Frauen in extremen Lebenslagen
Dieser Band der Werkausgabe enthält wieder eine Mixtur aus zum Teil witzigen, zum Teil aufrüttelnden Geschichten. Aufs Neue fusioniert James Tiptree Jr. die Themen Sex, Tod und Entfremdung, unter anderem in den folgenden Schlüsselwerken: In ‚Liebe ist der Plan‘, einer verstörenden, tragikomischen Fabel, erleben wir aus der Sicht eines fremdartigen Rieseninsekts die Geschichte seines Erwachsenwerdens und seines Ringens um höhere Erkenntnis.
Die Heldin in ‚Das eingeschaltete Mädchen‘, die abscheulich hässliche Philadelphia Burke, bekommt einen faustischen Pakt angeboten: Falls sie sich mit Elektroden verdrahten und nackt in eine Kabine sperren lässt, vor der Welt verborgen, wird man ihr beibringen, dem begehrlichen Körper eines künstlichen Filmsternchens Leben einzuhauchen.
In ‚Frauen, die man übersieht‘ finden sich zwei Männer und zwei Frauen nach einem Flugzeugabsturz in der entlegenen Wildnis Yucatáns wieder. Doch die Frauen verhalten sich ungewöhnlich, und es kommt alles anders als gedacht. (Verlagsinfo)
Die Autorin
Alice Hastings Bradley Sheldon alias James Tiptree jr. alias Raccoona Sheldon wurde 1915 in Chicago geboren. Ihre Mutter war eine Reiseschriftstellerin, ihr Vater Anwalt. Sie lebte in ihrer Jugend in Afrika und Indien, aber anscheinend war sie lange Jahre für die Regierung, die CIA (bis 1955) und das Pentagon tätig. Im Jahr 1967 machte sie ihren Doktor in Psychologie. Obwohl sie bereits 1946 ihre erste Story veröffentlicht hatte, machte sie die Schriftstellerei erst 1967 zu ihrem Hobby, und nach ihrer Pensionierung schrieb sie weiter bis zu ihrem Tod 1987. Sie beging Selbstmord, nachdem sie ihren todkranken Gatten erschossen hatte.
Obwohl sie einige Romane schrieb, wird man sich an sie immer wegen ihrer vielen außergewöhnlichen Erzählungen erinnern. Ihre besten frühen Stories sind im Heyne-Verlag unter dem Titel „10.000 Lichtjahre von Zuhaus“ (1973) und „Warme Welten und andere“ (1975) erschienen. Unvergesslich ist mir zum Beispiel die Story „Liebe ist der Plan, der Plan ist Tod“, die den Nebula Award 1973 errang. Weitere Geschichten sind in „Sternenlieder eines alten Primaten“, „Aus dem Überall“ und schließlich „Die Sternenkrone“ gesammelt. Ihr Roman „Die Feuerschneise“ (Up the walls of the world, 1978, dt. bei Heyne) erhielt ebenfalls hohes Lob.
Die Erzählungen
1) Das eingeschaltete Mädchen (The Girl Who Was Plugged In, 1969, VÖ 1973)
In der Zukunft ist öffentliche Werbung außer auf dem Produkt selbst verboten. Was ist also zu tun? Natürlich Product placement. Aber bitte nicht so plump wie in den 2D-Filmen, nein, man kreiere einen Promi, mit dem sich dann ein paar Millionen der 15 Milliarden Erdenbürger identifizieren können, und lasse ihn oder sie ganz unauffällig die beworbenen Produkte benutzen. Ungefähr so wie in der „Truman Show“, nur noch etwas unauffälliger. Alles klar?
Allerdings muss das Risiko, das die Werbeträger mit diesem Promi eingehen, auf ein absolutes Minimum begrenzt werden. Die Lösung lautet „Fernsteuerung“. Man braucht also zwei Dinge: eine lebende Puppe – die lässt sich problemlos klonen oder in Fleischtanks züchten und dann verdrahten. Zum anderen muss sie von einer geeigneten Steuerperson während aller Wachzeiten kontrolliert werden. Nicht so einfach. Diese Person müsste schon ziemlich aufopferungsvoll sein und sich selbst als stark benachteiligt sehen. Das ist im Fall der jungen Frau P. (für „Philadelphia“) Burke der Fall.
Die General Transmission Corporation, kurz GTX, heuert das Mädchen, nachdem es gerade einen Selbstmord versucht hat, an und offeriert ihr, dass sie in ihrer neuen Stellung an die Promis ihrer Träume herankäme, so wie sie es sich erträumt. P. Burke ist überglücklich. Sie ist arm und hässlich und hätte nie in ihrem Leben, auch nur den Hauch einer Chance, ins Götterland aufzusteigen, in dem sich ihre Idole tummeln.
Monatelang läuft alles nach Plan, und der Rubel rollt. Doch dann kreuzt der Sohn des Konzernchefs auf, Paul Isham III. Er ist unzufrieden mit seinem privilegierten Sohnesstatus. Er verliebt sich in die Puppe, die den schönen Namen „Delphi“ trägt und glaubt doch tatsächlich, sie sei ein echter Mensch. Damit beginnt eine Tragödie, die auch P. Burke ganz persönlich treffen wird.
Mein Eindruck
Diese ganze herzergreifende Story wird von einer Person unbestimmten Geschlechts in einem solchen Schnodderton erzählt, dass man sie eigentlich nur durch die Brille der tragischen Ironie ernstnehmen kann. Unser Erzähler, der den Leser mit „Oller“ und „Döskopp“ anredet, erklärt aber zum Glück auch, wie die Dinge in der Zukunft laufen, so dass man, ein Quäntchen Grips vorausgesetzt, alles richtig schön auf die Reihe kriegt. Dem Leser bleibt die Wahl: soll er lachen oder weinen oder beides?
Am Schluss können wir jedoch über den Drahtzieher hinter dieser Sache lachen. Nachdem das Projekt „Hirnleiher“ so schweinemäßig in die Binsen ging, kramt er ein neues Projekt heraus, das Profit verspricht: Es geht um Zeitanomalien, und im ersten Test wird er mitten in die Nixon-Ära versetzt. Gratulation zur demnächst fälligen Einberufung nach Vietnam!
Diese Novelle wurde 1974 mit dem HUGO Award ausgezeichnet.
2) Amberjack (Amberjack, 1969, VÖ 1972)
Eine Boy-meets-girl-Stoy. Amberjack, ein Arzt, hat *Rue, eine Künstlerin, kennengelernt, aber sie weigern sich, es „Liebe“ zu nennen. Eines Tages gesteht sie ihm auf dem oberen Ende der Feuerleiter ihre Schwangerschaft und sagt, sie wolle ihn verlassen. Da passiert etwas Merkwürdiges in der Zeitstruktur, oder ist es ein Verkleidungstrick? Amberjack sieht in die Zukunft: Sein Sohn tritt ins Zimmer, aber dann kommt noch eine Frau: *Rue, wie sie als Mutter dieses Sohnes ausgesehen hätte. Die Frau auf der Feuerleiter stürzt in die Tiefe, und die Frau im Zimmer zieht ihre Perücke ab…
Mein Eindruck
Noch so eine von Tiptree/Sheldons verrückten Geschichten, auf die man sich keinen Reim machen kann. Aber durch die Brechung in der Zeitstruktur qualifiziert sie sich durchaus als eine SF-Story: „Was wäre, wenn?“
3) Der nachtblühende Saurier (The Night-blooming Saurian, 1969, VÖ 1970)
Eine Museumsdirektorin erzählt einem befreundeten Besucher von ihrer ersten Zeitreise-Expedition, die sie vor vielen Jahren nach Ostafrika zu den Hominiden führte. Sie waren sieben Leute und hoffnungsvoll, doch als ihr Techniker von einem Kurztrip in die Gegenwart zurückkehrte, erfuhren sie, dass man ihnen die Gelder streichen werden – einfach zu teuer. Doch Fitz, der Techniker, hat eine irrwitzige Lösung des Problems. Er hat dem maßgeblichen Senator, der im Bewilligungsausschuss das Sagen hat, vorgeflunkert, es gäbe hier einen riesigen Saurier zu schießen!
Natürlich sind die Saurier schon 80 Mio. Jahre ausgestorben, aber herrje, man könne ja einen echten Saurier in dessen Zeit erlegen und die Beute nach Ostafrika transferieren. Dann müsse man aber dafür sorgen, dass alles echt aussieht: die Spuren am Ufer des Sees, ja, und vor allem der Dung des Dinosauriers, der den Senator von dessen Echtheit überzeugen soll. Tja, und von da an futterten die Expeditionsmitglieder jede Menge Grünzeug…
Mein Eindruck
Die Saurier-Story ohne Saurier ist natürlich ein einziger riesiger Witz, eine Schnurrpfeiferei, wie sie nur erzählt werden kann, wenn eine Menge Alkohol im Spiel ist. Andererseits aber belegt sie mehrere Aspekte. 1) Senatoren lassen sich leicht auf den Arm nehmen. 2) Selbst eine Zeitreise garantiert nicht, dass die „wissenschaftlichen Ergebnisse“ echt sind, z.B. versteinerte Exkremente. 3) Wissenschaftler sind für ihre Forschungsgelder zu absolut allem bereit. Und obendrein macht die Story irrsinnig Spaß.
4) Paradiesmilch (The Milk of Paradise, 1969, VÖ 1972)
Das Imperium des Menschen hat sich ausgebreitet und dabei den Lebensraum der Crots vereinnahmt, die zwar Zweibeiner sind, aber geistig sehr unterbelichtet. Nun taucht auf einer Orbitalstation der junge Timor auf, der Sohn eines bekannten Pioniers der Erdflotte. Er verhält sich recht seltsam, so möchte er beispielsweise keinen Sex mit dem Mädchen Seoul haben, und die Anspielungen zwei gleichaltrigen Jungen versteht er nicht. Daher nimmt sich ein Erwachsener seiner an, um herauszufinden, was mit ihm los ist.
Der Erwachsene ist ein Schwarzer, Santiago, und wie Timor – es ist nicht sein richtiger Name – zu spät erkennt, verfügt Santiago über ausgeklügelte Verhörmethoden. Die braucht er auch, denn Timor wurde offenbar geistig konditioniert. Er setzt sogar Hypnose ein, um aus Timor herauszuholen, wo er in den letzten sieben Jahren war. Auf „Paradies“, gesteht Timor, und dort gebe es tolle Städte, in denen elfenhafte Wesen leben. Aber von einer solchen Alienrasse hat niemand etwas gehört. Seltsam, nicht?
Timor ist unter Hypnose in der Lage, die ungefähre Lage von „Paradies“ anzugeben. Santiago fliegt mit ihm hin. Als sie auf dem Strand vor dem Dschungel landen, ist von Städten nirgendwo etwas zu sehen, und von Elfen schon gleich gar nicht. Doch da tauchen wirklich Wesen aus dem Dschungel aus, und nun schlägt Timors Herz höher – allerdings ekelt es Santiago nun wirklich…
Mein Eindruck
Man sollte berücksichtigen, dass Alice Sheldon einige Jahre für die CIA als Psychologin tätig war. Daher ist mit Techniken wie Gehirnwäsche, Hypnose und Dekonditionierung (also das Gegenteil von Gehirnwäsche) vertraut. Alle Techniken kommen in dieser Story am jungen Timor zum Einsatz. Die Gehirnwäsche wurde im auf „Paradies“ verpasst, ebenso die Konditionierung für das Überleben unter Menschen (aber von wem, verrät die Story nicht).
Santiagos Aufgabe besteht darin, den Weg Timors zurückzuverfolgen – eine in Tiptrees Stories häufige Richtung der Handlung. Ob sich die Thematik der Gehirnwäsche à la „The Manchurian Candidate“ auch auf damalige Vietnameinsätze der CIA (ca. 1969) anwenden lässt, wäre eine Frage der guten Recherche, aber die Assoziation wird nahegelegt, so etwa durch das Dschungelambiente am Schluss der Geschichte.
5) Schmerzweise (Painwise, 1969, VÖ 1972)
Der Typ, von dem die Rede ist, kann keinen Schmerz empfinden, und deshalb weiß er alles darüber, was ihm keinen Schmerz bereitet. Er wird daher als Aufklärer eingesetzt, von Welt zu Welt geschickt. Doch diesen Mangel beginnt er als unnormal zu empfinden und fängt an, sich selbst Schmerzen zuzufügen. Doch sein Körpermechaniker repariert ihn schnell wieder, schier unendlich oft, bis selbst dem Körpermechaniker die künstlichen Augäpfel ausgehen. Da versagt die Programmierung des Körpermechanikers, und der vollautomatisierte Aufklärer droht abzustürzen.
Da kommt die Rettung in letzter Sekunde. Es sind drei Empathen, die sich seiner annehmen: Buschbaby hat einen goldenen Pelz, Ragglebomb ist ein Schmetterling und Muskel eine große Boa. Sie beruhigen ihn, auch wenn sie ihm nicht beibringen können., was Schmerz ist. Sie zeigen ihm, was Liebe ist, und er beginnt, sich auch an Gaumenfreuden zu erinnern, die er einst auf seiner Heimatwelt Erde genoss. Einer von ihnen ist ein Telekinet und transportiert die künstliche Kugel der Empathen an jenen Ort, von dem die Erinnerung an „Knusperfrische“ stammt: die Erde.
Doch hier, auf seiner Heimatwelt, erlebt er eine böse Überraschung. Denn nur hier erfährt er Schmerz am eigenen Leib, und weil seine Empathen alles fühlen, was auch er fühlt, kommt es zur Katastrophe…
Mein Eindruck
Obwohl die Geschichte nur mit jeweils wenigen Sätzen pro Szene erzählt wird, hinterlässt sie einen bleibenden Eindruck. Der Mann, um den es geht, ist in seinem Gehirn falsch „verdrahtet“. Durch Synästhesie nimmt er Schmerz nur als unterhaltsame Farben wahr. Für fremde Welten, die er erkundet, ist das sicherlich eine nützliche Eigenschaft, doch auf seiner Heimatwelt das genaue Gegenteil, wie er leidvoll erfahren muss.
Der besondere Wert der Story liegt in der einfalls- und nuancenreichen Beschreibung der Sinneswahrnehmungen sowie in der schrecklichen Pointe. Witzig fand ich die Erfindung des Körpermechanikers und der drei Empathen, die sich wie Spielgefährten aufführen und sich zunächst „Herrscher der Galaxis“ nennen lassen. Es gibt eine hübsche Episode mit bukolischer Liebe in einem erotischen Arkadien, doch dann folgt eine groteske Szene mit der Aufzählung grotesker Speisen, die er angeblich kennt.
Die Landung auf der Erde ist dann umso schlimmer. Aus der Spaß, die harte Wahrheit schlägt zu. Ob diese Erde einen Atomkrieg hinter sich hat, lässt sich nicht sagen, aber das ist auch Nebensache. Denn alles an dieser Umwelt bedeutet für ihn Schmerz. Die Frage ist für ihn: „Should I stay or should I go?“ Das soll nicht verraten werden. Aber die bittere Ironie des Schlusses ist mal wieder typisch für Tiptree, siehe ihre Geschichten in „Warme Welten und andere“.
6) Und so weiter, und so weiter (And So On, And So On, 1969, VÖ 1971)
An Bord eines innergalaktischen Sternenschiffes, das in den Orion-Sektor fliegt, finden sich die gemischtrassigen Passagiere zusammen, um die gerade überstandene „Diskontinuität“ zu besprechen. Am Ende sind sich zwei Passagiere einig, dass von nun an der Niedergang der galaktischen Zivilisation beginnt: Es gebe keine Helden mehr, denn alles sei erforscht, alles besiedelt, alle Grenzen erreicht.
Dumm eben, dass man den Raum zur nächsten Galaxie nicht überwinden kann. Da bleibt nur der Innere Raum, also Religion, Bewusstseinserweiterung, Psychologie, Meditation – solche Sachen eben. Aber irgendwann werde auch das langweilig werden. Und das wäre dann das Ende von Leben und Welt.
Unterdessen macht sich Klein-Rovy daran, die Grenzen des Nicht-Raums mit neugierigen Augen zu erkunden…
Mein Eindruck
Jaja, das alte Lied: Die Alten sind enttäuscht davon, die Grenze der Möglichkeiten erreicht zu haben. Die nächste Generation pflichtet ihnen sogar bei. Nur die ganz Jungen ahnen noch nicht mal was von solchen Grenzen und gehen ganz neue Wege.
Diese sehr kurze Story ohne Handlung von wenigen Seiten ist eine Skizze, deren Figuren – mit einer Ausnahme – noch nicht mal Namen haben. Rovy hingegen ist, wie sein Name „Rover“ besagt, ein Streuner und Erkunder. Während die Alten Argumente austauschen, tut er endlich mal was. Das spendet Hoffnung. Die Autorin skizziert den Diskurs zweier amerikanischer Generationen: äußerer (Welt-) Raum, Innerer Raum – und was dann?
7) Mother in the Sky with Diamonds (dito, 1970, VÖ 1971)
Sicherheitsinspektor Gollem lebt im Asteroidengürtel und hat ein Geheimnis. Sobald er seinen Flugrekorder manipuliert hat, fliegt er zu einem seit langem verlassenen Raumschiff, der „Ragnarok“ (= Götterdämmerung). Es war einst das erste Schiff, das zum Saturn flog. An Bord lebt immer noch eine Frau namens Topanga Orlow. Sie ist steinalt und geistig verwirrt, aber Gollem ist auch alt, und er erinnert sich noch an jene Zeit, als sie jung war und ihr rotgoldenes Haar ihn betörte. Um sie herum schweben die Hologramme jener Heldenzeit der ersten Saturnexpedition, die auf dem Tethysmond landete. Sie lebt in der Vergangenheit.
Aber die Drogenproduzenten tun dies keineswegs, und sie haben, wie Gollem zu seinem Verdruss bemerkt, an Bord der versteckten „Ragnarok“ eine Plantage für biologische Drogen, sogenannte Phagen, eingerichtet. Natürlich ist es ihnen ein Dorn im Auge, wenn ein Schnüffler von der Sicherheit ihnen in die Quere kommt. Nachdem Topanga einen lauten Hilferuf abgesetzt hat, rast Gollem zu ihr an Bord, nur um in eine Falle der Phagenhersteller zu geraten.
Doch beim siegreichen Kampf verliert Topanga einen Fuß und Gollem sein Shuttleboot, außerdem brauchen sie Sauerstoff. Sie lenken die „Ragnarok“, nun ihr einziges Vehikel, zu einer Medizinbasis im angrenzenden Themis-Sektor. Doch diese Basis wird hereinkommenden Felsbrocken bedroht. Wieder kommt es zu einem Kampf mit dem leitenden Arzt. Topanga, die um keinen Preis in einem Krankenhaus „umgebracht“ werden will, entführt die „Ragnarok“ und steuert einen Kurs, den Gollem vorher festgelegt hat. Der Kurs liegt genau auf dem Weg der bedrohlichen Felsbrocken…
Später erfahren wir, dass Topanga Orlow die Frau von George Gollem war, mit dem sie auf Luna einen Sohn hatte. Aber als sie die „Ragnarok“ entführte, rief sie nicht den Namen ihres Sohnes, „Golly“, sondern den von Valentine Orlow, dem Kommandanten der „Ragnarok“, der auf dem Jupitermond Ganymed vor 30 Jahren starb.
Mein Eindruck
Auch diese Erzählung ist also voller Tod, doch der Tod Topangas ist das glorreiche Verlöschen einer untergegangenen, schon längst überholten Vergangenheit – jener Zeit der Eroberung der äußeren Planeten. Inzwischen ist der ganze Saturnsektor und der Asteroidengürtel unter den Minengesellschaften und der verarbeitenden Industrie aufgeteilt worden. Hier tummeln sich die Phager und die Symbionten – schöne neue Welt!
Nur Sicherheitsinspektor Gollem ist noch als Verbindungsglied zwischen diesen beiden Epochen übrig. Er hört noch Rockmusik, sogar die Rolling Stones. Er lauscht „I can’t get no satisfaction“ und dem 1967 (auf „Their satanic majesties request“) veröffentlichten Song „2000 Lichtjahre von zuhaus“, der dem ganzen Band in abgewandelter Form den Titel lieh. 1967 – das war nur vier Jahre vor dem Abdruck dieser Story – und mitten im „summer of love“.
Auf ihre Space-Opera-hafte Weise ist die Story eine romantische Liebesgeschichte, nicht zwischen Lover und Ex-Geliebter, sondern zwischen Mutter und Sohn. Dadurch ergeben die Generationsunterschiede sowie die emotionalen Bindungen durchaus einen Sinn. Topanga (benannt nach dem bekannten Canyon der Künstler und Bohémiens in Los Angeles) zitiert die Verse des amerikanischen Dichters Hart Crane (gestorben 1932), den sie den ersten Dichter des Raumzeitalters nennt – und den die Autorin in einer Endnote hoch lobt.
Die Gedichtzeilen sind wirklich schön und beschwören die Faszination der Sterne und der Bewegung des Menschen in ihrer Mitte. Dies war der Traum der ersten Saturnexepedition, doch was ist nur daraus geworden? Die Expedition starb in den Saturnringen, die stolze „Ragnarok“ strandete und Topanga ist in einer Art Zeitblase gefangen, die nur Verfall enthält. Fast meint man, die Autorin über sich selbst erzählen zu hören. Sie ist ein Anachronismus in einer vom Kommerz und den Drogen der Phagern beherrschten Epoche. Das Menschsein an sich verändert sich bereits.
Die Geschichte ist ein Abgesang, aber ein einfallsreich inszenierter, und man braucht nicht viel Vorstellungskraft, um sich diese Zukunft der veränderten Menschheit auszumalen. Es ist eine Variation auf die Geschichte „Und ich erwachte und fand mich hier am kalten Berghang“.
8) Vivyan (The Peacefulness of Vivyan, 1970, VÖ 1971)
Vivyan ist der Name eines jungen schönen Mannes, auf den die Mädchen fliegen, denn er spendet ihnen Freude, mit seinem Geist, mit seinem schönen Körper. Aber Vivyan ist nicht der, für den man ihn hält. Als der Reporter Keller ihn sprechen will, wird Vivyan abgeschirmt. Vivyan lebt jetzt bei den Robbenmenschen auf McCarthys Welt, einer wunderschönen Meereswelt. Hier hat die terranische Flotte vor kurzem einen Invasionsversuch unternommen – und wurde von den Robbenmenschen zurückgeschlagen.
Nicht, dass Vivyan die Robbenmenschen angeführt hätte, ganz im Gegenteil. Wie Keller von seiner Informantin erfährt, ist Vivyan nach seinen Aufenthalten auf verschiedenen Welten schließlich als Spion des terranischen Imperiums entlarvt worden. Er hatte vor Ort stets einen Kontaktmann, dem er Bericht erstattete – und wenig später waren Vivyans Gespielinnen verschwunden. Ein Mann namens Cox kam ihm auf die Schliche, indem er dem Muster, das Vivyans Leben zeichnete, folgte. Als Cox die Robbenmenschen bat, Vivyan gefangenzunehmen, stellte sich heraus, dass dessen ursprüngliche Persönlichkeit durch Gehirnwäsche fast ausgelöscht worden und durch eine Schein-Identität ersetzt worden war.
Doch an seine wahre Identität will sich Prinz Vivyan von Atlicxo nicht mehr erinnern, denn zu groß ist der Schmerz an den Tod seiner Mutter und seines Vaters. Und so berichtet Vivyan bis heute seinen terranischen Kontakten von allem, was vor sich geht. So etwa von einem Reporter namens Keller, der vorgibt, für die „Außerplanetarischen Nachrichten“ zu berichten. Doch etwas stimmt nicht mit diesem Reporter…
Mein Eindruck
Man kann sich gut vorstellen, wie sich die Autorin am Strand von Mexiko oder den Bahamas räkelte, den Surfern zuschaute, sich einen Adonis herauspickte und ihm eine Geschichte zudichtete, die so abgründig ist wie die Idylle trügerisch. In diesem Surferparadies ist dieser Adonis ein falscher Fuffziger, bis ihn ein alter Mann mit Eulenaugen entlarvt, weil er tiefer blickt als auf die gefällige Oberfläche. Die Friedfertigkeit täuscht, denn Vivyan ist ein Agent von Kriegstreibern aus dem terranischen Imperium.
Doch nach seiner Entlarvung kann man einen Agenten umdrehen und ins Netz des Gegners einschleusen. Und mit diesem Kniff werden die Rebellen von McCarthy Welt auch andere verlorene, weil von Vivyan verratene Welten zurückerobern. Hoffen sie jedenfalls und sagen es dem Reporter. Doch wer weiß, ob auch dieser Reporter Keller echt ist und nicht doch wieder ein falscher Fuffziger.
Es ist eine paranoide Geschichte wie aus den fünfziger Jahren, die auch Philip K. Dick geschrieben haben könnte – allerdings ohne Surfer, schöne Girls, Robbenmenschen und aztekischen Hintergrund. Dieses Zubehör verrät alles die Handschrift von Alice Sheldon alias James Tiptree, die zeitweilig für die CIA arbeitete.
9) Der Mann, zu dem die Türen Hallo sagten (The Man Doors Said Hello To, 1970, VÖ 1970/71)
In einer Bar taucht ein Zweimeterkerl auf, den die Türen grüßen. Unser Chronist denkt, er sei schon blau, aber nein – den Typ grüßen wirklich alle Türen. Der meint: Es ist eben eine freundliche Stadt. Und noch etwas ist merkwürdig an ihm: In seinem Anzug scheinen sechs kleine Frauen heimisch zu sein. Eine streckt ihren Arm aus dem Schlips, um ein Popcorn zu erhaschen. Na, das ist mal ein schräger Typ, denkt unser Erzähler und klappt zusammen.
Aber der Kerl ist nett, und so gehen sie zusammen weiter, um etwas zu essen. Auf dem Weg findet der Typ auf Mauern Kleingeld und einen Zettel, auf dem „Hilfe!“ steht. In einer Wohnung im zweiten Stockwerk geht der Riese an einem Mädchen vorbei zu einem Schrank und findet dahinter ein fast durchgescheuertes Stromkabel. Demnächst hätte es einen Kabelbrand gegeben. Gut, dass sie vorbeigekommen sind, findet der Riese und nimmt das Mädchen mit.
Irgendwie scheint er nicht aus der Zeit unseres Chronisten zu kommen, und schon bald verschwindet er wieder. Man wird die Mauern in den Straßen, deren Namen zwei R enthalten, im Auge behalten. Nur für den Fall, dass der Riese sich mal wieder Kleingeld besorgen muss.
Mein Eindruck
Eine nette kleine Vignette über einen Zeitreisenden. Die Einfälle sind hübsch, scheinen aber nicht weiter von Belang zu sein. Immerhin entsteht hier der Eindruck einer Verfremdung unserer Realität: Türen, die freundlich grüßen, winzige Mädchen in einem Anzug sowie ungezogene, selbstmörderische Kleiderschränke und dergleichen. Eine Realität, in der plötzlich wieder alles möglich ist.
10) Ich warte auf euch, wenn der Swimmingpool leer ist (I’ll Be Waiting for You When the Swimming Pool is Empty, 1970, VÖ 1971)
In ferner Zukunft macht der nette terranische Junge Cammerling seinen Uni-Abschluss und kriegt zur Belohnung von seinen netten terranischen Eltern einen neuen Weltraumflitzer geschenkt. Doch statt diesen ausgetretenen Pfade zu beschreiten, klappert er lieber abgelegenen Gegenden der Galaxis ab, und so kommt es, dass er auf Godolphus 4 landet, von dem kaum jemand gehört hat.
Seine Landestelle liegt direkt neben einem Schlachtfeld, auf dem gerade zwei Armeen von Barbaren dabei sind, sich gegenseitig nach alter godolphischer Sitte den Schädel einzuschlagen und sich auch sonst ihrer ewigen Feindschaft zu versichern. Das findet Cammerling allerdings irgendwie unangemessen und macht den netten Vorschlag, dass sich die beiden Heerführer vertragen und einander die Hand reichen.
Statt dessen wird er jedoch mit gefährlichen Geschossen angegriffen. Bevor er reagieren kann, schießen aus seinem Schiff zwei blaue Pfeile hervor und verwandeln die beiden Heerführer in Plasmapfützen. Auf Cammerlings Nachfrage erklärt ihm sein Schiff, dass seine Mutter einige Vorsichtsmaßnahmen eingebaut hat. Daraufhin lässt er die zwei Wesire kommen und Freundschaft schließen.
Da plagt ihn das Gewissen. Eigentlich sollte man sich ja nicht einmischen und nur ganz behutsam ein paar Vorschläge machen, aber die Eingeborenen sehen das etwas anders. Die Wesire halten ihn für einen Gott, schaffen ihre alten Bräuche ab, und ihre Untertanen sind froh, wenn sie die von ihm eingeschleppten Krankheiten überleben. Da erkennen die Wesire, die Not mache aus Feinden Freunde und beschließen, den Fremden durch eine List loszuwerden. Sie sagen ihm, in den Bergen gebe es ein übles Ungeheuer, das sie alljährlich heimsuche. Mit Freuden zieht Cammerling los, um sie von dieser Plage zu befreien, denn schließlich ist er ja hier, um zu helfen, nicht wahr?
Doch dieses „Projekt“ geht anders aus, als die Wesire erwartet haben.
Mein Eindruck
Eine herrliche Satire auf die Auswirkungen der Entwicklungshilfe. Aus dem aufgeklärten und wohlmeinenden Friedensstifter (mit Missgeschicken) und Entwicklungshelfer wird ein Kulturwandler, der die Barbaren in aufgeklärtester, wissenschaftlich und politisch korrekter Weise in die Neuzeit führt. Das ist schön und gut, doch eines Tages landet ein nettes terranisches Mädchen und holt Cammerling – im Auftrag seiner Mutter wohlgemerkt – wieder nach Hause.
Doch es dauert nicht lange, bis die so Beglückten ihn per Funk fragen, was sie als nächstes tun sollen. Als er ihn „vorschlägt“, sie sollen den Raketenantrieb entwickeln (Bauplan anbei) und ihre gute terranisch-godolphische Kultur exportieren, so führt dies leider zur Eroberung von mehr als 10.000 Welten. Nach Vollzugsmeldung fragen sie schon wieder: „Was sollen wir als nächstes tun?“
Auf diese Weise wird die Vorstellung, man könne irgendjemandem per Entwicklungshilfe Glück bescheren, ad absurdum geführt. Und das es sich um eine überspitzt formulierte Satire handelt (warum sonst sollte ständig die Rede von „netten terranischen“ Personen sein?), liegt die Übertragung auf tatsächliche terranische Verhältnisse nahe. Ich musste sofort an den Vietnamkrieg denken, aber auch an das von JFK ins Lebens gerufene Friedenkorps, das, wenn ich mich nicht irre, eine Entwicklungshilfeorganisation war. Tiptrees Story nimmt beides auf die Schippe und treibt die Idee zur letzten, absurden, tödlichen Konsequenz. Wunderbar und lustvoll zu lesen!
11) Liebe ist der Plan, der Plan ist Tod (Love Is the Plan the Plan Is Death, 1971, VÖ 1973)
Der Ich-Erzähler ist ein Alien, eine Mischung aus Panzerechse und Spinne. Die ganze Story dreht sich um Überleben und Fortpflanzung, auf sehr ungewöhnliche Weise.
Unser junges Monster wird wie seine Geschwister von der veränderten Mutter plötzlich verstoßen. Wer nicht schnell davonläuft, wird von ihr gefressen. Vorbei sind die Tage, da sie Schutz und Nahrung bot. Unser Monster schafft es, diesem ersten Verrat zu entkommen. Doch der Plan ist groß, und so ist das stetig wachsende Monster mit effektiven Waffen und starkem Panzer ausgestattet. Das Überleben klappt, doch seine Artgenossen weisen es drohend fort.
Auf der Suche nach Gesellschaft stößt es eines Tages auf eine kleine rosa schimmernde Kreatur, die ständig „Lieliluu“ piept und gurrt.. Doch statt sie zu fressen, wickelt er sie ein, denn er hat sich in das Wesen verliebt. Damit er mit seinem Liebling überleben kann, zieht er in eine Höhle, die er mit Beute vollstopft.
Von einem alten, gebrechlichen Artgenossen hat er erfahren, was der Plan vorsieht. Dass nämlich die Artgenossen in dem kommenden harten Winter, der jährlich länger wird, einander jagen und fressen. Nur der Gierigste wird überleben. Der Plan mag zwar groß sein, doch unser Monster gedenkt, sich ihm zu widersetzen, denn es ist ja intelligent, und die Kälte des Winters macht dumm. Auf diese Weise, so hofft es, werde es zusammen mit seinem rötlichen Liebling den langen Winter überstehen, bis die Tage wieder länger werden.
Als es so aussieht, als sei der Plan überwunden worden, beginnt sich der kleine Liebling zu verlieben, und es kommt zu einer Paarung und Befruchtung. Auf eine geradezu unheimliche Weise verändert sich der Liebling. Und da er nun Junge zu versorgen hat, braucht er nun viel Nahrung…
Mein Eindruck
Wenn es je so etwas wie eine antike Tragödie für Aliens geben sollte, so ist dies sicherlich der Prototyp dafür. Unser Jüngling hofft, mit seiner Intelligenz dem Diktat des „Plans“ widerstehen zu können. Doch das Diktat der Liebe macht ihm einen dicken Strich durch die Rechnung, und so wird des Monsters Intelligenz ausgehebelt, um der Herrschaft des Plans, d.h. der Triebe und des Instinkt, wird zur Geltung zu verhelfen.
Die Story ist sowohl ironisch, weil unser junger Held allen Illusionen der Jugend von Größe und Intelligenz erliegt, als auch tragisch, weil die Herrschaft des Triebes jedes Lernen, Weiterdenken und die Entwicklung der Art verhindert. Es ist ein ewiger Kreislauf, aus dem es keine Chance auf Entkommen gibt. Das ist einer der Gründe, warum die Story zeitlos wirken kann und in ihrer Emotionalität und subjektiven Darstellung den Leser direkt anspricht.
Die Story wurde mit dem Nebula Award 1973 ausgezeichnet.
12) All die vielen Jas (All the Kinds of Yes, 1971, VÖ 1972)
Die Aliens haben die Erde entdeckt, aber ihre Xenologen schätzen ihre Attraktivität als Nistplatz als recht gering ein. Nach mehreren (unbemerkten) Besuchen materialisiert sich schließlich ein reicher Jüngling, der auf der Flucht ist und sich eine Menschengestalt hat geben lassen: mitten in Washington, unweit des Weißen Hauses. Das wäre an sich nichts Besonderes, wäre er dabei nicht völlig nackt und fünf Meter groß!
Die ausgelöste Panik unter den Erdlingen sagt ihm, dass etwas nicht stimmt. Ein Rundblick lässt ihn sich verkleinern und ein paar Klamotten anziehen. Nun sieht er aus wie ein junger Dandy aus dem Fernsehen. Sofort schnappt ihn sich eine junge Frau: Filomena. Ein kurzer Blick in ihren Geist verrät ihm ihren Namen. Er fragt sie, ob sie mit ihm nisten will. Nicht gleich an Ort und Stelle, signalisiert sie ihm, aber sie brauchen auf jeden Fall einen Wagen – den einer Freundin. Zusammen mit dieser und anderen Studenten fahren sie zum Arlington-Heldenfriedhof. Am Kennedy-Grab holt der Fremdling sein „Gepäck“: eine silberne Kapsel. Unterdessen versinkt Washington in Chaos…
Der Fremdling und seine vier Begleiter finden einen Unterschlupf, wo sie ungestört sind. Die beiden Frauen, Filomena und Greg, machen ebenso Liebe mit ihm wie RT, der Marxist und UFOloge, der schon immer an Außerirdische glaubte. Der Vierte im Bund ist zufrieden mit geistiger Übereinkunft. Danach kommuniziert der Fremde mithilfe seines „Gepäcks“: mehrere Aliens antworten und es wird den Erdlingen klar, dass die Alien-Invasion bereits in vollem Gange sein muss. So etwa sinkt der Sauerstoffgehalt in New York City zusehends zu jenem Wert, an dem er für anaerobe Wesen freundlich genug ist…
Da eröffnet ihnen der Fremdling, dass „er“ schwanger sei und in ungefähr einer Minute oder so etwa 30.000 Junge bekommen werde…
Mein Eindruck
Die Story arbeitet auf indirekte Weise mit dem Hintergrund der späten sechziger Jahre: Pink Floyds „Umma Gumma“ und Gandalf sind en vogue, und die vier Hippies stehen auf Räucherstäbchen und freie Liebe. Da erfolgt die Alien-Invasion durch den Fremdling, und es sind weder die Geheimdienste noch das Militär, die die Welt vor seiner Brut retten, sondern eben unsere vier Hippies. Nicht Hass rettet die Welt, sondern Liebe.
Die Story ist wie so viele von Tiptrees Texten voller amüsanter oder boshafter Anspielungen, mit vielen Leerstellen, die der intelligente Leser mühelos füllen kann. Tiptree schrieb einmal, dass er/sie in seinen/ihren eines um jeden Preis vermeiden wollte: Langeweile. Das ihm ihm/ihr vollauf geglückt.
13) Der Mann, der nach Hause ging (The man Who Walked Home, 1971, VÖ 1972)
Am 2. Mai 1989 ereignet sich in einem Forschungslabor nahe Salt Lake City eine Explosion, die einen mächtigen Krater hinterlässt. Bedauerlicherweise zündet die Explosion auch eine nahe gelagerte Atomrakete. Den Rest kann man sich denken: Der Atompilz wird für einen Angriff der Gegenseite gehalten, der Dritte Weltkrieg bricht aus, Ende der Zivilisation. Nicht ganz…
Die Menschen, die sich nahe dem radioaktiv verseuchten Krater einfinden, beobachten jedes Jahr an jenem Tag, der in der früheren Zeitrechnung als 2. Mai galt, eine erschreckende Erscheinung. Manche nennen es ein Ungeheuer, das in Bewegung ist, sich aber doch nicht bewegt, und außerdem eine Menge Lärm macht. Andere wiederum sehen einen Mann in einem Schutzanzug und einem roten Sauerstoffgerät auf dem Rücken, der zu gehen scheint und etwas in der Hand hält.
500 Jahre später ist die Erscheinung zu einer Touristenattraktion der Ortschaft geworden, der Krater ist eingezäunt, die Beobachter haben sich ebenso eingefunden wie mehrere Sekten, die die Erscheinung als Omen und Weissagung ansehen. Sie bezeichnen den Mann, der jährlich erscheint, als „Herr John“. Ein frisch vermähltes Paar kommt in die Stadt, um seinen Onkel zu besuchen und liest die Broschüre, die die Stadt für Besucher hat drucken lassen…
Es war also einmal ein Mann, der hieß John Delgado und arbeitete an einem Teilchenbeschleuniger in Bonneville. Die Beschreibung stammt von seinem Bruder Carl, der sich am Tag des Weltuntergangs gerade in Kanada befand und daher nicht atomisiert wurde. Carl berichtet von den Antischwerkraft- und Zeitexperimenten, an denen John teilnahm. John reiste an jenem Tag in die Zukunft, doch als er wieder zurückwollte, passierte das „Missgeschick“. Seither befindet sich John auf dem Heimweg. Wer weiß, wann er endlich eintrifft…
Mein Eindruck
Dies ist eine der ungewöhnlichsten Zeitreisestories, die ich je gelesen habe. Und eine der bewegendsten. Denn „der Mann, der nach Hause ging“, braucht dafür mehrere hundert oder gar tausend Jahre. Für jede Sekunde, die er erlebt, vergeht auf der Erde, zu der er will, ein ganzes Jahr. Wenn er für 20 Minuten Sauerstoff hat, stehen ihm 50.000 Jahre zur Verfügung. Danach ist die Luft weg. (Diese Kalkulation steht in der Geschichte, sie ist nicht von mir.) Auf der Erde hat er seine Frau und seine beiden Kinder verloren. Das Wortbruchstück, das die Zuschauer bei seinem jährlichen Erscheinen hören, ist nicht etwa „Gerät“ oder „zu spät“, sondern „Käthe“, denn Katherine hieß seine Frau.
Der eigentliche Grund, warum die Geschichte mich so bewegt hat, ist die subjektiv-psychologische Schilderung am Anfang und Schluss des Textes, die vom realistisch-objektiven Mittelteil erklärt, aber zugleich auch kontrastiert wird. Der Gegensatz zwischen innerem Empfinden und äußerem Beobachten ist auch der zwischen der rasch vergehenden Gegenwart der Beobachter und der an die Ewigkeit grenzenden Erlebniszeit des Zeitreisenden John Delgado. Die zwei Zeitlinien werden sich hoffentlich irgendwann schneiden, doch wann das sein wird…? Daumen drücken!
14) Da fuhr ich auf und fand mich hier, auf dem kalten Hang (And I Awoke and Found Me here on the Cold Hill’s Side, 1971, VÖ 1972)
Ein Reporter befragt auf dem Raumhafen einen Arbeiter, der aussieht, als habe er schon alles gesehen. Auf dem Raumhafen ist ein Raumschiff eingetroffen, das weitere Aliens zur Erde gebracht hat. Doch was der Reporter von dem rotbärtigen Arbeiter zu hören bekommt, ist keineswegs das, was er erwartet hat, sondern eine abstrus klingende Warnung.
Die Aliens, egal woher und wie sie aussehen, seien so faszinierend und sexuell attraktiv für die exogam veranlagten Menschen, dass sich sowohl das sexuelle Interesse als auch die Faszination mit den Aliens so negativ auswirkten, dass man für den Fortbestand der menschlichen Rasse fürchten müsse. Der Reporter fühlt sich ein wenig auf den Arm genommen, doch als die Frau des Arbeiters auftaucht, ist zwischen beiden Menschen tatsächlich keinerlei Anziehungskraft festzustellen. Und als der Reporter zwei Aliens entdeckt, rennt er ihnen sofort hinterher. Quod erat demonstrandum.
Mein Eindruck
Der Titel liefert den Schlüssel zu der Story. Es ist ein Vers aus dem berühmten Gedicht „La Belle Dame Sans Merci“ des romantischen Dichters John Keats (1795-1820). Die „schöne Dame ohne Mitleid“ (der Titel zitiert ein französisches Gedicht von Alain Chartier aus dem Jahr 1424) hat einen Ritter verzaubert, nahm ihn zu ihrer „elfischen Grotte“, wo er sie viermal küsste, weil sie ach so kummervoll seufzte. Doch als er schlief, träumte ihm von bleichen Prinzen und Königen, die den Träumer als Sklaven der Dame bezeichneten. Und als er voll Schrecken erwachte, fand er sich auf dem kalten Berghang, wo keine Vögel sangen.
Die Rede ist von einer Verzauberung durch erotisches Verlangen, nach der es ein böses Erwachen geben wird, weil nichts ist, wie es scheint. Das Gleiche, so legt der Titel nahe, passiert mit der Menschheit, wenn die Aliens unter uns leben. Und die nebenbei erwähnte Liebesbeziehung einer Erdenfrau mit zwei Sirianern, die sie gleichzeitig liebten und mit Schnabelhieben traktierten, liefert einen Hinweis darauf, was das Schicksal der menschlichen Fortpflanzung sein wird.
Wie viele von Tiptrees Erzählungen ist das Thema die psychosexuelle Komponente beim Erstkontakt mit Außerirdischen. Damals war dies noch ein tabuisiertes Thema, das von Magazinherausgebern unterdrückt wurde.
15) Am letzten Nachmittag (On the last Afternoon, 1971, VÖ 1972)
Vor Jahren sind die ersten Siedler auf dieser Welt mit ihrem Raumschiff abgestürzt. Sie fanden zum Glück eine der wenigen Lichtungen auf der von Wald bedeckten Insel, machten sich aber keine Gedanken darüber, warum es diese Lichtung überhaupt gab. Sie bauten ihre Siedlung auf, überwanden Probleme und vermehrten sich.
Mysha ist ein Mann der ersten Stunde und hat inzwischen mit seiner Frau Bethel einen erwachsenen Sohn, Piet, und eine jüngere Tochter, die schöne Melie. Mysha ist aber auch ein Seher, der geistigen Kontakt mit einer fremden Lebensform hat, dem „noion“, das als verschrumpelter Beutel an einem Baum hängt. Mit der Hilfe des „noion“ üperwand er eine gesundheitliche Krise der Siedler, entdeckte aber auch den langen Zyklus der größten einheimischen Lebensform: der Zerstörer.
Es sind Lichtungen wie diese, zu der die im Wasser lebenden Zerstörer alle Jahre wieder ziehen, um sich zu paaren und ihre Eier zu legen. Heute ist der Tag, an dem Mysha die Herden von Zerstörern heranziehen sieht, wenn er auf seinem Hügel über der Siedlung sitzt. Die Siedlung ist inzwischen mit Palisaden befestigt, und sogar eine Laserkanone konnte aus dem Raumschiffwrack geborgen, an Strom angeschlossen und aufgestellt werden. Doch wird das reichen? Mysha fleht das „noion“ an, ihnen zu helfen. Als der „Angriff“ rollt, muss er erkennen, dass sein Preis für das Überleben diesmal sehr viel höher sein wird…
Mein Eindruck
„Am letzten Nachmittag“ liest sich, als hätte man die biblische Geschichte von Noah zu einem Actiondrama verarbeitet. Der Angriff der Zerstörer hat titanische Cinemascope-Dimensionen und ist höchst dramatisch dem Ringen eines einzelnen Mannes, Mysha, gegenübergestellt, der das „noion“, ein Ersatz für den alttestamentarischen Gott Jahwe, um Beistand anfleht. Der Beistand wird zunächst auch gewährt, doch natürlich um einen Preis. Und da das „noion“ bereits selbst stirbt, ist fraglich, ob die Hilfe ausreicht. Und ob Mysha überleben wird.
Der Leser mag sich fragen, warum die Siedler nicht einfach in die Berge ausweichen und der Herde der Zerstörer ihren Willen lassen, bis sie wieder abgezogen ist. Das ist der Knackpunkt für Myshas Verhalten, seinen Pakt mit dem quasi-göttlichen „noion“. Dieses Zurückweichen würde die Vernichtung von altem Wissen, der Bibliothek, und moderner Technik, des Generators und des Labors, bedeuten, insgesamt also einen Rückfall auf eine weitaus primitivere Zivilisationsstufe.
Diesen Fall ist Mysha nicht bereit hinzunehmen. Denn er weiß, dass dann das Wissen der alten Erde verschwinden wird und die Entwicklung der Siedler einen ganz anderen Verlauf nehmen wird. Sie werden vielleicht in die Barbarei zurückfallen. Myshas Kampf ist ein Kulturkampf. Das macht ihn zum Helden. Seine Geschichte ist, wie gesagt, dramatisch und spannend zu lesen, wie der Auftakt zu einem Planetenroman.
16) Ein Leben für eine Hudson Bay Wolldecke (Forever to a Hudson Bay Blanket, 1971, VÖ 1972)
Im 21. Jahrhundert lebt Dov Rapelle in Calgary, Kanada, und bevorzugt das ruhige Leben in den Bergen. Auf seinem nächsten Bergausflug in die Schneeberge wird seine Ruhe in der Berghütte jedoch jäh beendet, als ein Helikopter ein halbnacktes 16-jähriges Mädchen absetzt, das sich ihm in die Arme wirft. Er wickelt es erst einmal in eine Decke der Haudson Bay Company, um es warmzuhalten, aber davon will Loolie, wie es sich nennt, gar nichts wissen.
Die Dinge nehmen zwangsläufig ihren natürlichen Lauf und nahm er sie entjungfert hat, verrät sie ihm, dass sie schon 73 Jahre alt ist und einen Zeitsprung gemacht hat. Sie heiße auch nicht Loolie, sondern Eulalia Avrolupa-Rapelle und ist die Tochter eines peruanischen Magnaten, der seine Schergen ausgesandt hat, um Loolie wieder einzufangen. Und um den Kerl, der ihr möglicherweise etwas angetan hat, ins Jenseits zu befördern.
Zum Glück kennt sich Dov in seiner Berghütte und deren Umgebung wesentlich besser aus als diese Peruaner und kann unbehelligt entkommen. Doch das ist nicht das Ende der Geschichte von Dovy und Loolie. Noch längst nicht. Denn irgendwo muss Loolies Zeitsprung ja angefangen haben…
Mein Eindruck
Es gibt nicht viele gelungene Zeitparadoxgeschichten. Die besten und bekanntesten stammen von Robert Heinlein, und er schrieb sie bereits im goldenen Zeitalter: „All you zombies“ (1959) und „By his bootstraps“ (1941). Ihr Handlungsverlauf ist derart kompliziert, dass ihn sich niemand merken kann. Einer der Gründe, warum sie so selten abgedruckt werden. Da ist „A sound of thunder“ von Ray Bradbury schon wesentlich simpler. Die Zeitreise selbst wird gar nicht erklärt, sondern nur der Verlauf und die (politischen) Folgen einer Dinosaurierjagd.
Die Zeitschleifenstory, in der ein Ereignis zu seiner eigenen Ursache wird und somit zu einem Paradox, ist wohl die anspruchsvollste Untergattung. Die beste Story, die mir hier je untergekommen ist, heißt „Time wants a skeleton“ und stammt von Ross Rocklynne (1941). In „By his bootstraps“ wird aus der Schleife ein Knoten, und in „All you zombies“ wechselt der Protagonist sogar sein Geschlecht, um sowohl sein Vater als auch seine Mutter zu werden.
Natürlich ist auch „Hudson Bay Company“ eine Zeitparadoxstory, und eine ziemlich erotische dazu. Zwei junge Menschen in eine Berghütte zu stecken und dort alle möglichen erotischen Phantasien umzusetzen, das ist genau das, was Dov in der Story schon mehrmals getan hat (er hat sich dabei ebenso erkältet wie seine Freundin). Die Ursache für Loolies Erscheinen in einer Zeitschleife hat jedoch eine eher tragische Ursache. Kaum je fehlt in einer Tiptree-Geschichte ein Todesfall.
Oberflächlich gesehen werden alle Klischees erfüllt: Reiches nettes Mädchen ist seines Vater Obhut entschlüpft und hat ihren Traumlover gefunden, allerdings nur bis die Männer des Vaters auftauchen. Natürlich hat die Sache ein Nachspiel. Im Grunde könnte die Story eine spannende, erotische Ausarbeitung gut vertragen. Und der tragische Todesfall würde einen soliden Ausgleich zur Frivolität des Anfangs bieten.
17) Frauen, die man übersieht (Women Men Don’t See, 1972, VÖ 1973)
Don Fenton aus St. Louis, USA, saust in Windeseile nach Mexiko auf die Halbinsel Yucatan, um dort zu angeln. Aber die Maschine, die er gebucht hatte, ist defekt und er muss die von Estéban, einem reinrassigen Maya-Piloten, nehmen, die schon zwei amerikanische Frauen gebucht haben. Er hat die beiden, eine Miss und Mrs. Parsons aus Bethesda, Maryland, schon auf dem Flug bemerkt, allerdings nur als verschwommenen Fleck. Ihm fällt auf, dass sie ihn nicht mal ansehen, als sie ihm gestatten, mit ihnen zu fliegen.
Das Wetter ist schlecht, der Zustand des Fliegers noch schlechter, aber Estéban schafft es, eine fantastische Bruchlandung in den Mangrovensümpfen an der Küste hinzulegen. Während alle anderen unverletzt sind, scheint er sich eine Rippe gebrochen zu haben. Die zwei Frauen geraten aber weder in Panik noch bejammern sie ihr Schicksal. Mrs. Parsons, eindeutig die Mutterhenne der beiden, behauptet, sie sei bei den Pfadfinderinnen gewesen. Erklärt das ihren kühlen Kopf, fragt sich Don.
Am nächsten Tag brechen Don und Mrs. Parsons auf, um Hilfe zu holen. Sie stoßen auf Süßwasser, an dem sie sich laben, und erbeuten Fische, die sie roh verzehren. Aber Mrs Parsons weiß Don auf Abstand zu halten. Eine Bibliothekarin, die sich für Maya-Ruinen interessiert, aber trotzdem fortwährend nach etwas Ausschau hält – das kommt Don mehr als spanisch vor. Ruth, wie sie sich nennt, schmettert alle Fragen und Anzüglichkeiten gekonnt und höflich ab. Ihre Tochter mag sich ja vielleicht von Estéban schwängern lassen, doch sie hat andere Pläne…
Sie sind nicht allein in der Mangrovenwildnis, muss der inzwischen am Knie verletzte Don feststellen. Eines Abends taucht ein Boot auf, das mit drei menschenähnlichen Aliens besetzt ist. Sie greifen mit zwei Meter langen Armen nach Mrs Parsons – denn sie hat etwas, was sie zurückhaben wollen. Im Austausch für dieses Objekt verlangt Ruth Parsons eine Mitfluggelegenheit auf dem Raumschiff der Aliens. Don Fenton riskiert den Verstand und sein Bein, doch es gelingt ihm nicht, Ruth Parsons und ihre Tochter von der Abreise zu einem anderen Stern abzuhalten…
Mein Eindruck
In dieser berühmten Novelle sind ein paar üble Tiefschläge für das Ego der Männerwelt versteckt. Ruth und Althea Parsons haben zwar nichts gegen Männer, wohl aber gegen deren absolute Herrschaft über Frauen. Sie haben sich in Nischen wie dem National Institute of Health (NIH) eingerichtet, wo eine Freundin sie deckt. Sie vermehren sich dadurch, dass sie Männern deren Samen abluchsen, indem sie sich schwängern lassen, ohne den Vätern Bescheid zu geben.
Natürlich sind die beiden Parsons keine Bibliothekarinnen, sondern mehr eine Art Agentinnen im Außendienst – darüber wusste die CIA-Mitarbeiterin Alice Sheldon bestens Bescheid. Während sie meist in unscheinbaren Abteilungen der Bürokratie unsichtbar sind (darauf bezieht sich der Titel der Erzählung), arbeiten die Parsons zuweilen an der Front: so wie jetzt.
Sie wollen lieber woanders sein als noch länger auf einer von Männern dominierten „Welt-Maschine“ ein rechtloses Dasein fristen, sagt Ruth in einem sehr bedeutenden Monolog. Dieses Woanders-sein wird Don bald klar: mit den Aliens mitfliegen. Ein weiterer Tiefschlag für sein männliches Ego.
Die Story ist gespickt mit sexuellen Anspielungen und Bildern, doch es findet kein Sex statt. Die Männer, für die Don steht, haben nämlich ausgespielt: Sein geschwollenes Bein ist wie eine riesige Erektion, aber völlig nutzlos. Die deutsche Übersetzung unterdrückt anstößige Formulierungen wie „taking a pee“ (pinkeln; umschrieben als „ein Geschäft verrichten“), aber wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, bekommt viel von der sarkastischen Bissigkeit mit, die die Autorin in den Text gelegt hat. In der neuen Übersetzung wird die heutige Umgangssprache verwendet, um einen lockeren Ton anzuschlagen, indem sich solche Sarkasmen leicht einbauen lassen.
18) Angel Fix (Angel Fix, 1972, VÖ 1974)
Als Marty den Alien unweit von seinem Haus entdeckt, spricht der Fremde perfektes Englisch, während er sein Vehikel zusammenklappt. Dass er ein Fremder von den Sternen ist, kann er leicht mit verschiedenen Teilen seiner Anatomie beweisen, und so ist Marty bald überzeugt. Aber was will der Fremde auf der Erde, fragt er. Der Alien, der sich gerne Joe nennen lässt, behauptet, er wolle den GUTEN Menschen etwas zukommen lassen, das sie schon lange vermisst haben, quasi eine Belohnung. Ob Marty vielleicht einen „guten Jungen“ kenne, dem man so ein Geheimnis anvertrauen könne?
Klar doch: Whelan, den Förster. Und Whelan, der ebenfalls überzeugt wird, denkt an Marion von der Klinik, und die denkt an Cleever, den indianischen Staatsanwalt, und der denkt an Dr. Lukas. In dessen Praxis enthüllt Joe endlich, was er anbietet: Urlaub auf einer jungfräulichen, paradiesischen Welt. nach einem Besuch dort sind alle begeistert und dankbar. Am liebsten würde sie gar nicht mehr weg.
Nach vollbrachtem Werk macht sich Joe vor dem anrückenden Sheriff unsichtbar und verzieht sich in seine fliegende Untertasse. Die beiden anderen Agenten melden sich mit Erfolgsnachrichten. Schon bald werde dieser Planet zur Hälfte entvölkert sein, und dann könnten sie ihn übernehmen.
Mein Eindruck
Die flott erzählte Story wirkt wie eine Episode, die Monty Python gestaltet haben könnte. Obwohl ein Alien-Besuch ziemlich unwahrscheinlich ist, lässt sich doch jeder von Joes Erscheinung täuschen. Der Staatsanwalt ist eine harte Nuss, wie zu erwarten, aber auch er macht mit. Und das, was Joe anzubieten hat, ist wirklich attraktiv, sofern man einer von den „GUTEN ist, die nie belohnt werden“. Es ist zudem hilfreich, dass Joe über allerlei Täuschungsmanöver gebietet, so etwa nichtexistente Hippie-Autos, die den Sheriff fortlocken.
Am Schluss erfahren wir jedoch, dass dies alles nur eine Masche ist, um die Erde zu leeren. Ein typischer Yankee-Trick, um die naiven GUTEN Erdlinge übers Ohr zu hauen. Die Moral von der Geschicht‘? Traue einem Alien nicht, besonders dann, wenn er etwas anbietet, das zu GUT ist, um wahr zu sein. Hinterlistig macht sich die Autorin lustig über die naiven GUTEN, denen keiner ihre Arbeit dankt. Aber auch der Sheriff, der gewiss keiner der GUTEN ist, bekommt sein Fett weg. Irgendwo sollte man dem Mittelweg folgen, deutet die Autorin an und schnellen, scheinbar kostenlosen Lösungen (Angel Fix = ein Problem, das nur ein Engel beheben würde) misstrauen.
Nachwort von Robert Silverberg: Wer oder was ist Tiptree? (Who Is Tiptree, What is he?, 1975)
Erst 1977 wurde das Geheimnis um „James Tiptree jr.“ gelüftet, doch weil Silverbergs Text bereits 1974 (in „Phantasmicom“) erschien, spekuliert er noch, der Autor von „Paradiesmilch“ und anderen irren Geschichten müsse wohl ein Mann sein.
Was ich am ehesten aus seinem Text mitzunehmen bereit war, sind seine kurzen Wertungen der Erzählungen und besonders der Sammlungen, in denen sie zusammengefasst veröffentlicht wurden. So fehlt beispielsweise „Your haploid heart“ in der ersten Sammlung „10.000 Lichtjahr von zuhause“ aus dem Jahr 1973, wohl weil die Novelle dafür zu lang war. Sie erschien erst in „Sternenlieder eines alten Primaten“ (ebenfalls bei Heyne). Silverberg weist auf diesen bemerkenswerten Umstand hin.
Ebenfalls von Interesse, zumindest für den literaturhistorisch interessierten SF-Fan, ist sein Bericht über das Auftauchen des „Phänomens“ James Tiptree jr., denn daran lässt sich ablesen, wie sehr die alte Garde von diesen umwerfenden Stories beeindruckt, wenn nicht sogar geschockt war. Es war unausweichlich, dass Tiptree auch in Harlan Ellisons Anthologie „Again, dangerous visions“ aufgenommen wurde. Ellisons wollte ja alles, was irgendwie rebellisch und ungewöhnlich aussah, aufnehmen. Schon 1969 hatte er mit „Dangerous Visions“ die Leser aufgeschreckt. Wir warten heute noch auf seine Anthologie „Last dangerous visions“: Die Beiträge sind alle bezahlt, aber das Buch noch nicht erschienen. Neueste Nachricht: Dieses Buch soll im Oktober 2024 erscheinen.
Unterm Strich
Diese Erzählungen bilden die zweite Hälfte des unverzichtbaren Grundstocks an Tiptree-Klassikern, so etwa die Novelle „Die Frauen, die man übersieht“. Hier sind wichtige Stories aus dem ersten Storyband von 1973 sowie aus „Warme Welten und andere“ enthalten, aber auch verstreute Texte wie „Die Frauen, die man übersieht“.
Das Nachwort von Robert Silverberg ist ein kurioses, weil faktisch gesehen längst überholtes Anhängsel. Der Titan der SF macht aber einige kluge Anmerkungen und weist auf den Zusammenhang mit Ellisons klassischer Anthologie „Again, dangerous visions“ hin. Dort wurden nur Tabubrecher aufgenommen, mit denen der Herausgeber seinen Ruf als Bürgerschreck (lies: Neuerer) untermauerte.
Die Übersetzung
Der Stil der Übersetzungen ist durchweg aktuell und modern, häufig wird aktuelle Umgangssprache verwendet, allerdings ohne Anglizismen. Die Zeichensetzung erwies sich jedoch als eindeutig verbesserungsfähig. Folgende Fehler fand ich in einer Stichprobe.
S. 137: „Der Lutroide ballte die Faust und öffnete sie bald wieder[,] um die abgeknabberten Nägel zu entblößen…“: Das Komma fehlt.
S. 137: „Ich erkennen das Recht ihres (!) Ordens an…“: Da es sich um eine direkte Anrede handelt, sollte hier ein großes „Ihres statt „ihres“ stehen.
S. 138: „…indem neues Territorium erschlossen wurde [,] oder neue Völker von außen eingedrungen sind.“ Das Komma ist überflüssig.
S. 138: „Die Gabe, die sie (?) uns bringen [,] ist Verzweiflung.“ Mal vom fehlenden Komma abgesehen, bestehen Zweifel an der Kleinschreibung an dem klein geschriebenen „sie“. Wer sollen diese „sie“ sein? Wahrscheinlicher ist eine direkte Anrede, dann müsste es „sie“ heißen (siehe oben).
S. 139: „Der Lutroide starrte in die von Schatten verdunkelten [,] Augen des Pfadmanns…“ Das Komma ist überflüssig.
S. 139: „Draußen wirbelte die Galaxie vorbei…: Ein (!) endliches Gefängnis.“ Nach dem Doppelpunkt wird klein geschrieben, wenn kein neuer vollständiger Satz folgt.
Gebunden: 528 Seiten
Aus dem Englischen übertragen von Frank Böhmert, Eva Bauche-Eppers, Elvira Bittner, Sabrina Gmeiner, Laura Scheifinger, Andrea Stumpf, Samuel N. D. Wohl und Margo Jane Warnken.
ISBN-13: 9783902711373
Der Autor vergibt: