon.com/

Home


http://www.frederking-thaler.de/
http://www.piper.de/
http://www.thorbecke.de/
http://www.horlemann-verlag.de/
http://www.peter-hammer-verlag.de/
http://www.jonas-verlag.de/
http://rsw.beck.de/
http://www.dumontverlag.de/
http://www.schimper.de
http://www.polyglott.de/

Buchwurminfos IV/2005

Bei der _Rechtschreibreform_ kann von einer einheitlichen Schreibweise nicht mehr die Rede sein. Nunmehr gibt es drei verschiedene Schreibweisen: die der einstigen Rechtschreibkommission, die vom Rat der deutschen Rechtschreibung beabsichtigte Reform der Reformschreibung sowie die herkömmliche Rechtschreibung. Dennoch wurde dieses Chaos zum 1. August gesetzlich verbindlich gemacht, wie die Kultusministerkonferenz beschlossen hat. Der Vorstoß der CDU-regierten Länder, den Einführungstermin um ein Jahr zu verschieben, fand keine Zustimmung. Aus Rücksicht auf die Positionen des Rates für deutsche Rechtschreibung gilt für strittige Teile (vor allem Worttrennung und Interpunktion) eine „Toleranzklausel“. Am 31. Juli endete damit zunächst nur die Übergangsfrist für die Laut-Buchstaben-Zuordnung, die Schreibung mit Bindestrich sowie die Groß- und Kleinschreibung. Nach den Vorstellungen des Rates für deutsche Rechtschreibung soll in erster Linie der Sprachgebrauch die Richtschnur für die Formulierung von Schreibregeln sein. Der Zusammenschreibung wird gegenüber Getrenntschreibungen der Vorzug gegeben. Ende Oktober werden die Änderungsvorschläge abschließend erörtert und Ende November soll ein Beschluss fallen. Erst danach wird sich die Kulturkonferenz mit dem Gesamtpaket befassen. Die Forschungsgruppe Deutsche Sprache (FDS) hat mit den Stimmen des Verlegers Michael Klett und des Sprachwissenschaftlers Theodor Ickler (PEN-Vertreter im Rechtschreibrat) ihre grundsätzliche Ablehnung der Reform nochmals unterstrichen. Verlage, die sich an die neue Rechtschreibung halten wollen, müssen, obwohl die jetzigen Änderungen nur einen minimalen Teil des Wortschatzes betreffen, dennoch alle Titel durchsehen und an den entsprechenden Stellen ändern. Aus wirtschaftlicher Sicht ein Riesenaufwand und auch volkswirtschaftlich betrachtet ein Desaster. Eigentlich wird die neue Rechtschreibung nur bei Kinder- und Schulbüchern beachtet werden. Fast jeder sonstige Verlag überlässt es weiterhin jedem Autor, wie dieser schreiben will. Widersinniges und Unstimmiges wird also nicht zum Maßstab für literarischen Ausdruck werden. Die Verleger sehen überhaupt keinen Handlungsbedarf, solange alles weiterhin unsicher und strittig ist. Die 23. Auflage des „Duden“ war nach Inkrafttreten der Reform nach dem 1. August das einzige Wörterbuch, das dem verbindlich geltenden Stand der neuen Rechtschreibung entspricht, aber schon warf Bertelsmann zum 1. August mit dem „Wahrig“ ein Wörterbuch zu einem „Kampfpreis“ auf den Markt, das schon wieder etwas mehr von der Reform 2004 berücksichtigt hat. Im „Wahrig“ macht man es jetzt auch ganz taktisch klug, indem man neben der neuen auch die alte Rechtschreibung aufführt. Seit Jahren sind der „Duden“ und „Bertelsmann“ in harter Konkurrenz, mussten schon gedruckte Auflagen wegen Änderungen gleich einstampfen, verramschen ihre Titel oder verschenken sie an Schulen.

Selbst der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, sieht jetzt eine künftige „Zwei-Klassen-Schreibung“, da die neuen Gesetze nur für Schulen und Behörden verbindlich sind und ansonsten jeder Autor schreiben kann, wie er will.

Und es besteht noch anderweitig Verunsicherung, z. B. bei den Lehrern, die Deutsch für Ausländer unterrichten. Das Ausland versteht nicht, wieso die Deutschen sich nicht darauf einigen können, wie sie ihre Worte schreiben. Das Goethe-Institut geht deswegen einen wiederum ganz eigenen Weg und hält sich an die zuerst geplante Originalfassung der Reform, bis endgültige Klarheit über die strittigen Punkte herrscht. „Das kann man so oder so schreiben“ sei für Fremdsprachen-Lehrer zu schwierig. Die neue Gesetzeslage ist längst nicht das Ende eines langjährigen Kampfes zwischen unversöhnlicher Willkür auf der einen und Widerstand auf der anderen Seite. In NRW hat Jürgen Rüttgers nach dem Wechsel der Landesregierung sein Wahlversprechen wahr gemacht: „Die CDU wird nach einem Wahlsieg bei der Landtagswahl im Mai 2005 dafür sorgen, dass man zu den bewährten Regeln zurückkehrt“ und auch Bayern ist dem gefolgt. Zwei Länder sind zwei Wochen vor Eintritt der gesetzlichen Regelung ausgestiegen. Die Glaubwürdigkeit in der Politik lässt sich bereits an einem Wort der Rechtschreibreform festmachen. Diese hat versucht, den Unterschied zwischen „viel versprechend“ und „vielversprechend“ aufzuheben, indem es nur noch die getrennte Schreibweise zulassen wollte. Wenn man sich das ganze Geschehen anschaut, bleibt dieser Unterschied der beiden Begrifflichkeiten aber sehr offensichtlich.

Es wird viel darüber geklagt, wie viel Geld Wörterbuch- und Schulbuchverlage verloren haben durch all die jahrelangen Änderungen. Interessant ist da aber eine These, die in der „Jungen Freiheit“ vom 29. Juli aufgestellt wurde. Dort wird aufgezeigt, dass die Rechtschreibreform für Schulbuchverlage ein Milliardengeschäft war, finanziert durch die Steuerzahler. Nach Angaben des VdS Bildungsmedien, mächtigster Verband der Schulbuchverlage, schaffte die öffentliche Hand zwischen den Jahren 1996 und 2004 Schulbücher in reformierter Rechtschreibung im Wert von etwa zwei Milliarden Euro an. Eltern gaben allein im Jahr 2003 rund 200 Millionen Euro für Lernmittel aus. Gewisse Verbände haben eine Menge Geld eingesetzt, um der Reform zum Durchbruch zu verhelfen. So investierten die Schulbuchverlage rund eine halbe Million Mark, um den Volksentscheid in Schleswig Holstein im September 1998 zu beeinflussen, der aber für die Reformer dennoch verloren ging. „Zahlreiche Beamte in den Kultusministerien sind als Schulbuchverfasser privatgeschäftlich mit Verlagen verbunden“, erklärt der bekannteste Kritiker der Rechtschreibreform, der Erlanger Germanist Theodor Ickler. Im internen Bericht des Verbandes VdS Bildungsmedien für 2000 – das Jahr, in dem die „Frankfurter Allgemeine“ das Abenteuer Rechtschreibung beendete – heißt es: „Wir haben also nicht allein auf die Kultusminister, sondern auch auf alle Ministerpräsidenten der Länder massiv eingewirkt und diese in die Öffentlichkeit gezwungen mit klaren und unmissverständlichen Erklärungen zu einer Reformumsetzung“. Die „Junge Freiheit“ geht deswegen so weit, der Staatsanwaltschaft zu empfehlen, aufgrund offenkundiger Verdachtsmomente zu untersuchen, inwieweit bei der Durchsetzung der Rechtschreibreform auch Korruption eine Rolle spielt. Die Aufdeckung eines Bestechungsskandals wäre der Todesstoß für die Reform, würde aber auch aufgrund der Beteiligung von Regierungsbeamten eine Krise auslösen.

Am gefährlichsten für die _Preisbindung_ wird es immer, wenn ein neuer _Harry Potter_ erscheint und in Deutschland, wo diese gesetzlich festgesetzt ist, muss man immer sehr sorgsam nach den „schwarzen Schafen“ Ausschau halten. Anders in England, wo eine Preisbindung nicht existiert. Dort lag der Preis bei Vorbestellungen teilweise bei der Hälfte des empfohlenen Verkaufpreises von 16,99 Pfund und damit eigentlich beim Bezugspreis. 2003 hatte dort die Branche am ersten „Potter“-Verkaufstag elf Millionen Pfund an Nachlässen gegeben. Insgesamt wurde an jenem Tag ein Umsatz von 17,5 Millionen Pfund erzielt – mit 1,7 Millionen Exemplaren. Und bei der Premiere des 6. Bandes boomte es wie eh und je: In den ersten 24 Stunden wurden weltweit rund elf Millionen Exemplare verkauft. Zwei Millionen davon in Großbritannien, 6,9 Millionen in Amerika. In vielen Städten wird das Erscheinen eines neuen Harry Potters längst wie ein Ereignis von nationaler Bedeutung begangen. Auch in Deutschland war die Medienresonanz noch einmal höher als beim fünften Band vor zwei Jahren. So schnell auch gigantischer Umsatz gemacht wird, bleibt das Paradox, dass mit Potter nicht auch entsprechend verdient wird. Der Reinerlös ist mager, die Preise purzelten in den Keller und erreichten bisher ungeahnte Tiefen. In britischen Supermarktketten ging er für 7,25 Euro weg – also weit unter dem Einkaufspreis. Der empfohlene VK in Deutschland liegt bei 26,30 Euro, im Schnitt wird er aber für 19,90 Euro angeboten, am billigsten war er bei Mail-Order Kaiser für 14,99 Euro.

Die legalen „_Billig-Bibliotheken_“ laufen gut und gehen weiter. Die Lizenz für die „SZ“-Bibliothek ist ausgelaufen, aber der Süddeutsche Verlag konnte elf Millionen Bücher damit verkaufen. Die Restbestände wurden vom Barsortiment LIBRI erworben, das diese noch „weit über das Weihnachtsgeschäft“ hinaus an Buchhandlungen liefern wird. Auch Weltbild hatte mit seiner „Bild“-Bestseller-Bibliothek wie auch der Zeit-Verlag die Gewinnziele weit übertreffen können. „Die Zeit“ startet mit dem Partner Brockhaus zur Buchmesse eine zwanzigbändige wöchentliche Buchreihe zum Thema Welt- und Kulturgeschichte. Die „SZ“ plant ein Projekt Kinder- und Jugendbibliothek – Zielgruppe Sechs- bis Sechzehnjährige – ab September nach bewährtem Muster der „SZ-Bibliothek“ mit fünfzig Bänden, die jeweils 4,90 Euro kosten. Auch „Die Zeit“ wird im Frühjahr 2006 mit einer 15-bändigen Vorlesereihe mit Titeln, die als besondere Schätze der Kinderliteratur gelten, für Kinder von fünf bis zehn Jahren starten. Der Reinerlös aller verkauften Bücher fließt an die Stiftung Lesen, zur Förderung des Vorlesens. Sowohl „Bild“, „Weltbild“ und „FAZ“ bringen Comic-Bibliotheken. Die FAZ-Reihe „Klassiker der Comic-Literatur“ dürfte auch richtig lohnenswert werden bei einem Preis von 4,90 Euro pro Band. Es beginnt mit „Superman“ von 1938 und führt über „Spiderman“, „Batman“, „Prinz Eisenherz“, „Hägar“, „Peanuts“ und natürlich auch „Disney“.

Da das _Hörbuch_ mit unveränderten Zuwachsraten in Folge Geschichte schreibt, sind nun auch die letzten großen Belletristikverlage Diogenes und Holtzbrinck ins Hörbuch-Geschäft eingestiegen. Mittlerweile gibt es rund 400 Hörbuchverlage in Deutschland. Jetzt erwartet die Branche einen Lizenzwettbewerb, den es bislang so noch nicht gab. Von der Hörbuch-Edition der Frauenzeitschrift „Brigitte“ über Aktionen beim Discounter ALDI bis hin zum Focus-Magazin, das ein neues Download-Portal plant, ist das Hörbuch endgültig aus seiner Nischen-Position herausgetreten, mit allen Konsequenzen, die ein entwickelter Markt mit sich bringt. Es wird Verschiebungen geben, bei denen einige Labels auf der Strecke bleiben. Und „Random House Audio“ vertieft die Zusammenarbeit mit „Gruner + Jahr“. Nach der „Brigitte“-Audio-Edition „Starke Stimmen“ folgt nun eine zwölfteilige Hörbuchserie mit der Zeitschrift „Eltern“. Mit der Brigitte-Zusammenarbeit konnten eine Million Einzelexemplare verkauft werden.

_Amazon_ hat eine neue Sparte entdeckt: Verleihen statt verkaufen. Für 9,99 Euro werden drei DVDs im Monat verschickt, ohne zusätzliche Versandkosten, Leihfristen und Säumnisgebühren. Die Kunden müssen nur die geliehene DVD im versankostenfreien Umschlag zurückschicken, um umgehend den nächsten verfügbaren Film von der Ausleihliste zu erhalten. Es gibt darüber hinaus sogar verschiedene Tarifmodelle: Für 13,99 Euro kann man vier DVDs monatlich ausleihen (zwei davon gleichzeitig) und für 18,99 Euro sechs DVDS (drei Titel gleichzeitig). Das ist ein Testlauf dafür, ob man künftig auch Hörbücher und Bücher in die Vermietung einbeziehen wird.

_Suhrkamp_ bringt die im angeschlossenen _Deutschen Klassiker Verlag_ erschienenen Editionen deutscher Literatur ins Taschenbuch. Im Oktober erscheinen die ersten Bände, darunter Goethes Faust, „Sämtliche Erzählungen“ von Kleist und Grimmelshausens „Simplicissimus“ – jeweils Text und Kommentar. Die meisten der herstellerisch hochwertigen Bände sollen ca. 18 Euro kosten und in einer Auflage von 5000 Exemplaren erscheinen. Von den 200 Hardcoverbänden, die in 40 Editionen erschienen sind, will man 90 Titel im Taschenbuchformat in den Handel bringen. Ab Frühjahr 2007 sollen in der _Suhrkamp Studienbibliothek_ grundlegende philosophische Texte nebst Kommentar von Aristoteles bis Habermas erscheinen. Offensichtlich hat sich nach den Unruhen im Verlagshaus (wir berichteten intensiv) sehr viel geändert. Das sieht man deutlich am aktuellen Suhrkamp-Taschenbuchverlagsprogramm und der Werbung dafür, die im Gegensatz zur Tradition richtiges Marketing umfasst. Die Zeiten, wo die Vermarktung von Hermann Hesse ausreichte, scheint vorbei. Angefangen hat das vor einem Jahr mit der Neugestaltung der erfolgreichen Taschenbuchreihe mit dem Kürzel st. Die Titelzahl wird reduziert und die traditionell starke Backlist verkleinert.

Der Fachverlag _Max Niemeyer_ hat seine Eigenständigkeit verloren und wurde an _Thomson Learning_, die Bildungssparte des amerikanischen Fachinformationskonzerns _Thomson Corporation_, verkauft. Die Zustimmung durch das Bundeskartellamt muss aber noch erfolgen. Niemeyer fungiert künftig als Imprint der _K. G. Saur_ Verlagsgesellschaft, die bereits Ende 2000 von Thomson eingekauft wurde. Niemeyer gehört zu den führenden Geisteswissenschaftsverlagen Deutschlands. Das anspruchsvolle Profil soll erhalten und ausgeweitet werden. Die Arbeitsplätze der gegenwärtigen Mitarbeiter wurden von Thomson nun erst einmal für ein Jahr garantiert.

Die _Wissenschaftliche Buchgesellschaft_ in Darmstadt hat den Verlag _Philip von Zabern_ (Fachverlag für Klassische Archäologie, Kunst und Kulturgeschichte) übernommen. Zur Verlagsgruppe der WBG gehören bisher die Verlage Primus, Konrad Theiss sowie die Versandbuchhandlung Conlibro.

Anthroposophen brauche mitunter etwas länger für neue Technik, dafür umso berichtenswerter ist, dass nun auch der _Pforteverlag_ online ist und auf Besucher wartet. Die Seiten werden in den nächsten Wochen noch laufend ergänzt, doch lohnt sich jetzt schon auf alle Fälle ein Blick ins Angebot: http://www.pforteverlag.com.

_Indizierungen_ erreichen derzeit einen neuen Höhepunkt. Die neueste dahingehende Welle betrifft die deutschsprachige Hiphop- und Rap-Szene, deren sexualisierte Texte als jugendgefährdend beurteilt werden. Man kann sich darüber mühsam streiten, sicherlich geht manches an die Würde der Frau und überzeichnet ein menschenverachtendes Bild. Nun werden Sendeverbote in den Rundfunkanstalten gefordert, was bis zum immer wieder vorkommenden Wort „ficken“ reicht. Also Zustände wie in Amerika. Im ganzen Medienrummel schwingt auch die durchaus berechtigte Angst vor Rechts wieder hoch. Selbst einem Linksbündnis wird rechte Gesinnung mediengerecht unterstellt. Und damit das klar zum Ausdruck kommt, gelten nunmehr auch wieder die „Böhsen Onkelz“, die sich wiederholt von rechtem Gedankengut distanziert hatten, als Verbreiter rechter Propaganda. Auf ihrem Abschlusskonzert auf dem Lausitzring hatten sie vor über 100.000 Zuschauern noch einmal Songs ihres ersten Albums gespielt. Das Landeskriminalamt Brandenburg hat sofort gegen die Band Anzeige erstattet.

Nachdem es im letzten Jahr während der Frankfurter Buchmesse zu großem Unbehagen führte, dass die _Verleihung des Friedenspreises_ nach jahrelanger Ausstrahlung durch die ARD von diesen kurzfristig abgesetzt wurde, führte der Protest dagegen zum Erfolg. Ab diesem Jahr wird die Verleihung aus der Frankfurter Paulskirche nun wieder jährlich abwechselnd vom ZDF und der ARD übertragen. Die diesjährige Verleihung wird am 23. Oktober um 11 Uhr live vom ZDF ausgestrahlt.

|Das Börsenblatt, das die hauptsächliche Quelle für diese Essayreihe darstellt, ist selbstverständlich auch im Internet zu finden, mit ausgewählten Artikeln der Printausgabe, täglicher Presseschau, TV-Tipps und vielem mehr: http://www.boersenblatt.net/. |

Buchwurminfos III/2005

Die Auseinandersetzungen zur _Rechtschreibreform_ nehmen kein Ende. Derzeit werden erneut die neuen Regeln überarbeitet und vereinheitlicht, wobei der tatsächliche Schreibgebrauch berücksichtigt wird. Viel Zeit bis zum 1. August, wenn das Regelwerk verbindlich für die Schulen in Kraft treten wird, bleibt aber nicht mehr. Ob es gelingt, den erbitterten Kampf um die Regeln zur Getrennt- und Zusammenschreibung zu beenden, ist noch offen. Klar ist schon jetzt, dass auf jeden Fall aus den bisherigen Modifikationen ohnehin wieder Änderungen bei den vorliegenden Titeln der Schulbuchverlage erforderlich sein werden. Unter den Schulbuchverlegern gehört Verleger Michael Klett allerdings auch weiterhin zu den Gegnern der ganzen Reform, die er für unsinnig hält. „Mich ärgert auch der Eingriff in die Sprache mit politischer Macht. Als Unternehmer bin ich geschädigt durch die dauernden Änderungen, die wirtschaftlich unnötig sind“.

Der Börsenverein beschäftigt sich plötzlich auch mit der _Türkei und der Debatte um deren EU-Beitritt_. Nur vier Prozent lesen dort laut Statistik gelegentlich ein Buch. Das Lesen wird vom türkischen Staat nicht gefördert. Erschwerend kommt auch hinzu, dass ein funktionierender Buchhandel samt Vertrieb nur in Großstädten wie Istanbul, Ankara, Izmir, Bursa und Antalya vorhanden ist. Die Verlage stehen wirtschaftlich entsprechend auf schlechten Beinen, da sie auch von staatlicher Seite keine Unterstützung erhalten. Der türkische Staat ist selber Verleger und produziert über Ministerien und Institute sehr viele Bücher und ist der größte Konkurrent der privaten Verlage. Der türkische Verlegerverband hat gerade mal 230 Mitglieder und ist nicht professionell organisiert. Interessant ist auch, dass trotz der engen Verbindungen zwischen Deutschland und der Türkei keine deutschen Schriftsteller in der Türkei bekannt sind. Das gilt umgekehrt aber genauso für die türkischen Autoren in Deutschland. Dass sich das ein wenig ändert, versucht der schweizerische Unions-Verlag zu erreichen, der im Herbst mit einer zwanzigbändigen „Türkischen Bibliothek“ startet. http://www.unionsverlag.com/info/tbdefault.asp

Paulo Coelhos im April erschienene Novelle [„Der Zahir“]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3257064640/powermetalde-21 (auf deutsch bei |Diogenes|) ist _im Iran verboten_ worden.

Die „_SZ-Cinemathek_“-Reihe mit DVDs ist gut gestartet. 20.000 Kunden der „SZ“ hatten in den ersten vier Wochen bereits die ganze Edition beim _Süddeutschen Verlag_ komplett abonniert. 60.000 Stück der jeweiligen Filme wurden an den Handel geliefert. Der empfohlene Preis von 9,90 Euro wurde dort aber schnell unterschritten. In Worms zuerst bei „Drogerie Markt Müller“ mit 7,90 Euro, worauf einige Wochen später andere Händler wie „Weltbild“ – die zuerst den empfohlenen Preis einhielten – schnell nachzogen und ebenfalls reduzierten. Es war auch ein Versuch, DVDs im Buchhandel zu etablieren, aber Buchhandlungen können diese Preiswettbewerbe der Mediamärkte einfach nicht mithalten. Nach den erfolgreichen Starts der Buch-, Klassik- und Spielfilm-Editionen wird der der Süddeutsche Verlag nun bald auch schon die Pop-Edition mit Songs herausgeben. Diese Zusatzgeschäfte – bis 2007 sind 25 Projekte geplant – haben dem Medienkonzern 2004 einen Umsatz von 26 Millionen Euro erbracht. Allein die „SZ-Bibliothek“ wurde achtzigtausendmal abonniert und insgesamt sind mehr als zehn Millionen Bücher abgesetzt worden. Die Verkäufe der CD-Editionen zur klassischen Musik werden auf 75.000 beziffert und die Zahl der verkauften DVDs ist nach wenigen Wochen bereits auf über 600.000 Exemplare gestiegen.

Und im Sommer starten nun auch Comic-Sammel-Editionen. „_Bild_“ präsentiert in Zusammenarbeit mit „_Weltbild_“ eine zwölfbändige Reihe mit Klassikern des Genres. Die „_Frankfurter Allgemeine Zeitung_“ wird eine Reihe „Meilensteine der Comic-Literatur“ in Kooperation mit der Stuttgarter _Panini-Gruppe_ herausgeben. Und bei der „_Berliner Zeitung_“ ist auch eine neunteilige Comic-Edition geplant.

_ALDI_ hat bereits mehrfach Hörbücher verkauft, aufwendige Hörspiele in diesem Preis-Leistungs-Verhältnis hat es jedoch noch nie gegeben. Die _Hörbuch-Edition_, die ALDI zusammen mit dem Bayerischen Rundfunk (BR) herausbringt, umfasst acht Titel.

Das Magazin „_Focus_“, das sich auf den Frankfurter und Leipziger Buchmessen für Hörbücher in den letzten Jahren sehr stark eingesetzt hat, wird im Oktober ins Download-Geschäft einsteigen. Bislang gibt es zwei weiter Audiobook-Portale: http://www.audible.de und http://www.soforthoeren.de

In den Buchwurm-Info I/2005 berichtete ich über die „_Andere Bibliothek_“: |Eines der niveauvollsten Buchprojekte „_Die Andere Bibliothek_“ war vor einigen Jahren an den Eichborn-Verlag gegangen und wurde dort von _Hans Magnus Enzensberger_ verlegt. Dessen Vertrag geht noch bis 2007, aber er möchte nun vorzeitig beenden. Damit wird auch unwahrscheinlich, dass die Reihe überhaupt ihre Fortsetzung über das Jahr 2006 hinaus finden wird. _Franz Greno_, zuständig für die ästhetische Gestaltung dieser Reihe, geht von ihrem Ende aus, signalisiert allerdings auch, dass es in neuen Konstellationen zu einer Fortführung kommen wird.|
Nun steht die Fortführung fest. Enzensberger wird Herausgeber der „_Frankfurter Allgemeinen Bücherei_“, einer Buchreihe der _FAZ_. Die Ausstattung besorgt Franz Greno. Start ist im Herbst mit monatlich einem Band. Die Titel der Bibliothek sind bereits für die nächsten 48 Monate im Voraus geplant. |Eichborn| reagiert noch gelassen auf diese Ankündigung, denn bis September 2006 gehen noch deren Verträge mit entsprechenden Autoren. Über eine vorzeitige Beendigung wurde mit Enzensberger noch keine Einigung erzielt. Das FAZ-Projekt wird Eichborn sehr genau im Sinne des Wettbewerbsrechts prüfen und wenn die Reihe Ähnlichkeiten mit der „Anderen Bibliothek“ aufweisen sollte, auch entsprechend rechtlich vorgehen.

Nach dem geglückten Start mit der „Brigitte“-Hörbuch-Edition steigt die Frauenzeitschrift mit der _Brigitte-Edition_ nun auch ins Buchgeschäft ein. Ende August erscheint eine zunächst auf 26 Titel beschränkte vierzehntägige Reihe. Die Titel wurden von Elke Heidenreich ausgewählt. Bewusst wird man sich aber von den Niedrigpreis-Bibliotheken abheben: Die Bücher, die mit Halbleinen-Einband und Lesebändchen ausgestattet sind, kosten zehn Euro pro Band. Zurückhaltend ist man auch bei der Startauflage mit 50.000 Exemplaren. Vertriebspartner im Buchhandel ist der |Hanser|-Verlag.

_Random House Deutschland_ hat wie erwartet ein sattes Plus im Umsatz. 2004 wurde dieser im Vergleich zum Vorjahr um rund 57 Millionen Euro gesteigert. Das Plus ergibt sich durch die Anfang 2004 getätigten Verlagszukäufe von _Heyne_ und _Südwest_. Angaben zum Gewinn werden aber nicht gemacht. Der Umsatz von insgesamt 195,8 Millionen Euro betrifft nur die Bundesrepublik. Im Hardcover liegt das Plus bei sieben Prozent, im Jugendbuch bei mehr als 30 Prozent und vor allem im Hörbuch wurden mehr als 50 Prozent erwirtschaftet. Der Umsatz bei den Taschenbuchverlagen allerdings stagniert, was Random House unter anderem auf die Billig-Hardcover zurückführt. Im Herbst startet allerdings ein weiterer neuer Verlag: _Page & Turner_, der klassische Unterhaltungsliteratur in bibliophiler Ausstattung präsentieren wird. Neben den Publikumsverlagen wie Goldmann, die eine große thematische Bandbreite haben, wird Page & Turner mit einem geschlosseneren Programm aufwarten.

Nach dem Tod von Karl Blessing führt nun _Ulrich Genzler_ den _Blessing Verlag_ weiter. Genzler ist bereits Leiter des Heyne-Verlages. Seine Laufbahn begann der 49-Jährige bei der Verlagsgruppe Bertelsmann. 1997 wechselte er dann zu Heyne. Mit dem Erwerb des Verlages durch die Bertelsmann-Buchtochter Random House kehrte er 2003 gewissermaßen zu den Anfängen zurück. Die kraftvolle Tradition amerikanisch-angelsächsischer Erzähler wird ebenso wie die etablierten Programmlinien mit Kabarettisten wie Dieter Hildebrandt und Journalisten wie Frank Schirrmacher als Autoren auch künftig bei Blessing beibehalten.

Einige Zeit war der _Pendo-Verlag_ aus der Schweiz stillgelegt. Nun hat der frühere Chef von Ullstein-Heyne-List, Christian Strasser, die Verlagsleitung übernommen. Ullstein-Heyne-List hätte komplett an Random House gehen sollen, aber das Bundeskartellamt ließ dies nicht zu. So war dann ein Teil an Bonnier gegangen. Das Angebot auf Rückverkauf von Christian Strasser und anderen ehemaligen Mitarbeitern von Ullstein-Heyne-List hatte Random House ausgeschlagen. Pendo war zuletzt eine Tochter des Eichborn-Verlages und wurde Ende Mai 2004 geschlossen. Zum 1. Oktober startet der Verlag jetzt wieder neu mit literarischem Programm, Sachbuch und Lebenswissen. Eichborn kümmert sich allerdings weiterhin um die Herstellung und die Rechte und Lizenzen.

Der Frankfurter _Campus-Verlag_ begeht 30-jähriges Jubiläum. Die Themen des Verlages haben in den letzten Jahren eine Wandlung erhalten. Mittlerweile werden mehr als 50 Prozent des Umsatzes durch Lebenshilfe-Ratgeber erwirtschaftet. Auch die Hörbücher sind bei Campus im Aufwind. Das traditionelle Programm dagegen ist in der Wissenschaft bei Geschichte und Soziologie ähnlich dem von Suhrkamp oder C.H. Beck. Mit den Wirtschafts- und Bewerbungsbüchern rangiert man auf Platz zwei hinter Gabler.

Der sechste _Harry Potter_-Band bei Carlsen erscheint am 1. Oktober zum Ladenpreis von 22,50 Euro. Die Startauflage beträgt zwei Millionen Exemplare. Die Buchhandlungen erhalten kein Remissionsrecht. Von den bisherigen fünf deutschen Potter-Bänden wurden bislang 21 Millionen Exemplare verkauft. Weltweit beläuft sich die Zahl der verkauften Potter-Bände auf ca. 260 Millionen Exemplare in 61 Sprachen.

Der Verlag _Fantasy Productions_ startete mit dem Titel „Vor Adam“ von Jack London die Taschenbuchreihe „_Paläo Fiction_“, Geschichten aus der Vorzeit. Unterstützt wird die Reihe vom Neanderthal-Museum in Mettmann.

Der verstorbene _Papst Paul II._ begeisterte sich für Literatur und schrieb selber Lyrik, Dramen und Texte. Von ihm selber sind 62 Werke derzeit allein in deutscher Sprache lieferbar. Dazu kommen mehr als 100 Buchtitel, die sich mit seiner Person befassen. Nach seinem Tod im April aktualisierten die Verlage natürlich ihre Biografien und Bildbände. Mit dem gewaltigen Ansturm der Kunden hatten sie allerdings nicht im stattgefundenen Ausmaß gerechnet. Natürlich folgten dann auch schnell die Titel vom und über den neu gewählten Papst _Johannes Ratzinger_, von dem vor seiner Wahl bereits 29 geschriebene Bücher vorlagen und zählt man seine Ko-Autor-Titel hinzu, kommt man sogar auf 57 Titel. In vielen Buchhandlungen waren diese sofort ausverkauft; zwar lässt der Ansturm natürlich bald wieder nach, aber wenn der Papst im Sommer nach Köln kommen wird, erwartet der Handel die nächste Nachfrage-Welle. Ratzinger hat ein regelrechtes „Chart-Wunder“ vollbracht. Mit gleich vier Titeln war er in die Verkaufshitlisten eingedrungen, mit seiner „Einführung ins Christentum“ auf Anhieb auf Platz 1 der Sachbuch-Charts und bescherte damit dem Kösel-Verlag zum ersten Mal einen Nummer-1-Titel. Ratzinger ist der erste Autor, dem es gelang, aus dem Stand heraus mit vier Positionen die Bestseller-Listen erobern zu können. Was man von dem nun neu stattfindenden Dialog mit Religionen erwarten darf, zeigt beispielsweise eine meiner früheren Rezensionen zu [„Glaube, Wahrheit, Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen“, 165 eines jener Bücher, die jetzt auch in den Bestseller-Listen stehen.

Im April verstarb _Marie Louise Fischer_ im Alter von 82 Jahren. Die Autorin hat mehr als 150 Liebesromane und 75 Kinderbücher verfasst, die in bis zu 23 Sprachen übersetzt wurden, und erreichte mit ihrer Trivialliteratur damit ein Millionenpublikum. Allein in Deutschland verzeichnete sie eine Gesamtauflage von mehr als 70 Millionen Büchern.

Am 22. April ist im Alter von 98 Jahren _Erika Fuchs_ gestorben. Sie war die erste Chefredakteurin des „Micky Maus“-Magazins, langjährige Barks-Übersetzerin und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Am 17. März ist der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels von 1982 _George F. Kennan_ im Alter von 101 Jahren gestorben. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der einflussreiche US-Diplomat einer der Initiatoren des so genannten Marshall-Plans zum Wiederaufbau Europas. Als Gegner der atomaren Aufrüstung quittierte er später den diplomatischen Dienst, wirkte als Wissenschaftler und Publizist. Seine Einsicht, dass der Massenexport von Waffen in andere Länder, insbesondere in die Dritte Welt, Frieden verhindert, ist aktueller denn je. Auch in den vergangenen Jahren hat sich Kennan immer zu Wort gemeldet und vehement gegen Massenvernichtungswaffen ausgesprochen.

Am 7. April ist _Heinrich Hugendubel_, der sicherlich bedeutendste deutsche Buchhändler, im Alter von 68 Jahren verstorben. Er führte das 112-jährige Buchhandels-Imperium bereits in vierter Generation. Gegenwärtig zählt das Unternehmen 32 Filialen an 16 Standorten, ist mit 50 Prozent an Weltbildplus beteiligt, hält 40 Prozent Beteiligung an Orell Füssli in der Schweiz und ebenso je 50 Prozent an den Verlagen Ariston, Diederichs, Irisiana und Kailash. Nach seinem Tode bleibt das Unternehmen in fünfter Generation bei der Hugendubel-Familie.

Die Deutsche Bibliothek soll umbenannt werden in _Deutsche Nationalbibliothek_. Das sieht ein Gesetzentwurf der Bundesregierung vor, den das Bundeskabinett am 11. Mai unter Federführung von Kulturstaatsministerin _Christina Weiss_ beschlossen hat. Das „Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek“ kann in seiner Neufassung erst in Kraft treten, wenn nach den parlamentarischen Beratungen auch der Bundestag zustimmt.

Zwar hatte der für nächstes Jahr gekündigte Frankfurter Buchmessendirektor _Volker Neumann_ bereits den künftigen Direktor _Jürgen Boos_ an seiner Seite, aber die Messe 2005 sollte noch die Messe von Neumann sein. Dennoch hat er nach all den nicht endenden Querelen nun sein Amt vorzeitig zum 30. April niedergelegt. Mit der neuen Leitung soll die Messe ab 2006 noch internationaler als bisher werden. Man ging nun ein Joint-Venture mit dem Südafrikanischen Verlegerverband für eine _Buchmesse in Kapstadt_ ein. Bislang galt die internationale Buchmesse in Harare (Simbabwe) als potenzielle Leitmesse für die schwarzafrikanischen Länder. Die neue Messe ist besonders für die englischsprachige Welt interessant, ebenso aber auch für die indischen Verleger – ein großer Teil der Bevölkerung Südafrikas ist indischer Herkunft. Neben der Fachmesse wird es ein großes Lesefestival geben. Betreffs der Leseförderung werden Schulen und Universitäten einbezogen und es wird große Events fürs Publikum geben. Die südafrikanische Regierung unterstützt die Messe, um das Lesen zu popularisieren und die Alphabetisierung voranzutreiben. Schriftsteller aus der ganzen Welt sollen nach Südafrika kommen. Die Frankfurter Messe war bereits Pate bei der Gründung der _Buchmesse in Budapest_ und insgesamt in den 90er Jahren im osteuropäischen Raum stark engagiert. Das waren allerdings alles Starthilfen. Für die wirtschaftliche Beteiligung der Frankfurter Buchmesse ist nun Kapstadt das erste Beispiel. Gleichzeitig wird versucht, von dieser Plattform aus ein noch stärkeres Engagement afrikanischer Verleger in Frankfurt zu gewinnen und Autoren von internationalem Rang aus Südafrika noch stärker an Frankfurt zu binden. Südafrika gilt auch als geplantes Gastland für die Frankfurter Buchmesse. Weitere solcher Joint-Ventures sind in Planung, denn man will das Knowhow nun auch international vermarkten.

Die Einladung des diesjährigen Gastlandes _Korea_ bleibt weiterhin ernüchternd. Nach all den schon geschilderten Vorfällen hat nun Nordkorea endgültig seine Teilnahme abgesagt und damit ist auch der große politische Versuch, kultur- und friedenspolitisch für dieses geteilte Land Akzente zu setzen, vollkommen gescheitert. Ungeachtet der Absage versucht die Messeleitung zusammen mit Südkorea Nordkorea zu bewegen, diese Absage wieder zurückzunehmen. Neben diesem Gastland-Gerangel wird die begonnene Kooperation mit der Filmindustrie fortgeführt und ausgebaut, wobei sich vor allem auf die Zusammenarbeit mit der „Berlinale“ gestützt wird. Und dies soll in den nächsten Jahren noch internationaler werden. Weiteres Beispiel solcher Kooperationen ist die Zusammenarbeit mit der Nürnberger Spielwarenmesse.

Neu im Netz sind nun drei Landesverbände des Börsenvereins: http://www.boersenverein-hessen.de, http://www.boersenverein-rheinland-pfalz.de und http://www.boersenverein-saarland.de.
|Das Börsenblatt, das die hauptsächliche Quelle für diese Essayreihe darstellt, ist selbstverständlich auch im Internet zu finden, mit ausgewählten Artikeln der Printausgabe, täglicher Presseschau, TV-Tipps und vielem mehr: http://www.boersenblatt.net. |

Interview mit Rainer Wekwerth

Andreas Jur:
Hallo Rainer, dein neuer Thriller „Das Hades-Labyrinth“  ist nun bei Fischer erschienen – Kannst du uns schon etwas zum bisherigen Verkaufserfolg und den Reaktionen bei Leserschaft und Presse sagen?

Rainer Wekwerth:
Über den Verkaufserfolg lässt sich nach so kurzer Zeit noch nichts sagen. Ich weiß aber, dass der |Fischer|-Verlag mit den Abverkäufen in den Buchhandel sehr zufrieden ist. Die Reaktionen zu „Das Hades-Labyrinth“ fallen dagegen sehr vielseitig aus. Bei Amazon und in verschiedenen Foren hoch gelobt, habe ich auch Leser, die mir sagen, sie können das Buch nicht lesen, da sie Angst haben, davon in ihren Träumen verfolgt zu werden. Zugegeben ist es an manchen Stellen harter Stoff, aber die Schauereffekte werden allein durch die Phantasie der Leser erzeugt, denn ich ergehe mich nicht in blutigen Details. Aber ich wollte auch ein gewissen Effekt erzielen und meine Leser an Grenzen führen. Offensichtlich ist mir das gelungen.

Andreas Jur:
Das macht neugierig. Welchen Plot können unsere Leser im „Hades-Labyrinth“ erwarten?

Rainer Wekwerth:
„Das Hades-Labyrinth“ handelt von der Geschichte eines Mannes und seiner Rache. Kommissar Daniel Fischer erhält Informationen, dass unter der Erde seiner Heimatstadt Lichtenfels in unterirdischen Tunneln und natürlichen Höhlen Drogen im großen Stil angebaut werden. Er steigt mit zwei Kollegen hinab und trifft auf Adam, einen größenwahnsinnigen Killer, der dort mit seinen Jüngern haust. Fischer und die Beamten werden überwältigt und grausam gefoltert. Die beiden Beamten sterben einen schrecklichen Tod. Adam lässt sie pfählen. Für Daniel Fischer hat er sich etwas Besonderes ausgedacht. Ihn lähmt er mit einem Gift und überlässt ihn den Ratten.

Dies ist die Ausgangssituation, und mit Fischers Kampf gegen die Lähmung und die Angriffe der Ratten beginnt auch das Buch.
Daniel Fischer überlebt und kehrt nach drei Tagen an die Oberfläche zurück, aber er ist ein gezeichneter Mann. Körperlich und seelisch zerstört, bleibt ihm nichts mehr. Seine Frau verlässt ihn, seinen Job im Rauschgiftdezernat kann er nicht mehr ausüben. Daniel ähnelt durch unzählige Rattenbisse und viele Operationen inzwischen einem Albtraum der Mary Shellys Frankensteinroman entsprungen sein könnte. Achtzehn Monate verbringt er in Kliniken und findet danach nicht mehr ins Leben zurück.

Und dies ist die Story. Daniel Fischer muss erkennen, dass Adam ihm sein Leben genommen hat und nur Adam kann es ihm wiedergeben. Rache wird der alles beherrschende Gedanke, aber Adam ist verschwunden. Schließlich entdeckt Fischer seine Spur und schleicht sich unerkannt in ein Spezialeinsatzkommando der Polizei ein, das in den Abgrund steigt, um Adams Treiben ein für allemal ein Ende zu machen. Doch Daniel Fischer weiß: Adam ist mehr als nur ein Mensch, denn im Lauf seiner Jagd nach dem Killer hat er erfahren, dass eine dunkle Legende unter der Erde ruht und Adam eine alte Prophezeiung erfüllt.

Andreas Jur:
Ein Psychothriller mit Mysteryeinschlag also. Klingt lecker. „Hades“ übrigens klingt in Anlehnung an die griechische Unterweltsmythologie auch schon recht düster. Spielen die mythologischen Aspekte auch selbst mit in die Handlung hinein oder woher stammt der Hades-Bezug?

Rainer Wekwerth:
Es gibt historische Bezüge zu einer der grausamsten Figuren der Menschheitsgeschichte, neben der selbst Diktatoren wie Hitler und Stalin wie Waisenknaben wirken. Alles, was in diesem Buch geschieht, hat seinen Ursprung im 15. Jahrhundert und ich lasse in „Das Hades-Labyrinth“ einen Herrscher zu Wort kommen, der einem wirklich Albträume bescheren kann. Es gilt, eine alte Prophezeiung zu erfüllen. Der Fürst der Finsternis wartet auf seine Wiedergeburt.

Übrigens sind alle historischen Details gesichert. Ich habe intensiv recherchiert und mir nur ganz wenige künstlerische Freiheiten genommen.

Andreas Jur:
Die gründliche Recherchearbeit wurde ja auch schon in deinem vorigen Roman spürbar. Konnte sich [Traumschlange“ die erhoffte Aufmerksamkeit der deutschen Thrillerfans erkämpfen?

Rainer Wekwerth:
Traumschlange war kein großer Verkaufserfolg, hat mir aber eine Stammleserschaft gesichert und wurde in der Presse durchweg positiv besprochen. Mit „Das Hades-Labyrinth“ sieht die Sache schon anders aus. Allein die Vorbestellungen waren um ein Vielfaches höher als die Gesamtauflage von Traumschlange. Ich führe das auf den Schauplatz der Story in Deutschland zurück. Trotzdem kommt die Exotik nicht zu kurz, denn ein Großteil der Handlung spielt unter Erde. Diese Exotik ergibt sich also diesmal aus unterirdischen Stollen, Tunneln und Höhlen. Dort im Dunklen, unter ungewöhnlichen Bedingungen, sind meine Figuren auf sich allein gestellt. Es gibt keine Hilfe von oben. Sie könnten ebenso auf einem fremden Planeten gestrandet sein.

Andreas Jur:
Bei der Gelegenheit: Du konntest ja bereits unter dem Pseudonym „David Kenlock“ eine kleine Stammleserschaft um dich scharen. Was bewog dich dazu, das englisch anmutende Alias abzulegen und die letzten beiden Titel unter deinem bürgerlichen Namen zu veröffentlichen? Das war doch sicherlich ein Wagnis. War es die richtige Entscheidung? Und ist David Kenlock nun in den Ruhestand versetzt worden?

Rainer Wekwerth:
Das Pseudonym David Kenlock war ein Erfolg und Bücher wie z.B. [„Dunkles Feuer“]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3502519994/powermetalde-21 laufen noch heute gut im Buchhandel. Allerdings habe ich ein englisch anmutendes Pseudonym immer als Last empfunden, da ich generell beweisen möchte, dass deutsche Autoren es mit den anglo-amerikanischen Kollegen aufnehmen können. Als ich mit dem Schreiben von internationalen Thrillern begann, war die Situation auf dem Buchmarkt allerdings so, dass man es deutschen Autoren einfach nicht zutraute, einen Roman auf internationaler Ebene und mit einem hohen Spannungsniveau zu schreiben. Mein erster Roman „Dunkles Feuer“ spielte in den USA. Damals hätten die Leser hierzulande gesagt: Was brauchen wir einen deutschen Autor, der über Amerika schreibt, dafür haben wir die „Amis“.

Der Buchmarkt wurde vor wenigen Jahren im Bereich Spannungsliteratur dermaßen von englischen und amerikanischen Autoren dominiert, dass ich keine Chance gehabt hätte. Also blieb mir nur der Weg über ein Pseudonym, denn im Regal hätte ich zwischen Autoren wie Stephen King, John Grisham, Michael Chrichton, etc. als deutscher Autor fast lächerlich gewirkt. Erst durch Autoren wie Andreas Eschbach und Frank Schätzing hat sich die Situation geändert, aber die beiden haben nicht mit internationalen Thrillern, sondern im Fall von Eschbach mit Science-Fiction, oder Schätzing mit deutschen Krimis begonnen. Ihre Ausgangssituation war anders und nun haben sie Autoren wie mir den Weg bereitet. Ich muss mich nicht mehr hinter einem Pseudonym verbergen, denn deutsche Verlage haben erkannt, zu welchen Leistungen deutsche Autoren fähig sind.

Zur Frage: „Richtige Entscheidung?“. Dies wir die Zeit zeigen. Noch ist es zu früh, darüber eine Aussage zu treffen, aber es ist richtig, David Kenlock hat sich seinen Platz auf dem Buchmarkt erobert, Rainer Wekwerth muss dies erst noch gelingen, aber ich bin zuversichtlich. Ob es noch Bücher unter dem Pseudonym David Kenlock geben wird, ist noch nicht entschieden.

Andreas Jur:
Die zentrale Figur in „Traumschlange“ ist eine Frau – Hat deine Gattin dich dabei in Sachen weiblicher Psychologie und Handlungsweise beraten?

Rainer Wekwerth:
Meine Frau Gaby liest alle meine Bücher und gibt mir wertvolle Anregungen. Ohne sie wären meine Bücher um einiges schlechter. Speziell zur weiblichen Psyche hat sie mir aber nichts gesagt, denn sie erfährt immer erst, um was es in dem Buch geht, wenn sie das fertige Manuskript in Händen hält. Dann legt sie aber richtig los. Es gibt Romane von mir, die nie ein Verlag zu sehen bekommen hat, weil sie ihr nicht gefallen haben. Ich verlasse mich zu hundert Prozent auf ihr Urteil, denn sie ist eine ungewöhnlich aufmerksame Leserin, die viele Büchern gelesen hat und somit über eine große Leseerfahrung verfügt.

Andreas Jur:
Auch die Örtlichkeiten in „Traumschlange“ klingen zunächst nicht gerade nach vertrautem Terrain. Die Protagonistin ist Britin, die Haupthandlung spielt auf Hait – Auch hier tun sich sicherlich einige Falltüren auf, in die man als Autor stolpern kann, wenn man bekanntes Gebiet verlässt. Abby Summers hätte vermutlich auch eine Stuttgarter Innenarchitektin sein können. Was hat dich zur Wahl der Nationalität bewogen? Gerade was Haiti angeht: Wie sorgst du für die nötige Authentizität? Warst du vor Ort oder hast du dich auf gründliche Recherchen beschränken müssen?

Rainer Wekwerth:
Ich würde Haiti niemals betreten. Dieses Land ist die Hölle auf Erden. Wer „Traumschlange“ gelesen hat, wird mir zustimmen, denn ein Großteil der Handlung wird von der politischen und sozialen Situation in Haiti bestimmt. Ich sorge für die nötige Authentizität, indem ich akribisch recherchiere und mit Menschen spreche, die dort lange Zeit gelebt haben. Ich bin ein Fanatiker und höre erst auf, wenn jedes Detail stimmt. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich einen Straßennamen benötige oder den Fahrpreis für eine Taxifahrt von einem Ort zum anderen. In „Traumschlange“ werden Gifte verwendet, deren Zusammensetzung ich bis ins Milligramm kenne. Ich habe mich mit Voodoo beschäftigt und meine Figuren benutzen alle kreolischen Begriffe korrekt. Ich kenne die Geschichte des Landes und verarbeite sie in meinem Roman. Ein Rezensent hat über „Traumschlange“ geschrieben: „Wenn man dieses Buch liest, kann man Haiti riechen, schmecken und sehen.“ Ein größeres Kompliment gibt es nicht.

Abby Summers wurde in meinem Kopf als Engländerin geboren. Sie war einfach da. Dies zu ändern hätte bedeutet, die Figur zu vergewaltigen.

Andreas Jur:
Du hast dich bei „Traumschlange“ auf einen zentralen und geradlinigen Plot beschränkt. War die Versuchung nicht spürbar, die besondere soziale, politische, wirtschaftliche und militärische Situation des Schauplatzes Haiti stärker mit der Storyline zu verflechten und ein regelrechtes Verschwörungsgebäude drumherum zu zimmern? Angeboten hätte es sich ja vielleicht.

Rainer Wekwerth:
Nein. Ich habe die besonderen Zustände auf Haiti in meine Handlung einfließen lassen, wollte aber einen geradlinigen Plot. Menschen tun anderen Menschen Böses an. Ich wollte das Böse an konkreten Namen festmachen, denn hinter allem Schlechten in der Welt steckt keine unbekannte Größe, sondern Menschen, meist von Gier getrieben. Es ist nicht der große Konzern, der die Umwelt verschmutzt, sondern der Manager in diesem Konzern, der aus Gewinnsucht die Umweltbestimmungen missachtet. Wenn irgendjemand auf dieser Welt stirbt, verdient ein anderer daran. Das sollte jedem von uns klar sein. Die Bombe, die ein Krankenhaus in Bagdad zerstört, sorgt für Gewinne bei den Rüstungskonzernen in den USA. In meinen Büchern versuche ich, diffuse Aussagen zu vermeiden und gebe dem Bösen ein Gesicht. In unserer zivilisierten Welt sieht man leider das Antlitz der Bösen nur, wenn jemand zum Massenmörder wird oder besonders grausam handelt. Aber das Böse verbirgt sich viel häufiger hinter dem Lächeln eines Aufsichtsratsvorsitzenden, der im Bestreben, seine Gewinne zu steigern, die Produktion ins Ausland verlegt, Tausende Arbeitsplätze vernichtet und kleine Kinder in Indonesien seine Turnschuhe in 12-Stunden-Schichten nähen lässt. Autoren wie ich sind ein Spiegel für die Gesellschaft. Auch wenn der Wunsch nach Unterhaltung dominiert, sollte der Leser nach der Lektüre eines Buches etwas klüger sein als zuvor und sich über bestimmte Problematiken seine Gedanken machen.

Andreas Jur:
Du bist oder warst ja wahrlich ein Hans Dampf in allen Gassen – Grafikdesigner, Kampfsportlehrer, Gärtner, Händler, Vertreter, Breakdancer, Redakteur, Spieleentwickler, noch so einiges mehr und schließlich Autor. Umtreibt dich ein unruhiger Geist? Das klingt nach einem spannenden Lebensstil. Wie bringt man das alles mit einem Leben als Ehemann und Familienvater unter einen Hut? Bist du immer noch so unternehmungslustig oder macht sich die Ruhe des heranschleichenden Alters bemerkbar? In welchen Bereichen neben der Schriftstellerei bist du derzeit noch aktiv geblieben?

Rainer Wekwerth:
Es ist schon ruhiger um mich geworden. Als kreativer Mensch unterliegt man immer wieder der Versuchung, sich neu zu erfinden. Das Neue ist die spannende Herausforderung, das Bekannte nur langweilige Routine. In diesem Denken schwebt eine große Gefahr mit, denn man konzentriert sich nicht und macht vieles nicht so gut, wie man es könnte, da man von einer inneren Unruhe vorangetrieben wird. Inzwischen lasse ich die Figuren meiner Romane die Abenteuer erleben und führe selbst ein ruhigeres Leben. So interessant mein Leben auch war, es war auch anstrengend, und neben vielen gefeierten Erfolgen galt es auch, Misserfolge zu verarbeiten.

Derzeit konzentriere ich mich auf das Schreiben und auf ein Projekt, das mir sehr am Herzen liegt. Ich habe eine literarische Agentur gegründet, die „Literarische Agentur Rainer Wekwerth“, im Internet zu finden unter http://www.die-autoren-agentur.de. Es soll eine Agentur von Autoren für Autoren sein, denn ich bin der Meinung, dass ein Schriftsteller die Arbeit eines anderen Schriftstellers am besten beurteilen und Verbesserungsvorschläge machen kann. Auf den Gedanken, eine Agentur zu gründen, kam ich durch meine Schreibkurse. Ich war überwältigt von der Einsicht, wie viele Talente da draußen darauf warten, entdeckt zu werden. Es lag nahe, dieses Potenzial zu nutzen. Meine Schreibkurse sind somit eine Art „Kaderschmiede“ für den schriftstellerischen Nachwuchs und Basis für die Arbeit der Agentur. Ich denke, von diesem neuen Konzept profitieren nicht nur die Autoren, sondern auch die Verlage, die mit der Zeit erkennen, dass „meine“ Autoren eine harte Schule durchlaufen haben und sehr professionell arbeiten.

Andreas Jur:
Als Jonathan Abendrot hattest du ja auch bereits Erfolge als Jugendbuchautor feiern können. Gerade jetzt, wo du seit einigen Jahren Vater bist – inspiriert dich das nicht, auch in dieser Richtung mal wieder einen Vorstoß zu wagen?

Rainer Wekwerth:
Eher das Gegenteil ist der Fall. Ich spiele sehr viel mit meiner Tochter Anna (drei Jahre alt) und erzähle ihr Geschichten, die ich frei erfinde. Es genügt mir, jeden Tag einige Stunden in einer kindlichen Welt zu verbringen. Meine Arbeit als „harter“ Thrillerautor bietet hierzu einen gewissen Ausgleich. Aber wer weiß schon, was morgen ist? Bei einem entsprechenden Angebot werde ich nicht „nein“ sagen.

Andreas Jur:
Woran arbeitet der Thrillerautor Rainer Wekwerth dieser Tage? Was können wir als nächstes erwarten?

Rainer Wekwerth:
Derzeit erlebt die realistische Phantastik (Preston/Child, Frank Schätzing, etc.) einen Boom, dem ich mich aber nicht anschließen will. Ich arbeite an einem historischen Roman zur Zeit der spanischen Inquisition, aber ich habe auch noch ein paar andere Projekte im Hinterkopf.

Vielen Dank für das Interview.

Andreas Jur:
Ich habe zu danken und wünsche dir viel Erfolg mit dem „Hades-Labyrinth“ und deinem weiteren Schaffen.

Autorenhomepage: www.wekwerth.com

Literarische Agentur Rainer Wekwerth (inklusive Schreibkurs):
www.die-autoren-agentur.de

Buchwurminfos II/2005

Die Zusammenarbeit Hörbuch und Publikumszeitschrift scheint sich überaus zu lohnen. In diesen Wochen liegen der _“Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“_ jeweils in drei Folgen ungekürzte Hörbuchlesungen von „Die Schatzinsel“, „Robinson Crusoe“, „In 80 Tagen um die Welt“ und „Robin Hood“ kostenlos bei. Die PR-Aktion für die Jugendklassiker-Reihe des „Verlag und Studio für Hörbuchproduktionen“ soll einer größeren Öffentlichkeit für die insgesamt 18 Titel umfassende Reihe dienen. Auch Random House und Verlagshaus Gruner + Jahr – konkret die Frauenzeitschrift „Brigitte“ – haben eine gemeinsame _Hörbuch-Edition „Starke Stimmen“_ konzipiert und das kommt richtig gut an. Bereits die erste Ausgabe für Elke Heidenreichs Interpretation von Dorothy Parkers „New Yorker Geschichten“ hatte schon vor dem Erstverkaufstag 50.000 Vorbestellungen. Für ein Hörbuch eine gigantische Zahl. Hörbücher bleiben zwar mit einem steigenden Marktanteil von nur 3,2 % eigentlich unbedeutend, aber statistisch glaubt man an den Erfolg. Denn dieser schnellt nach oben. 2004 14,7 % Umsatzzuwachs gegenüber 2003, 2003 waren es 10,3 % gegenüber 2002 gewesen. An kräftigsten natürlich im Bereich der Belletristik. Und dort gibt es nun die ersten literarisch anspruchsvollen satten Verkaufserfolge. Der Verband der phonographischen Wirtschaft verleiht dem Verlag _steinbach sprechende Bücher_ gleich _drei goldene_ Schallplatten für die Hörbücher von _Paulo Coelho_. 150.000-mal wurde sowohl das Hörbuch „Der Alchemist“ wie auch „Der Wanderer“ verkauft und 100.000-mal „Unterwegs“. Der auf die ungekürzte Lesung profilierte Verlag mit Schwerpunkt auf zeitgenössischer Literatur, klassischen Autoren, literarisches Sachbuch sowie Kinderhörbuch produziert jährlich etwa 30 Titel, lieferbar sind rund 200 Titel. Gespannt kann man jetzt schon auf das im Mai erscheinende Hörbuch „Die dunkle Seite der Liebe“ von Rafik Schami mit 20 CDs sein. Die Preise für Hörbücher purzeln endlich auch immer mehr. Den gestarteten Niedrigpreisreihen anderer Verlage hat sich nun auch der Münchner _Hörverlag_ mit seiner „Smart Edition“ angeschlossen. Die Reihe startete mit neun Titeln zum Preis von 7,99 Euro.

Zeitungen scheinen mit den Bucheditionen richtig Geschäfte zu machen. Die _“SZ-Bibliothek“_ der Süddeutschen Zeitung, die auf 50 Titel konzipiert war, wird fortgesetzt und um weitere 50 Bände erweitert. Nicht nur mit Büchern und Hörbüchern, auch mit DVDs wird da viel ausprobiert. Nach der _DVD-Reihe_ in Kooperation ZDF und der „Welt“ legte jetzt auch die _“Frankfurter Allgemeine Zeitung“_ in Zusammenarbeit mit „Spiegel TV“ eine zwölfteilige Dokumentation zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert vor. Außerdem hat die „FAZ“ seit Ende Februar bis Anfang Mai unter dem Titel „Faszinierende Natur“ eine zehnteilige Reihe von BBC-Dokumentationen auf DVD. Und nahtlos an die „SZ-Bibliothek“ begann sich die _“SZ-Cinemathek“_ anzuschließen, die ebenfalls 50 Spielfilme auf DVD umfasst. Was den Schaden solcher Zeitungs-Billig-Editionen für den Buchhandel angeht, beruhigt der Börsenverein. Im gesamten Kaufverhalten machte dieser Umsatz etwa 4 % aus und führte eher dazu, das Interesse an Büchern zu wecken.
Gut laufen im übrigen Buchgeschäft auch bestimmte _“Ratgeber“-Titel_. Das Lieblingsthema ist wie seit Jahren unverändert der eigene Körper und seine Befindlichkeit. Wellness und Selbstfindung liegt nach wie vor im Trend.

Am 16. Juli, eine Minute nach 1 Uhr (0.01 Uhr der britischen Sommerzeit), darf der _sechste Band von Harry Potter_ verkauft werden und im März ging der Hype schon wieder los. Die Buchhändler sind verärgert, denn wieder gibt es einen langen Vertrag mit 13 Punkten zu unterschreiben: Vor dem besagten Tag darf man weder selbst das Buch lesen, noch dürfen dies die Mitarbeiter; sogar Fotografien von Kartons sind unzulässig und noch mal anders als in den Vorjahren gibt es nur ein beschränktes Remissionsrecht: erst ab 1. November darf remittiert werden, die Gutschrift darf aber 20 % des Betrags der Eingangsbestellung bei Bloomsbury nicht überschreiten. Auf Nachbestellungen wird überhaupt kein Rückgaberecht mehr eingeräumt. Da keine Preisbindung vorliegt, läuft der Preiskampf auf Hochtouren, wahrscheinlich legen viel Händler wieder drauf, anstatt mal zu verdienen. Die Niedrigstpreisgarantie hat bislang Weltbild mit 15,75 Euro. Wer es woanders billiger bekäme, braucht dann sogar bei Weltbild nur diesen Preis zu zahlen. In diesem Jahr entschließen sich viele der kleinen Buchhändler erstmals dazu, die Verträge nicht zu unterzeichnen und Harry Potter bei Erscheinen nicht anzubieten, weil sie beim anstehenden Preisdumping einfach nicht werden mithalten können. Bei Interesse von Kunden nutzen sie die Barsortimente.

Die Zeitschrift _Hagal_, bislang im Verlag Zeitenwende erschienen, ist vom Regin-Verlag übernommen worden und kam im März erstmals unter ihrem neuen Untertitel „Zeitschrift für Tradition, Metaphysik und Kultur“ heraus. Der bisherige Untertitel „Zeitschrift für Mythologie, Religion, Metaphysik und Esoterik“ wurde geändert, weil esoterische und mythologische Themen künftig nur dann noch behandelt werden, wenn sie in einem Kontext mit der überlieferten Tradition stehen.

In Polen ist beim Warschauer Verlag XXL das in Deutschland verbotene Buch von Adolf Hitler _“Mein Kampf“_ als Neuausgabe gedruckt worden. Die Auflage liegt bei 2000. Bereits 1992 war dort eine erste Ausgabe erschienen, die inzwischen vergriffen war. Unter dem Kommunismus war das Buch in Polen verboten. In der Türkei ist Hitlers Buch seit langem sehr gefragt und erhältlich. „Kavgam“ (der türkische Titel) gehört dort zu den meist verkauften Büchern des ersten Quartals 2005.

_Rolf Hochhuth_ hat den Fehler begangen, sich differenzierter zu „rechten“ Zuordnungsmechanismen zu äußern, indem er den in Deutschland als „Holocaust“-Leugner bezeichneten britischen Historiker David Irving als „fabelhaften Pionier der Zeitgeschichte“ bezeichnete. Diese Aussage führte sofort zu großem Aufschrei über Hochhuth in Deutschland, weswegen er sich von seiner eigenen Aussage schnell wieder distanzierte. Dennoch wird nun die Deutsche Verlagsanstalt die für Frühjahr 2006 geplante Autobiografie von Hochhuth, die zu seinem 75. Geburtstag am 1. April erscheinen sollte, nicht mehr veröffentlichen, da die getätigte Aussage nicht mit den Autoren von DVA in Einklang zu bringen sei. Hochhuth besteht allerdings auf Vertragserfüllung und geht mit Anwalt vor Gericht.

Bundesinnenminister Otto Schily hat den in Hessen ansässigen Verlag der türkischsprachigen _Zeitung „Anadoluda Vakit“_ wegen des Vorwurfs der Volksverhetzung verboten. Unter dem Deckmantel einer angeblich seriösen Berichterstattung sei antijüdische und antiwestliche Hetze verbreitet worden. Bereits im Dezember hatte die CDU gegen das Blatt, das in Deutschland in einer Auflage von 10.000 Exemplaren erscheint, verfügt, Anzeige wegen Volksverhetzung erstattet.

Am 18. Februar kam endlich der Rat für deutsche Rechtschreibung zu seiner ersten Arbeitssitzung über die _Rechtschreibreform_ in Mannheim zusammen. Diskutiert wurde die Getrennt- und Zusammenschreibung. Von den insgesamt 36 Sitzen des Gremiums blieben die beiden Plätze der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, die aus Protest fernbleibt, nach wie vor unbesetzt. Da man nicht wirklich weiter weiß, wurde einfach mal wieder ein siebenköpfiger Arbeitskreis ins Leben gerufen. Das Ziel dieser Arbeitsgruppe ist es, endlich eine diskussionsfähige Grundlage zu schaffen. Geleitet wird die Gruppe von Ludwig Eichinger, dem Direktor des Instituts für Deutsche Sprache. Eigentlich soll der Rat bis zum 1. August die bereits reformierte Reform noch mal reformieren, bis dahin trifft sich der Rat noch dreimal. Das Ganze bleibt schildbürgerisch und Eichinger rechnet auch nicht mit der Klärung aller strittigen Fragen bis zum Inkrafttreten der Reform in den Schulen am 1. August. Auch einer der ausgetretenen prominenten Reformgegner ergreift im „Rat für deutsche Rechtschreibung“ doch wieder das Wort. Sprachwissenschaftler _Theodor Ickler_ vertritt die Interessen des deutschen PEN-Zentrums. Er möchte im Rat die „Interessen der Schulbuchvertreter“ aufdecken, denen er unterstellt, die Rücknahme der Reform zu verhindern. Sein Hauptanliegen ist ein „Moratorium“ für die Reform, die im August an den Schulen eingeführt wird.

Mit _Hans Christian Andersen_ können viele Verlage in diesem Jahr Jubiläum begehen. Seine Märchen sind jedem bekannt, allerdings weniger, dass er auch fünf Romane geschrieben hatte. Sein erster Roman „Der Improvisator“ von 1835 ist nun im 170. Erscheinungsjahr. Ansonsten feierte man am 2. April seinen 200. Geburtstag und am 4. August wird der 130. Todestag gewürdigt. Deswegen sind jede Menge Neuerscheinungen der Andersen-Märchen und -Romane, sowie Bücher über den Autor frisch auf den Mark gekommen. Einen Überblick über die medialen Höhepunkte, die zu den Jubiläen stattfinden, gibt es auf http://www.HCA2005.com.

Auch der am 29. Januar 1455 in Pforzheim geborene _Johannes Reuchlin_ ist im 550. Jubiläumsjahr. Sein Kampf gegen religiösen Fanatismus, Anmaßung und Intoleranz bildet bist heute die vorherrschende Perspektive auf das Leben und Werk dieses Gelehrten. Als neuplatonisch-kabbalistischer Philosoph, lateinischer Dichter, Gräzist und Begründer der christlichen Hebraistik hätte Reuchlin ohnehin Eingang in die Geschichtsbücher gefunden; zu jenem epocheprägenden „Wunderzeichen“, als das ihn nicht zuletzt Goethe gerühmt hat, wurde er aber erst durch seinen entschiedenen Einsatz für den Erhalt der jüdischen Literatur und seine daraus erwachsene Rolle als Verteidiger der Wissenschaft. Seine gesamten Werke nebst seinen Briefwechseln sind bei Frommann-Holzboog aufgelegt (www.fromman-holzbog.de).

Immerhin auch schon 130. Geburtstag feierte man mit _Edgar Wallace_, geboren am 1. April 1875 in Greenwich, gestorben 10. Februar 1932 in Hollywood. Seine Kriminalromane wurden bereits in den 20er Jahren in Deutschland gelesen, aber ihre große Renaissance kam in den 50er Jahren mit der auffällig in rot gehaltenen berühmten Taschenbuchreihe des Goldmann-Verlages. Noch erfolgreicher waren dann die Filme – die ersten drei gab es bereits 1927 („Der große Unbekannte“), 1929 („Der rote Kreis“) und 1931 („Der Zinker“). Aber auch hier gelang der Durchbruch ebenso erst in den fünfziger Jahren mit „Der Frosch mit der eisernen Maske“. Wallace schrieb über hundert Kriminalromane. Davon wurden unter der Gesamtleitung von Horst Wendlandt und der Regie von Alfred Vohrer und Harald Reinl insgesamt 32 verfilmt. Ende der 60er Jahre ging es mit der Erfolgsreihe zu Ende, in welcher eine ganze Reihe großartiger Schauspieler regelmäßig agierten. Unvergesslich dabei vor allem Klaus Kinski in seinen Verbrecher-Rollen.

Der Verlag _Brockhaus_ begeht 200. Jahresjubiläum des Geburtstages von E. A. Brockhaus und zelebrierte diess mit einem spektakulären Festakt auf der diesjährigen Leipziger Messe.

Ebenso Jubiläum begeht der _Orlanda Frauenverlag_, der nun bereits seit drei Jahrzehnten gute Literatur für Frauen publiziert. Nachdem bei den meisten renommierten Verlagen die Frauenbuchreihen eingestellt sind, ist Orlanda einer der wenigen unabhängigen Verlage zur Frauenthematik. Begonnen hatte alles 1975 noch im Selbstverlag mit dem _“Hexengeflüster“_, einem Selbsthilfebuch der Frauengesundheitsbewegung. 1980 wurde der Verlag in sub rosa umbenannt, bevor 1986 die Idee kam, mit Orlanda den abgewandelten Titel eines Romans von Virginia Wolf als Verlagsnamen zu nehmen. Einer der weiteren großen Erfolge war _“Wechseljahre Wechselzeit“_ von Rina Nissim. Einer der Schwerpunkte von Anfang an ist auch die Literatur für das lesbische Publikum. In diesem Frühjahr startet mit |orlanda – die edition| eine neue Belletristikreihe, die von der langjährigen Fischer-Lektorin Ingeborg Mues betreut wird. Fischer hat ja seine anspruchsvolle Frauentaschenbuchreihe „Die Frau in der Gesellschaft“ vor einiger Zeit eingestellt. Dagegen sind in die derzeit boomende Frauenbelletristik hauptsächlich Romanheldinnen in eine leicht zu lesende Unterhaltungsliteratur verpackt, die in hohen Auflagen gedruckt und als preiswerte Stapelware angeboten wird. Der dafür verwendete Begriff: _“freche Frauenliteratur“_. Die Zielgruppe sind Frauen zwischen 25 und 35. Die besten Titel erreichen Auflagen von drei Millionen Exemplaren. Literarisch wertvoll sind sie nicht, eher substanzlos aus dem Leben gegriffen. Die Autorinnen gehören auch nicht zu hochgejubelten deutschen Gegenwartsautorinnen. Die heutige Frauenliteratur hat nichts zu tun mit der engagierten Frauenliteratur der 70er Jahre, die im Zusammenhang mit der neuen Frauenbewegung vor allem von Frauen für Frauen geschrieben wurde. Beispiele von damals: „Häutungen“ von Verena Stefan, „Wie kommt das Salz ins Meer?“ von Brigitte Schwaiger, „Gestern war heute“ sowie „Hundert Jahre Ewigkeit“ von Ingeborg Drewitz, „Kassandra“ von Christa Wolf oder auch die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. In all diesen Romanen ging es um die Beschreibung des Rollenverständnisses der Frau in einer vom Mann geprägten Gesellschaft. Begleitet wurde diese Erkundung von der großen Resonanz der feministischen Debatte innerhalb der Gesellschaft, was wiederum Verlage dazu veranlasste, eigene Frauen-Reihen aufzubauen. So entstanden 1977 die Reihen „Neue Frau“ bei Rowohlt und 1978 „Frau in der Gesellschaft“ bei S. Fischer. Damals wurden in dieser Sparte noch Alternativen und Antworten gesucht. Davon ist in dem neuen Genre der „frechen“ Frauen nicht mehr viel übrig geblieben. „Frech“ und „angepasst“ ist da kein Gegensatzpaar mehr. Der Stil dieser neuen Bücher ähnelt den weiblichen Psycho-Befindlichkeitstexten aus Frauenzeitschriften. Tatsächlich stammen viele der jüngeren Autorinnen aus den Redaktionen von „Brigitte“, „Cosmopolitan“, „Vogue“, „Freundin“ oder „Elle“. Begründet wurde das Genre Ende der 80er Jahre durch Eva Heller („Beim nächsten Mann wird alles anders“), Hera Lind („Ein Mann für jede Tonart“) und Gaby Hauptmann („Suche impotenten Mann fürs Leben“). Die Sehnsucht nach der großen Liebe und dem richtigen Mann fürs Leben scheint zeitlos. Auffallend an dieser Literatur ist jedoch, dass sie das traditionelle Frauenbild bevorzugt. „Frech“ hat heute nicht mehr den emanzipatorischen Beigeschmack der 70er Jahre. Der Markt dieser Literatur ist größtenteils aufgeteilt zwischen den Verlagen der Random-House-Gruppe (Goldmann, Heyne, Blanvalent etc.), Rowohlt, den S.-Fischer-Verlagen, der Verlagsgruppe Lübbe, Piper, Droemer Knaur und dtv. Die Übergänge zwischen „frechen“ Frauen als neuem Genre, aktueller Frauenliteratur und klassischen Liebesromanen sind fließend. Es gibt im dritten Jahr schon eine eigenständige Buchmesse – die „Liebesroman Messe“ vom 20. bis 22. Mai in Wiesbaden mit 200 geladenen Gästen, darunter Autorinnen und Autoren, Übersetzer, Lektoren und Literaturagenten. Die Verlagsgruppen Droemer Knaur, Lübbe und Random House haben dort Stände und die „freche“ Frauenliteratur Workshops und Gesprächsrunden.

Zehnjähriges Jubiläum begeht auch die Reihe _C.H. Beck Wissen_, in der bereits mehr als 250 Titel erschienen sind.

Am 20. Februar verstarb _Hunter S. Thompson_, einer der besten Schriftsteller unter den amerikanischen Journalisten. Am populärsten ist wohl sein Roman „Angst und Schrecken in Las Vegas“, der auch sehr erfolgreich verfilmt wurde.

Nach langer schwerer Krankheit ist der Verleger _Dr. Karl Blessing_ am 12.3.05 in München im Alter von 63 Jahren verstorben. Dr. Karl H. Blessing, geboren am 24. März 1941 in Berlin, verfasste nach dem Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie seine Dissertation über die Frühwerke Döblins. Lange Jahre in leitenden Positionen in der Verlagsbranche tätig, leitete er von 1982 – 1995 als Verleger und Programmgeschäftsführer die Verlage Droemer, Knaur und Kindler. 1996 gründete er mit der Bertelsmann Buch AG den Karl Blessing Verlag und verlegte dort niveauvolle Belletristik und interessante Sachbücher. Als klassischer Autorenverleger bot er in seinem zutiefst individuellen Programm immer wieder bekannten und noch nicht bekannten Autoren eine verlegerische Heimat. So wurde er 2004 vom Magazin |BuchMarkt| zum Verleger des Jahres gewählt. Unter dem Dach der Verlagsgruppe Random House wird das anspruchsvolle Programm im Sinne Karl Blessings weitergeführt.

Der diesjährige _Leipziger Buchpreis_, seit 1994 jährlich auf der Leipziger Buchmesse vergeben, geht an die kroatische Schriftstellerin _Slavenka Drakulic_, die seit Beginn der 1990er Jahre die jugoslawische Bürgerkriegstragödie in mehreren Romanen und Reportagebänden analyisiert. Die Auszeichnung gilt vor allem ihrem jüngsten Werk: „Keiner war dabei – Kriegsverbrechen auf dem Balkan“. Als Beobachterin der Prozesse am Internationalen Tribunal in Den Haag zeichnet sie dort die Portraits der Täter nach. Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung würdigt Autoren, die sich vor allem um die ost- und mitteleuropäische Annäherung verdient gemacht haben. Zu den Preisträgern gehörten bisher unter anderem Aleksandar Tisma, Peter Nadas, Imre Kertesz und Dzevard Karahasan. Auch andere Preise wurden auf der Messe vergeben, z. B. der seit 1977 vom |Börsenblatt| ausgeschriebene _Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik_, den diesmal _Hubert Spiegel_, der Leiter der „FAZ“-Literaturredaktion erhielt. Den _Kurt-Wolff-Preis_ erhielt der Bonner Verleger _Stefan Weidle_ vom Weidle-Verlag für sein engagiertes Programm mit Literatur der 20er und 30er Jahre als vorbildliches Beispiel für unabhängige Verlage in Deutschland. Und erstmals wurde in diesem Jahr der _Preis der Leipziger Buchmesse_ in den Kategorien Belletristik an _Terézia Mora_, Sachbuch/Essayistik an _Rüdiger Safranski_ und Übersetzungen an _Thomas Eichhorn_ verliehen. Auch zeigte sich die „kleinere Messe“ in diesem Jahr internationaler als je zuvor. Zunehmend gibt es Länder-Beiträge wie auch auf der Frankfurter Messe. Sogar Korea war angereist und gab einen Vorgeschmack auf die Frankfurter Messe, wo das Land dieses Jahr Gastland ist. Im Gegensatz zur Frankfurter Messe machen die kleineren und mittleren Verlage in Leipzig achtzig Prozent der Aussteller aus. Die Leipziger Buchmesse ist ansonsten mit der Aktion _“Leipzig liest“_ mit 1.200 Veranstaltungen und über tausend Mitwirkenden das größte europäische Literaturfest. Erfreulich war, dass die Bundeswehr dieses Jahr nicht mehr mit einem Werbestand auf der Buchmesse vertreten war. Unaufhaltsam wächst der Leipziger Branchentreff, bereits im 15. Nachwendemessenjahr, von Jahr zu Jahr.

Je näher der Termin der Messe anrückte, desto größer wurde innerhalb der Branche das Murren. Dass die Leipziger Messe zeitgleich mit der Lit.Cologne veranstaltet wird, stößt auf einheitliche Kritik, für dessen Ärgernis man die Kölner verantwortlich macht, denn Leipzig war nun einmal eher da. Man ist sehr gespannt, wie dieses Konkurrenzgebahren sich künftig entwickelt, denn die Kölner Messe hat nach dem Abgang der Popkomm kräftig in eine eigene Hörbuchmesse investiert. In der Öffentlichkeit ist Lit.Cologne auch nicht mehr wirklich beworben worden, sondern die meisten setzten dann doch wie gewohnt auf die Leipziger Messe. 120 Hörbuchverlage kamen nach Leipzig, im Jahre 2000 waren es gerade mal 40. Darunter waren alle renommierten Hörbuchverlage sowie alle ARD-Rundfunkanstalten, die sich als Hörbuchproduzenten nur in Leipzig vereint präsentieren. Wie auf der Frankfurter Messe gibt es nun das „Focus“-Hörbuch-Café mit attraktivem Fachprogramm. Bereits zum fünften Mal fand die zur Tradition gewordene „ARD-Radionacht der Hörbücher“ statt, die am Messefreitag live ausgestrahlt wurde. Als erfolgreichstes Hörbuch des Jahres wurde _“Die Päpstin“_ (DAV) mit dem _“HörKules“_ ausgestattet. Damit ist die Leipziger Messe der wichtigste Treffpunkt für die Hörbuchbranche geblieben.

Dennoch war die _5. Lit.Cologne_ mit rund 50.000 Besuchern ebenfalls überaus erfolgreich, was zu Änderungen führt. Der Termin für 2006 ist der 10. bis 18.März und die Messe wird damit von fünf auf neun Tage ausgedehnt und erstreckt sich über zwei Wochenenden. Da das Kinderprogramm auf der Messe auf großes Interesse stieß, wird es 2006 – neben der dann zweiten Kölner Hörbuchmesse – auch eine eigene Kinderbuchmesse geben. Der Streit um die Hörbücher wurde beigelegt, denn die Hörbuchmesse Audio Books Cologne wird nur vom 10. – 13. März 2006 gehen und die Leipziger Buchmesse ist dann erst die Woche darauf vom 16. – 19. März. Das überschneidet sich natürlich dennoch wieder mit der sonstigen Lit.Cologne. Zwar ist Köln eine Autorenmesse und Leipzig eine Buchmesse, dennoch erwartet Leipzig weiterhin, dass Köln den 2001 angezettelten widersinnigen Wettbewerb auf eine Weise löst, die in künftigen Jahren zu keinen Terminüberschneidungen mehr führt.

Das diesjährige Gastland auf der _Frankfurter Buchmesse_ könnte ein Flop werden. Politisch war die Auswahl des Gastlandes Korea – da Süd- und Nordkorea zusammen auftreten – ein genialer Coup, aber nun hat Südkorea sein kulturelles Rahmenprogramm radikal gestrichen. Als Grund wird angegeben, dass die einheimische Wirtschaft das Projekt im Stich gelassen habe und so wurden die geplanten Kultur- und Diskussionsveranstaltungen auf ein Minimum reduziert. Da verspricht man sich schon jetzt um so mehr vom Gastland 2006, welches Indien sein wird, denn dort entwickelt sich das Verlagswesen überaus rasant. Und 2007 folgt dann Katalonien als Ehrengast der Messe. Interessant dabei ist, dass sich damit nur eine Region präsentiert und nicht das gesamte Land Spanien. Erstmals schaut dann die Messe auf einen eigenständigen historischen Kulturraum und experimentiert mit einer neuen Herangehensweise an das Konzept des Gastlandes. In jedem Jahr nehmen die deutschen Verlage das Gastland zum Anlass, um Schwerpunkte in ihrem Programmen zu setzen.

Im _Börsenverein des deutschen Buchhandels_, dessen umfangreiche Reform in den letzten Jahren zu einem großen Wirtschaftsbetrieb geführt hatte, wird heftig um die Verbandsdemokratie diskutiert. Hauptthematik ist die bessere Kommunikation zu den Mitgliedern, denn „diese wollen nicht beruhigt werden, sondern beruhigt sein“ (Matthias Ulmer, Sprecher Arbeitsgruppe Verbandsreform). Bisherige Strategie war es immer gewesen, Probleme nicht an die große Glocke zu hängen. Dies erweist sich nun als ganz schlecht für die Bindung an die Mitglieder. Zum Beispiel durften auf den Hauptversammlungen bislang die Mitglieder dem Bericht des Vorstands lauschen, doch eigentlich sollte ein Vorstand doch auch hören, was die Mitglieder ihm zu sagen haben. Die einzelnen Sparten im gemeinsamen Verband driften immer mehr auseinander. Überhaupt verliert der Verband kontinuierlich pro Jahr etwa 200 Mitglieder. Vor kurzem ist auch Amazon aus dem Verband ausgetreten, was als Zeichen gewertet wird, dass die Großen den Börsenverein nicht mehr brauchen. Für die politische Lobbyarbeit ist es aber weiterhin wichtig, dass der Verband die gesamte Branche repräsentiert. Bertelsmann z. B. kann froh sein, dass der Börsenverein dem Club eine Plattform geboten hat, um das Potsdamer Abkommen neu zu verhandeln. Sehr problematisch ist auch, dass der Ruf nach einem eigenen Verlegerverband lauter wird. Die Differenzen in den Streitigkeiten – wie z. B. Konditionen mit dem Sortiment – scheinen zu groß zu werden. Der Börsenverein will nun, um als spartenübergreifender Verband bestehen zu bleiben, mehr das selbstständige Eigenleben der Sparten innerhalb des Verbands fördern. Für den Austausch unter den Sparten gab es bislang die Abgeordnetenversammlung, die aber in der Praxis nicht funktionierte. Auf den Treffen wurde genau das erzählt, was auch am Tag zuvor in den Fachausschüssen gesagt wurde. Die Mitglieder assoziieren mit der Abgeordnetenversammlung einen „Frankfurter Klüngel“ und wollen, dass Entscheidungen auf der Hauptversammlung getroffen werden, bei der jedes zahlende Mitglied Sitz und Stimme hat. Die Vision der künftigen Hauptversammlung ist ein wirklich lebendiger Verleger- und Buchhändlerkongress mit einem vielfältigen Rahmenprogramm und intensiver Diskussion über den Verein. Inzwischen fühlen sich selbst Vorstandsmitglieder desinformiert. Jetzt soll der Vorstand erweitert und mit neuen Strukturen die Verbandsarbeit wirklich revolutioniert werden. Auch die Vertreter der Landesverbände werden in den Vorstand mit aufgenommen. Um den Streitereien ein Ende zu bereiten, müssen alle an einem Strang ziehen können. Die Entfremdung der Mitglieder von den Landesverbänden ist allerdings seit Jahren schon nicht mehr übersehbar. Es besteht die Pflicht einer Doppelmitgliedschaft im Bundesverband wie im Landesverband, was die Mitglieder schon lange nicht mehr einsehen. Aufgrund solcher nun eskalierender Politik der letzten Jahre zum Wirtschaftsverband war das kulturpolitische Profil auf der Strecke geblieben. Das Ansehen als Kulturverband soll gestärkt werden mit den bewährten Projekten wie dem Friedenspreis oder dem Vorlesewettbewerb. Aber auch durch neue Projekte wie den Deutschen Buchpreis und „Ohr liest mit“.

|Das Börsenblatt, das die hauptsächliche Quelle für diese Essayreihe darstellt, ist selbstverständlich auch im Internet zu finden, mit ausgewählten Artikeln der Printausgabe, täglicher Presseschau, TV-Tipps und vielem mehr: http://www.boersenblatt.net/.|

Gottesstaat Iran

Im Zuge der Globalisierung und der damit verbundenen weltweiten Informationsgesellschaft treffen Kulturen frontal aufeinander, weswegen der interkulturelle Dialog notwendiger ist als je zuvor. Dem gegenüber gibt es allerdings Kräfte, deren Interesse ein klares Feindbild „Gut“ gegen „Böse“ aufrechtzuerhalten versucht. Für die westliche Gesellschaft ist das „Böse“ das Schreckgespenst des Islams, jedenfalls in Form der Vorstellung der islamischen Utopien für einen „Gottesstaat“. Ungeachtet des pathologisch kranken Fundaments der islamischen Religionsvorstellung, welches aber genauso auch in den anderen monotheistischen Buchreligionen der Christen und Juden besteht, erscheint es viel zu einfach, den Islam auf eine bestimmte Ideologie festzulegen. Die Strömungen innerhalb dieser Religion sind genauso vielfältig, facettenreich und unterschiedlich zueinander wie in anderen Systemen auch.

Im Koran selbst findet sich keinerlei Hinweis auf die Gestaltung eines Gottesstaates, denn dieser gilt erst möglich, wenn der letzte Imam sich aus seiner Verborgenheit sichtbar manifestiert. Philosophisch steht dahinter der Gedanke, dass solches in einer weltlichen Realität überhaupt nicht möglich ist. Der heilige Krieg ist synonym mit der Rückkehr ins Paradies und der Erkenntnis, dass ein Paradies auf Erden nicht möglich sei. Im Grunde ist dies also dieselbe Idee wie der christliche augustinische Gottesstaat, der nur im Himmelreich verwirklicht werden kann. Dennoch gibt es die Bestrebungen, einen solchen Gottesstaat zu verwirklichen, und die Bemühungen dahingehend lassen sich am besten am Beispiel des Iran aufzeigen, da dieser das einzige islamische Land ist, wo dies versucht wurde zu verwirklichen. Dabei gehört die Staatsidee selbst schon zur Moderne, was vom Westen gerne ignoriert wurde.

Die Verfassung des Iran, die auf demokratischen Ideen beruht, ist nun bereits einhundert Jahre alt und war schon damals ein Zeichen dafür, dass Moderne und Tradition sich zu vermischen begannen. Angehalten wurde dieser Prozess durch den Staatsstreich 1921 von Reza Khan und die Einführung der Monarchie, was die Bevölkerung zwar unterdrückte, aber genauso auch mit westlichem Denken infiltrierte. Erst mit der Revolution 1979 wurde diese Diktatur beendet und die erste islamisch-klerokratische Staatsform unter Homeyni eingeführt. Der anfangs vom Westen zu Recht geächtete Fundamentalismus hat seitdem viele Entwicklungen durchlebt und sich längst wieder liberalisiert. Selbst unter dem „Revolutionsrat“ zu Homeynis Zeiten gab es aber – ähnlich vielleicht wie unter den vielfältigen unterschiedlichen Gruppierungen unserer NS-Zeit – völlig konträre Sichtweisen.

Diese zu kennen und differenzieren zu lernen, gehört eigentlich zur Pflicht, wenn man in der Gottesstaats-Debatte mitreden möchte. Denn es ist sehr profan zu glauben, dass die islamischen Geistlichen als Urheber solcher Visionen ins tiefste christliche Mittelalter zu rücken wären. Im Gegenteil handelt es sich um eine politische Philosophie auf höchstem Niveau, die sich sehr wohl auch fundierteste Kenntnisse der westlichen Philosophie angeeignet hat. Demokratie, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit, Bürger- und Menschenrechte spielen in den religiösen Diskussionen eine große Rolle. Wie erwähnt, ist im Offenbarungstext des Koran auch keine Stelle zu finden, mit der ein politisches Mandat der Religion eindeutig begründet werden könnte. Natürlich gibt es schon seit dem frühislamischen Kalifat ein „dualistisches“ System mit Aufteilung politischer und religiöser Aufgaben, aber historisch ist das sowohl bei den Sunniten mit dem Tod des 4. Kalifen als auch bei den Schiiten mit dem Entschwinden des 12. Imam aufgehoben.

Das islamische Gesellschaftsbild ist utopisch und lässt sich nicht politisch, sondern nur weltanschaulich definieren. Die Schiiten erkennen außer den zwölf Imamen keine rechtmäßigen Herrscher an und auf Mohammed selbst kann sich mangels Äußerungen von ihm sowieso kein Mohammedaner beziehen. Die Meinungen gehen bereits seit seinem Tod erheblich auseinander, weswegen es eine große Vielzahl religiöser Gruppierungen und Richtungen gibt. Die Herrschaft des „einfachen“ Menschen wird – da er göttlichen Ursprungs ist – solange akzeptiert, bis irgendwann der zwölfte Imam als rechtmäßiger endzeitlicher Herrscher wieder erscheint. Auch im Islam es am naheliegendsten, deswegen den islamischen Staat auf freier Wahl und Volksherrschaft zu begründen.

Die Errichtung eines islamischen Staates ist eigentlich nur der Versuch, die kulturelle Eigenart bewahren zu können. Es handelt sich dabei um eine Sache der Vernunft. Eine islamische Identität der Muslime ist im Grunde ein Zeichen der Verwestlichung, um überhaupt eine gewisse Geschlossenheit der islamischen Welt in politisch und religiös-geistlicher Hinsicht präsentieren zu können. Obwohl die Grundrichtung dadurch schon immer antiwestlich ist, wurde die Notwendigkeit der Aneignung der modernen Wissenschaft und des westlichen Denkens auch immer als notwendig betrachtet. Die islamischen Philosophien gingen sogar so weit festzustellen, dass die Europäer mit der Praxis der Freiheit, der Gleichheit und der bürgerlichen Gesetze eher dem Islam folgten als die Muslime selbst. Seit der Verfassungsschaffung von 1906 im Iran setzten sich die religiösen Führer für modernes Bildungssystem, moderne Wissenschaft und politische Erneuerung ein, wobei sie aber den Parlamentarismus immer wieder ablehnten. Modernisierung und Verwestlichung wurden immer klar unterschieden, aber dessen, dass Modernisierung nicht vollkommen ohne Verwestlichung machbar ist, war man sich ebenso bewusst. Es gab jedoch keine Alternative zur Modernisierung, denn für den Fortschritt ist es unabdingbar, dass Armut und Elend im Volk beseitigt werden.

Schlüssig bleibt auch dabei die Bemühung, eigene Werte von denen der westlichen Zivilisation abzugrenzen. Soziale westliche Gedanken und deren Wissenschaften haben nichts mit Religion zu tun und stehen nicht in Widerspruch zu ihr. Vertreter des Gottesstaates sehen in ihrem Modell ein demokratisches und nicht-aristokratisches System. Die Schiiten sehen im Islam selbst eine revolutionäre Bewegung gegen die Schia der sunnitisch islamischen Mehrheit. Aber nie legten die Anhänger der 12-Imam-Lehre es auf einen Kampf gegen die so genannten unrechtmäßigen sunnitischen Herrscher an, wobei die schiitische Auffassung vom idealen Zweck der Religion im Kern die revolutionäre Aktion begünstigt, was 1978 auch zur Revolution von Homeyni führen konnte. Im Iran steht seitdem allerdings die Erneuerung der islamischen Gesellschaft auf der Tagesordnung, die ursprünglichen Ziele, diese Revolution zu exportieren, wurden fallen gelassen und die derzeitigen Reformbestrebungen sind auch nicht mehr radikal.

_Geschichtlicher Verlauf der religiösen Staatsentwicklung im Iran_

|1. Seyh Hadi Nagm`abandi (1834 – 1902)|

… befasste sich mit Vernunft und Glauben und entwickelte die „Kritik der religiösen Vernunft“, die in der Geschichte der iranischen „Erwachsenenbewegung“ maßgeblich war. Er stand in enger Beziehung zu den Freimaurern und somit Reformern. Seine Werke gelten als „neue spekulative Theologie“ mit dem Menschen als „vernünftigem Wesen“ im Mittelpunkt. Vor allem stellte er die Legitimation der Überlieferung in Frage, die ohne rationale Überprüfbarkeit nicht akzeptiert werden könne. Aus menschlicher Vernunft heraus betrachtet er den ersten Propheten. Mit ihm hätte ein authentischer islamischer Humanismus begründet werden können, wenn dies nicht nach Scheitern der späteren Staatsverfassung und Wiedereinführung der Monarchie verdrängt worden wäre.

|2. Seyyed Asadollah Harquani (1839 – 1936)|

Er befürwortete die Modernisierung im Land, aber bekämpfte die Kolonialmächte. Unter Moderne verstand er die technologische Modernisierung; die politischen, rechtlichen, ethischen und gesellschaftlichen Aspekte ließ er dem Islam vorbehalten. Die Moderne sollte sich dem Islam anpassen. Im Islam sah er den Geist der Freiheit, Gleichheit, Wohltätigkeit und Brüderlichkeit und da dies im islamischen Gesetz auch verankert ist, sah er die islamische Demokratie gegenüber der unvollkommenen, begrenzten Gleichheit westlicher Länder als die vollkommenere an. Aber in der Verbreitung der Demokratieversuche in der westlichen Welt sah er ein Indiz, dass die Erscheinung des verborgenen zwölften Imam näher rücke. Während der Verfassungsrevolution 1906 saß er im Revolutionskomitee und machte sich dort besonders für Re-Islamisierung stark. Herrschaftsgewalt war auch bei ihm nicht vererbbar, sondern von der islamischen Gemeinschaft gewählt.

|3. Mirza Mohammed Hoeyn Na´ini (1860 – 1906)|

Von ihm stammt der Entwurf zur Errichtung eines islamischen Staates nach westlichem Muster (1906), der sich zwar mit eigenen zivilgesellschaftlichen Strukturen und eigenen kulturellen und religiösen Werten von westlich fremden Werten abgrenzen sollte, aber nicht die Herrschaft der religiösen Rechtsgelehrten anstrebte. Eine Verfassung neben der Scharia war für einen Teil der schiitischen Herrscher eine menschliche Rechtsordnung neben der göttlichen Ordnung. Er konstruierte eine moderne religiös-politische Lehre, die einen Bruch mit der Tradition bedeutete und vom Revolutionskonzept Homenys wieder aufgegriffen wurde. Der Geistliche Na`ini sah keine Unvereinbarkeit zwischen Religion und Politik bzw. Islam und modernem Staatssystem. Religion und Staat bilden in der islamischen Gesellschaft eine Einheit, die Errichtung eines islamischen Staates ist aber eigentlich aufgrund der Abwesenheit des heiligen Imam nicht möglich. Aus rationalem Denken heraus erschien eine Staatsbildung trotz dieser Tatsache dennoch notwendig.

Na`ini war überzeugt, dass das abendländische Christentum die moderne Wissenschaft und Zivilisation der islamischen Kultur verdanke. Die europäische Gesellschaft habe zuvor in Barbarei und Wildnis gelebt und ihren unzivilisierten Zustand durch die Begegnung mit der islamischen Welt überwunden und bezieht sich dabei auf Ansichten Rosseaus. Zu seiner Zeit sah er das aber umgekehrt, dass nämlich inzwischen Barbarei und Unterdrückung den Islam ergriffen haben. Deswegen setzte er auf den Staat, der bis zur Rückkehr des Endzeit-Imams provisorische Natur ist, und den Despotismus der konservativen islamischen Rechtsgelehrten beenden solle. Diese vergleicht er mit dem Despotismus der Päpste des Mittelalters, die ebenfalls die Menschen ihrer Freiheit beraubten. Durch einen Staat bekämen die Menschen ihre Freiheit zurück. Na´ini propagierte die Autonomie des Volkes, eine Gleichberechtigung zwischen Volk und politischen Akteuren und ließ dabei die herrschende und politische und religiöse Hierarchie außer Acht. Die islamische Religion, die immer als Religion der Vernunft betrachtet wurde, muss sich der „modernen Vernunft“ der Aufklärung anpassen.

|4. Seyyed Mohammad Hoseyn Tabataba`i (1902 – 1982)|

Er ist der wichtigste Theologe der Schia im 20. Jahrhundert, dessen Koraninterpretationen heute die stärkste Beachtung finden. Auch er ist von westlicher Philosophie inspiriert, stellt die Vernunft über Emotionen und sieht eine Staatsgründung als zum Menschsein gehörende Entwicklung an, die ein friedliches Miteinander ermöglicht. In seiner Soziallehre lässt sich nur ein Unterschied zu Hobbes‘ Philosophie feststellen, nämlich, dass die so genannte „Machtlehre“ Hobbes den metaphysischen Aspekt nicht berücksichtigt. Tabataba`i ist überzeugt, dass nur religiöse Gemeinschaften die einzig wahren Gesellschaften seien, weil sie eine Diesseits- wie Jenseitsperspektive bieten.

Die Frage der Herrschaft kann nicht im Rahmen der islamisch-schiitischen Rechtswissenschaft gestellt werden, sondern nur im Rahmen eines sozialphilosophischen Prinzips im Islam. Herrschaft ist eine „vormundschaftliche Betreuung“. Solch eine Gesellschaft für die Zeit der Verborgenheit des Imams zu definieren, gelingt ihm aber ebenso wenig wie den übrigen Geistlichen. Ein Mehrheitsprinzip, das Vorgänger von ihm vertraten, lehnt er ab, denn für ihn muss die Wahrheit der Maßstab sein. Das Prinzip der Humanität gehört für ihn zum Wahrheitsgemäßen. Die von demokratischen Gesellschaften ausgehende Kolonialisierung und Ausbeutung, unter denen die islamische Welt gelitten hat, sind für ihn ein Zeichen dafür, dass die westlichen Werte zu Entfernungen von den von Gott gegebenen Prinzipien der Natur führen. Aber er distanziert sich genauso auch davon, die religiösen Rechtsgelehrten in der „Zeit der Verborgenheit“ explizit als höchste Instanz der durchführenden und gesetzgebenden Gewalt zu bezeichnen.

|5. Seyh Mortaza Motahhari (1920 – 1979)|

Der führende Ideologe und Wegbereiter der islamischen Revolution 1978/79 beschäftigte sich stark mit der marxistischen Philosophie und wandte diese auch an. Beim Aufstand Homeynis 1962 kam er kurzzeitig in Haft, stand aber bis zur Revolution 1978/79 in ständigem Kontakt zu Homeyni, den er ideologisch und finanziell unterstützte. Während der Revolution gehörte er dem geheimen Führungsrat an, der nach dem Sieg weiterhin die Führung der islamischen Republik innehatte. Kurz nach dem Sieg der Revolution wurde er von der religiösen Gruppe „Forqan“ ermordet. Als Schüler Tabataba`is stand er ganz auf dessen Linie, transportierte diese Ideen aber in die intellektuelle Öffentlichkeit. Er vermittelte eine theologische Weltsicht der Scharia, die sich nicht direkt einer traditionellen theologischen Schule zuordnen lässt. Als Reformer verfolgte er das Ziel, die islamische Lehre von jeglichen eklektizistischen Ansätzen zu säubern. Nach dem Motto „Zurück zu den Wurzeln“ versuchte er, den Glauben zu seinem Ursprung zurückzuführen. Dies geht mit einer „Entwestlichung“ einher.

Für ihn ist der Islam die Religion der Praxis und nicht der illusionären Bestrebungen und demnach vertritt er einen revolutionären Islam. Dieser ist eine politische neuplatonische Einheit-Vielheits-Lehre, aus welcher heraus die soziale Einheit postuliert wird. Die absolut klassenlose Gesellschaft erscheint ihm utopisch, da er Unterschiede zwischen den Menschen und ihren Fähigkeiten erkennt. Seine Gesellschaftsutopie ist eine, in welcher es keine Diskriminierung gibt. Herrschaft darf nicht durch Gewalt erlangt werden, aber auch nicht durch Wahlen. Der Herrschaft wird der göttliche Maßstab vorangestellt, und sie ist kein republikanische, sondern eine vormundschaftliche. Keine Herrschaft des Volkes über das Volk wie in westlichen Demokratien, sondern eine Herrschaft des Volkes für das Volk. Er betrachtet dabei den islamischen Staat nicht als einen von Geistlichen regierten Staat.

|6. Seyyed Ruholla Homeyni (1902 – 1989)|

Er strebte schon früh den Rang eines Großayatollahs an. 1962 wurde er wegen seiner öffentlichen Kritik an Mohammed Reza Schah und dessen Reformmaßnahmen verhaftet und nur durch Vermittlung Kazem Sari`at Madaris vor der Hinrichtung gerettet. Darauf ging er in die heilige schiitische Stadt Nagaf im Südirak ins Exil und setzte von dort aus seine Aktivitäten gegen das Schahregime fort und formulierte erneut seine politische Lehre von einer islamischen Regierung in der Zeit der Verborgenheit des Imams. Unter seinen Schülern gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Herrschaft der religiösen Rechtsgelehrten, größtenteils auch viel differenzierter betrachtet als durch ihn. Aber zu seiner Zeit hat niemand anderes diese Ideen mit solchem Nachdruck vertreten. Islam ist für ihn politisch, und allen Geistlichen, die das anders sahen, erklärte er: „Ihr könnt rituelle Gebete verrichten, so viel ihr wollt. Sie wollen euer Erdöl. Was kümmern sie eure rituellen Gebete? Sie wollen unsere Bodenschätze. Sie wollen, dass unser Land zu einem Absatzmarkt ihrer Ware wird. Deswegen verhindern ihre Handlanger die Industrialisierung unseres Landes“.

Der Monarchie, die im Iran von den religiösen Gelehrten über Jahrhunderte zum Teil geduldet, zum Teil als notwendig erklärt wurde, spricht er jede Legitimität ab. Dafür propagiert er den islamischen Staat, denn selbst wenn der Imam erst in hunderttausend Jahren erscheine, dürfe nicht das Chaos regieren. Er stellt die religiösen Gelehrten sowohl bezüglich ihrer politischen Verantwortung als auch bezüglich der Quelle ihrer Macht mit den heiligen Imamen gleich. Historisch hat aber keiner dieser Imame, außer dem dritten (dem unsterblichen Märtyrer, der bei Kerbala getötet wurde), ernsthaft ein solches „Führungsamt“ angestrebt. Alle Imame begnügten sich mit geistlicher Macht. In Homeynis Weltanschauung stehen dagegen gesellschaftliche, politische, ökonomische und kulturelle Fragen im Vordergrund, die gottesdienstlichen Handlungen sind nur als gering zu veranschlagen. Mit Homeyni hat die Anfangsphase der göttlichen Herrschaft und die Erscheinung eines Mahdi, des letzten Imams, begonnen.

Seiner Meinung nach bestand der schiitische Islam nur noch aus mythischen Ritualen und einem fanatischen Märtyrer-Kult. Dies versuchte er mit der Revolution 1978/79 und Gründung der islamischen Republik zu ändern, aber diese vollzog sich anders als die theokratische Herrschaft im „Goldenen Zeitalter“ des Frühislams. Das Volk ist an der Herrschaft beteiligt und die Struktur der islamistischen Republik trägt eklektische Züge: Traditionelle und dynamische religiöse Vernunft, schiitische, sunnitische und politische Einflüsse der Moderne sind enthalten. Zwar bekennt sich die Verfassung zur absoluten Souveränität Gottes, aber Begriffe wie Freiheit, Gleichheit, öffentliche Meinung, Volkswillen, Wahlprinzip, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, nationale Sicherheit, relative Religionsfreiheit, moderne Wissenschaft und Industrie sind ebenso enthalten. Es ist keine rein islamische Herrschaftsstruktur, sondern jeder ist vor dem Gesetz gleichgestellt und Gott und Volk sind gleichermaßen wichtig. Entschieden wird im Parlament, diese Entscheidungen aber vom Wächterrat der geistlichen Führer auf Übereinstimmung zur Scharia überprüft. Genauso kann die oberste religiöse Instanz durch den vom Volk gewählten „Expertenrat“ vorgeschlagen wie auch abgesetzt werden.

|7. Seyh Ali Tehrani (geb. 1925)|

Ein Anhänger Homeynis, der sich gleich nach der Revolution 1978/79 weigerte, sich der religiösen Elite zu unterwerfen. Schon vor der Revolution arbeitete er mit den gemäßigten und linksprogressiven religiösen Denkern und national-liberalen Politikern zusammen. Zwar war er einer der Lieblingsschüler Homeynis und Revolutionsrichter, aber 1981 flüchtete er in den Irak und kündigte seine Loyalität zur islamischen Republik. Zu der Zeit stand er den Volksmudschahedin nah und befürwortete deren bewaffneten Kampf gegen das System. Heute lebt er allerdings wieder in Teheran. Seine Kritik richtet sich allein ans Vetorecht der Geistlichen. Wie auch die Mehrheit der modernen religiösen Denker sieht er die Herrschaft in der Zeit der Verborgenheit des unteilbaren Imams als eine Volksherrschaft. Im Grunde sind seine Vorstellungen die der Demokratie, stark beeinflusst von Platon und Aristoteles, mit modernem sozialistischem Gedankengut. Der Unterschied zur westlichen Demokratie ist der, dass es keinen Despotismus der Mehrheits/Minderheitenverhältnisse gibt – da das islamische Gesetz dem übergeordnet steht – und Materialismus natürlich verurteilt bleibt. Er sieht im Islam einen „islamischen universalen Sozialismus“.

Mittlerweile ist der Iran wider sehr ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. Manche haben Angst vor einem iranischen Atombombenprogramm, vor allem ist aber zu befürchten, dass die USA nun auch noch nach Afghanistan und Irak in den Iran einfallen werden. Auch wurden die letzten iranischen Wahlen kritisch beobachtet wegen des Ausschlusses oppositioneller Politiker. Was den antiwestlichen und antikolonialistischen Aspekt betrifft, besteht allerdings kein Unterschied zwischen iranischen linken und gemäßigten Politikern gegenüber der radikalen religiösen Elite. Dennoch lohnt es sich auch, abschließend noch die Vertreter des neues geistigen Potenzials vorzustellen, die einen neuen politischen und religiösen Diskurs begonnen haben. Wie bisher festgestellt wurde, vollzieht sich diese Entwicklung aber bereits über hundert Jahre hinweg.

|8. Aqa Mahdi Ha´eri Yazdi (1923 – 1999)|

Er studierte westliche Philosophie an den amerikanischen und kanadischen Universitäten Georgetown, Harvard, Michigan und Toronto und schloss mit dem Doktorgrad ab. Nach der Revolution 1979 kehrte er in den Iran zurück. Er legt eine systematische Staatslehre aus islam-philosophischer Sicht dar, was in der herkömmlichen Tradition der islamischen Philosophie selten ist. Die politischen Ideen richten sich nicht mehr nach dem antiken Staatsdenken, sondern stützen sich vor allem auf die moderne westliche politische Philosophie. Damit führt er neue Ansätze und Modelle in die islamische Philosophie ein, aber prinzipiell setzt er an die Blütezeit der islamischen Zivilisation um das 9. – 11. Jahrhundert an, die später im 17. Jahrhundert ebenfalls schon im Iran als „Lichtphilosophie“ („Schule des Illuminismus“) weit gepflegt worden war.

Ähnlich wie Kant stehen bei Ha`eri die Philosophie als höchste Wissenschaft, die Existenz des universalen Archetypus als wahre Natur der Dinge und die Einheit der Existenz im Mittelpunkt. Nicht ganz eindeutig ist bei ihm, ob man von einer islamischen Philosophie überhaupt noch sprechen kann, denn dem Islam als Religion kann dieses Philosophieverständnis nicht entnommen werden. Alle Philosophien sind im Grunde von indischem, chinesischem, altiranischem, platonischem, neuplatonischem und aristotelischem Gedankengut durchdrungen. Ha`eris Werk ist aber das einzige in der Philosophiegeschichte des Islams, das sich nicht explizit der Metaphysik zuwendet, sondern sich umfassend der politischen Philosophie widmet. Er zeigt die unversöhnliche Beziehung zwischen Philosophie und Theologie und macht deutlich, warum die Theologie mit all ihren religiösen Wissenschaftszweigen für die Herrschaftslehre nicht zuständig ist.

Da Politik respektive Herrschaft zu den erfahrbaren und erfassbaren Dingen gehören, dürfen sie nicht von der Theologie behandelt werden. Er spricht sich gegen jegliche Form der Diktatur, d. h. gegen Despotismus, Totalitarismus und Autoritarimus aus. Denn die ideale politische Lebensführung und das menschliche Zusammenleben sind nur möglich, wenn man sich der Vernunft verpflichtet. Dabei bezieht er sich auf Vers 38 der Sure 42 des Koran und den Begriff „Sura“ (Beratung), der auf das Recht der Bürger hinweist, über eigene Angelegenheiten selbstständig zu beraten und Lösungsvorschlägen zu unterbreiten: „D. h. die menschliche Angelegenheiten sollen durch gegenseitige Beratung und Abstimmung gelöst und geregelt werden, nicht jedoch durch Offenbarung und die göttliche Gesandtschaft“.

Nach Ha`eris Philosophie negieren sich im Iran das Prinzip der Herrschaftsgewalt der Rechtsgelehrten und das Wahlprinzip einander gegenseitig. Er meint, dass man sowohl das Volk im Iran als auch die internationale Öffentlichkeit in die Irre geführt habe. Die religiöse Herrschaftsgewalt werde im Sinne eines juristischen Aufsichtsorgans lediglich als „Wächteramt“ verstanden. Die tatsächliche Bedeutung dieses Konzepts sei nicht nur eine Okkupation des entmündigten Volkes, sie sei auch eine Okkupation der göttlichen Souveränität. Ha´eri trennt politische und religiöse Fragen. Aus dieser Trennung folgt, wie in modernen westlichen Demokratien üblich, dass keine politische und staatliche Entscheidung rechtskräftig werden darf, wenn das Volk nicht selbst beteiligt ist. Ha`eri glaubt jedoch, dass dieses säkulare Verhältnis in der islamischen Welt nicht notwendigerweise mit einer Angleichung an die säkulare westliche Welt gleichgesetzt werden kann. Er kritisiert diejenigen islamischen Denker, die beim Versuch, den Islam zu stützen, den Islam entweder mit der Demokratie in Einklang bringen wollen oder ihn in Gegensatz zu anderen politischen Systemen stellen. Denn dies führe entweder dazu, den Ideen anderer bedingungslos zuzustimmen oder sie von vornherein als subjektiv und irrational abzulehnen. Ha`eri zieht es deswegen vor, von zwei Formen des kulturellen und gesellschaftlichen Gefüges zu sprechen, anstatt islamische und demokratische Herrschaftsformen zu vergleichen.

Der Islam ist für ihn weder ein politischer Entwurf, noch hat er der Islam die Absicht, eine politische Herrschaft zu stiften, die dem Menschen die Mündigkeit entziehe. Ha`eri betont die „die Gottesebenbildlichkeit des Menschen“ im Koran, den Menschen als „Abbild und Gleichnis“ Gottes, eine Sicht, die auch in der christlichen Theologie besteht. Im Koran spricht Gott den Menschen als ein autonomes Individuum an. Deswegen kritisiert Ha`eri die moderne Gesellschaft, in der die Demokratie einerseits auf die Souveränität, Freiheit und Individualität seiner Bürger stolz ist, und andererseits seine Bürger als willenlose Mitglieder seiner Gesetze und seiner vereinbarten Anordnungen ansieht. Seine Staatstheorie ist ein Mittelweg zwischen Sozialismus und Kapitalismus auf der Basis, dass nur der freie Wille und die persönliche Freiheit zählen. In der islamischen Welt gibt es nicht nur den staatlichen Pluralismus, sondern auch eine individuelle Pflicht dazu. Der Mensch als Individuum ist im Islam gegenüber seinen Mitmenschen, seien es Ungläubige oder Glaubensbrüder, zu jeder Zeit und an jedem Ort in sozialen, ethischen, ökonomischen und menschlichen Beziehungen überhaupt in die Pflicht genommen.

|9. Mohammad Mogtahed Sabestari|

Er wurde in Täbris in der Hauptstadt der Provinz Aserbaidschan geboren. Nach einem theologischen Studium in der heiligen Stadt Qom, wo er sich auf Philosophie und spekulative Theologie spezialisierte, mit Doktorgrad abgeschlossen, leitete er vor der islamischen Revolution das schiitische islamische Zentrum in Hamburg. Dabei lernte er die deutsche Sprache und beschäftigte sich mit der christlichen Theologie. Heute unterrichtet er an der Universität in Teheran. Er sieht als wichtigsten gesellschaftlichen Faktor in der Weltpolitik nicht die Machtlosigkeit des Islams, sondern in den gegenwärtigen Kriegen und Feindseligkeiten sieht er als Ursache die „Ungleichheit“, die hauptsächlich auf materielle Verhältnisse zurückzuführen ist und nicht auf kulturelle Unterschiede. Das Problem der gegenwärtigen Menschheit sind Sklaverei, Feudalismus, religiöse Kriege, Nationalismus sowie der moderne Kapitalismus und Kolonialismus. Die Menschheit ist in eine schwache Mehrheit und eine starke Minderheit aufgeteilt.

Heute mobilisieren sich massiv die Kräfte der Menschen gegen diejenigen Minderheitsvertreter, die die Wächter von Diskriminierung und Kolonialisierung sind. Es wird der Ruf nach einer weltweiten Einheit der Menschen und nach Gleichheit unter den Menschen aus allen Ecken der Welt laut. Sabestari setzt dabei auf internationale Organisationen wie die UNO. Die westliche Welt hat bei der Verwirklichung von Einheit und Gleichheit versagt, da ihre Organisationen unfähig und krank sind. Was heute als Frieden bezeichnet wird, ist eine instabile und unsichere Gleichgewichtsstrategie, die auf der Basis des Schreckens beruht. Rüstungswettlauf, Ausbeutung der Entwicklungsländer, Vetorecht für die starken Länder, verschiedene Militär- und Verteidigungsbündnisse wie das nordatlantische, sowjetische und asiatische Bündnis, die zunehmende Armut, ungleiche Arbeits- und Einkommensverhältnisse, Rassendiskriminierung usw. sind Beweise für die Unfähigkeit der westlichen Mission.

Nächstenliebe ist für Sabestari die grundsätzliche Bedingung für das friedliche Zusammenleben zwischen den Nationen. Aber keine der Nationen ist mehr bereit, auf den geringsten ihrer Vorteile zu verzichten, auch in Angelegenheiten, die für andere als lebenswichtiges Thema zur Debatte stehen. Jegliche fundamentale Veränderung muss im Denken, in den Überzeugungen, den Ethiken und den Gesellschaftsnormen, eben allem, was die geistige Kultur einer Gesellschaft ausmacht, beginnen. Aus diesem Grund benötigt der Wandel der Welt hin zu einer Weltregierung fundamentale Veränderungen in den Kulturen aller Nationen der Welt.

Sabestari stellt einen Entwurf einer „Weltgesellschaft und Weltreligion“ aus islamischer Sicht vor. Dies nennt er das „islamische internationale Völkerrecht“. Die Art und Weise, wie er seine islamische Weltgemeinschaft konstruiert, hat einen besonderen Charakter, den man bei den meisten seiner Zeitgenossen nicht findet. Er verzichtet darauf, auf die Verträglichkeit bzw. Unverträglichkeit der islamischen Gebote mit einem zeitgemäßen Rechtsdenken bzw. einer zeitgemäßen Rechtspraxis einzugehen. Stattdessen konzentriert er sich auf die Fundamente des „islamischen Internationalismus“ nach dem Muster der französischen Menschenrechtserklärung und des sozialistischen Internationalismus. Aus seiner Charta: „1. Beseitigung jeder Form geistiger Unterdrückung, Kampf gegen die Ursachen der geistigen Versklavung der Menschen, Schaffung einer freien geistigen Atmosphäre für die Masse. 2. Befreiung der unterdrückten Gruppen und Individuen von erbärmlichen Ketten und Abhängigkeiten, welche sie immer unter der unterdrückenden und ausbeuterischen Herrschaft bestimmter Klassen oder Personen halten, Schaffung von Freiheit, damit diese Gruppen den richtigen Weg des Lebens aus freiem Willen heraus wählen können“.

Nach seiner Auffassung kann das ohne Gewalt und nur mit Hilfe der revolutionären Zielsetzung in der Welt durchgesetzt werden. Rassismus, der Missbrauch der religiösen Gefühle und der übertriebene Nationalismus sind die drei geistigen Missbildungen, die von der politischen und wirtschaftlichen Expansion des westlichen Imperialismus und Neokolonialismus geerbt wurden. Der Islam könne mit einem „revolutionären Humanismus“ dieses schwere westliche Erbe beseitigen. Das islamische Weltgemeinschaftskonzept orientiert sich nicht an der Machtfülle, sondern an der Veränderung. Das Konzept verfolgt vier Ziele: freie Glaubens- und Gewissensüberzeugung, freundliche und humane zwischenmenschliche Beziehungen, rationaler und logischer Umgang im Diskurs und Kampf gegen den Fanatismus.

Eine religiöse Gesellschaft kann nur dann einsichtig und rechtgeleitet sein, wenn sie vor den Gefahren der Erstarrung und des Aberglaubens bewahrt bleibt, so dass die religiöse Empirie in jener Gesellschaft überdies auf gnostischer und empirischer Grundlage in eine Denkform mündet, die analysierbar und kritisierbar ist. Sabestari kündigt die Geburt eines neuen Geistes der islamischen Theologie an. Politik soll „technisch“ und „eine Kunst“ sein, nämlich die Staatskunst. Ihr Ziel ist das Gemeinwohl. Dies bedeutet für ihn aber auch die Entmonopolisierung der religiösen Rechtswissenschaft in ihrer traditionellen Form. Er steht mit seinem Denken auch sehr dem „Ich-Du“-Verhältnis in der chassidischen Lehre Martin Bubers nahe. Ohne Freiheit kann es keinen Glauben geben. Das heißt, dass die Menschen durch die destruktiven Wahrheitsansprüche, die das Wissensmonopol erhoben hat, der tatsächlichen Wahrheit entfremdet wurden. Sabestari versucht, „Transzendenz“ und „Immanenz“ miteinander zu verbinden, um den Absolutheitsanspruch der religiösen Wahrheiten nicht verloren gehen zu lassen. Die Religion soll ihren Wahrheitskern bewahren, indem sie immer als Substanz der evolutionären Erkenntnis erhalten bleibt.

|10. Abdolkarim Sorus|

Er versucht eine neue Begegnung mit den religiösen Weltanschauungen hervorzurufen, widmet sich dabei den Ideen der vorrevolutionären religiösen Reformer wie Tabataba`i und Motahhari und versucht, einen „Entideologisierungsprozess“ voranzutreiben. Wenn die Religion zu einer Ideologie werden will, so hat sie sich zum Provisorium verurteilt und auf ihre Ewigkeit verzichtet. Er erinnert dabei an den Marxismus und seine Ideologiekrise. Dabei setzt er sich mit vielen modernen westlichen Gesellschaftstheoretikern wie Karl Marx, Emil Durkheim, Max Weber, Peter Winch, Karl Popper und Jürgen Habermas auseinander. Er kommt zu dem Schluss, dass die Ideologie ein Gedankengebilde ist, das entweder nicht begründet werden kann oder falsch ist, vor allem unter dem empirischen Aspekt des kritischen Rationalismus. Im Gegensatz zu Ideologien haben Religionen gar keinen Absolutheitsanspruch. Diese Behauptung stellt das genaue Gegenteil einer weit verbreiteten Auffassung von Religion dar. Sorus versucht damit, den Unterschied zwischen dem Absolutheitsanspruch der Religionen und dem der Ideologien zu kennzeichnen.

Sein Entideologisierungsprozess ist in Wirklichkeit eine Entideologisierung der religiösen Lehren, nicht jedoch der Religion selbst. Der Kern der Religion, der nach seinem Konzept in verschiedenen Bezeichnungen wie Religion, Scharia, Wahrheit und Offenbarung vorkommt, kann tatsächlich nicht interpretiert werden. Die Religion ist demzufolge schweigsam und stumm. Sie ist unabänderlich bzw. konstant. Die Unveränderbarkeit ihrer Fundamente setzt er mit Naturgesetzen gleich. Aufklärung kann positiv und negativ interpretiert werden. Nach der positiven Definition stellt sich die Aufklärung als eine an der „Diesseitsgestaltung orientierte Humanität“ dar, die unter anderem religiöse Toleranz fordert. Dies ist der Kern des intellektuell-religiösen Ziels von Sorus bei seinen Bemühungen, Religion und Demokratie zu verbinden. Er möchte in seiner neuen Staatsform beides vertreten sehen.

Toleriert wird in erster Linie nicht die Religion, sondern die Demokratie. Denn diese Staatsform bringt keine Enttheologisierung der Naturrechte mit sich. Diese Form der religiösen Demokratie steht für eine neue Theologisierung, welche die alte theologische Elite durch eine neue zu ersetzen versucht. Die wahre Demokratie braucht hohe ethische Maßstäbe. Die Ursachen für eine negative Entwicklung der Gesellschaft liegen in der „Unwissenheit“ der Menschen. Die Gesellschaft benötigt aber für ihre menschenwürdige Gestaltung Werte. Seine These ist letztendlich einfach: Die Gesellschaft Irans ist religiös. Jede Herrschaftsform ist Teil der jeweiligen Gesellschaft und stimmt daher mit ihr überein. Eine Herrschaft im Iran ist also zwangsläufig eine religiöse Herrschaft. Sollte im Iran die Herrschaft anderer Natur als religiös sein, so muss daraus der Schluss gezogen werden, dass die iranische Gesellschaft entweder eine areligiöse Gesellschaft oder die Herrschaft illegitim, d. h. undemokratisch ist.

Diese zehn Beispiele aus hundert Jahren schiitischer Theologie im Iran, welche natürlich nur sehr rudimentär dargestellt werden konnten, zeigen, dass sich im dortigen Islam eine „Glaubenswissenschaft“ zu entwickeln begann, die die Aufgabe hat, Freiheit und Glaube miteinander zu versöhnen. Trotz der homogenen religiösen Strukturen in Theorie und Praxis sind in der Gegenwart Veränderungen bezüglich der Religion zu beobachten, die unter der geistigen und politischen Übermacht der Moderne in Erscheinung treten. Die Moderne zwingt die Religion, zu neuen Fragen Stellung zu nehmen und ihre Fähigkeit unter Beweis zu stellen, Verantwortung zu übernehmen, Probleme zu lösen. Die religiösen Bestrebungen im heutigen Iran werfen neue politischen Fragen auf. Zwar ist die „religiöse demokratische Regierung“ keine echte Innovation und hat auch noch kein politisches System. Mit ihrer Theorie bahnt sie sich aber den Weg zurück zur Tradition und macht gleichzeitig den Weg frei für eine Annäherung an die moderne Demokratie. Die Idee der religiösen Herrschaftsgewalt, die einen Bevormundungsstaat bevorzugt, wurde zunehmend als unzeitgemäß erkannt. Der Legitimationsanspruch der Theologenherrschaft wird nicht nur bezweifelt, sondern als unvereinbar mit dem Islam gewertet. Derzeit dominiert im Iran aber noch die Tradition. Die Zukunft kann aber nur einen Weg zeigen, den in die offene Gesellschaft. Es sei denn, die US-Amerikaner vereiteln mit einem Krieg gegen den Iran erneut alle unabhängigen Entwicklungen in ihrem eigenen Herrschaftsinteresse.

Berthold Röth

|Quelle:
Reza Hajatpour, Iranische Geistlichkeit zwischen Utopie und Realismus.
Zum Diskurs über Herrschafts- und Staatsdenken im 20. Jahrhundert,
387 S., geb., Reichert Verlag 2002, ISBN 3-89500-264-X |

|Weiterführende Informationen bei wikipedia:|
[Iran]http://de.wikipedia.org/wiki/Iran
[Islam]http://de.wikipedia.org/wiki/Islam
[Schari’a]http://de.wikipedia.org/wiki/Scharia
[Ruhollah Chomeini]http://de.wikipedia.org/wiki/Ruhollah__Chomeini

Buchwurminfos I/2005

Jedes halbe Jahr treffen in den Presseabteilungen und Buchhandlungen umfangreiche Kataloge der _Verlagsnovitäten_ ein. Regelmäßig stöhnen die Buchhändler und zeigen sich ermüdet und überfordert, weil sie beispielsweise erst die Hälfte der Herbstvorschauen gelesen haben und schon die ersten Frühjahrsvorschauen wieder da sind. Dies ist mir als Rezensenten unverständlich, denn das gehört doch zum Interesse und zum Job dazu. Doch wahrscheinlich geht es den heutigen Buchhändlern nur noch ums reine Verkaufen, während die Inhalte für sie belastende Nebensache geworden sind. Alles tendiert zur Hektik, und auch der Buchmarkt bleibt von der allgemeinen Schnelllebigkeit und den saisonalen Trends nicht verschont.

Was das Durcharbeiten anbelangt, geht es mir manchmal durchaus nicht anders; auch ich fand letztes Jahr wenig Zeit, die von der Buchmesse noch zusätzlich mitgenommenen – nicht automatisch schon vorab per Post erhaltenen – Kataloge zu durchforsten, als schon wieder die ganzen Frühjahrsvorschauen vorlagen. Aber zwischen den Jahren nahm ich mir die Zeit, das nachzuholen und bin nicht erschlagen von den Stapeln, die sich da ansammeln, sondern hochzufrieden und begeistert. Auf das weitere Jahr bin ich sehr gespannt, nachdem es 2004 eher ruhig zuging. Interessant war der plötzliche _Trend zum „Billigbuch“_ – nicht nur durch branchenfremde Medienhäuser wie „SZ“, „Bild“, „Zeit“ und „Brigitte“ -, sondern auch durch eine Reihe neuerer Verlage, die mit ausnahmslos niveauvollen Titeln zu extrem günstigen Preisen aufwarteten. Was den Kunden zuerst erfreut, hat seine Schatten. Es wird suggeriert, Bücher seien zu teuer. Dabei handelt es sich bei diesen Reihen um Drittverwertungen und letztlich ist es für das eigentliche Verlagswesen ein schlechtes Signal. Auch für den Buchhandel, denn die Zeitungsbuchreihen gibt es am Kiosk. Es bleiben schwierige Zeiten für Verleger, denn die Menschen haben wenig Geld für kulturelle „Extras“. „Geiz ist geil“ bleibt auch in diesem Jahr das Motto der Kunden. Der gewachsene Markt wird mehr und mehr zerstört. Besonders überrascht von diesem Trend wurden die Taschenbuchverlage.

Verkaufsanalysen belegen, dass die Umsätze der Belletristik-Editionen von der „Süddeutschen Zeitung“ und „Bild“ in etwa dem entsprechen, was an Taschenbuchumsätzen im gesamten Markt fehlt. Eigentlich hatten die Taschenbuchverlage sich darauf eingestellt, dass es nach der Zerlegung der Verlagsgruppe |Ullstein-Heyne-List| in zwei Buchriesen (|Random House| mit vornehmlich |Heyne|, |Goldmann|, |btb| und |Blanvalet|, sowie die |Bonnier|-Verlage mit |Piper| und |Ullstein/List|) zur eindeutigen Marktmacht käme. Aber davon war überraschend wenig zu spüren. In den Bestsellerlisten waren alle Verlage wie zuvor gleich beteiligt. Die Marktmacht von |Heyne| & |Goldmann| ist aber unübersehbar und wird in den nächsten Jahren noch stärker zu spüren sein. Vor allem im teuren Geschäft mit den Lizenzen können die kleineren Taschenbuchanbieter nicht mehr mithalten. Konkurriert wird sogar innerhalb von |Random House|-Gruppen. |Heyne| musste dabei aber auch deutliche Einbußen hinnehmen, denn die von den Kartellwächtern geforderte Trennung von den Reihen |Fantasy| und |Esoterik|, die an |Piper| & |Ullstein| gingen, schlug zu Buche. |Ullstein| hat sich mit anspruchsvollen Sachbuchveröffentlichungen über Thriller und Krimis bis zur Esoterik und massenmarktfähigen Frauenromanen den Programmen von |Heyne|, |Goldmann|, |Bastei-Lübbe| und |Rowohlt| angeglichen. Auch im |Ullstein|-TB-Bereich sieht es positiv aus, denn durch die |Bonnier|-Hardcoververlage |Ullstein, List, Propyläen, Marion von Schröder| und |Econ| steht ein erstklassiges Lizenzreservoir im Rücken. Und |Piper Taschenbuch| im gleichen Hause hat sich auch bestens gemacht.

Die Taschenbuchverlage versuchen nun angesichts der „Billigbuch-Entwicklung“ mit Bestseller-Kampagnen und Sonderaktionen nachzuziehen. In diesen Fällen liegen zwischen Auslieferung und Verramschen nur noch sechs Wochen. Hinter dem Trend des Billigbuchs steht somit noch ein anderer negativer Trend: die generelle _Kurzlebigkeit eines Buches_. Schon oft ist eine Neuerscheinung bereits nach nur einem halben Jahr nicht mehr lieferbar. Umso schneller geht es dafür in Lizenzen an Clubs, Weltbild, Parallelausgaben für Flächenmärkte, eigene frühe Sonderausgaben, spezielle Internet-Angebote, Direktgeschäfte, Shop-Angebote in Zeitschriften, Exklusivangebote von Versendern oder, wie man es eigentlich seit längerem schon kannte, nach kürzester Zeit in die Taschenbuchausgabe. Backlist ist nicht mehr in, leider geht das immer mehr auch auf Kosten von Qualität.

_Esoterik_, in den 90er Jahren noch als Boom gewertet, ist längst nur noch ein Nischenthema. 72 Prozent der Deutschen interessieren sich nicht für das Themenspektrum von Astrologie über Lebensdeutung und Tarot bis hin zu Yoga. Für die einzelnen Strömungen der Esoterik, z. B. Meditation, östliche Weisheit oder Grenzwissenschaften, interessieren sich im Durchschnitt gerade mal um die fünf Prozent der Bevölkerung. Praxisbezogene Themen sind mit 14 Prozent noch ein wenig mehr gefragt, alternative Heilmethoden nehmen einen immer größeren Stellenwert neben der Schulmedizin ein. Der Kundenkreis bleibt weiterhin mehrheitlich weiblich. Die statistischen Zahlen belegen zehn mal so viele Frauen wie Männer. Die so genannten „esoterisch-alternativen“ Fachverlage decken dennoch entgegen dieser Verkaufszahlen etwa 20 Prozent des Marktsegmentes ab.

Esoterik versucht schon immer, Bewusstsein zu verändern und Informationen mit Gewissenhaftigkeit zur Verfügung zu stellen. In den 60er und 70er Jahren gab es keine Esoterik zu kaufen bzw. man musste zur Schikowski-Buchhandlung in Berlin, wenn man anspruchsvolle Titel aus dem damals legendären |O. W. Barth|-Verlag kaufen wollte. Dann kamen die eigentlichen Esoterikbuchläden der ersten Stunde wie |Akasha| in München, |Middle Earth| in Frankfurt, |Horus| in Bonn, |Pentagramm| in Dortmund und |Wrage| in Hamburg hinzu. Die meisten dieser Läden sind aber heute nicht mehr in den Händen ihrer Gründer oder existieren nicht mehr. Die Konkurrenz wurde ab den späten 80er Jahren zu groß, überall machten irgendwelche Eso-Läden auf – leider ohne über eigene Qualifikation auf diesem Gebiet zu verfügen. Das hatte vieles verwässert und das Interesse an der nun publizierten „Mainstream“-Esoterik hielt natürlich nicht an.

Seitdem jammern die Buchhandlungen, wie schlecht es mit Esoterik liefe und dass sie wohl „out“ sei. Viele, die sich zu ihrem Beruf wirklich berufen fühlen, wachen gerade endlich wieder auf, nachdem die meisten dieser Verlage in den letzten Jahren eher gegeneinander agierten anstatt sich an „runden Tischen“ zusammenzusetzen. In Vorstößen zur Zusammenarbeit und eigenen Vertriebssystemen ist in den letzten Jahren vor allem Andreas Lentz vom |Neue Erde|-Verlag aufgefallen. Von dort gehen seit kurzem neue Zusammenarbeiten aus, neue Verlagskooperationen wurden gegründet. Wenn nämlich nicht auf der Grundlage „gemeinsam stärker“ gegen die Marktpolitik der wenigen Großverlage vorgegangen wird, könnte es in Deutschland in fünf bis zehn Jahren Verhältnisse wie in den USA oder England geben. Dort gibt es keinen einzigen nennenswerten unabhängigen Esoterikverlag mehr. In England wurde der letzte, |C.W. Daniel|, Ende 2002 an |Random House| verkauft und zerschlagen. Es ist unglaublich, was dort in nur sechs Monaten aus dem Verlag gemacht wurde.

Auf der Frankfurter Buchmesse hatten auf Initiative des |Schirner|-Verlages seit einigen Jahren die Esoterik-Verlage Stärke gezeigt und in Halle 3.1 mit einer gemeinsamen „grünen Insel“ eine andere Welt gegenüber dem Messestrubel präsentiert. Leider war das, wie schon berichtet, in letztem Jahr nicht mehr der Fall. Zwar war ein Großteil der esoterischen Verlage zumindest noch in dieser Halle, aber viele auch ganz woanders. Die konventionellen Verlage konnten sich die Hände reiben, als sie sahen, wie der von ihnen so wenig geliebte Eso-Block geschmolzen war. Auch ich als Besucher war wirklich irritiert. Nicht eine Verlagsgruppe hat an Profil gewonnen, sondern die Stellung des spirituellen Buches in der Wahrnehmung der breiten Bevölkerung ist geschwächt worden. Der seit acht Jahren im Programm des |Neue Erde|-Verlages enthaltene |Param|-Verlag hat nun seit diesem Jahr erstmals seine eigenen Vorschauen. Die Zusammenarbeit zwischen beiden Verlagen bleibt davon unberührt. Der Grund ist einfach, dass |Param| mittlerweile ein Programm von 50 Titeln aufgebaut hat , während es zu Beginn der Zusammenarbeit mit |Neue Erde| nur einen einzigen Titel gab.

Zum 1.1.2005 hat der _Aquamarin-Verlag_ den größten Teil der Esoterik-Reihe des _Hirthammer-Verlages_ übernommen, darunter die Werke von H. K. Challoner, Mabel Collins und Annie Besant sowie die dreibändige Ausgabe des „Theosophischen Weltbildes“ von Beatrice Flemming. Alle Titel werden im Verlauf des Frühjahrs in neuer Ausgabe im Aquamarin Verlag in der „Edition Adyar“ erscheinen. Der Nachdruck weiterer Werke des Hirthammer Verlages – soweit es theosophische Literatur betrifft – ist in Planung.

|Kurzmeldungen und -kommentare:|

Reformen und noch mehr Reformen und alles belastet mehr als es einspart – den einfachen Bürger auf jeden Fall. Auch die eingeführte _LKW-Maut_ macht alles für den Einzelnen noch ein bisschen teurer. Die Postpaketpreise steigen an, ebenso die Kosten für den Buchhandel für seine Zulieferer und jeder gibt die Kosten weiter an den nächsten, bis alles beim einfachen Verbraucher angekommen ist. Leben wird teurer und teurer und nicht günstiger.

Eines der niveauvollsten Buchprojekte „_Die Andere Bibliothek_“ war vor einigen Jahren an den |Eichborn|-Verlag gegangen und wurde dort von _Hans Magnus Enzensberger_ verlegt. Dessen Vertrag geht noch bis 2007, aber er möchte nun vorzeitig beenden. Damit wird auch unwahrscheinlich, dass die Reihe überhaupt ihre Fortsetzung über das Jahr 2006 hinaus finden wird. Franz Greno, zuständig für die ästhetische Gestaltung dieser Reihe, geht von ihrem Ende aus, signalisiert allerdings auch, dass es in neuen Konstellationen zu einer Fortführung kommen wird.

Beim Gerangel zweier deutscher Buchpreise – neben Leipzig nun auch Frankfurt – halten Verlage zumindest dem „_Preis der Leipziger Buchmesse_“ die Treue. Alle wichtigen und großen nationalen Verlage haben sich mit Vorschlagsnominierungen beteiligt und die Erwartungen der Messeveranstalter übertroffen. Der Preis wird in den Kategorien Belletristik, Sachbuch und Essayistik am 17. März von der Leipziger Messe mit Unterstützung des Freistaates Sachsen und der Stadt Leipzig vergeben. Partner ist das |Literarische Colloquium Berlin|.

Auf der Frankfurter Messe wird dann erstmals der beste Roman des Jahres mit dem „_Deutschen Buchpreis_“ gekürt. Diese neue Auszeichnung wird vom Börsenverein gemeinsam mit dem |Spiegel|-Verlag, |Langenscheidt| und der Stadt Frankfurt vergeben. Die Jury wird von der |Akademie Deutscher Buchpreis| jährlich neu gewählt.

Ab April steht der Frankfurter Buchmesse mit _Jürgen Boos_ ein neuer Direktor vor. Er ersetzt _Volker Neumann_, dessen Vertrag nicht verlängert wurde. Die Nichtverlängerung war innerhalb der Branche heftig kritisiert worden. Nach Geschäftsvertrag muss Neumann aber seinen Nachfolger noch bis Ende des Jahres einarbeiten. Dass das nicht ohne Reibungen geschehen wird, ist Insidern ziemlich klar.

Auch das Gastland der Messe für 2006 steht jetzt schon fest: Zum zweiten Mal wird sich _Indien_ präsentieren.

Im Alter von 89 Jahren verstarb der sozialkritische Pulitzerpreisträger _Arthur Miller_, der auch durch seine Ehe mit Marylin Monroe von sich reden machte. Die bekanntesten Werke des Schriftstellers und Dramatikers sind „Tod eines Handlungsreisenden“ sowie „Hexenjagd“.

Ende Januar verstarb der israelische Satiriker und Romancier _Ephraim Kishon_ achtzigjährig in seiner schweizerischen Wahlheimat. Sein Werk umfasst mehr als fünfzig Bände, die in vierunddreißig Sprachen übersetzt wurden und insbesondere in Deutschland Bestsellerstatus in Millionenauflage erreichten.

„Perry Rhodan“-Erfinder und Autor _Walter Ernsting_ ist nach längerer Krankheit im Alter von 84 Jahren in Salzburg gestorben. Er schrieb unter dem Pseudonym Clark Darlton. Die |Perry Rhodan|-Reihe startete 1961 und noch heute kommt jede Woche ein neues Heft heraus.

_Susan Sonntag_, die 2003 mit dem |Friedenspreis des Deutschen Buchhandels| ausgezeichnet wurde, ist im Alter von 71 Jahren an Krebsleiden gestorben. Die einflussreiche New Yorker Intellektuelle übte nach dem 11. September 2001 scharfe Kritik an der Politik von Präsident George Bush, wurde aber in Europa mehr beachtet als in ihrer Heimat.

Im letzten Jahr hatte die ARD zum ersten Mal seit mehr als 30 Jahren die Verleihung des _Friedenspreises_ des deutschen Buchhandels nicht mehr im Hauptprogramm übertragen. Die Mitglieder der |Arbeitsgemeinschaft Publikumsverlage| im Börsenverein haben nun in einem Appell die Sendeanstalt aufgefordert, dies 2005 wieder zu tun. Der Börsenverein selbst hatte schon im letzten Jahr kritisiert, dass die ARD ihren Kulturauftrag als öffentlich-rechtliche Sendeanstalt nicht erfülle. Der Preis ist die bedeutendste internationale Auszeichnung, die in unserem Land vergeben wird.

|Das Börsenblatt, das die hauptsächliche Quelle für diese Essayreihe darstellt, ist selbstverständlich auch im Internet zu finden, mit ausgewählten Artikeln der Printausgabe, täglicher Presseschau, TV-Tipps und vielem mehr: http://www.boersenblatt.net.|

Buchwurminfos V/2004

Mittlerweile hat die Kultusministerkonferenz einen Entwurf für den _“Rat der deutschen Rechtschreibung“_ vorgelegt. Das Gremium wird den Schriftgebrauch der deutschen Sprache beobachten und Vorschläge zur Weiterentwicklung der Orthografie erarbeiten. Dem Rat gehörten ursprünglich auch Kritiker der Reform an, z. B. hatte die |“Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung“| zwei Sitze. Von deutscher Seite sind 16 Institute mit insgesamt 18 Sitzen vertreten, darunter vier aus der Buchbranche: |Börsenverein|, |VdS-Bildungsmedien|, |Duden|-Verlag und |Wissen Media|-Verlag. Österreich und Schweiz entsenden je neun Vertreter. Eine Gruppierung von Gegnern der neuen Schreibung – unter ihnen die |Forschungsgruppe Deutsche Sprache| – hat gegen die ihrer Meinung nach „einseitige“ Besetzung des Gremiums protestiert. Da dieser Rat von der Kultusministerkonferenz mit neunzig Prozent Ja-Sagern zur Reform (während dagegen nur zehn Prozent der Deutschen für die Reform insgesamt sind) besetzt wurde, sagten die zehn Prozent Nein-Sager – die |“Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung“| und der |“deutsche PEN-Club“| – aufgrund eines Aufrufs der gegenwärtigen Literaturnobelpreisträgerin _Elfride Jelinek_ ihre Mitarbeit wieder ab.

Die Ergebnisse der Beratungen stünden allesamt schon fest und bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass der Rat wie eine Volksfront nach DDR-Muster fast ausschließlich mit treuen Gefolgsmännern besetzt worden war. Durch die Austritte der wenigen Gegner ist der Rat jetzt eine Farce. Bis in den Dezember hinein ist dieser schon im Sommer gegründete Rat zudem noch nicht einmal zusammengetreten. Ein erstes Treffen ist nun aber für den 17. Dezember in Mannheim geplant. Von Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff wird mittlerweile aber selbst die Kultusministerkonferenz als Ganzes kritisiert. Die |“Akademie der Künste Berlin-Brandenburg“| fordert dazu auf, die Verantwortung für die Zukunft der deutschen Rechtschreibung ganz an die |“Akademie für Sprache und Dichtung“| allein zu übertragen. Alle Gegner sind sich eigentlich darin einig, dass die Anpassung der Reform durch eine nichtstaatliche Instanz vollzogen werden müsse. Die Schulbuchverleger und die Schulen selbst sind im Grunde die einzigen, die hinter der Reform stehen (müssen).

Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse hatten erneut etwa 250 namhafte Schriftsteller und Verleger mit einem _Frankfurter Appell_ zur Rechtschreibreform an die Ministerpräsidenten und Kultusminister gemahnt, das Experiment Rechtschreibreform nach acht Jahren „zunehmender Verwirrung“ zu beenden. Der große Zuspruch beweise, dass die reformierte Rechtschreibung auch über den 1. August 2005 hinaus für das literarische Leben keinesfalls verbindlich wird, heißt es in einer Erklärung. Initiiert wurde der Aufruf vom |Rat für deutsche Rechtschreibung|. Dennoch wurde daraufhin wiederholt im Oktober von den deutschen Länderchefs auf einer Konferenz der Ministerpräsidenten die Einführung der reformierten Rechtschreibung ab 1. August 2005 bestätigt, sofern der neu eingesetzte „Rat für deutsche Rechtschreibung“ zu einer Einigung über Änderungen der reformierten Rechtschreibung kommt. Noch Ende 2004 wird nun allerdings auch der Bundestag über die Reform debattieren, denn mancher Politiker ist der Ansicht, dass diese Debatte nicht von den Ministerpräsidenten und Kultusministern der Länder vorgeschrieben werden kann. Der Jurist Johannes Wachsmuth, Anführer einer Gruppe von Rechtsgelehrten, die sich für die bewährte Rechtschreibung einsetzen, hat in einem Schreiben an die beiden größten Bundestagsfraktionen ebenfalls noch einmal klargestellt, dass für die Rechtschreibung auch der Bund zuständig ist. Die Reform habe beträchtlichen gesamtwirtschaftlichen Schaden angerichtet und die sinnlose Verschwendung von Steuergeldern verschuldet. Daher ist der Deutsche Bundestag jetzt aufgerufen, seiner gesamtstaatlichen Verantwortung gerecht zu werden. In einem vom FDP-Abgeordneten Hans-Joachim Otto fraktionsübergreifenden Antrag, den sofort 50 Bundestagsabgeordnete unterschrieben haben, wird die Bundesregierung aufgefordert, sich für die Rücknahme der Rechtschreibreform einzusetzen. Dieser wird allerdings erst im Frühjahr behandelt.
Derweil ist das Chaos perfekt. Annähernd die Hälfte der Zeitungen erscheint in der alten, die andere Hälfte in der neuen Rechtschreibung. Deutschland blamiert sich im Ausland und dort bringt man das auch mit der PISA-Studie in Zusammenhang. Dabei hatte gerade die komplexe, facettenreiche deutsche Sprache das Land nicht von ungefähr zu dem der „Dichter und Denker“ gemacht.

Nach der |Süddeutschen Zeitung| mit ihrer „Billig“-Buchreihe _“SZ-Bibliothek“_ ist nun auch die |Bild|-Zeitung mit einer „Bestseller-Bibliothek“ ins Buchgeschäft eingestiegen. Obwohl schon die SZ ziemlich gut lief, ist Bild noch viel besser gestartet. Allein die Druckauflage des ersten Bandes „Der Pate“ musste um 75 000 auf 350 000 erhöht werden.

Der Literaturnobelpreis ging in diesem Jahr an _Elfriede Jelenik_. Der |Rowohlt|-Verlag setzt deswegen eine Hardcoverauflage und Neuauflagen für 13 ihrer Taschenbuchtitel um. Andere Titel der Autorin sind im |Berlin|-Verlag, |Buch & Media München|, |Rhombus|-Verlag, |Sonderzahl|-Verlag, |Jung und Jung|, |Edition Text & Kritik| sowie bei |Droeschel| erschienen. Durch den Preis hat das Interesse an der Autorin stark zugenommen. Die Verlage kamen mit den Nachlieferungen an die Buchläden in der ersten Zeit nicht mehr nach. Jelenik hat eine Webseite: www.elfriedejelenik.com.

Die Tondokumente des Lyrikers _Gottfried Benn_ sind von der Kulturwelle |hr 2| des Hessischen Rundfunks als Hörbuch des Jahres 2004 ausgezeichnet worden. Die zehn CDs mit Benns Hörwerk 1928 bis 1956 sind im Frankfurter Verlag |Zweitausendeins| erschienen. Die Preisverleihung findet am 30. Januar 2005 im Rahmen des |hr2-Hörfestes| im Staatstheater Wiesbaden statt.

Die Verlage |Campus, Herbig, Droemer-Knaur| und |Rowohlt| hatten fest mit der _Wahl von Kerry_ zum neuen amerikanischen Präsidenten gerechnet und gehofft, ihre Kerry-Biografien in Nachauflagen nachzuschießen. Jetzt interessiert sich für diese Titel allerdings niemand mehr. Entweder ist der Markt tatsächlich mittlerweile gesättigt, oder die deutschen Leser stehen noch unter dem Schock der Wiederwahl von George W. Bush. Denn bis zur Wahl verkauften sich Titel zur US-Politik sehr gut, aber seit Entscheidung der Wahl bleibt plötzlich alles in den Regalen der Buchhandlungen liegen. Es herrscht irgendwie eine gewisse Amerika-Müdigkeit.

Zur vergangenen Frankfurter Buchmesse hatte ich bereits in einem [„Spezial“]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=30 über meine eigenen Eindrücke berichtet. Eine Nachricht erscheint mir dennoch nachtragenswert. Zum ersten Mal seit mehr als 40 Jahren wurde die Verleihung des _Friedenspreis_es nicht im Ersten Programm der ARD live übertragen. Börsenvereinsvorsitzender _Dieter Schormann_ kritisierte das entschieden: „Den Ruf, den der Friedenspreis weltweit genießt, wird das nicht schmälern; wohl aber die Glaubwürdigkeit der ARD, die damit zeigt, dass sie ihren Kulturauftrag als öffentlich-rechtliche Sendeanstalt nicht erfüllt“. Der Friedenspreis sei nach dem Zweiten Weltkrieg als Symbol der Versöhnung entstanden. Seine Wirkung entfalte er daher nicht in erster Linie über das Fernsehen: „Es sollte aber für die ARD selbstverständlich sein, dem bedeutendsten Kulturpreis der Bundesrepublik gebührenden Raum zu geben – und das heißt: im Ersten Programm“, meint Schormann. Auch die Presse kritisierte die Absetzung: Die ARD sei damit dem „puren Zerstreuungsfernsehen“ wieder einen Schritt näher gekommen, schreibt |“Die Welt“|. Preisträger war dieses Mal _Péter Esterházy_ gewesen.

Nachdem dieses Jahr zum ersten Mal Antiquariat auf der Messe vertreten war, sich aber nicht _“Antiquariatsmesse“_ nennen durfte, sieht das nächstes Jahr anders aus. Mit Einverständnis der Frankfurter Buchmesse wird es 2005 eine richtig große Antiquariatsplattform geben.

Im kommenden Jahr findet vom 17. bis 20.März parallel zur |Lit.Cologne| erstmals die _Hörbuchmesse_ |AudioBooks Cologne| statt. Bei der Leipziger Buchmesse, die zur selben Zeit ihre Hallen für Besucher öffnet, ist das Hörbuch ebenso wieder ein Schwerpunktthema. Hoffentlich führt das nicht zu einer Spaltung, denn wenn jeweils nur die eine Hälfte auf einer der Messen erscheinen sollte, wäre die Neueinführung natürlich irgendwie misslungen. Viele kleine Verlage können sich zwei gleichzeitige Messen nicht leisten. Die bisherige Tendenz liegt bislang eher bei der Teilnahme in Leipzig. Es führt bereits jetzt zu erheblichem Ärger, dass sich die Termine überschneiden.

Im _Börsenverein_ des deutschen Buchhandels bewegt sich derzeit sehr viel. In den letzten Jahren hat sich sein Image mehr und mehr zu einem Wirtschaftsverband umgewandelt und die kulturpolitische Aufgabe geriet angesichts der wichtigen Themen wie Preisbindung, Urheberrecht, Verteilungsgefechte und Konzentrationsprozesse am Markt in den Hintergrund. Dabei opferte man zu großen Teilen aber auch die eigentliche Identität. Jetzt beschloss die Mitgliederversammlung, zu dieser zurückzufinden. Die kulturpolitische Dimension der Buchwelt sei „die eigentliche, wenn nicht sogar die einzige Klammer, die unseren Berufsstand zusammenhält – und seine Stärke ausmacht“, betont Dieter Schormann (Vorsteher). Der Verbandsverdrossenheit und dem Imageverlust kann nur mit einer neuen kulturellen Initiative begegnet werden. Ein erster Schritt ist im nächsten Jahr die Erstellung einer Kulturbilanz. Alle kulturellen Aktivitäten des Börsenvereins sollen dokumentiert und geprüft werden.
Neue Akzente will der Börsenverein mit dem Lesewettbewerb „Ohr liest mit“ und mit dem |Deutschen Buchpreis|, der erstmals auf der Frankfurter Buchmesse 2005 vergeben wird, setzen. Für Unruhe sorgte auch, dass der Vertrag des jetzigen Buchmessedirektors Volker Neumann nicht verlängert wurde. Auch am neu geschaffenen |Deutschen Buchpreis| gibt es Kritik. Langfristig ist er finanziell noch nicht gesichert, da die Sponsoren nur für drei Jahre eine Zusage machten. Die Mitglieder des Börsenvereins waren nicht in die Entscheidung eingebunden worden. Dennoch ist die an renommierten internationalen Preisen orientierte Auszeichnung erfolgsversprechend.
Die Verbandsreform, die in den letzten Jahren stattfand, ist noch nicht transparent genug hinsichtlich ihrer neuen Kommunikations- und Entscheidungsprozesse. Der Aufsichtsrat und der Börsenverein sind zur aktiveren Informationspolitik aufgefordert. Der Verband ist zwar kein Konzern, hat aber mittlerweile eine Organisationsform, die sich der in üblichen Unternehmen angenähert hat. Dies hat ein ganz neues Rollenverständnis zur Folge, das noch nicht funktioniert. Natürlich war die Strukturreform mit demokratischer Mehrheit beschlossen worden. Die letzten Jahre waren eben sehr schwierig und so wird es wohl auch noch eine Weile bleiben. Seit vier Jahren sinken auch die Mitgliedszahlen aufgrund von Geschäftsaufgaben.

|Das Börsenblatt, das die hauptsächliche Quelle für diese Essayreihe darstellt, ist selbstverständlich auch im Internet zu finden, mit ausgewählten Artikeln der Printausgabe, täglicher Presseschau, TV-Tipps und vielem mehr: http://www.boersenblatt.net/.|

Die Kriege der Familie Bush

Hinter den bekannten politischen Geschehnissen stehen meist auch unbekanntere Dinge, die in den üblichen Nachrichten weniger verbreitet werden. Dies trifft in besonders brisanter Weise auf die Dynastie der Bush-Familie zu, die seit einem Jahrhundert zu den einflussreichsten und mächtigsten Amerikas gehört. Eric Laurent hat sehr gut recherchiert und zeigt Schattenseiten auf, die über das ethische Vorstellungsvermögen hinausgehen. Mindestens seit Großvater Prescott Bush geht es um skrupelloses Vorgehen, bei dem nur der wirtschaftliche Profit zählt und diese kriminellen Handlungen ziehen sich durch die Generationen der Bush-Familie unverändert hindurch.

Prescott Bush begann bereits in den 20er Jahren, Geschäfte in Deutschland zu machen, z. B. auch über |General Motors|, investierte in Rüstungsfirmen und unterhielt Produktionsanlagen für das deutsche Militär selbst in den Zeiten, als die Alliierten längst Deutschland unter einen Bombenteppich setzten. Nach dem Krieg stellte er sogar Schadensersatzforderungen, weil das amerikanische Militär seine Produktionsanlagen zerstört hatte und bekam diese tatsächlich gerichtlich zugesprochen und ausgezahlt. Während des Krieges und danach waren die Bushs eng verflochten mit den Nazi-Wirtschaftsgrößen Flick und Thyssen. Nicht anders bei den späteren Bushs. Da wurde von George Bush sen. jahrelang der Irak finanziert und aufgerüstet – mit chemischen und biologischen Waffen versorgt, an den Giftanschlägen auf Iraner und Kurden mitverdient (beim Massaker an den Kurden waren amerikanische Hubschrauber mit im Einsatz), dann wird der Irak verleitet, Kuwait einzunehmen und anschließend, in diese Falle gelaufen, im zweiten (oder ersten, je nach Zählung) Golfkrieg bombardiert und ausgeschlachtet.

Ebenso Bush jun., der die erst durch die USA aufgebaute Taliban bekämpfte. Immer fließt dabei Geld in Strömen und dieses wird für beide Seiten investiert, um es letztendlich im Wirtschaftsfluss der Kriegszustände zu vermehren. Natürlich sind da noch andere Hintermänner immer im Spiel, die sich aber – wie die jetzige Regierungsmannschaft zeigt – schon seit mindestens 30 Jahren quer durch verschiedene amtierende Regierungen mehr als gut kennen und, aufeinander eingespielt, schon immer im Hintergrund einflussreich einwirkten.

Alle Verschwörungstheorien sind durch die Riege der aktuellen US-Regierung sichtbar manifestiert und spielen sich nicht mehr im Verborgenen ab. Vor allem die Öl-Industrie ist neben der Rüstungsindustrie diejenige, die ihre Interessen durchsetzt und dabei eigentlich weder Freund noch Feind kennt. Im Buch ist auch nachzulesen, was man schon Gerüchteweise vernahm: die Familien Bush und Bin Laden sind seit Generationen aufs engste wirtschaftlich und familiär verbunden und finanzieren sich gegenseitig. Selbst nach den Attentaten aufs |World Trade Center| hat sich daran nichts geändert. Die Hausbank von Bin Laden und Al Qaida unterstützt und finanziert die Bushs seit über zwanzig Jahren. Auch in den Wahlkampf für den jetzigen Präsidenten Bush jun., der letztendlich durch Wahlbetrug an die Macht gelangte, wurde von Al Qaida kräftig investiert. Der angebliche Erzfeind Osama Bin Laden, ein (ehemaliger?) Agent des CIA, wurde noch im Sommer 2001 in Afghanistan von amerikanischen Medizinern wegen einer Krankheit behandelt, nicht von islamischen Ärzten. Interessanterweise werden die Familie Bush, die Familie Bin Laden und das englische Königshaus von einem gemeinsamen Anwalt vertreten.

Schon nach den Anschlägen vom 11. September, als Afghanistan u. a. wegen geplanter Öl-Pipelines erobert wurde, war absehbar, dass es als nächstes erneut an den Irak gehen würde. Der wesentliche Grund waren auch hier die strategische Lage und das Ölvorkommen, und nicht, wie behauptet wurde, die chemischen, biologischen oder atomaren Waffen, ebenso wenig wie die angeblichen Verbindungen zur Al Qaida. Aber das hat die Weltöffentlichkeit ohnehin nie geglaubt und hat sich auch im Nachhinein als nicht haltbar erwiesen. Ebenso steht schon seit 2001 fest, dass dann der Iran in Angriff genommen werden wird, der nach dem Sturz des Iraks praktisch von Verbündeten der USA umzingelt ist: Afghanistan im Osten, Pakistan im Süden und Osten, Turkmenistan im Norden und Nordosten, Türkei im Nordwesten und Irak im Westen. Zusammen mit Israel und der Türkei wird man auch alles tun, um Syrien zu schwächen.

Den Irak betreffend wurde perfide geplant. Die USA hat seit langem eine irakische Exilopposition reaktiviert, die im eigenen Land weder eine Basis noch die geringste Glaubwürdigkeit besitzt. Zusammengefasst zum Irakischen Nationalkongress (INC) mit Sitz in London, gehören diesem die merkwürdigsten Gestalten völlig unterschiedlicher politischen Tendenzen an, von der CIA und dem Pentagon unterstützt und beraten. Bush jun. kann dabei selbst an der Spitze nur ein „kleines Licht“ sein, denn er ist außenpolitisch ein Greenhorn ohne Durchblick. Als Beispiel dazu sei seine Frage an den brasilianischen Präsidenten erwähnt, ob es „in seinem Land viele Schwarze“ gäbe.

Merkwürdig ist schon, wie da die „Achse des Bösen“ gebildet wurde und dass erst mal diejenigen darunter fallen, die wirklich nichts miteinander zu tun haben. Es ist rätselhaft, warum dies nicht eher Somalia, der Sudan, der Jemen oder Saudi-Arabien sind, die viel direkter mit den Al-Qaida-Netzwerken zu tun haben. Das militärische Budget der USA gegenüber der „Achse des Bösen“ liegt bei insgesamt 396 Milliarden Dollar gegenüber weniger als 12 Milliarden Dollar pro Jahr, die diese „Achse“ zusammen für ihre Streitkräfte ausgibt. Der Welt ist das, was wirklich geschieht, im Grunde alles klar. Aber man geht nicht wirklich dagegen an, denn die Angst ist zu groß. Amerika ist unberechenbar, mächtig und gefährlich. Sie drohen mit Präventivschlägen und schließen den atomaren Erstschlag nicht aus. Interessant ist, wie sehr zumindest unter der amerikanischen Bevölkerung dennoch die häusliche Propaganda geschluckt wird: Nach einer Umfrage vom „Time Magazine“ glaubten 75 Prozent der Amerikaner, dass Saddam Hussein die Al Qaida unterstützt, und 71 Prozent, dass der irakische Führer persönlich in die Attentate vom 11. September verwickelt gewesen sei.

Die ganze prekäre Lage in Nahost ist im Grunde fatal und künstlich entstanden, schon seit dem I. Weltkrieg und den ganzen Kolonisationen, die später zu diesen Nationalstaaten führten, welche willkürlich das Osmanische Reich ersetzten. Im Grunde ist ja auch beispielsweise der Irak ebenso künstlich wie dieses merkwürdige Kuwait. 1916 teilten Frankreich und Großbritannien das Osmanische Reich unter sich auf und dabei wurde auch der Irak aus den drei alten türkischen Provinzen Bagdad, Bassora und Mossul gebildet. Ob die Pläne mit der Niederlage Sadam Husseins allerdings so aufgehen wie gedacht, ist angesichts der schiitischen Massendemonstrationen und beständigen Anschläge fraglich. Es scheint vielmehr so, dass der Sturz Husseins und die dadurch ausgelöste Schockwelle in der arabischen Öffentlichkeit langfristig einen weiteren Zulauf für Osama Bin Laden und die Al Qaida bringen wird. Der größenwahnsinnigen US-Regierung ist das alles unwichtig. Sie sehen sich weiterhin als absolute Weltmacht mit missionarischer legitimation, und die gesamte restliche Welt steht für sie nur noch in der Rolle einfacher Statisten, die es lediglich sorgsam zu umgarnen und anzuleiten gilt.

Mehr Informationen bei |wikipedia|:
[Prescott Bush]http://de.wikipedia.org/wiki/Prescott__Bush
[George H. W. Bush]http://de.wikipedia.org/wiki/George__H.__W.__Bush
[George W. Bush]http://de.wikipedia.org/wiki/George__W.__Bush
[Skull & Bones]http://de.wikipedia.org/wiki/Skull__and__Bones
[Irak-Konflikt]http://de.wikipedia.org/wiki/Irak-Konflikt
[Irak]http://de.wikipedia.org/wiki/Irak
[Dritter Golfkrieg]http://de.wikipedia.org/wiki/Dritter__Golfkrieg
[Telepolis: Irakkonflikt]http://www.heise.de/tp/r4/inhalt/irak.html

_Buchdaten:_

Eric Laurent
[Die Kriege der Familie Bush]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3100448502/powermetalde-21
Die wahren Hintergründe des Irak-Konflikts
Paperback, 255 Seiten
|S. Fischer|, März 2003

Interview mit Tobias O. Meißner

_Mit seinem Fantasy-Roman „Das Paradies der Schwerter“ machte Tobias O. Meißner dieses Jahr allerorts Schlagzeilen. Nicht nur die Feuilletons von |FAZ| und |SÜDDEUTSCHE ZEITUNG| sind begeistert, auch aus der SF- und Rollenspiel-Szene kommen zahlreiche lobende Rezensionen. [ALIEN CONTACT]http://www.epilog.de/Magazin/ sprach mit ihm über seine Romane, seine Arbeitsweise und sein nächstes Buch._

_AC:_
Für viele Leser aus der Science-Fiction- und Fantasy-Szene bist du noch ein unbeschriebenes Blatt. Kannst du uns etwas über deinen Werdegang erzählen?

_Meißner:_
Ich wurde 1967 in der Weltstadt Oberndorf am Neckar geboren und bin im Alter von zwei Jahren mit meinen Eltern nach Berlin emigriert. Beruflich wurde ich vor allem von meinem Vater geprägt, der Journalist war. Mit 18 Jahren habe ich selbst angefangen als Journalist zu arbeiten. Danach habe ich Publizistik und Theaterwissenschaften studiert und abgeschlossen. In der Zeit habe ich auch mehrere Praktika gemacht, unter anderem für Zeitungen, Hörfunk und Fernsehen. Dabei habe ich festgestellt, dass Journalismus doch nicht das Richtige für mich ist, weil ich es nicht so gut finde, wenn man innerhalb ganz kurzer Zeit Resultate erzielen muss, weil immer ein extremer Zeitdruck herrscht. Beim Schreiben von Belletristik arbeite ich zwar auch gern mit Deadlines, aber die sind dann schon etwas fürstlicher. Ich hatte bei den Zeitungen immer das Gefühl, dass man unglaublich viel verschenkt, wenn man sehr schnell schreiben muss.

In meiner Freizeit habe ich angefangen zu schreiben, bereits während der Schulzeit. 1990 habe ich mit drei Freunden einen kleinen Literaturklub gegründet, den wir »Deadline Project« nannten. Es ging darum, dass jeder in jedem Monat ein Kapitel einer Geschichte schreibt und es den anderen schickt. Jeder schrieb also einen Text und bekam drei. Nach einem halben Jahr gaben zwei von den vieren als Autoren auf, weil es nicht jedermanns Sache ist, jeden Monat pünktlich ein neues Kapitel liefern zu müssen. Aber die beiden blieben uns weiter als Leser treu, während Michael Scholz und ich als Autoren übrig blieben. Wir beide haben uns gegenseitig immer weiter angestachelt, weil keiner aufgeben wollte. Im Rahmen dieses »Deadline Projects« sind von 1990 bis 1996 meine ersten in sich geschlossenen Bücher entstanden: „Starfish Rules“, „HalbEngel“ und „Hiobs Spiel“, und Michael verfasste „Der Schreiber“, „Revolver“ und „Splitterkreis“. Dabei haben wir gar keine Kontakte zu Verlagen gesucht, das war nicht wichtig für uns. Erst als ich drei fertige Romane in der Schublade liegen hatte, dachte ich, dass es toll wäre, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, nämlich den Spaß am Schreiben mit finanziellen Einkünften zu verbinden. Ich habe es zunächst mit „Starfish Rules“ versucht, und es klappte dann auch.

_AC:_
Zu welchen Verlagen hast du den Roman geschickt?

_Meißner:_
Das waren nur sechs oder sieben Verlage. Ich habe mich dabei an meiner eigenen Büchersammlung orientiert, um herauszufinden, welchen Verlagen ich meinen Text anvertrauen würde. Verblüffend früh hat sich |Rotbuch| in Hamburg für das Manuskript interessiert. Ich habe allerdings nicht das Manuskript versendet, weil ich befürchtete, dass es in einer Flut von unverlangt eingesandten Texten untergeht. Stattdessen habe ich eine Art Werbeseite designt, auf der die Schlagworte draufstanden sowie der Satz: »Bei Interesse fordern Sie das Manuskript an.« Rotbuch war der einzige Verlag, der auf diese Werbeseite reagierte und demzufolge auch der einzige, der das Manuskript bekommen hat. Allerdings hat es noch ein Jahr gedauert, bis sie sich durchgerungen hatten, einen völlig unbekannten Autor mit einem derart extravaganten Text zu publizieren. Sie hatten inzwischen drei Gutachten in Auftrag gegeben, die alle begeistert waren.

In diesem Jahr hatte ich an einem Drehbuch geschrieben und an weiteren »Deadline«-Projekten gearbeitet. Danach hatte ich Glück, weil der |Rowohlt|-Verlag die Taschenbuchrechte an „Starfish Rules“ gekauft hat, wovon ich ein weiteres Jahr leben konnte. Leider hatte das Taschenbuch ein entsetzliches Titelbild, das dem Verkauf nicht gerade förderlich war.

_AC:_
Lass uns über das neue Buch reden. „Das Paradies der Schwerter“ ist dein erster Fantasy-Roman …

_Meißner:_
Der erste veröffentlichte …

_AC:_
Wie meinst du das?

_Meißner:_
Ich habe mit Fantasy angefangen. Ich habe zwischen meinem 18. und 22. Lebensjahr ein Buch verfasst, das, wäre es fertig geworden, ungefähr 2000 Seiten umfasst hätte. Ich habe allerdings nach rund 400 Seiten aufgehört, weil ich gemerkt habe, dass es einfach zu lange dauert, wenn ich für die ersten 400 Seiten schon vier Jahre gebraucht habe. Ich dachte mir, ich könnte noch weitere 16 Jahre an diesem einen Buch arbeiten – oder ich beginne lieber kleinere, überschaubarere Projekte. An „Starfish Rules“ habe ich allerdings auch vier Jahre gearbeitet. Jedenfalls habe ich mir damals mit den 400 Fantasy-Seiten einen guten Teil des Handwerks des belletristischen Schreibens selbst beigebracht.

_AC:_
Woher kam dein Interesse am Fantasy-Genre?

_Meißner:_
Eigentlich bin ich kein Fantasy-Fan oder –Kenner. Ich war in meiner Jugend von diesem eigenartigen Zeichentrick-Herr-der-Ringe-Film mehr beeindruckt als von Tolkiens Roman. Beim Lesen von Fantasy-Literatur hatte ich immer das Gefühl, dass mir etwas fehlt, dass irgendetwas nicht stimmt. Vieles war sehr gestelzt, klischeebeladen oder zu weit weg. Mir fehlte immer irgendetwas, das ich bei anderen Literaturformen gefunden habe. Ich hatte eine eigene Vision davon, wie ich Fantasy anders darstellen würde: den reinen Eskapismus weglassen, die Geschichte grobkörniger gestalten. So ähnlich wie das Verhältnis zwischen einem klassischen amerikanischen Edelwestern zu einem dreckigen Italowestern.

_AC:_
Michael Swanwick hat in einem aktuellen Interview gesagt, dass sich die meisten Fantasy-Autoren damit begnügen, die Staffage zu lernen – also Drachen, Elfen, Zwerge und so weiter – und dabei die Verankerung in der Realität vernachlässigen. Science-Fiction, auch schlechte Science-Fiction, hat diese Verankerung, weil sie eine, wenn auch manchmal minimale, Extrapolation unserer Welt ist. Momentan gibt es aber einen Trend, dass Fantasy realistischer und schmutziger wird. Ein Beispiel dafür ist China Miéville.

_Meißner:_
Ich habe irgendwann aufgehört Fantasy zu lesen, nachdem ich als Jugendlicher von der Ideenvielfalt der Romanheftserie „Mythor“ recht beeindruckt war. Aber ich kam mit dem Schreibstil nicht klar. Das Problem habe ich auch mit anderen Romanheften. Ich finde es schön, wie viele Ideen darin stecken, aber es ist leider so schlecht geschrieben. Da ich nicht weitergelesen habe, ist mir vielleicht auch einiges entgangen. Ich habe noch nie einen Jack Vance oder Fritz Leiber gelesen, Moorcock habe ich mir erst letztes Jahr mal angeschaut. Ich hatte immer den Eindruck, dass alle Fantasy daraus besteht, dass ein böser, dunkler Fürst das Land bedroht und kleinwüchsige Wesen oder Elfen oder Drachenreiter sich verbünden müssen, um diesen bösen Fürsten zu bekämpfen. Ich sah nirgendwo ein Gegenbeispiel. Ich dachte mir immer, dass es so nicht sein dürfte, denn das wäre ja so, als würde jeder klassische Abenteuerroman nur von Musketieren handeln. Aber ich bin wirklich kein Experte für Fantasy. Ich bin sozusagen aus Enttäuschung keiner geworden.

_AC:_
Was war der Anstoß für „Das Paradies der Schwerter“?

_Meißner:_
Da gab es mindestens vier Anstöße. Die brauchte ich auch, sonst hätte ich mich nicht daran gesetzt. Ich wusste von Anfang an, dass es drei Jahre dauern würde, das Buch zu schreiben – 36 Kapitel zu je einem Monat ergibt drei Jahre. Eine der Grundideen für „Paradies der Schwerter“ war, die Allwissenheit und Allmacht des Autors aus der Hand zu geben und eine Handlung zu entwickeln, die vom Zufall bestimmt werden kann, ohne dass das Handlungsgerüst aus dem Ruder läuft. Ich brauchte ein mathematisches Grundsystem, und dafür bot sich ein Turnier an. Ich wurde zum Reporter eines Geschehens, das ich selber nur in Gang gebracht habe, das dann aber aus kinetischer Energie selbst anfing zu rollen und immer schneller wurde. Das erklärt aber nicht, warum es ein Fantasy-Roman geworden ist.

Da ich mit Fantasy angefangen hatte zu schreiben, wollte ich irgendwann zu diesem Format zurückkehren, wenn sich die Gelegenheit bot. Die dritte Idee war, dass ich ein Buch mit vielen Protagonisten schreiben wollte, von denen man nicht weiß, welcher der wichtigste ist. Es sollten mindestens zehn sein – im Buch waren es dann sogar sechzehn –, die die Postmoderne in sich tragen; die auch aus Kulturkreisen stammen, die man eindeutig unserer Welt zuordnen kann und die in eine mittelalterliche Fantasy-Welt vielleicht gar nicht reinpassen. Die aus einem Italowestern, einem Samuraifilm oder einem Blaxploitation-Movie stammen könnten und die ich in dieses Buch hineinwerfen konnte, damit es ein phantastischer Schmelztiegel aus unterschiedlichen Storys und Beweggründen wird. Der vierte Ansatz war, dass ich mit sechzehn Protagonisten unterschiedliche Stilistiken und Blickpunkte anwenden konnte. Ich wollte die Geschichte nicht »von oben« betrachten, sondern für jede Perspektive eine eigene Deutungsweise schaffen. Es sollten Figuren sein, an denen man sich reiben kann.

_AC:_
Du sagtest, dass das Buch auf dem Zufall basiert. Wie ist das gemeint?

_Meißner:_
Ich habe die sechzehn Protagonisten entworfen, habe ihnen nach Rollenspielregeln bestimmte Körperwerte zugeordnet – also Geschicklichkeit, Attacke- und Paradefähigkeiten, Rüstungen – und habe die Kampfbegegnungen ausgewürfelt. Es war also nicht vorher festgelegt, wer gewinnt. Ich habe auch die Paarungen der Kämpfe nicht festgelegt, das ist sehr wichtig für das Buch. Ich habe sie stattdessen ausgelost und live, während ich die Lose aus dem Holztopf gezogen habe, geschildert, wer gegen wen antritt. _[Achtung: In den nächsten Sätzen werden einige Handlungswendungen verraten! Bitte erst „Das Paradies der Schwerter“ lesen!]_ Das ist fast noch wichtiger als die Kampfwerte, weil es bestimmte Konstellationen gibt, in denen zum Beispiel einer, der mit die besten Werte hat, der Degenfechter Cyril Brécard DeVlame, schon sehr großes Pech haben musste, gegen einen der beiden Gegner gelost zu werden, die eine dermaßen starke Rüstung tragen, dass er sie mit seinem Degen kaum verwunden kann. Genau das hat aber das Los entschieden. Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit hätte DeVlame das ganze Turnier gewinnen können, das Los hat aber entschieden, dass er Pech hat und gleich in der ersten Runde ausscheidet. Ich war sehr begeistert darüber, wie die Lose mitgespielt haben, und dass sie mir auch einige zu klischeehafte Situationen erspart haben – zum Beispiel, dass die beiden Brüder gegeneinander antreten. _[Entwarnung!]_ Ich habe oft das Gefühl gehabt, dass der Zufall ein besserer Autor ist als ich. Es war spannend, damit umzugehen und den Zufall ins Schreiben einzubinden. Oder auch Situationen umzubiegen, die zunächst sinnlos erscheinen. Die Sinnlosigkeit hat auch viel mit dem wirklichen Leben zu tun. Es endet eine Spannungskurve, die man aufgebaut hat, plötzlich ganz abrupt, wie im wirklichen Leben.

_AC:_
Gab es eine Situation, in der du versucht warst zu mogeln?

_Meißner:_
Glücklicherweise überhaupt nicht. Ich hätte auch auf keinen Fall gemogelt. Ich hatte auch meine Freunde aus dem |Deadline Project| als Kontrollinstanz, die auch alle Rollenspieler sind. Der Produktionsprozess war ganz offen, ich habe ihnen meine Würfeltabellen mitgegeben. Es gab ein paar Situationen, von denen ich gehofft habe, dass sie nicht passieren, hätte sie aber als Herausforderung an den Autor begriffen.

_AC:_
Die Kapitel des Buches, insbesondere die Kämpfe, sind unterschiedlich lang. Liegt es daran, dass du an einigen besonderen Spaß hattest?

_Meißner:_
Es hängt direkt mit dem Würfeln zusammen, dass einige Kämpfe schon sehr schnell vorbei waren. Andere Kämpfe zogen sich über mehrere Seiten als Würfel-Zahlentabellen hin, weil beide Kontrahenten jede Attacke des Gegners parierten. Dadurch wird das Kapitel automatisch sehr viel länger. Aber ich habe mir auch die Freiheit genommen, mich vom ganz konkreten Kampfgeschehen zu lösen. Bei der Auslosung habe ich gleichzeitig geschrieben, bei den Kämpfen habe ich nicht während des Würfelns geschrieben. Ich habe also nicht jede einzelne Attacke, die ausgewürfelt war, genau eins zu eins wiedergegeben, sondern habe mir den Kampf erst einmal ganz angeschaut und habe mir dann überlegt, was die Essenz des Kampfes ist. Oftmals habe ich dann auch bereits im ersten Satz der Schilderung eines Kampfes auf die Essenz hingearbeitet. Wenn ich weiß, wer am Ende stirbt, dann habe ich den Kenntnisstand, dass ich diese Figur tatsächlich zum letzten Mal beschreibe und ich hinterher nichts bedauern muss.

_AC:_
Du hättest aber hinterher noch etwas ändern können.

_Meißner:_
Das mache ich nie. Das habe ich beim |Deadline Project| gelernt. Dadurch, dass man an jedem Monatsende die Geschichte sozusagen |in progress| publiziert, also an die Freunde schickt, kann man nichts mehr ändern. Ich habe meine Freunde als Kontrollleser und bete, dass sie keine Fehler finden.

_AC:_
Dadurch setzt du dich als Autor aber auch sehr unter Stress.

_Meißner:_
Ich weiß nicht, wo mehr Stress liegt. Einer der vier Autoren im |Deadline Project| hat nach einem halben Jahr aufgehört zu schreiben, weil er immer wieder am ersten Kapitel Änderungen vorgenommen hat und irgendwann gar nicht mehr dazu kam weiterzuschreiben. Leider ist er uns als Schriftsteller dadurch verloren gegangen, obwohl er tolle Ideen hatte. Diesen Stress der nachträglichen Änderung habe ich mir nie gemacht. Ich schreibe ein Kapitel, und in den letzten Tagen eines Monats überarbeite ich es noch einmal richtig, und dann ist es halt fertig. Ich muss dann nicht noch einmal rückwärts durch das ganze Buch gehen.

_AC:_
Aber du arbeitest sehr konzentriert und in sehr kleinen Einheiten.

_Meißner:_
Ja, ich arbeite konzentriert. Das hängt damit zusammen.

_AC:_
Woher weißt du so viel über Waffen und Kampftechniken?

_Meißner:_
Vieles davon habe ich mir durch unterschiedliche Regelwerke der Fantasyrollenspiele in der Theorie angeeignet. Rollenspiele haben den schönen Aspekt, dass dort versucht wird, Traditionen oder bestimmte Bereiche des Daseins zu simulieren. Es gibt Experten, die dicke Bücher verfassen, wie man bestimmte japanische Waffen oder bestimmte Kampftechniken in Würfelergebnisse übersetzen kann. Diese Arbeit kann ich mir ersparen.

_AC:_
Hast du für das Buch speziell recherchiert?

_Meißner:_
Ja natürlich, ich habe mir aus vielen verschiedenen Quellen Inspirationen für meine Figuren geholt, habe aber auch vieles selbst entwickelt. Ich habe ein inzwischen veraltetes Regelwerk von |Das Schwarze Auge| als Grundsystem benutzt, allerdings dann modifiziert. Ich habe da eine gewisse Erfahrung, mir Regeln auszudenken, weil ich seit meinem sechzehnten Lebensjahr Spielleiter von Rollenspielkampagnen bin.

_AC:_
Du sagtest, dass das Buch in einer Art Mittelalter spielt.

_Meißner:_
Eher auf einer mittelalterlichen Entwicklungsstufe. Das kann natürlich auch zu einer postapokalyptischen Zeit sein, das habe ich gar nicht festgelegt. Es gibt viele Endzeitgeschichten, die in eine Art Mittelalter zurückfallen. Ich wollte für den Roman nicht festlegen, ob er in der Vergangenheit oder in der Zukunft spielt.

_AC:_
In einigen Rezensionen zu „Das Paradies der Schwerter“ wurde bemängelt, dass der Roman Anachronismen enthält. Die waren dann also Absicht?

_Meißner:_
Das sind keine Fehler, die mir unterlaufen sind, sondern eher Andeutungen, dass das Ganze auch in der Zukunft spielen könnte. Es gibt zum Beispiel den Begriff »an der Nadel hängen«, den man aus dem Mittelalter nicht kennt. Auch Wörter wie »Logistik« kommen vor. Ein solches Mittelalter, wie im Buch beschrieben, hat es ohnehin definitiv nie gegeben.

_AC:_
Welcher der Kämpfer war dein Favorit?

_Meißner:_
Einen Favoriten durfte ich nicht haben. Es wäre fatal gewesen, wenn ich einen gehabt hätte. Der Sinn des Spieles war, genau das zu vermeiden. Normalerweise, in anderen Büchern, habe ich immer einen Protagonisten, aber selbst da sind sie nicht immer meine Favoriten, zum Beispiel in „Starfish Rules“. Anders bei „Hiobs Spiel“; darin ist es offensichtlich, dass ich an Hiob klebe und jede seiner Bewegungen mit einer großen Faszination, manchmal auch mit Abscheu – aber das ist ja etwas Ähnliches – verfolge. Bei „Paradies der Schwerter“ wollte ich genau das nicht.

_AC:_
Auf der Impressumseite steht die Vorbemerkung: »|Paradies der Schwerter| ist der Roman, der in Tobias O. Meißners Neverwake-Zukunft unter dem Titel |Rakuen| veröffentlicht und berühmt wird (siehe Tobias O. Meißner |Neverwake|, Eichborn Berlin, 2001).«

_Meißner:_
Ja. Innerhalb der Neverwake-Chronologie wurde das Buch von einem Autor verfasst, dessen Akronym »Ein Robot.Messias« lautet. Wenn man die Buchstaben von »Ein Robot.Messias« umstellt, kommt dabei Tobias O. Meissner raus. Das muss man dann aber wirklich in „Neverwake“ nachlesen. Es ist nämlich so: Wenn man das Gesamtwerk verstehen will, muss man alles gelesen haben. Auch das unveröffentlichte …

_AC:_
War die Vorbemerkung nur ein Spaß, oder spielt sie für dich eine wichtige Rolle?

_Meißner:_
Es ist insofern wichtig, dass ich zuerst „Rakuen“ geschrieben habe. „Das Paradies der Schwerter“ hieß nämlich ursprünglich „Rakuen“, wurde dann aber aus vertriebstechnischen Gründen umbenannt, weil schon die Teilnehmer der Vertreterkonferenz des Verlages das Wort „Rakuen“ auf die absurdeste Art und Weise verdreht haben, so dass schnell klar wurde, dass im Buchhandel irgendetwas ganz anderes ankommt und es nie gelingen wird, dieses Buch jemandem zu vermitteln. Deswegen habe ich selber als Alternativvorschlag den Titel „Das Paradies der Schwerter“ eingebracht. Also, ich habe zuerst „Rakuen“ geschrieben, und danach erst „Neverwake“, auch wenn die Romane in anderer Reihenfolge erschienen sind. Ich konnte in Neverwake nur deshalb behaupten, dass es dieses Buch gibt, weil ich es schon geschrieben hatte. Daher also die Vorbemerkung.

_AC:_
Du hast so etwas wie einen Schutzengel, und der heißt Wolfgang Ferchl. Als |Rotbuch| „Starfish Rules“ gekauft hat, war er dort als Lektor beschäftigt und hat dich dann zum |Eichborn|-Verlag mitgenommen, wo er Programmchef war. Inzwischen ist er Verlagsleiter bei |Piper|. Welche Bücher sind in diesen drei Verlagen denn noch erschienen?

_Meißner:_
Beim |Rotbuch|-Verlag gab es „Starfish Rules“ und danach „HalbEngel“, ein Roman über Populärkultur und Rockmusik. Bei |Eichborn| hatte ich einen Vertrag über drei Projekte, zuerst „Todestag“, das ich damals noch gar nicht geschrieben hatte. „Todestag“ wollte ich sehr schnell schreiben, es durfte nur drei Monate dauern und hat sich direkt auf die Gegenwartspolitik bezogen. Das zweite Projekt bei |Eichborn| war „Neverwake“. Es sollte eigentlich eine Trilogie werden, aber daraus wird wohl nichts, weil es leider das kommerziell unverkäuflichste meiner Bücher geworden ist. Und zu meiner großen Überraschung war das dritte „Hiobs Spiel“. Keiner hat das Buch jemals verstanden, keiner mochte das Buch, aber Wolfgang Ferchl, mein »Schutzengel«, sagte, es gibt Projekte, die muss man als Verleger einfach bringen. Leider verkauften sich die drei Bücher nicht gar so gut. Wolfgang Hörner, der mich bei |Eichborn.Berlin| von Ferchl übernommen hatte, hat „Das Paradies der Schwerter“ gesehen, als es noch „Rakuen“ hieß. Er war davon überzeugt, und tatsächlich läuft es jetzt besser als alle meine anderen Bücher. Jetzt habe ich ein Angebot von |Piper|, und ich habe das Konzept für einen Fantasy-Zyklus aus meiner Schublade geholt, der zwölf Bände umfassen soll. Ich kann nur hoffen, dass |Piper| wirklich alle Bände bringen wird. Das hängt natürlich vom Erfolg ab.

_AC:_
„Hiobs Spiel“ und auch „Starfish Rules“ haben eine sehr extravagante Typographie. War das deine Idee?

_Meißner:_
Das ist nicht so einfach zu beantworten. In meinem Originalmanuskript ist so etwas schon angedeutet, mit unterschiedlichen Schrifttypen. Dass aber für jedes Kapitel eine eigene Kapitelüberschrift und jeweils eine andere Textgestaltung designt wurde, das hatte ich gar nicht zu träumen gewagt. Ich fand es aber toll. Und sie haben meinen Hinweis befolgt, dass jeder Handlungsstrang in „Starfish Rules“ immer die gleiche Schrifttype hat, was Struktur in das Chaos des Buches bringt. Bei „Hiobs Spiel“ sieht mein Manuskript relativ einfach aus, und ich finde es großartig, was der Designer daraus gemacht hat.

_AC:_
Hattest du Einfluss auf die endgültige Gestaltung?

_Meißner:_
Überhaupt nicht, ich habe nur die fertigen Druckfahnen bekommen, um sie abzusegnen.

_AC:_
„Hiobs Spiel“ ist zum Teil unglaublich brutal. Hat der Verlag darauf reagiert oder etwas verändern wollen?

_Meißner:_
Die Brutalität war nicht das Problem, sondern vielmehr die stilistischen Experimente, die ich in dem Buch gemacht habe; Sätze, die aus ihrem grammatischen Zusammenhang geschleudert wurden und vieles andere, das zunächst für mich ohne Beispiel war. Ich habe versucht, neuschöpferisch mit Sprache umzugehen und einen gewissen schamanistischen Ansatz zu finden. Wenn man ein Buch über Magie schreibt, dann sollte man auch versuchen, wie ein Schamane etwas Magisches in das Buch hineinzustecken. Und das geht bei einem Buch nun mal nur mit Sprache. Ich hatte also irrwitzige Sätze gebaut, die vom Lektorat hinterher herausgenommen wurden, weil sie angeblich unverständlich gewesen wären. Ich finde, dass der schamanistische Charakter des Buches unter dem Lektorat sehr gelitten hat. Andererseits kann man aber auch nicht deutlich genug betonen, dass |Eichborn| den Mut hatte, ein solches Buch überhaupt zu bringen.

_AC:_
Du sagtest, dass das Buch niemand verstanden hat. Ist es dir egal, dass es keiner versteht?

_Meißner:_
Ich glaube, dass ich selber nicht weiß, wie man es richtig verstehen sollte. Es besteht aus sehr vielen Einzelteilen, die viele Bedeutungen haben – zum einen für mich, aber auch historisch bedingt, wofür ich intensiv recherchiert habe. Die meisten Rezensionen wurden dem aber nicht gerecht. In „Starfish Rules“ habe ich ungefähr das Achtfache an Zeit investiert, das ich für meine Magisterarbeit an der Universität benötigt habe. Insofern wäre „Starfish Rules“ rein rechnerisch ein Buch, mit dem man sich acht Universitätsgrade holen könnte. Es steckt nichts Zufälliges drin, auch wenn es auf den allerersten Blick so aussehen mag.

_AC:_
Was ist dein Antrieb, dich jeden Tag an den Schreibtisch zu setzen und weiterzuarbeiten? Ist es der Spaß am Schreiben, oder eher, dass du etwas loswerden musst, das in dir lauert?

_Meißner:_
Der Hauptantrieb ist der Spaß und die Möglichkeit, Kreativität zu verarbeiten, ohne dass einem jemand reinredet. Das ist ganz anders als zum Beispiel beim Filmemachen, wo man auf viel zu viele Leute Rücksicht nehmen muss.

_AC:_
Obwohl du eigentlich schon immer Genreliteratur geschrieben hast – Science-Fiction, Fantasy, Horror – wurdest du vom Fandom nie wahrgenommen. Das ging allerdings auch anderen Autoren so, wie zum Beispiel Dietmar Dath oder Kai Meyer. Liegt das an deinem Anspruch, weil du »literarische« Bücher schreibst?

_Meißner:_
Das mag sein. Das Spannende für mich an meinem neuen Projekt für |Piper| ist, dass ich meine Stilistik sehr weit runterschraube und keine Sprachexperimente mehr mache. Ich möchte, dass das Buch ganz leicht zu lesen ist. Aber gleichzeitig versuche ich, eine extrem komplexe Geschichte aufzubauen, deren Komplexität man im ersten Band noch gar nicht unbedingt bemerkt. Aber ich habe ja das Gesamtprojekt im Kopf, ich weiß, was ich in den zwölf Bänden alles machen werde. Ich kenne bisher nichts Vergleichbares, sonst würde ich es nicht umsetzen wollen. Wenn ein anderer Fantasy-Autor so etwas schon gemacht hätte, würde ich dafür nicht zwölf Jahre meines Lebens opfern. Ich bin ja kein Masochist.

_AC:_
Fürchtest du dich nicht vor dem Berg an Arbeit? Oder dass du zwischendurch das Interesse an der Geschichte verlieren könntest?

_Meißner:_
Gar nicht. Die Herausforderung spornt mich eher an. Der Gedanke, einen so umfangreichen Zyklus zu schreiben, ist etwas Neues, das ich noch nie versucht habe.

_AC:_
Wobei du das Glück hast, dass du den Zyklus in einem Genre schreibst, in dem das möglich ist. Obwohl ich bei den meisten Zyklen nach dem ersten Band keine Lust mehr habe weiterzulesen.

_Meißner:_
Das geht mir genauso, denn ich habe das Gefühl, dass die meisten Fantasyautoren kein Gesamtkonzept haben, sondern einfach nur immer weiter schreiben und sich zu viel wiederholt.

_AC:_
Themawechsel. Welche Rolle spielen Realität und Virtualität für dich?

_Meißner:_
Realität ist ja auch immer virtuell. Ich glaube nicht, dass es eine einzige Wahrheit gibt. Deshalb ist es schwer, Realität zu fassen. Ich bin ein Verfechter der multiplen Perspektiven, und das merkt man meinen Büchern auch an. Es gibt immer sehr viele Figuren, die eine völlig unterschiedliche Sichtweise auf ein und dasselbe Geschehen haben.

Virtualität finde ich leichter zu beschreiben als Realität. Realität ist ein so unüberschaubarer Raum, dass man ihn nicht fassen kann, während man in der Virtualität ein Kontinuum schaffen kann, das vollständig begreifbar ist, weil man es nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten entwickelt hat. Das fasziniert mich auch immer wieder an Computerspielen, denn man kann ein Spiel quasi zu hundert Prozent durchqueren und lösen, was in der wirklichen Welt niemals möglich ist. Die Virtualität hält für einen Geschichtenerzähler immer Möglichkeiten bereit, irgendwo im hintersten Winkel etwas zu verbergen, das vom Leser aber trotzdem gefunden wird.

Ich habe früher sehr viele Computerspiele gespielt, und dann eine Pause von fast zehn Jahren gemacht, um mehr Zeit zum Schreiben zu haben. Seit es die PlayStations gibt, spiele ich wieder mehr, zum einen zur Entspannung, aber auch zum kreativen Input. Es ist manchmal eine Art Meditation, durch diese virtuellen Räume zu gleiten oder zu laufen. Oder auch Rennspiele zu spielen, in denen man irgendwann eine Geschwindigkeit erreicht, bei der man nicht mehr nachdenken darf, sondern intuitiv reagiert. All das fasziniert mich sehr. Irgendwann will ich ein Buch schreiben, das man nur noch intuitiv erfassen kann und gar nicht mehr über den Intellekt, aber dafür bin ich wahrscheinlich noch nicht gut genug.

_AC:_
Wir sind sehr gespannt auf deine nächsten Bücher. Vielen Dank für das Gespräch!

|Das Gespräch führten _Hardy Kettlitz_ und _Hannes Riffel_ am 5. Juli 2004 für das Magazin [ALIEN CONTACT.]http://www.epilog.de/Magazin/ Die Veröffentlichung bei |Buchwurm.info| erfolgt mit freundlicher Genehmigung der AC-Redaktion.|

_[Das Paradies der Schwerter]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3821807237/powermetalde-21
von Tobias O. Meißner
|Eichborn.Berlin|
Februar 2004
gebundene Ausgabe
ISBN: 3821807237_

Interview mit Markolf Hoffmann

|Vor ein paar Monaten überraschte mich der Berliner Autor Markolf Hoffmann mit seinem Debüt-Roman [„Nebelriss“. 473 Anlässlich der Veröffentlichung seines zweiten Romans „Flammenbucht“ am 28.10.2004 habe ich mich letztes Wochenende nach Berlin aufgemacht, um den jungen Mann einmal persönlich kennen zu lernen.|

_Sven Ollermann:_
Moin Markolf, schön, dass du dir ein bisschen Zeit genommen hast. Stell dich unseren Lesern doch bitte einmal vor.

_Markolf Hoffmann:_
Ich bin der Autor von „Nebelriss“ und dem Nachfolger „Flammenbucht“. Ich studiere in Berlin Geschichte und Literaturwissenschaften und habe vor einigen Jahren damit begonnen, ernsthaft an meiner Schriftstellerkarriere zu arbeiten. Damals habe ich angefangen, „Nebelriss“ zu schreiben. Auch in Zukunft möchte ich weiter als Schriftsteller arbeiten.

_Sven Ollermann:_
Du hast ja schon in deiner Schulzeit geschrieben und auch Preise bei Literaturwettbewerben gewonnen, unter anderem den ersten Preis beim Literaturwettbewerb des FDA Baden-Württemberg mit der Geschichte „Haktars Schweigen“. Wie bist du damals zum Schreiben gekommen?

_Markolf Hoffmann:_
Ich habe schon als Kind angefangen zu schreiben und meiner Mutter, die mich sehr gefördert und mir die Literatur nahe gebracht hat, erste Bildergeschichten diktiert. Das hat sich dann immer weiter entwickelt. Am Anfang habe ich für mich geschrieben; Kurzgeschichten oder Gedichte, die ich zu Weihnachten an Verwandte geschickt habe. Mit 16 oder 17 habe ich dann ernsthaft darüber nachgedacht, Autor zu werden und das Schreiben professionell zu betreiben. Später habe an einigen Literaturwettbewerben teilgenommen, wo ich dann meine ersten Erfolge mit Kurzgeschichten hatte. Damit war klar, in welche Richtung mein Weg führt.

_Sven Ollermann:_
Wie stehst du zu der literarischen Bildung in der Schule; sollte der Schwerpunkt weiterhin bei den Klassikern liegen – Kafka, Goethe, etc. – oder sollten die Lehrer dazu übergehen, auch neuere Literatur in der Schule zu lesen? Zum Beispiel auch den „Nebelriss“?

_Markolf Hoffmann:_
Es wäre natürlich schön, wenn „Nebelriss“ in den nächsten Jahren in den Oberstufenseminaren gelesen würde. Ich glaube schon, dass Klassiker sehr wichtig sind und für die deutsche Sprache, die Literatur und Kultur einen wichtigen Beitrag leisten; die Frage ist nur, ob die Beschäftigung mit einigen Werken in der Schule nicht vielleicht zu früh erfolgt. Ich bin sehr dafür, auch zeitgenössische Literatur stärker ins Auge zu fassen, gerade um junge Leute an Literatur heranzuführen. Für einige Klassiker muss man als Leser vielleicht noch etwas reifen. Ich kann heute mit Goethe sehr viel mehr anfangen als zu Schulzeiten.

_Sven Ollermann:_
Wie war das bei euch, habt ihr auch zeitgenössische Literatur gelesen oder wie üblich nur die Klassiker?

_Markolf Hoffmann:_
Bei uns wurden eigentlich fast nur Klassiker gelesen. Die einzige Ausnahme, an die ich mich erinnere, war „Schlafes Bruder“, was in meinen Augen allerdings kein sonderlich interessantes Buch ist. Die Lehrer haben einfach zu wenig Ahnung von zeitgenössischer Literatur. Es gibt verschiedene Genres, die man beachten könnte, man sollte da in meinen Augen noch viel tun.

_Sven Ollermann:_
Stichwort Lehrerausbildung. Die Literaturwissenschaften gehören ja neben Germanistik auch zu den Studienfächern eines Deutschlehrers; wie sieht das an der Uni aus, geht es da überwiegend um die ältere Literatur oder werden auch Seminare zur neueren Literatur angeboten?

_Markolf Hoffmann:_
Es gibt Seminare zur neueren Literatur, die werden aber eher stiefmütterlich behandelt. Nur wenige Professoren setzen sich damit auseinander, auch von den Studenten kommt eindeutig zu wenig, obwohl Interesse durchaus vorhanden ist. Es setzt sich also fort: An der Universität wird zu wenig zeitgenössische Literatur behandelt, dementsprechend lernen die angehenden Lehrer zu wenig darüber, und das landet dann letztendlich bei den Schülern.

_Sven Ollermann:_
Du experimentierst sehr gerne mit der deutschen Sprache, das sieht man auch an deinem Roman „Nebelriss“, der literarisch durchaus anspruchsvoll ist. Gibt es irgendeinen Schriftsteller, der dich inspiriert hat, oder wie kommt es dazu, dass du die deutsche Sprache so wichtig nimmst?

_Markolf Hoffmann:_
Ich kann nicht sagen, dass mich ein einzelner Autor besonders beeinflusst hat. Ich selbst lege sehr viel Wert auf Sprache und Stil, wenn ich Literatur lese. Das versuche ich dann auch in meinen Romanen umzusetzen, wobei ich in Zukunft gerne noch mehr experimentieren würde. An sich bin ich ein großer Freund experimenteller Literatur – ob die Werke von Burroughs oder James Joyce oder die Romane des ostdeutschen Autors Reinhard Jirgl. Das sind alles Leute, die mir Mut geben, mich weiter an der Sprache zu versuchen und zu experimentieren. Ich denke, da bin ich auch erst am Anfang. Ich kann in dieser Hinsicht noch sehr viel lernen und an die Leser weitergeben.

_Sven Ollermann:_
Dann können wir ja auf deine nächsten Werke gespannt sein. Welches Buch liest du gerade?

_Markolf Hoffmann:_
Zur Zeit lese ich Umberto Ecos „Baudolino“. Ich habe noch nicht viel von Eco gelesen, aber dieser Roman beeindruckt mich sehr und ist wirklich spannend.

_Sven Ollermann:_
Du liest also durchaus auch historische Romane?

_Markolf Hoffmann:_
Ich muss sagen, ich lese bunt gemischt, nicht nur Fantasy, sondern vor allem zeitgenössische Bücher oder Klassiker. Neulich habe ich z. B. voller Begeisterung Flaubert verschlungen. Eigentlich gibt es immer irgendwas, das mich gerade packt, und dann lese ich ziemlich viel von dem betreffenden Autor. Jetzt habe ich sozusagen meine Eco-Phase.

_Sven Ollermann:_
Kommen wir zu deinem neuen Roman. Kannst du ein bisschen was über „Flammenbucht“ erzählen?

_Markolf Hoffmann:_
„Flammenbucht“ ist die Fortsetzung von „Nebelriss“, ich versuche die Geschichte weiterzuspinnen und ihr auch ganz neue Richtungen zu geben. Hm, lass mich mal kurz nachdenken; gar nicht so einfach, wie fasst man einen so komplexen Roman schnell zusammen?

_Sven Ollermann:_
Okay, Baniter wird ja Arphat wieder verlassen und zurück nach Sithar reisen; wie stehen die Chancen für das Bündnis? Seine Rückkehr wird das Gespann sicherlich überraschen, was hat er zu erwarten?

_Markolf Hoffmann:_
Die Ereignisse überschlagen sich. Als Baniter zurückkommt, erwartet ihn ein Haufen neuer Probleme. Er stellt zum Beispiel fest, dass der Kaiser verschwunden ist und sich die Situation im silbernen Kreis weiter zugespitzt hat. Mit Baniters Rückkehr wird in Thax nicht wirklich gerechnet. Gleichzeitig gerät die Lage im Kaiserreich Sithar außer Kontrolle. Der neue Hohepriester Nhordukael sorgt für Überraschungen, als er die Hauptstadt einnimmt und dem Erdboden gleichmacht. Letzten Endes muss sich Baniter zu einem Waffenstillstand mit seinen einstigen Konkurrenten durchringen, und dieses fragile Bündnis wird für einige Spannung sorgen.
Ein weiterer Handlungsstrang, der in eine ganz andere Richtung geht, behandelt die Reise des düsteren Zauberers Rumos in das Silbermeer. Hier werde ich zwei neue, etwas hellere Charaktere einführen, nämlich einen troublinischen Großmerkanten und seinen Leibdiener, die Rumos auf seinem Weg begleiten. Die Geschichte verlagert sich hierbei ins Silbermeer, und somit rücken ganz neue Gegenden des Welt Gharax in den Mittelpunkt.

_Sven Ollermann:_
Eine Sache interessiert mich brennend: Warum musste in deinem Roman ein Plätzchen für Magie eingeräumt werden? Fantasy und Magie sind zwei Elemente, die man gemeinhin gerne zusammenfasst. Schaut man sich aber zum Beispiel die „Gezeitenwelt“ an, so findet man diese fantastische Form von Magie einfach nicht. Hast du dich privat mal mit dem Thema beschäftigt oder ist die Magie eher ein Standard-Klischee?

_Markolf Hoffmann:_
Ich habe am Anfang lange darüber nachgedacht, welche Rolle Magie in dieser Trilogie spielen soll. Ich selbst habe mich während des Studiums aus Interesse mit antiker, vor allem spätantiker und ägyptischer Magie beschäftigt. Mich interessiert dabei vor allem die Schnittstelle zwischen Religion und Magie, dass z. B. die Auseinandersetzung mit Magie in der Antike letzten Endes ein Umgang mit den Göttern war und eine stärkere religiöse Konnotation hatte, als dies heute wahrgenommen wird. Mit diesem Thema wollte ich mich auseinandersetzen. Religion spielt deshalb eine große Rolle im „Nebelriss“ und zwar eine durchaus kritische. Mich interessierte die Frage: Wie erlangen Menschen mit Hilfe von Religion und Magie Macht über andere Menschen? Und wie gehen diese damit um?

_Sven Ollermann:_
Wo wir gerade ins Magische abdriften: Bist du mehr Träumer oder doch eher Realist?

_Markolf Hoffmann:_
Ich denke, ich bin vielleicht eher Realist, wobei ich sehr gerne träume. Um diesen Widerspruch ein wenig aufzuschlüsseln, kann man sagen, dass ich versuche, den Träumen auf den Grund zu gehen und mit ihnen zu arbeiten. Also bin ich vielleicht beides.

_Sven Ollermann:_
Die Welt Gharax mit ihrem durchaus komplexen politischen, religiösen und magischen Gefüge und mit der ‚parallelen Dimension‘ der Goldéi – wie bist du darauf gekommen? Haben dich da politische oder gesellschaftliche Zusammenhänge in unserer Welt inspiriert oder Bücher anderer Autoren?

_Markolf Hoffmann:_
Die politischen Auseinandersetzungen in der Welt Gharax haben mich sehr interessiert, und ich habe sie bewusst forciert, weshalb die Politik eine große Rolle spielt. ‚Das Zeitalter der Wandlung‘ beschäftigt sich ja mit dem Niedergang, dem Verfall einer Welt und ihrer Strukturen. Diese Umwälzung fordert die Menschen heraus. Wie gehen sie politisch damit um? Da gibt es Menschen, die diese Veränderungen bekämpfen, es gibt andere, die sie willenlos mitgehen und mitgestalten, und wieder andere versuchen sich ihnen anzupassen. Diese drei Wege zeige ich beispielhaft an den drei Hauptcharakteren Nhordukael, Laghanos und Baniter. Ein weiterer wichtiger Punkt ist: Wie beeinflusst Macht die Menschen, wie deformiert sie die Menschen oder stärkt sie? Und ich habe natürlich auch einige politische Anspielungen in „Nebelriss“ versteckt, zum Beispiel im Rochenland-Konflikt die Auseinandersetzung mit dem Separatismus, der ja ein gewaltiges Problem unserer Zeit ist. Ich finde es reizvoll, Entwicklungen unserer Zeit in der Phantastik zu spiegeln. Dieses Genre eignet sich perfekt dazu.

_Sven Ollermann:_
Die Welt ist vielschichtig und sehr bildhaft. Ich habe häufig das Gefühl gehabt, dass wirklich ein Film vor meinem inneren Auge abläuft. Meinst du, dass deine Arbeit als Regisseur und Drehbuchautor dir dabei geholfen hat, diese Verbildlichung der Welt zu Wege zu bringen?

_Markolf Hoffmann:_
Ja, definitiv, vor allem in sprachlicher Hinsicht. An vielen Stellen und vor allem bei Beschreibungen stelle ich mir die Szene als Bild oder als Filmszene vor und setze sie dann sprachlich um. Auch bei schnelleren Szenen, zum Beispiel Actionszenen, überlege ich mir die ‚Schnitte‘ schon vorher und fertige ein Mini-Drehbuch im Kopf an, nach dem ich schreibe. Es hilft sehr, die Ideen während des Schreibens zu verbildlichen. Meine Erfahrungen als Drehbuchautor und Regisseur von Kurzfilmen sind, denke ich, ein guter Schlüssel zur Literatur.

_Sven Ollermann:_
Die Charaktere haben durchaus phantastische Namen, Nhordukael, Laghanos, Baniter – wie hast du sie entwickelt? Hast du eine eigene Etymologie für die Welt Gharax entworfen, auf andere Sprachen zurückgegriffen oder sind sie einfach deiner Phantasie entsprungen?

_Markolf Hoffmann:_
Es sind Eigenkreationen. Etymologie wäre etwas zu hoch gegriffen. Ich habe allerdings versucht, die meisten Namen historisch einzubetten, damit sie sich aus der Geschichte des Landes herleiten lassen. Ich fand es jedoch nicht so wichtig, mir eine komplette Etymologie zu überlegen. Die Namen sollten vor allem phantastisch genug klingen, um sie von unserer Welt abzugrenzen.

_Sven Ollermann:_
Stichwort Geschichte der Welt Gharax. Deine Homepage bietet ja eine Menge an Hintergrundinformationen, worüber deine Leser, welche sich damit beschäftigen wollen, sicherlich sehr dankbar sind. Die Homepage bietet aber noch mehr: je eine mehrteilige Vorgeschichte zu deinen beiden Romanen „Nebelriss“ und „Flammenbucht“. Ist das jetzt eher eine Marketing-Strategie oder ein Geschenk an potenzielle Leser und Fans vom „Nebelriss“?

_Markolf Hoffmann:_
Es ist beides. Ich möchte natürlich Leser werben, möchte sie anlocken und ihnen die Chance geben, sich auf das Buch vorzubereiten. Auf der anderen Seite ist es auch ein Geschenk für interessierte Leser, damit sich diese mit der Geschichte von Gharax auseinandersetzen und in die Welt einarbeiten können. Und da ich selbst sehr viel Spaß daran habe, mich mit dieser Welt zu beschäftigen, habe ich auch zum zweiten Teil eine Vorgeschichte entworfen. Diese orientiert sich an Leserwünschen, denn viele Fans von „Nebelriss“ fanden vor allem die Episoden im Königreich Arphat sehr interessant. Deswegen habe ich bewusst die Vorgeschichte zu „Flammenbucht“ in Arphat angesiedelt, um die Hintergründe dieses Reiches näher zu beleuchten. Diese Hintergründe sind für den Roman „Flammenbucht“ nicht wirklich bedeutsam, sie sind vielmehr als Vertiefung gedacht. Es ist außerdem eine schöne Vorbereitung auf „Flammenbucht“. Der Prolog wird nämlich ebenfalls in Arphat spielen, weil dieses Land den Feldzug gegen die Goldéi beginnt.

_Sven Ollermann:_
Hast du die Geschichten parallel zu den Romanen geschrieben oder nachträglich?

_Markolf Hoffmann:_
Nachträglich. Ich habe sie zeitgleich zur Erstellung der Homepage geschrieben. Es ist ein sehr angenehme Abwechslung, weil ich eine solche Vorgeschichte natürlich anders schreibe als einen Roman. Ich arbeite nicht mit parallelen Strängen, und sie ist besteht aus kürzeren Abschnitten.

_Sven Ollermann:_
Dann sei noch erwähnt, dass zweimal pro Woche ein neuer Teil der Vorgeschichte auf der Homepage veröffentlicht wird. Sind es wieder zehn Kapitel?

_Markolf Hoffmann:_
Es werden sieben Kapitel sein.

_Sven Ollermann:_
Reden wir mal über das Cover, da hat sich ja jetzt einiges verändert, wegen des Verlagswechsels. Das alte Cover wirkte düster und bedrohlicher, ich fand, es passte sehr gut zum Roman. Das neue Cover von |Piper| wirkt friedlicher, fast ein wenig klischeehaft. Wie stehst du dazu?

_Markolf Hoffmann:_
Ich kann dazu nur sagen, dass man als Autor leider kein Mitspracherecht hat. Ich habe zwar Vorschläge gemacht, aber der Verlag hat sich für andere Cover entschieden. Ich persönlich hätte mir sowohl bei |Heyne| wie auch bei |Piper| etwas Abstrakteres gewünscht. Ich finde zwar, dass die neuen Cover sehr schön anzusehen sind, aber sie sind ein wenig bieder und spiegeln die Atmosphäre nicht unbedingt wieder. Auf der anderen Seite sind sie recht atmosphärisch, was mir ganz gut gefällt. Dennoch hat mir das Cover von |Heyne| besser gefallen. Ich würde mir wünschen, dass der Verlag noch mehr auf die Autoren hört, weil diese schließlich am besten wissen, welche Gestaltung die Atmosphäre eines Buches wiedergibt.

_Sven Ollermann:_
Eine Sache, die mir bei den Rezensionen auffiel und mir selber auch sehr schwer gefallen ist – die Festung, die auf den Büchern abgebildet ist, liegt die im Rochenland oder sind es die Augen von Talanur?

_Markolf Hoffmann:_
Ich bin genauso am Rätselraten wie du. Ich würde zu gerne wissen, welche Festung im Buch das Bild darstellen soll. Nun ja, ich denke, man muss ein solches Cover assoziativ verstehen.

_Sven Ollermann:_
Du warst mit „Nebelriss“ auf Lesereise. Ist das mit „Flammenbucht“ auch wieder geplant?

_Markolf Hoffmann:_
Ich werde Lesungen machen. Nicht mehr so stark wie bei „Nebelriss“, weil die Resonanz nicht so groß war, wie ich mir das gewünscht habe, aber es wird Lesungen in Berlin, München und Hamburg geben. Ich würde mich auch freuen, wenn sich noch weitere Termine ergeben. Ich bin einfach mal gespannt, ob Leute oder Institutionen an mich herantreten, damit ich meinen Roman vorstellen kann, weil ich mir auch bei der Ausarbeitung des Lesekonzepts sehr viel Mühe gegeben habe. Ich begleite meine Lesungen ja mit Musik. Ein Freund von mir, der Tonkünstler Michael Carmone, hat ein paar Tonspuren für die Lesungen geschrieben. Ich selbst gebe zudem einige atmosphärische Klavierkompositionen zum Besten. Dieses Konzept geht eigentlich über eine Lesung hinaus. Ich sehe es mehr als Konzert mit literarischen Elementen.

_Sven Ollermann:_
Ein Konzert mit literarischen Elementen – da fällt mir ein, dass heute ja Hörbücher groß im Kommen sind. Könntest du dir vorstellen, dass du „Das Zeitalter der Wandlung“ für eine Hörbuchserie freigibst?

_Markolf Hoffmann:_
Das könnte ich mir sogar sehr gut vorstellen. Falls ein Hörbuchverlag Interesse hätte, soll er sich ruhig bei mir melden. Ich hätte auch große Lust, daran mitzuarbeiten oder vielleicht Regie zu führen. Das ist auch der Grund, weswegen ich mir die Rechte zurückbehalten habe, und falls das Interesse der Leser an einem Hörbuch da ist, werde ich es umsetzen.

_Sven Ollermann:_
Du hast ja – oder besser, du wurdest von Heyne zu Piper gewechselt, weil Heyne die Fantasy-Reihe abtreten musste. Du hast mal in einem Interview gesagt, das Lektorat bei Heyne hätte dir sehr viele Freiheiten gelassen, auch im Bezug auf die sprachlichen Experimente. Wie lief das mit dem Lektorat bei Piper?

_Markolf Hoffmann:_
Ich habe das große Glück, dass die Lektorin, die mich bei Heyne betreut hat, freischaffend arbeitet und ich deswegen mit ihr weiterarbeiten konnte. Daher wird sich auch an den Sprachexperimenten nichts ändern. Es wird im selben Stil weitergehen.

_Sven Ollermann:_
Piper veröffentlicht nicht so viele Bücher wie Heyne – eben auch im Fantasy-Bereich, bislang zumindest. Wie sieht das mit der Vermarktung deines Buches aus? Bist du zufrieden damit? Weißt du überhaupt schon, wie die PR läuft?

_Markolf Hoffmann:_
Das ist natürlich alles erst in der Schwebe. Ich hoffe mal, dass sich Piper besser als Heyne darum kümmert. Ich werde natürlich auch mein Scherflein dazu beitragen, zum Beispiel die Internetwerbung mache ich komplett alleine. Die Homepage habe ich selbst entworfen. Ich würde mir wünschen, dass der Verlag noch etwas mehr tut, zum Beispiel Zeitungsartikel schaltet. Wir werden sehen. Ich hoffe einfach mal, dass sich auch das Erscheinen von „Flammenbucht“ herumspricht.

_Sven Ollermann:_
Wie läuft es mit dem Endspurt deines Studiums? Du hast mir erzählt, dass du scheinfrei bist. Gedenkst du deine Magisterarbeit noch in diesem Jahr fertigzustellen?

_Markolf Hoffmann:_
Ja, die hat sich jetzt natürlich durch die Abgabe des zweiten Buches verschoben. Das nächste Projekt wird für mich der Abschluss meines Studiums sein, also zunächst eine Magisterarbeit zu verfassen.

_Sven Ollermann:_
Haben deine Dozenten mitbekommen, dass du ein Buch veröffentlicht hast? Wenn ja, wie sind sie darauf eingegangen?

_Markolf Hoffmann:_
Ich hab das nicht herumposaunt. Eigentlich möchte ich Studium und Schriftstellerei bewusst voneinander trennen.

_Sven Ollermann:_
Studium, Kurzfilme, Autor zweier Bücher – wie hast du das bewältigt? Hast du einen straffen Tagesplan oder eher eine freie Zeiteinteilung?

_Markolf Hoffmann:_
Ich bin eher Etappenarbeiter. Vor einem Jahr habe ich mich etwa mit meinem letzten Filmprojekt beschäftigt, eine Horror-Groteske, die auch noch nicht ganz abgeschlossen ist (der Film muss noch geschnitten werden). Dann war natürlich der Roman dran, an dem ich sehr viel gearbeitet habe. Dann gab es wieder Monate, in denen ich mich ausschließlich in mein Studium vertieft habe. Ich versuche, alle Energie auf ein Projekt, das zur Zeit wichtig ist, zu bündeln. Ich liebe die Abwechslung. Ich beschäftige mich auch sehr gerne mit Geisteswissenschaften, also mit der Rezeption von Texten und Theorien. Dann ist natürlich Musik ein großes Interessengebiet von mir, sowohl als Konsument als auch als Komponist.

_Sven Ollermann:_
Wie sieht es mit anderen Hobbys aus, neben deinen kreativen Tätigkeiten? Computer zocken, Kino, Kultur – bleibt dir dafür Zeit?

_Markolf Hoffmann:_
Ich nehme mir einfach die Zeit. Ich habe einen großen Freundeskreis, mit dem ich gerne etwas unternehme. So gehe ich gerne ins Kino und ins Theater. Dass mich das Theater geprägt hat, kann man vielleicht auch an der Dialoglastigkeit meiner Romane erkennen. Computer spiele ich gelegentlich ganz gerne. Früher habe ich auch mal eine Rollenspielphase gehabt, die leider aus Zeitgründen abgeschlossen ist. Außerdem gehe ich gerne schwimmen, und das Nachtleben Berlins bietet ebenfalls diverse Möglichkeiten.

_Sven Ollermann:_
Du hast mal gesagt, dass du nicht so gerne Fantasy liest. Begründet hast du es mit den vielen Klischees und der flachen, oft geglätteten Sprache, sowohl bei Übersetzungen als auch bei deutschen Romanen. Wirst du weiterhin in der Phantastik bleiben oder wechselst du vielleicht das Genre?

_Markolf Hoffmann:_
Ich würde gerne auch in anderen Genres arbeiten, obwohl mich Fantasy sehr interessiert. Ich habe auch schon ein weiteres Manuskript, einen zeitgenössischen Roman, den ich gerade bei einem Verlag unterzubringen versuche. Doch auch im Bereich Fantasy möchte ich weiterarbeiten. In diesem Genre kann man noch sehr viel Neues ausprobieren. Interessanterweise hat die zeitgenössische Literatur sehr viele phantastische Elemente aufgenommen, es gibt sehr viele zeitgenössische Romane mit Horror-Elementen, mit Fantasy- oder Science-Fiction-Elementen, während die Fantasy sehr wenige zeitgenössische Themen aufnimmt. Es würde mich deshalb reizen, in die Fantasy einige Elemente der E-Literatur ‚hineinzuzerren‘ und somit die Mauer von der anderen Seite her aufzubrechen. Von Seiten der E-Literatur ist das schon geschehen, von Seiten der Fantasy eben noch nicht, und ich denke, da stehe ich noch ganz am Anfang. Ich kenne auch einige andere Autoren, die sich an dieser Grenze versuchen.

_Sven Ollermann:_
Könntest du dir vorstellen, „Das Zeitalter der Wandlung“ noch mal aufzugreifen, oder wird es mit der Trilogie abgeschlossen sein? Es geht ja um den Untergang und den Strukturwandel einer Welt, das könnte man natürlich weiterspinnen und später über den Aufbau einer neuen Welt schreiben. Bist du daran interessiert?

_Markolf Hoffmann:_
Eigentlich ist es mein festes Ziel, nach der Trilogie diese Welt beiseite zu legen. Es kann natürlich sein, dass mich in zehn Jahren Gharax noch einmal zu sich ruft, aber eigentlich denke ich, dass die Geschichte abgeschlossen ist – auch mit ihren offenen Enden. Ich erzähle ja nur einen Abschnitt dieser Welt; der Rest sollte besser unerzählt bleiben und offen sein für Interpretationen, für Träume und Visionen. Ich denke, es wäre schade, Gharax totzuschreiben. Auf mich warten andere Themen, andere Welten.

_Sven Ollermann:_
Beispiel Lovecraft. Er hat eine Welt erschaffen und schon zu Lebzeiten, aber überwiegend nach seinem Tod, haben sich viele Autoren darangesetzt und den Mythos weitergeschrieben. Wie stehst du dazu, wenn sich irgendwann ein junger aufstrebender Autor daransetzt und sagt: Ich habe da ein paar tolle Ideen; ich schreibe einen Roman, der in der Welt Gharax spielt. Wäre das okay für dich?

_Markolf Hoffmann:_
Es ist nicht uninteressant, wenn sich Autoren an vorhandenen Konzepten orientieren und etwas Neues aus ihnen herauszuholen … allerdings nur dann, wenn sie es schaffen, sich von ihrem Vorbild zu lösen. Wenn es reines Epigonentum ist, bin ich eher dagegen. Es würde auf das Konzept ankommen, aber wenn wirklich jemand daran Interesse hat und das Ganze von einem neuen Blickwinkel her angeht, könnte das durchaus reizvoll sein.

_Sven Ollermann:_
Berlin – du studierst hier, geboren bist du in Braunschweig, dann hast du einige Jahre im Süden Deutschlands gelebt. War das damals schon ein Traum, nach Berlin zu gehen, oder war es hier nur einfacher, einen Studienplatz zu bekommen? Und wie verhält es sich heute, würdest du wieder woanders hinwollen?

_Markolf Hoffmann:_
Für mich war das schon ein Traum. Alleine schon, weil ich vom Gefühl her ein Großstadtmensch bin. Ich habe mich im Alter von sechzehn in die Stadt London verliebt. Dann war der erste Schritt, nach Berlin zu ziehen, denn ich wollte in Deutschland studieren. Berlin ist sehr faszinierend, ich würde auch jederzeit wieder hierherziehen, wenn ich noch mal anfangen würde. Was kulturelle Möglichkeiten betrifft, ist Berlin schon die Stadt, die am meisten in Deutschland zu bieten hat.

_Sven Ollermann:_
Du warst auf der Frankfurter Buchmesse. Mit deinem neuen Werk?

_Markolf Hoffmann:_
Es hatte es leider noch nicht aus der Druckerei geschafft, deswegen hatte ich es noch nicht in den Händen.

_Sven Ollermann:_
Gab es die Möglichkeit, neue Kontakte zu knüpfen – zu anderen Autoren, anderen Verlagen?

_Markolf Hoffmann:_
Ich hab vor allem die Leute des neuen Verlags kennen gelernt, die Piper-Besatzung. Das war sehr interessant. Ich hatte auch Gespräche mit anderen Autoren, aber vor allem ging es darum, den Kontakt zum Verlag zu vertiefen.

_Sven Ollermann:_
Wie feierst du Halloween? Als Rollenspieler, als jemand, der sich mit Magie beschäftigt hat, als Fantasy-Autor – bist du ein Mensch, der auf die großen Partys geht oder eher privat feiert?

_Markolf Hoffmann:_
Ich muss gestehen, dass ich keinen persönlichen Bezug zu Halloween habe, aber wenn sich eine Party anbietet, werde ich die sicherlich mitnehmen, denke ich mal.

_Sven Ollermann:_
Möchtest du unseren Lesern noch etwas sagen?

_Markolf Hoffmann:_
Vielleicht, dass mich der Austausch mit den Lesern sehr interessiert – Meinungen, Kritik und Anregungen sind immer willkommen. Ich würde mich freuen, wenn sich der eine oder andere meine Homepage anschaut. Wer Fragen hat, kann mir auch gerne eine E-Mail schreiben. Ich finde, es macht ein Buch lebendiger, wenn man sich als Autor mit den Lesern austauschen kann. Und dies ist ja heute dank Internet sehr einfach geworden. Ich hoffe, dass sowohl die Leser als auch ich diese Chance nutzen.

_Sven Ollermann:_
Ich danke dir, Markolf, und freue mich riesig auf „Flammenbucht“ und den dritten Teil.

Also, liebe Leser, wer sich mit „Das Zeitalter der Wandlung“ näher beschäftigen oder sich mit dem Autor auseinandersetzen möchte: Auf http://www.nebelriss.de besteht die Möglichkeit dazu.

RatCon 2004

20 Jahre DSA – dieses Jubiläum schwebte nach den Veranstalteraussagen |FanPros| weit über der gesamten [RatCon]http://www.ratcon.de/ im September 2004, an altgewohntem Ort, dem Fritz-Henßler-Haus im Zentrum Dortmunds.
Viele altbewährte Veranstaltungspunkte der letzten Jahre wurden wiederholt, interessante Ergänzungen rundeten das Programm ab, sodass die RatCon dieses Jahr zu einer rundum gelungenen Veranstaltung wurde.

Neben fast allen Redaktionsmitgliedern des „Schwarzen Auges“ war auch erneut eine Illustratorenkolonne angerückt: Besonders Caryad und Sabine Weiß schufteten fast rund um die Uhr, um auch noch dem Letzten ein Bild seines persönlichen Helden aufs blütenweiße Zeichenpapier zu bannen.

Erneut dominierten (wie es bei FanPros „HausCon“ auch nur allzu verständlich ist) die Systeme |DSA|, |Shadowrun| und |Battletech| – zumindest Letzteres fand jedoch in Turnierform hinter verhängten Türen statt, sodass der normale Conbesucher kaum Einblicke erhielt. Alle Nicht-Tabletopper mischten sich jedoch fröhlich, und schon knapp zwei Stunden nach Eröffnung der „48 Stunden Spielspaß“ waren sämtliche Tische besetzt und der Marathon begann.

Highlights für viele Spieler waren sicherlich nicht die angebotenen Workshops, sondern die multiparallelen Abenteuer: Hier kamen die Alveraniare zum Einsatz, die von FanPro zum Zwanzigsten des bekanntesten deutschen Rollenspiels ernannten Sendboten der Götter. Doch auch Shadowrunner kamen mit den nach Spieleraussagen ebenfalls sehr professionell organisierten MPAs und 24-Stunden-Runs nicht zu kurz, und wer einen der begehrten Plätze erhalten hatte, durfte sich glücklich schätzen.

In die Vollen ging Florian Don-Schauen direkt um 20 Uhr: Die letzte der vier Vorrunden zum „Drachengedächtnis“-Quiz startete in der gut gefüllten Aula. Wie üblich stand am Anfang zunächst das gesamte Publikum, das an dem Quiz teilnahm, doch schnell lichteten sich die Reihen durch knallharte Fragetechnik („Wer ist älter – Thomas Römer oder Florian Don-Schauen?“) und die wahrhaft Würdigen sowie der Tagessieger, der am nächsten Abend gegen die ihm ebenbürtigen Drachen antreten sollte, kristallisierten sich im kurzweiligen Verlauf recht schnell heraus.

Neben dem Hauptact des Freitagabends liefen auch noch kleinere Veranstaltungen, eine rege Vorfreude jedoch baute sich merkbar zum traditionellen Hadmar-Vortrag am Samstagmorgen auf: Als Tempelwache verkleidet (obwohl das Kostüm ob seiner Knappheit am großen Hadmar irgendwie nicht zur Bewegung gemacht zu sein schien, die es regelmäßig aus seinen Fugen geraten ließ) unterhielt der Entertainer und DSA-Autor die Fangemeinde im rappelvollen Kinosaal mit Anekdötchen und Analysen, die jedoch gegenüber den letzten Jahren irgendwie an Konsistenz verloren: Viele Wiederholungen der letzten Jahre mit teilweise langatmigen Stellen blieben ohne rechte Aussage, die Witze leider eher Spontanlachern des Publikums als wirklichem, sprühendem und vor allem durchgängigem und die Veranstaltung tragendem Humor verpflichtet.
Da stimmt dann die Frage ans Publikum (nur eine unter vielen), ob man sich einen komödiantischen Hadmar auf CD wohl kaufen würde, eher seltsam – ein erwartungsgemäß divergentes Ergebnis rief sie hervor.

Interessant, wenn auch nicht komplett uneigennützig, war der Talentworkshop (die Atmosphäre hatte etwas von einem Casting ohne künstlich aufgebauten Druck), den FanPros Romanabteilung (früher Phoenix) ebenfalls am Samstag veranstaltete: Jungautoren konnten ihre Texte einer kritischen Jury vortragen, die entweder lobte oder konstruktive Verbesserungsvorschläge verteilte.
„Die Zukunft des Horasreiches“ wurde von Frank Batels und Thomas Römer en passant in Zusammenarbeit mit den Fans gestaltet, bis schließlich die |Gezeitenwelt|-Autoren die Aula erneut füllten: Eine Lesung aus dem zum Zeitpunkt der RatCon noch nicht erschienenen Roman „Das Traumbeben“ von Karl-Heinz Witzko sowie aus dem wohl ersten Buch, das gemeinsam von vier Autoren geschrieben wurde, stand an: Das „Geheimnis der Gezeitenwelt“ begeisterte die Anwesenden durch eine Handlung, die 500 Jahre vor dem eigentlichen Beginn der Zeit, in der die Romane der Hauptreihe liegen, spielt.

Der erfolgreiche (Shadowrun-)Autor Markus Heitz (unter anderem „Die Zwerge“ und „Der Krieg der Zwerge“) hielt am Nachmittag ebenfalls eine Fragestunde ab, die nach Fanaussagen durchaus erwartet gut besucht und ansprechend gestaltet war.

Auch der Workshop zur Zukunft des Güldenlandes / Myranors war mit den Autoren Olaf Michel, Thomas Römer, Stefan Küppers und Michael Wuttke durchaus prominent besetzt und zog entgegen der Workshops in den vergangenen Jahren auch gleich ein Zehnfaches an Fans an: Statt fünf saßen die verdutzten Autoren gleich 50 Fans gegenüber, die sich für die Zukunft der vernachlässigten Region Deres interessierten.

Neben einigen kleineren und parallel laufenden Workshops (unter anderem „DSA – Abenteuer gestern und heute“, Schreibworkshops, Improvisationsanleitungen für den Spielleiter und Spielertrainings) fand am Samstagabend die Endrunde des Drachengedächtnisquiz statt, der der Berichterstatter leider nicht beiwohnen konnte, da ein kulinarisch angehauchtes Treffen des harten Kerns der |Gezeitenwelt|-Fans mit den Autoren anstand.

Am Sonntag jedoch begeisterten die Fans vor allem die Verleihung des „Gänsekiel & Tastenschlag“-Abenteuerautorenwettbewerbes, ausgerichtet von mehreren großen Internetseiten rund um DSA, sowie die große Podiumsdiskussion: Doch auch hier waren schon einmal mehr Fans anwesend – angesichts der wenig spannenden News, die die Redaktion zu verkünden hatte und die sich hauptsächlich auf Stimmungsmache zum anstehenden „Jahr des Feuers“ sowie die Bekanntgabe der Produktreleases beschränkte, kein Wunder.

Durchgehend (und zum Ende hin mehr werdend) fand man todesähnlich aussehende Schlafleichen in den Fluren und Gängen des FHH, gespielt wurde von einigen Eiferern tatsächlich 48 Stunden nonstop und mit gehörigem Spaß. Doch auch das fast durchgängig geöffnete DSA-Museum (unter anderem mit der Supersonderdeluxespezialausgabe des |Liber Cantiones| und weiteren Spezereien) begeisterte die Fans erheblich – eine gehörige Portion Nostalgie immer im Gepäck.

Insgesamt bot die RatCon tatsächlich die angepriesenen „48 Stunden Spielspaß“ – allerdings nur für den, der imstande war, 48 Stunden Bierzeltgarnitur lebend zu überstehen. Die Atmosphäre war diesmal gut; keine Demo (mit folgender Gegendemo) wie im letzten Jahr störte die Parker und Conbesucher, die sich nichts ahnend in Richtung der „Fressmeile“, der Brückstraße, aufmachten – kurzum: Eine Großveranstaltung, die ohne merkbare Reibereien oder Probleme ablief und einige kleine Akzente in Richtung „20 Jahre DSA“ setzen konnte. Am nächsten Wochenende nach den Sommerferien NRWs steht sie wieder vor der Tür, die RatCon – wie eine verpflichtende, weil sehr angenehme Tradition.

_Alexander Noß / Firunew _
hausherr@firunews-villa.de

|Dieser Con-Bericht wurde mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de/ veröffentlicht.|

Interview mit Monika Felten

_X-Zine:_
Gratulation zur Fertigstellung deines neuen Romans „[Die Nebelsängerin. 635 Das Erbe der Runen“. Es ist wieder ein recht dickes Buch geworden. Wie lange hast du damit gerungen?

_Monika Felten:_
Gerungen eigentlich gar nicht. Die Geschichte schrieb sich sehr fließend.
Die ersten Ideen und ein Exposé dazu entstanden bereits im Juni 2003. Da schrieb ich noch an „Die Hüterin des Elfenfeuers“, was meine Begeisterung für den neuen Stoff allerdings nicht schmälerte. Wann immer ich Ideen hatte oder Anregungen aus dem DEDR-Team kamen, wurden diese notiert und gesammelt. So entstanden allmählich ein umfangreicher Plot für die Story und jede Menge Informationen über die Protagonisten, die Völker und das Land Nymath selbst, auf die ich später aufbauen konnte.
Ab September 2003 habe ich mich dann für sechs Monate ausschließlich der Nebelsängerin gewidmet.

_X-Zine:_
Mit dem klassischen Prinzip der Weltensprünge hast du dich auf gut befahrenes Terrain begeben. Welche Gründe waren für dich wichtig, dass deine Heldin Ajana einen Fuß in unserer Wirklichkeit hatte?

_Monika Felten:_
Ajana sollte unbedingt eine „Außenstehende“ sein, also jemand, der nicht durch seine Erziehung von den gängigen Wertvorstellungen, die in Nymath herrschen, beeinflusst ist. Nur so ist sie dazu in der Lage, die recht verfahrenen Situation, in die sie hineingerät, wirklich objektiv zu beurteilen und Verständnis für beide Seiten aufzubringen.
Das ist übrigens etwas, das ich auf dem „gut befahrenen Terrain“ der Weltensprüngen als Leser oft vermisst habe. Meist fügen sich die Protagonisten recht schnell und brav in ihr Schicksal und erfüllen ihre Aufgabe, ohne zu fragen oder gar an der Richtigkeit ihres Tuns zu zweifeln.
Ajana soll ihre Erziehung und Vorstellung von Gerechtigkeit mit in die neue Welt tragen und dort auch das Recht, ja sogar die Pflicht haben, den herrschenden Konflikt kritisch zu betrachten. Mit sechzehn ist sie alt genug, um Parallelen zu ähnlichen Situationen in unserer Welt zu schaffen (z. B. Indianer und Weiße, aber auch der Palästinenser-Konflikt in Israel). Das alles wäre kaum möglich, wenn sie in Nymath aufgewachsen wäre.

_X-Zine:_
Ist Fantasy eine Traumwelt, in der wir die Probleme unserer Welt durch Magie und Schwert lösen können?

_Monika Felten:_
Schwert und Magie sind gängige Mittel der Fantasy und für mich persönlich auch ein unverzichtbarer Bestandteil dieses Genres. Zur Problemlösung taugen sie jedoch ebenso wenig wie eine Protonenkanone in einer SF-Story. Allerdings muss man berücksichtigen, dass meine Bücher immer in einer mittelalterlich anmutenden Welt angesiedelt sind. Eine ausgeklügelte Diplomatie ist, mangels Bildung, dort nur begrenzt möglich und so eskalieren Konflikte doch recht schnell.
Nicht selten zeichnet gerade die Fantasy das Bild einer Albtraumwelt, in die sich der Leser gerade deshalb so gern begibt, weil er weiß, dass ihm die geschilderten Szenarien in der Realität kaum begegnen werden.
Wer allerdings glaubt, hieraus etwas für unsere Welt ableiten zu können, hat meiner Ansicht nach das falsche Genre gewählt.

_X-Zine:_
In Fantasy ist fast immer Gewalt enthalten. Auch in deinem Roman sterben etliche Menschen und andere Wesen auf recht brutale Weise. Ist das ein Spiegel unserer Welt?

_Monika Felten:_
In gewisser Weise schon. Ein Blick in die Geschichtsbücher genügt, um Szenarein zu finden, die kein Fantasyautor sich besser hätte ausdenken können. Barbarei und okkulte Grausamkeiten sind genauso vertreten wie Verrat und erotische Ausschweifungen. Aber man braucht gar nicht so tief zu graben. Auch heute werden wir durch die Medien ständig mit Dingen konfrontiert, die an Gewalt und Grausamkeit über unser Vorstellungsvermögen gehen.

_X-Zine:_
In einem früheren [Interview]http://www.x-zine.de/xzine__interviews.id__16.htm mit dem |X-Zine| fragten wir nach dem Konzept von Gut und Böse in der Fantasy. Welche Aussage würdest du nach der Arbeit an der „Nebelsängerin“ dazu treffen?

_Monika Felten:_
Ich halte das Konzept noch immer für ein klassisches Grundelement der Fantasy. Und immer noch erachte ich gerade die Wandlung eines vermeintlich Bösen zum Guten als eine große Herausforderung. Deshalb habe in „Die Nebelsängerin“ bewusst darauf geachtet, das „Böse“, also in diesem Fall die Uzoma, nur aus der Sicht der Vereinigten Stämme darzustellen. Es war mir wichtig, dass die Leser mit den bedrängten Menschen empfinden und deren Ansichten teilen.
Schon im zweiten Band wird sich allerdings herausstellen, dass die vermeintlich Bösen im Grunde auch nur Opfer sind und nicht wirklich Böse. „Gut“ und „Böse“ werden sich dann gegen den wahren Feind verbünden … Aber ich will da nicht zu viel verraten.

_X-Zine:_
Gibt es einen moralischen Anspruch, den Autoren an ihr Werk stellen sollten?

_Monika Felten:_
Ich denke, dass es auch in der Fantasy Tabus gibt, die nicht gebrochen werden dürfen, diese sind jedoch längst nicht so differenziert wie z. B. in den Jugendbüchern, die ich schreibe. Hier versuche ich, den jugendlichen Lesern mithilfe der Texte Werte zu vermitteln, wie z. B. Freundschaft, Hilfsbereitschaft und Mitgefühl, damit sie etwas von dem Text „mitnehmen“ können, wenn sie das Buch zuschlagen.
In den Fantasyromanen für Erwachsene liegen die Schwerpunkte allerdings anders und die Spielräume sind auch viel größer. Die Bücher sollen in erster Linie unterhalten und eine Flucht vom Alltag ermöglichen. Dass es dabei nicht unmoralisch zugeht, versteht sich von selbst, aber wenn man als Autor zu softig schreibt, handelt man sich schnell den Vorwurf „weichgespülter Fantasy“ ein.

_X-Zine:_
Was bedeutet Fantasy nach den unglaublichen Kinoerfolgen von „Harry Potter“ und „Herr der Ringe“?

_Monika Felten:_
Das ist schwer zu sagen. Ganz sicher sind mehr Leser auf das Genre aufmerksam geworden und viele neue Fans hinzugekommen. Mehr begeisterte Leser zu haben, bedeutet aber noch lange nicht, dass sich der Stellenwert innerhalb der Literaturszene geändert hat.
Trotz aller Erfolge hat Fantasy es hierzulande immer noch schwer. Das bekommt man sehr schnell zu spüren, wenn man PR-Arbeit macht. Die großen Kultur-Medien winken meistens ab. Auch Harry Potter und Tolkiens Erfolge konnten leider nicht dazu beitragen, der Fantasyliteratur den Status des „Kulturellen“ zu geben. Viele packen sie immer noch in die gleiche Schublade wie Arzt- oder Liebesromane, die ja auch Millionen Anhänger haben, aber dennoch nicht erwähnenswert sind.

_X-Zine:_
Werden die neu erschienenen Romane an diesen Werken gemessen?

_Monika Felten:_
Ich denke (und hoffe doch) nicht. Sowohl Tolkien als auch. J. K. Rowling haben in der Literatur einen Status erreicht, an den man kaum mehr herankommen kann. Andere Autoren daran zu messen wäre schlichtweg nicht fair. Es gibt viele gute Bücher, die an die Qualität der beiden heranreichen, aber zu so einem gigantischen Erfolg gehört leider noch weit mehr, als nur ein gutes Buch zu schreiben.

_X-Zine:_
Ruft nicht jeder „Plagiat“, wenn ein Autor den Begriff „Elfe“ in seinen Roman erwähnt?

_Monika Felten:_
Das fände ich doch reichlich übertrieben. Immerhin hat Tolkien die Elfen nicht erfunden, sondern sie auch nur aus der keltischen Mythologie entliehen. Elfen gehören ebenso zur Fantasy wie Zwerge, Druiden, Drachen etc. …
Welche Völker und Wesen ein Autor für seine Bücher wählt, bleibt allein ihm überlassen. Das Reich der Mythen und Sagen bietet hier einen unerschöpfliche Quelle.

_X-Zine:_
Die Uzoma sind die dunkelhäutigen Ureinwohner dieser Welt. Sie sind keine Menschen. Auch Tolkiens Werk wird anhand der Orks mit Vorwürfen des Rassismus konfrontiert. Rechnest du mit ähnlichen Vorwürfen?

_Monika Felten:_
Eigentlich nicht. Die Vertreibung eines Volkes durch ein stärkeres, nach Expansion strebendes Volk, findet sich in unserer Weltgeschichte hundertfach wieder. Es liegt scheinbar in der Natur des Menschen, seine Artgenossen beim Kampf um Wasser- und Nahrungsquellen rücksichtslos zu verdrängen.
Wie ich aber oben schon anmerkte, habe ich die Unterdrückung eines Ureinwohnerstammes ganz bewusst als Dreh- und Angelpunkt des ersten Romans gewählt. Und ich freue mich, wenn die Story dazu beiträgt, sich mit dem Schicksal unterdrückter und vertriebener Völker auseinanderzusetzen.

_X-Zine:_
Der Hintergrund, der Titel und der Roman selber versprechen trotz abgerundeter Handlung eine Fortsetzung. Gibt es dazu schon feste Pläne?

_Monika Felten:_
Oh, ja. Fürs Erste sind drei Bände geplant. Mit dem zweiten „Die Feuerpriesterin“ (VÖ Herbst 2005) habe ich gerade begonnnen. Er wird nahtlos an den ersten Teil anknüpfen und nicht nur alle offenen Fragen des ersten Bandes beantworten, sondern auch recht überraschende Wendungen bringen. So wird man z. B. den wahren Feind erkennen und den Kampf gegen ihn aufnehmen.
Der dritte Band schließlich wird den Leser bis nach Andaurien führen, das Land der Ajabani und Djakun. Ajana wird die ganze Zeit über in Nymath bleiben. (Es wird also keine weiteren Weltensprünge geben.) Sie wird, abweichend von dem gut befahrenen Terrain, auch altern und in unserer Welt als vermisst gelten.
Ganz konkret kenne ich schon den Schluss des dritten Bandes (VÖ Herbst 2006), aber bis dahin ist es ja noch eine Weile.

_X-Zine:_
Werden wir bekannten Figuren in einer Fortsetzung begegnen?

_Monika Felten:_
Ganz sicher. Diesmal läuft die Story (anders als bei der „Saga von Thale“) chronologisch weiter. Viele der Protagonisten werden also (soweit sie das Ende des Buches überlebt haben 😉 auch wieder mit dabei sein.

_X-Zine:_
Ajana beweist als junges Mädchen schon eine ziemliche Reife, wie wird sie sich weiterentwickeln?

_Monika Felten:_
Ajana wird ja älter und durch die Erlebnisse in Nymath auch reifer.
Ist sie im ersten Band noch unsicher und auf die Hilfe anderer angewiesen, wird sie die Rolle, die ihr das Schicksal zugedacht hat, in den Folgebänden nicht nur annehmen, sondern auch darüber hinauswachsen und dabei auch eine völlig andere Einstellung zu ihrem elbischen Blut entwickeln. Dadurch erlangt sie die Fähigkeit, mithilfe der Runen weit mehr zu leisten als ihre Vorgängerinnen und wird dies auch zum Wohle Nymaths einsetzen.

_X-Zine:_
Die CD zum Roman ist sehr gut gelungen. Wie kam die Zusammenarbeit mit der Sängerin Anna Kristina zustande?

_Monika Felten:_
Der erste Kontakt kam auf der |Nord Con| 2003 zustande. Eine Hamburger Agentur suchte nach einem Fantasy-Autor, der sich für das Konzept „lesen und hören“ begeistern konnte. Also für ein Buch mit Soundtrack. Da ich meine Lesungen auch schon früher mit Musik unterlegt habe und weiß, wie wunderbar dies die Stimmungen der einzelnen Passagen unterstreicht, war ich von der Idee sofort begeistert.
Ich habe ein Konzept für den möglichen Roman entworfen und ein langes Exposé geschrieben. Die Story kam gut an und nachdem sich auch Piper für das Thema „Soundtrack zum Buch“ begeistern ließ, stand der „Nebelsängerin“ nichts mehr im Wege.
Dass wir die junge und ambitionierte Sängerin Anna Kristina für die Songs gewinnen konnten, freut mich besonders. Ich hatte kurz vor der |Nord Con| einen TV-Beitrag über sie auf Pro 7 gesehen. Ihre Stimme und Persönlichkeit haben mir auf Anhieb gefallen. Allerdings hätte ich damals nicht im Traum daran gedacht, dass ich schon so bald mit ihr zusammenarbeiten werde.

_X-Zine:_
Sind noch weitere „Nebelsängerin“-Produkte in der Mache?

_Monika Felten:_
Angelehnt an die Atmosphäre und landschaftlichen Stimmungen in „Die Nebelsängerin“ hat der Graphik-Designer Torsten Reinecke einen Kalender mit 13 phantastischen Landschaftsmotiven auf der Basis stimmungsvoller Fotos entwickelt, der schon unter dem Titel [„Mystische Welten“]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3832709193/powermetalde-21 im Verlag |teNeues| erscheint. Er enthält zudem kurze Textauszüge aus dem Buch, eine kleine Runenkunde und zwölf gezeichnete Charakterstudien zu den Protagonisten und Figuren des Romans.
Ab Februar 2005 startet dann eine Puzzle-Reihe aus dem Hause |Ravensburger| mit drei Motiven zu meiner Roman-Trilogie, ebenfalls mit einer Soundtrack-CD zu jedem Puzzle. Die Motive »Falcon Wild« (500 Teile), »Magic Weaver« (1.000 Teile) und »Legend of Heroes« (1.000 Teile) werden von dem Illustrator und Charakter-Designer Alexander Jung in Abstimmung mit mir geschaffen.
Es gibt bereits auch schon Verhandlungen über ein Hörbuch, aber dazu kann ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts Konkretes sagen.
Der Roman ist zudem, wie der geneigte Leser sicher erkennen wird, in einer rollenspieltauglichen Welt angesiedelt. Hier gibt es schon erste Gedanken zu einem möglichen Rollenspiel, doch ob und wann dies Gestalt annimmt, wird nicht zuletzt der Leser entscheiden.

_X-Zine:_
Dann wünschen wir viel Erfolg und danken für das Interview.

|Dieses Interview wurde von unserem Partnermagazin [X-Zine]http://www.x-zine.de geführt und mit Zustimmung der Redaktion bei |Buchwurm.info| veröffentlicht.|

Das Janusgesicht der PDS

Die Autorin von „Das Janusgesicht der PDS“, Viola Neu, ist Koordinatorin für Wahl- und Parteienforschung bei der Konrad-Adenauer-Stiftung und legt eine sehr interessante Untersuchung über die PDS vor. Seit dem Zusammenbruch der DDR erlebt diese ein ständiges Auf und Ab in der Wählergunst. Von Anfang an sagte man der PDS keine Zukunft voraus, aber immer wieder hat sie es bislang geschafft sich im Gegensatz zu anderen linken Parteien bei den Wählern nicht unterzugehen. In ihrer Untersuchung kommt Viola Neu zum Ergebnis, dass die Positionen der PDS mehrheitlich außerhalb des Verfassungsbogens angesiedelt ist, wobei sie sich nicht wirklich dem Begriff des Extremismus bedienen möchte. Verdienstvoll an ihrer Untersuchung ist, dass sie die Extremismusforschung sowohl aus der rechten wie linken Position miteinander vergleicht.

Mit der PDS wurde zum ersten Mal seit der Weimarer Republik (abgesehen kurzzeitig von der KPD zu Beginn der 50er Jahre) eine sozialistische Partei links von der SPD in den Bundestag und die Landesparlamente gewählt. Zwar ging sie aus der SED hervor, aber sie ist nicht einfach deren Nachfolgepartei und beansprucht auch nicht mehr den Marxismus-Leninismus als einzig richtige Weltanschauung. Nicht einmal die „führende“ Partei der Arbeitsklasse will sie mehr sein, sondern nur noch ein Sammelbecken „der Linken“. Nach den Grünen ist die PDS die zweite alternative Partei im Parteienspektrum der Bundesrepublik, der es gelang, sich über längere Zeit hinweg zu etablieren. Im Westen anfangs völlig ignoriert, änderte sich das 1998, als es in Mecklenburg-Vorpommern zur Koalition SPD-PDS kam, später auch in Berlin. Damit war der Integrationsprozess in das Parteiensystem abgeschlossen.

Erfolg und Misserfolg liegen allerdings ständig beieinander. Die PDS hat sich als ostdeutsche Regional- und Regierungspartei definitiv etabliert. Diese Verankerung war aber zugleich die Voraussetzung für den Misserfolg im Westen. Den westdeutschen Wählern war die Notwendigkeit einer neomarxistischen Partei des „dritten Weges“ jenseits von Kapitalismus und Stalinismus und links von Grünen und SPD nicht plausibel zu machen. Das Selbstverständnis der PDS beruht auf dem Postulat, Sammelbecken der Linken zu sein. Dabei richtete sie im Westen ihre Hoffnungen auf einen Teil des linken sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Spektrums sowie auf das Feld, das in der kommunistischen Vergangenheit mit der Strategie der Bündnispolitik umworben wurde (z. B. links-alternatives Milieu, antifaschistische Bewegungen, Friedensbewegung). Bündnispolitik gehört seit Lenin und dauerhaft seit den 1930er Jahren zum strategischen Arsenal kommunistischer Parteien. Mit diesem Anspruch gelang es der PDS, die Basis für eine neue moderne linkssozialistische Partei gelegt zu haben, die sowohl im Osten als auch, seit Hartz IV, im Westen mehr und mehr breitere Akzeptanz in der Wählerschaft findet.

Trotz ihrer Regierungsbeteiligung wird die PDS nach wie vor vom Verfassungsschutz beobachtet und mit rechtsextremen Parteien auf eine Stufe gestellt. Die PDS widerspricht diesem Vorwurf des Linksextremismus. Nach ihrem Selbstverständnis ist sie eine antikapitalistische und antifaschistische Partei, die sich für einen demokratischen Sozialismus einsetzt. Neutrale politische Beobachter sind sich allerdings auch sehr unsicher, ob der Extremismus-Vorwurf anwendbar ist. Im Westen bildete sich die PDS anders als im Osten zu einem Gravitationsfeld für eine Vielzahl linker Gruppen und Zusammenschlüsse heraus, die bis heute das Erscheinungsbild der PDS im Westen prägen. Im Wesentlichen erhielt die PDS Zulauf vom „Reformer“-Flügel der DKP, dem KB, der VSP und dem BWK. Anfangs kandidierte sie im Westen deswegen als „Linke Liste/PDS“. Da aber ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes 1990 Listenverbindungen verbot, gründeten sich aus dieser Liste heraus die westdeutschen Landesverbände.

Die Hoffnung, größeren Teilen der Grünen oder der SPD eine neue Heimat zu bieten, hat sich nicht erfüllt. Die PDS hat das für sie mobilisierbare linke Potenzial weitgehend erschlossen. Aber noch immer bleibt ein offenes Feld, das von den Grünen, der SPD und aus dem Nichtwähler- und Protestwählerlager kommt, und kann für die PDS dadurch auch in Zukunft das Wählerpotenzial konstant ausweiten. Da die Grünen insbesondere in ihren ersten Jahren vom Milieu der „K-Gruppen“ mitgetragen wurden, ist ein Wechsel gerade dieser Klientel zur PDS nicht auszuschließen. Die programmatische Ausrichtung der Grünen hat sich seit den 90er Jahren deutlich gewandelt, wodurch für die PDS nun auch eine ideologische Nische im westdeutschen Parteiensystem existiert. Die Betonung des außerparlamentarischen Widerstands, die Aktivitäten im Rahmen der „Anti-AKW-Bewegung“ (u. a. bei den Castor-Transporten) oder auch der Antifaschismus sowie das Themenfeld Frieden (hier das Nein der PDS zu den SFOR-Einsätzen) spielen für die Mobilisierungsmöglichkeiten eine große Rolle. Die PDS hat viele Themenfelder besetzt, die in der westdeutschen Linken bedeutsam sind und von den Grünen nicht mehr vertreten werden.

Im Osten ist sie klar zu den Volksparteien zu zählen, was dort aber auch an der noch starken Anbindung der Bevölkerung zur ehemaligen SED liegt. Interessanterweise gibt es deswegen eine große Kluft zwischen der Ost- und der West-PDS. Als extremistisch wird allerdings hierbei eher die West-PDS eingestuft. Wobei selbst die Autorin hier darauf hinweist, dass der Extremismus-Begriff (genauso wie der „Totalitarismus“) in der wissenschaftlichen wie in der politischen Welt sehr umstritten ist. Mit dem Extremismusbegriff sollen alle politischen Erscheinungsformen mit antidemokratischem Charakter erfasst werden, unabhängig von ihrer politischen Verortung und Begründung. Unabhängig von völlig unterschiedlichen Phänomenen wird Extremismus auf diese allesamt angewandt. Deswegen ist es schlicht ein unlauterer „Kampf-Begriff“. Es besteht in der politischen Auseinandersetzung die Tendenz, die jeweilig entgegengesetzte Richtung mit dem Extremismusbegriff zu belegen und er dient im Grunde nur der Ausgrenzung unbequemer Kräfte. Einige Wissenschaftler fordern aufgrund seiner Instrumentalisierung als Kampfbegriff, diesen Ausdruck zu vermeiden.

Die PDS auf eine Stufe mit den rechten Parteien zu stellen wie der NPD – wie jüngst bei den Montagsdemonstrationen wieder oft geschehen – ist grober Unfug. Die verfassungsfeindlichen Ziele einer NPD sind bei der PDS nicht gegeben. Die NPD dagegen unterscheidet wenig von den Zielen der NSDAP und argumentiert genau wie Goebbels 1928: „Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahm zu legen. Wenn die Demokraten so dumm sind, uns für diesen Bärendienst Freikarten zu geben, ist das ihre eigene Sache. Uns ist jedes gesetzliche Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir“. Diese Vergleiche, die die Autorin zieht, sind recht interessant, denn es gibt zu wenige empirische Studien, die nach strukturellen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten in den Einstellungsmustern des rechten und linken Extremismus suchen. Linksextremistisch inspirierte Ideologien verheißen das utopische Ideal einer herrschaftsfreien Gesellschaft, in der das Individuum von all seinen (ökonomischen und sozialen) Zwängen befreit sein wird. In kommunistisch/sozialistischen Ideologien spielt die radikale Veränderung der Eigentumsverhältnisse als eines der Hauptinstrumente der sozialen Nivellierung und der Umgestaltung der Machtverhältnisse eine zentrale Rolle. Linksextremistische Ideologien haben utopische Züge. Als säkularisierte Heilslehren verheißen sie die Schaffung einer idealen Welt, in der Frieden und Gerechtigkeit herrschen und alle antagonistischen Widersprüche beseitigt sind. Deswegen versteht die Autorin diese auch eher als „politische Religion“. Totalitarismus bezieht sich auf Herrschaftsstrukturen, politische Religion auf Denkweisen und politische Ziele.

Wer sich mit Wahlanalysen beschäftigt, findet sehr viele Statistiken zu allen Aspekten diesbezüglicher Forschung in diesem Buch. Interessant ist, dass obwohl im Osten die Partei über viele Wähler verfügt und im Westen über weniger, dass die Perspektive dennoch auch eine andere sein kann. Denn im Osten besteht die Partei hauptsächlich aus sehr alten Menschen. Austritte sind fast keine zu verzeichnen, wenn dann nur durch Todesfall. Im Westen sind sehr wenige ältere Menschen in der Partei und ihr „Aussterben“ ist deswegen nicht zu befürchten. Die PDS ist eine sehr interessante Partei, die sich bisher immer wieder von dem ständig prophezeiten Verschwinden aus der politischen Landschaft auf überraschende Weise erholen konnte.

Siehe auch: http://de.wikipedia.org/wiki/PDS.

Aus dem Inhalt:

1. Einleitung
1.1 Von der SED zur PDS
1.2 Problemstellung
1.3 Aufbau
1.4 Forschungsstand

2. Facetten einer Partei
2.1 Mitgliederentwicklung
2.2 Sozialstruktur der Mitglieder
2.3 West-Partei
2.4 Wahlergebnisse in den alten Bundesländern
2.5 Wahl-Partei
2.5.1 Wählerwanderungen
2.5.2 Wählerpotenziale

3. Theorien des Wahlverhaltens
3.1 Wahlforschung im Verfassungsstaat
3.2 Soziologische Ansätze
3.3 Übertragung der soziologischen Ansätze auf die neuen Bundesländer
3.4 Sozialpsychologischer Ansatz
3.5 Übertragung des sozialpsychologischen Ansatzes auf die neuen Bundesländer
3.6 Rational-choice-Theorie
3.7 Übertragung der rational-choice-Theorie auf die neuen Bundesländer

4. Politisches Verhalten der PDS-Wähler
4.1 Vereinigungsverlierer- und cleavage-Hypothese
4.2 Sozialstruktur der PDS-Wähler
4.3 Parteiidentifikation der PDS-Wähler
4.4 Imagekomponenten der PDS
4.5 Vereinigungsverlierer
4.6 Ost-West-cleavage
4.6.1 Einstellungen der PDS-Wähler zur wirtschaftlichen Lage
4.6.2 Einstellungen der PDS-Wähler zu Staat und Gesellschaft
4.6.3 Einstellungen der PDS-Wähler zu Demokratie und Institutionen
4.7 Politische Partizipation
4.8 1993 – Geburtsjahr der DDR-Nostalgie

_Viola Neu
[Das Janusgesicht der PDS]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3832904875/powermetalde-21
Wähler und Partei zwischen Demokratie und Extremismus
289 Seiten, Paperback
|Nomos| Verlagsgesellschaft
Juli 2004
ISBN 3-8329-0487-5_

Frankfurter Buchmesse 2004

Angesichts der Größe und des gigantischen Event-Charakters, welche die jährliche Buchmesse als kulturelles Ereignis einnehmen, ist es natürlich nicht möglich, im Nachhinein objektiv und insgesamt unberührt darüber zu berichten. Möglich ist nur ein subjektives Kaleidoskop von Eindrücken.

Gastland war dieses Jahr die Arabische Liga, was in der Öffentlichkeit und auch von den Sicherheitsvorkehrungen her mehr wahrgenommen wurde, als es normalerweise bei Gastländern der Fall ist. Den Organisatoren ging es um den Dialog zwischen der westlichen und islamischen Kultur, der auch stattfand. Zwar brachte die Auswahl der arabischen Autoren von Seiten der Gastländer wenig Oppositionelles, dafür kamen aber auf Einladung der Messeleitung auch genügend der im Exil lebenden nicht-angepassten islamischen Literaten. Für den interkulturellen Dialog standen dann am Ende tatsächlich mehr als 200 Intellektuelle, Schriftsteller und Übersetzer zur Verfügung. Arabische Literatur selbst macht in Deutschland nur etwa drei Prozent aus, und daran dürfte sich auch nach dieser Messe nicht viel ändern. Diese hat allerdings auch im arabischen Raum selbst keine große Bedeutung. Dort sind die Auflagen ebenfalls gering, es gibt keinen funktionierenden arabischen Buchhandel und zu strenge Zensur. Großes Interesse dagegen nehmen bei uns seit dem 11. September 2001 die Sachbücher über Islam und Politik ein, ein Trend, dessen Ende noch nicht abzusehen ist.

Neues an Ausstellern gab es in diesem Jahr erstmals nicht wirklich zu entdecken. Im Grunde das Gleiche wie im letzten Jahr. Interessant waren dabei vielleicht die „linken“ Verlage, die im letzten Jahrzehnt in der Öffentlichkeit endgültig in der Bedeutungslosigkeit verschwunden waren, aber durch Hartz IV ihr großes Comeback erleben dürfen. Die vertretenen linken Verlage und Kleinparteien genossen große Aufmerksamkeit. Denn was den Sozialabbau angeht, sind eigentlich alle Verlage und Intellektuellen, die ich ansprach, einer Meinung. Die Zeiten werden schlechter für alle. Schon immer auf der Messe vertreten, kam durch die Besorgnis der Bürger diese Verlagsszene endlich wieder aus ihrem Schattendasein heraus und die Messe machte den Eindruck, als stände ein kulturelles Revival der 68er-Bewegung unmittelbar bevor.
Natürlich gibt es – wie nicht anders gewohnt – keine einheitliche linke Politik. Ironischerweise wirft jede Gruppierung den anderen vor, die Bewegung zu spalten und keine Bündnispolitik zu betreiben. Wahrscheinlich haben damit alle auch Recht, denn lokal dürfte die jeweilige Politik einer Gruppierung ganz anders sein als an einem anderen Ort. Die „Assoziation linker Verlage“ – vornehmlich Autonome – sind die einzigen, die seit Jahren über ein gut strukturiertes Netzwerk verfügen. Erstaunlicherweise ist Hartz IV bei diesen aber weniger ein Thema. Andere traditionelle Verlage der „alten Schule“ wie die MLPD oder der „Bund gegen Anpassung“ (Ahriman-Verlag) dagegen treten sehr selbstbewusst mit einer klaren Positionierung ihrer eigenen Linie und Ansicht auf.

Die esoterische Verlagsszene dagegen tritt von Jahr zu Jahr weniger als gemeinsames Netz in Erscheinung. Auch ist sie in diesem Jahr etwas zusammengeschrumpft. Eine ganze Reihe der gewohnten Verlage fehlte, vielleicht haben der Ausblick auf Hartz IV und wirtschaftliche Rezession diese schon jetzt erreicht, denn die Standpreise sind sehr teuer. Die finanziellen Möglichkeiten, sich auf der Messe präsentieren zu können, sind sicherlich knapper geworden. Interessant ist sowieso die gesamte Zusammensetzung in dieser speziellen Halle. Esoterik teilt sich den Raum mit den Verlagen der Linken und des psychologisch-therapeutischen Spektrums. Mir erscheint aber dieses „neue“ Bild – linke Politik, Therapie und Esoterik – durchaus auch sinnvoll. Trotz seiner Widersprüche passt das sehr gut zusammen und schürt Hoffnungen auf gesellschaftliche Veränderungen. Völlig selbstbewusst steht in diesen Reihen seit Jahren auch der Stand der „Jungen Freiheit“. Wurden diese vor Jahren noch als Provokation empfunden, konnten sich diese liberalen Rechtskonservativen allein durch ihre konsequente Präsenz mittlerweile integrieren und stoßen auf Akzeptanz.
Unter den Esoterik-Ständen befanden sich neben der eigentlichen Gastland-Halle auch eine Anzahl islamischer Verlage. Interessanterweise erweckten diese bei mir durchaus auch Unsicherheit und Misstrauen. Denn es handelte sich um eine breite Palette von schwer einzuordnenden Glaubenspositionen vom Fundamentalismus bis hin zu den Marokkanern, die sehr offensiv für Haschisch warben anstatt des zu erwartenden Islam. Und der Emir der arabischen Emirate, Sheikh Dr. Sultan Bin Mohammed Al Quassimi, hat offensichtlich viel Geld investiert, um jedem Messebesucher ein fast 500-seitiges großformatiges Werk zur Geschichte und Kultur der Araber kostenlos aushändigen zu lassen.

Seit 2003 wurde die Buchmesse zu einer Event- und Arbeitsmesse mit vielen Foren und Bühnen in jeder Halle. Dadurch sollte die Messe eigentlich auch länger dauern können als nur von Mittwochs bis Sonntags. Denn was dort geschieht, ist so interessant, dass ich – obwohl ich zum ersten Mal verlängerte und sogar an den überfüllten Publikumstagen zum Wochenende blieb – nicht mehr die Zeit fand, alle Ausstellerhallen zu besuchen. Die spannenden ausländischen Aussteller – besonders den USA gilt normalerweise mein besonderes Augenmerk – blieben von mir in diesem Jahr ungesehen. Nur für einen kurzen Pflichtbesuch des arabischen Gastlandes hatte es gereicht. Skandalträchtig war dabei ein amerikanischer Stand mitten unter den ganzen Arabern, der die Werke des libanesischen Häretikers Doktor Dahesh präsentierte. Allesamt illustriert und auffallend gänzlich mit Darstellungen Nackter und von Teufeln bestückt. Der Stil ist eine Mischung aus Jugendstil und Kasperl-Theater (Teufelchen mit Hörnern und Flügeln). Für die übrige arabische Welt auf jeden Fall eine Provokation.

Die Foren sind für mich tatsächlich eine große Bereicherung. Wie im letzten Jahr hatte dabei das Hörbuch-Forum – obwohl es nur maximal drei Prozent des Umsatzes in den Buchhandlungen ausmacht – auf mich wieder die größte Attraktivität. In diesem Jahr stand es komplett in Zusammenarbeit mit dem Magazin „Focus“. Über die ganze Messe verteilt gab es auch Hörbuchtürme mit Kopfhörern, um als Chillout auch mal zu hören anstatt immer nur zu lesen. Wie weit das wirklich genutzt wurde, wäre eine interessante Frage. Eröffnet wurde das Hörbuch-Forum mit einer Pressekonferenz zur aktuellen Entwicklung im Hörbuchbereich. Die Anzahl der lieferbaren Titel wird immer größer. Das Hörbuch etabliert sich zunehmend am Markt. Viele Diskussionsveranstaltungen gab es zum neuen Medium des Downloads, dem die Branche nicht abgeneigt ist und das nicht als Ersatz, sondern Ergänzung zum traditionellen Verkaufsweg gesehen wird. Nachdem die Startauflage für Hörbücher – von Rennern wie John Sinclair abgesehen – bislang unter tausend lag, bewegt sie sich mittlerweile im Schnitt bei fünftausend.
Selbstverständlich hat auch das Hörbuch bereits seine Auszeichnungen, die wichtigste dabei ist seit 2002 der Deutsche Hörbuchpreis des WDR, der im nächsten Jahr im März erstmals auf der LitCologne verliehen wird. Ursprünglich war die Buchmesse Leipzig das Forum für Hörbücher, seit letztem Jahr ist dies zur Frankfurter Messe gewechselt und angesichts der immensen Werbung für die AudioBooksCologne auf dem Literaturfestival LitCologne 2005 scheint es offensichtlich, dass die Hörbuch-Macher ihren Schwerpunkt schon wieder verlegen werden.
Eine wichtige Diskussion betraf angesichts der schon jetzt vielfältigen Hörbuch-Preise die Frage, ob es nicht Zeit für einen übergreifenden Hörbuch-Award, sozusagen den „Oscar“, wäre. Dies wurde sehr kontrovers betrachtet.
Jedenfalls bleiben die Hörbuch-Forum-Events der Geheimtipp der Messe, mit ihrem vielfältigen Programm zu Inszenierungen, ungewöhnlichen Präsentationen, Darstellungen zur Produktion etc., und haben dem in den letzten Jahren noch innovativen Comic-Forum, mittlerweile aber schon wieder zu etabliert, den Rang abgelaufen.
Selbstverständlich wird nicht nur „gehört“, sondern auch „gelesen“. Hervorzuheben sind in diesem Jahr Serdar Somuncu – der Türke, der „Hitler“ und „Goebbels“ las und auch auf der Messe überaus unterhaltsam bissig und provokativ auftrat – und auch Helmut Krauss, die deutschen Stimme von Marlon Brando, der aus „Necroscope“ und [„HR Giger`s Vampirric“ 581 las. Gänsehaut für die Ohren, Horror ist sowieso einer der Renner der Hörbuch-Branche. Eigentlich macht das Lanze auch Lust, Hörbuch-Veranstaltungen zu organisieren, deren Präsentationsmöglichkeiten grenzenlos sind. Natürlich sind die rechtlichen Bedingungen dafür sehr kompliziert, den Leistungsschutz geben Verlage, das Urheberrecht liegt ebenso bei Verlagen wie den Autoren. Aber bislang sind die Verlage gegenüber Veranstaltern sehr kulant und machen das kostenfrei, da ihnen die PR fürs Hörbuch generell noch wichtiger ist als daran zu verdienen.

Angenehm war die Präsenz der Dienstleister der Branche – das Forum Management – im Herzen der Messe, die früher immer abseits angesiedelt waren. Nicht nur, weil das Sortimenterzentrum preiswerteres Essen und Trinken anbietet, für Azubis mit dem Azubi-Café fast für Unkosten (ein Platz, wo auch schon immer ständig im Wechsel bekannte und unbekanntere Autoren live lesen), sondern weil für die Buchhändler und Verleger auch die obligatorischen Wege zu den Vertriebsnetzen, Barsortimenten, Buchhandelsschulen, Beratungs- und Dienstleistungsangeboten kürzer und zeitsparender waren. Auch kann man sich an diesem Platz immer ein wenig vom sonstigen Messetrubel erholen. Als Überraschung dabei war festzustellen, dass die vor einigen Jahren neu eingeführte Fachschule des deutschen Buchhandels, die noch in diesem Sommer angesichts ihres universitären Charakters den hochprotegierten Stolz der Branche ausmachte und als neue Elite galt, sang- und klanglos im Nichts verschwunden ist. Ursache dafür sind zu wenige Teilnehmer an dem Studiengang. Wer sich für aktuell Interneres aus der Branche interessiert, kann immer die in dieser Halle anwesenden Buchschulen-Lehrer befragen. Verständlicherweise sind diese am besten und umfassendsten über alles informiert.

Im Lesezelt musste man sich dieses Jahr in langen Schlangen anstellen, um überhaupt Einlass zu bekommen. Ein Highlight dabei war die zweistündige Lesung von Dirk Bach aus dem neuen Walter Moers, „Die Stadt der träumenden Bücher“, einer spannenden Geschichte, die auf hohem Niveau eine Hommage an die Geschichte der Literatur darstellt. Vor allem das Fantasy-Event, welches auf dem Podium das „Königspaar der deutschen Fantasy“ Heike und Wolfgang Hohlbein, die neue „deutsche Queen der Fantasy“ Monika Felten und den amerikanischen Autor Tad Williams zusammen präsentierte, konnte wegen Überfüllung von vielen nicht gesehen werden. Tad Williams war sowieso einer der Stars der gesamten Messe, der seine aufwendige Hörspiel-Adaption von „Otherland“ präsentierte und von einem Termin zum anderen hechtete. Siehe dazu auch http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=29. Als wahre deutsche Nationalhelden wurden aber der 75-jährige Pierre Briece (Winnetou), der seine Biografie vorlegte, und aber auch das „Urmeli“ aus der Augsburger Puppenkiste gefeiert. Zur Platin-Verleihung (600.000 Exemplare) der erst im Frühjahr erschienenen DVD-Reihe des Hessischen Rundfunks waren die Originalpuppen Urmeli, Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer, angereist, die dem dankbaren Publikum eine eigens konzipierte Inszenierung präsentieren. Fernsehdirektor Dr. Hans-Werner Conrad vom HR ließ sich diese Gelegenheit, anwesend zu sein, nicht entgehen und verteilte sehr großzügig DVD-Exemplare ans anwesende Publikum, was natürlich großen Anklang fand, denn die Puppenkiste ist vor allem bei den Erwachsenen unverändert Kult.

Schon in diesem Jahr ausgebaut – neben dem gewohnten Messekino gab es ein Rechtezentrum und einen Gemeinschaftsstand der Filmindustrie – wird das Forum Film & TV im nächsten Jahr noch größer werden. Eine Kooperation mit der „Berlinale“, den internationalen Filmfestspielen in Berlin, wurde abgeschlossen, Filmproduzenten reisen zur Buchmesse, Workshops vom Drehbuchschreiben bis zum Lizenzgeschäft stehen auf dem Programm.

Und Frankfurt steht auch außerhalb der Messe in dieser Zeit gänzlich im Zeichen des Buches. Unzählige Verlage präsentieren auch abends verschiedenste Veranstaltungen. Auch hier füge ich nur ein Beispiel an von den vielen, die ich besucht habe. Der Nachtschatten-Verlag veranstaltete im Tanzhaus West – einem Rave-Techno-Szenentreff – eine gut besuchte Informationsveranstaltung zu Ahayuasca. Auf dem Podium saßen Arno Adelaars (Ritual-Leiter), Dr. Christian Rätsch (Ethnopharmakologe), Govert Derix (Manager / Philosoph), Dr. Henner Hess (Soziologe) und Wolfgang Sterneck (Publizist). In recht intimer Atmosphäre verfolgten ungefähr 200 Gäste dicht gedrängt die Berichte zu dieser eigentlich längst bekannten Droge, als sei es etwas völlig Neues, und erweckten den Eindruck, dass eine neue psychedelische Drogenwelle auf die westliche Welt zurollt. Zwar gab es das, was da als letzte Möglichkeit, sich selbst und die gesamte Welt zu heilen, angepriesen wurde, in ähnlicher Ansicht und Form in den Anfangszeiten der LSD-Bewegung, aber alle Redner waren sich sicher, dass diese beiden Drogen in ihrer Wirkung nicht zu vergleichen wären. Selbst die anwesenden gesellschaftlichen Anti-Drogen-Experten waren sprachlos und konnten den Argumentationen nichts entgegensetzen. Man müsste, um die Bewegung zu beurteilen, wahrscheinlich die Sache mal ausprobieren. Die Lust darauf zu wecken, ist jedenfalls als gelungen zu betrachten. Der Star des Abends war natürlich der bekannte Pharmaethnologe und Autor Christian Rätsch, aber der holländische Philosoph Govert Derix – dessen aktuelles Buch „Kritik der psychedelischen Vernunft“ (Nachtschatten-Verlag) präsentiert wurde – trat mit seinen Ansichten in ungeahnter Weise richtig radikal und revolutionär auf und sorgte für ziemliches Aufsehen. Die Vorträge selbst sind mittlerweile auch schon im Netz abrufbar unter http://www.sterneck.net/connecta/03program/index.php.
Alles in allem eines der Highlights der diesjährigen Messe, ein Abend, der lange in Erinnerung bleiben wird.

Was wäre eine Messe ohne Preise. Bedeutsamster deutscher Literaturpreis ist der Friedenspreis des deutschen Buchhandels, der zum Abschluss der Messe in diesem Jahr an Pèter Esterházy ging. Aber es gibt viele unbekanntere Preise mehr … z. B. die Verleihung der „schönsten deutschen Bücher“ der Stiftung Buchkunst für die Hersteller, Lektoren etc. von Büchern. Zwar wurden diese schon im Mai in Berlin bekanntgegeben, aber erst auf der Messe wurden die Urkunden für die etwa 50 preisgekrönten Bücher übergeben. Eine lange Prozedur, die Standbein verlangte. Dann gibt es auch den Preis für den Comic des Jahres, der in diesem Jahr an die in Frankreich lebende Exil-Iranerin Marjane Satrapie für ihr Werk „Persepolis“ ging. Der erste Band ist bereits erschienen, der zweite Band erscheint im Dezember in der „Edition Moderne“. Vielleicht war der eigentliche Grund dieser Verleihung auch nur der arabische Schwerpunkt der diesjährigen Messe, denn dafür war dieser Preis ja sehr passend. Dies nur als kleine Auswahl. Von den Überlegungen zu Hörbuch-Preisen wurde schon weiter oben berichtet und zu den im nächsten Jahr erstmals neu vergebenen deutschen Buchpreisen hatte ich bereits am Ende meiner [Sommer-Herbst-Kolumne]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=27 einiges geschrieben.