Lee Child – Outlaw (Jack Reacher 12)

Schmutzige Geschäfte im Nirgendwo

Nachbardörfer in Colorado. Hope und Despair. Hoffnung und Verzweiflung. Dazwischen nichts weiter als meilenweit Niemandsland. Jack Reacher, per Anhalter unterwegs, strandet ausgerechnet in Despair. Er will nur einen Kaffee trinken und dann weiterziehen, doch vier düstere Gestalten wollen ihn wegen Landstreicherei von der Gemarkung verweisen. Reacher geht die Freiheit zwar über alles, aber einen Platzverweis lässt er sich nicht bieten. Und sein untrüglicher Instinkt sagt ihm, dass in dieser tristen Gegend irgendetwas faul ist … (Verlagsinfo)

Dieser Bericht beruht auf dem Taschenbuch der Originalausgabe von 2009.

Die Autoren

Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte Jura und arbeitete dann zwanzig Jahre lang beim Fernsehen. 1995 kehrte er der TV-Welt und England den Rücken, zog in die USA und landete bereits mit seinem ersten Jack-Reacher-Thriller einen internationalen Bestseller. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Anthony Award, dem renommiertesten Preis für Spannungsliteratur.

Lee Childs Bruder Andrew wurde im Mai 1968 in Birmingham, England, geboren und studierte an der Universität von Sheffield englische Literatur und Theaterwissenschaften. Nach seinem Abschluss gründete und leitete er eine kleine unabhängige Theatertruppe, bevor er für fünfzehn Jahre in die Telekommunikationsbranche wechselte. Unter dem Namen „Andrew Grant“ veröffentlichte er bereits mehrere erfolgreiche Romane. Heute lebt er mit seiner Frau, der Schriftstellerin Tasha Alexander, in Wyoming, USA.

Wer ist Jack Reacher?

Jack Reacher (* 29.10.1960) wurde in West-Berlin geboren und verbrachte als Sohn eines Marine-Corps-Offiziers seine Kindheit und Jugend auf über die Erde verteilten US-Militärbasen. 1983 trat er selbst in den Militärdienst ein und wurde 13 Jahre später, im April 1996, im Rang eines Majors der Militärpolizei ehrenhaft entlassen. Seitdem hat er keinen festen Wohnsitz, sondern bereist (hauptsächlich) die USA. Durch sein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden wird er immer wieder in Kriminalfälle verstrickt.

Er zeichnet sich durch hohe Intelligenz, große Körperkraft und Willensstärke aus. Besonders ausgeprägt ist sein unbedingter Wille, Schwächere zu schützen.

Die Jack Reacher Reihe

1) Größenwahn (Killing Floor, 1997)
2) Ausgeliefert (Die Trying, 1998)
3) Sein wahres Gesicht (Tripwire, 1999)
4) Zeit der Rache (Running Blind/The Visitor, 2000)
5) In letzter Sekunde (Echo Burning, 2001)
6) Tödliche Absicht (Without Fail, 2002)
7) Der Janusmann (Persuader, 2003)
8) Die Abschussliste (The Enemy, 2004)
9) Sniper (One Shot, 2005)
10) Way Out (The Hard Way, 2006)
11) Trouble (Bad Luck and Trouble, 2007)
12) Outlaw (Nothing to Lose, 2008)
13) Underground (Gone Tomorrow, 2009)
14) 61 Stunden (61 Hours, 2010)
15) Wespennest (Worth Dying for, 2010)
15.5. Second Son (2011)
16. The Affair (2010)
16.5. Deep Down (2012)
17. Der Anhalter (A Wanted Man, 2012)
17.5. High Heat (2013)
18. Never Go Back (2013)
18.5. Not a Drill (2014)
19. Personal (2014)
20. Make Me (2015)
21. Night School (2016)
22. Midnight Line (2017)
23. Past Tense (2018, dt. Titel: „Der Spezialist“)
24. Blue Moon (2019, „Die Hyänen„)
25. The Sentinel (2020, „Der Sündenbock“)
26. Better Off Dead (2021, „Der Kojote“)
27. No Plan B (2022)
28. The Secret (2023)
29. In Too Deep (2024)

Erzählungen

No Middle Name (2017)

Handlung

Reacher hat sich vorgenommen, die USA per Anhalter vom äußersten Nordosten diagonal bis zum äußersten Südwesten, also San Diego, zu durchreisen. Von Kansas kommend gelangt er in die Kleinstadt Hope. Sie liegt vor einem Höhenrücken, hinter dem Rocky Mountains zu erspähen sind – in weiter Ferne. Dort liegt die Stadt Despair. Daher müssen die Pioniere mit ihren Wagentrecks beim Anblick der Berge im Westen genau das gefühlt haben: erst Hoffnung, dann Verzweiflung.

Landstreicher!

Eine meilenlange Straße verbindet die beiden Städte. Aber das ist kein Problem für Reachers lange Beine. Ungefähr auf halber Strecke fällt ihm eine Dehnungsfuge auf, dann wird die Straße deutlich schlechter, aus Asphalt wird festgefahrener Schotter. War ihm Hope recht sympathisch erschien, so ist Despair ziemlich genau das Gegenteil. Morgens um sieben sind die tristgrauen Straßen recht verlassen, doch ein Tankstellenwart weist ihm den Weg zum nächsten Café. Dort wird er nicht etwa mit offenen Armen willkommen geheißen, sondern vielmehr ignoriert. Als er sich aufdrängt, ruft die Bedienung die Hilfssheriffs.

Er lässt sich abführen, um herauszufinden, welchen Verbrechens er sich in Despair schuldig gemacht hat. Der Richter sagt es ihm: Landstreicherei. Ein Mann ohne Einkommen, ohne festen Wohnsitz und ohne festes Ziel muss ganz klar ein Vagabund sein. Doch da es sein erstes Verbrechen in Despair ist, verfrachten ihn die Deputies nur an die Stadtgrenze. Sie verläuft exakt an besagter Dehnungsfuge. Den Rest der Strecke muss er gehen.

Weibliche Kontakte

Eine Polizistin namens Vaughan beginnt sich in Hope für ihn zu interessieren. Bei Kaffee und Donuts erzählt er ihr, dass er ein ehemaliger Militärpolizist sei und die Behandlung in Despair als ungerecht empfinde. Ihr Rat lautet, die ganze Sache zu vergessen und weiterzuziehen. Doch Reachers Art ist eine andere: die des Geradeaus-Gehens nämlich. Kaum hat er gesagt, er werde nachsehen, was in Despair so stinkt, gibt sie ihm den Tipp, mit einer jungen Frau in einem bestimmten Diner zu sprechen.

Diese junge Frau, die sich „Lucky“ nennt, lügt zuerst wie gedruckt. Es ist klar wie Kloßbrühe, dass sie aus Kalifornien kommt. Sie sagt, sie sei verlobt, dann sie vermisse seit Tagen ihren Mann, der nach Despair gegangen sei. Sie zeigt Reacher dessen Foto, damit er ihn identifizieren kann. Na, das ist ja schon ein richtiger Suchauftrag. Reacher macht sich am nächsten Morgen auf die Socken, und ist erstaunt darüber, was in Despair vor sich geht.

Kundschaften

Da ist einmal die Stadt, die er schon kennt, aber pünktlich um sechs Uhr fahren alle Arbeiter los, um zur Metallverwertungsfabrik zu fahren, davor zu parken und durch eine schmale Passage die Fabrik zu betreten. Die zahlreichen Gebäude sind von Sicherheitszaun umgeben, und siehe da: Zwei Chevrolet Tahoe umkreisen das Fabrikgelände gegenläufig auf Patrouille. Unbefugte sind ebenso unwillkommen wie Landstreicher, denkt Reacher, als er das Manöver der Patrouille berechnet.

Er hat eine maximale Lücke von fünf Minuten, um auf die andere Seite der Zufahrt zu gelangen. Auf der Zufahrt fahren den ganzen Tag riesige Laster, die Schrott bringen, teils sogar aus Kanada, sowie Trucks, die mit reinem Metall wieder herauskommen. Offenbar geht es bei der Fabrik nicht um Peanuts, sondern um eine gigantische Menge Schrott aus dem gesamten Mittelwesten und Kanada. Aber wem gehört der Laden? Hinter der Fabrik dehnt sich ein weiterer Komplex aus. Der dient möglicherweise dem Besitzer als Wohnsitz.

Abends um sechs, nach zwölf Stunden Maloche, kehren die Arbeiter hörbar und sichtbar zu ihren Häuschen oder sonstigen Wohnstellen zurück. Es wird Nacht, als Reacher unbehelligt die Stadt umkreisen und nach Hope laufen kann. Auf dem Weg, der ihn parallel zur Verbindungsstraße führt, stolpert er in der Finsternis über eine Leiche. Mit dem Tastsinn findet er heraus, dass es sich um einen sehr mageren, ja, geradezu ausgemergelten und dehydrierten Mann ohne Papiere handelt. Er merkt sich die Gesichtszüge und das krause Haar, dann legt er ein Steinmännchen an, um die Stelle an der Verbindungsstraße zu markieren. Offenbar ist jeder Kontakt mit Despair höchst ungesund.

Verschwunden

Officer Vaughan ist zunächst ungläubig, als er ihr von seinem Fund erzählt. Nein, es handle sich nicht um den vermissten Mann der jungen Frau, die sich „Lucky“ nennt. Dass die Leiche an der bezeichneten Stelle fehlt, erhöht seine Glaubwürdigkeit nicht gerade. Aber er zeigt ihr, was für ein guter Spurenleser er ist: Die Leiche wurde auf einer Trage wegtransportiert, denn im Boden kann man genau die Druckstellen der Füße der Trage erkennen. Tja, aber um sie wiederzufinden, müsste jemand nach Despair fahren, und dieses Ansinnen weist Officer Vaughan weit von sich. Aber sie leiht ihm ihren alten Pickup-Laster.

Beunruhigende Entdeckungen

Um nicht von den Deputys vorzeitig aus dem Verkehr gezogen zu werden, fährt Reacher einen gewaltigen Umweg un kommt von Kansas aus über die Autobahn nach Despair. Er kann die Fabrik, auf die viele große Laster zufahren bereits sehen, als ihm ein Militärkomplex ins Auge fällt. Solche Camps kennt er auf dem Effeff: Er hat sein halbes Leben darin verbracht. Was ihn wirklich erstaunt, ist die Tatsache, dass sechs mit Maschinengewehren bestückte Humvees davor geparkt sind – und dass es sich um Militärpolizisten handelt, die das Lager mit vorgehaltenem M-16 bewachen. Es ist eine Kampfeinheit. Mausert sich Colorado neuerdings zu einem zweiten Irak, fragt sich Reacher.

Katz und Maus

Er passiert die strenge Kontrolle, indem er seine oder vielmehr Vaughans Fahrzeugpapiere vorzeigt. Um die Glaubwürdigkeit seiner Behauptung, er wolle nach Hope, nicht zu verlieren, muss er weiter durch Despair fahren. Er wird prompt von den Deputys erspäht und verfolgt. Dieses Katz-und-Maus-Spiel kann er aber nicht ewig weiterführen, denn ihm geht der Sprit aus. An einem vollbesetzten Café parkt er seinen Laster und wartet auf dem Gehweg.

Es dauert nicht lange, und der erste Deputy hat ihn erspäht, rast heran, versperrt den Weg, steigt aus und zückt seine Dienstwaffe. Reacher weigert sich, dem Befehl, sich auf den Boden zu legen, zu gehorchen. Er kalkuliert richtig: Der Hilfssheriff zögert, ihn zu erschießen. Denn dabei könnten ja eine Menge brave Bürger von Despair zu Schaden kommen. Also ruft er Verstärkung herbei.

Genau darauf hat Reacher gewartet. Er entwaffnet Nr. 1 und schlägt ihn K.O., schnappt sich seinen Wagen, wendet und wartet, bis Nr. 2 auftaucht. Der Bruder des Deputys ist bei Reachers Anblick in einem Polizeiwagen ziemlich verblüfft. Aber dann gibt er Gas und holt seine Wumme heraus. Reacher, der sich im Unterschied zu Nr. 2, zuerst angeschnallt hat, tritt das Gaspedal bis zum Anschlag durch und rast los, voll auf Kollisionskurs…

Mein Eindruck

Als eine Art Ein-Mann-Armee schaltet Reacher nicht nur die Sheriffs von Despair aus, sondern bringt auch die Polizistin Vaughan auf seine Seite – und sogar in sein Bett. Ihr Mann David liegt seit einem Bombenanschlag im Irak im Koma, und zwar in einem Militärhospital nicht weit von Hope. Zusammen sind sie ein fast unschlagbares Team, wie so oft in den Reacher-Thrillern. Das ist ein fest etabliertes Muster, und seine Fans lieben Reacher auch für seine romantische Seite. Leider handelt er sich dadurch in der TV-Verfilmung regelmäßig eine FSK-16-Einstufung ein. Das ist sowas von einer Spaßbremse von seiten der FSK.

Drei Meilen entfernt von Despair liegt die Schrottverarbeitungsfabrik von Mr. Thurman. Der Schrott kommt vom Militär, und zwar direkt aus dem Irak: demolierte Panzer und Humvees. Diese sind mit abgereichertem Uran gepanzert. Reacher ist eher daran interessiert, was die Fabrik verlässt. Wozu braucht Thurman, dieser Superchrist, 20 TONNEN an TNT-Sprengstoff und auch noch TCE-Giftzeug, das ins Grundwasser gelangt? Thurmans tägliche Flüge sind harmlos, und mit einem davon düst Reacher bis runter nach Oklahoma – wo ihn Thurman sitzenlässt.

Indem er mit den Leuten aus der Region redet, erfährt Reacher, dass die Superchristen um Thurman wohl doch nicht so harmlos sind, wie sie vorgeben. Sie ahnen das Ende der Welt, ja, sie sind sogar gewillt, es aktiv herbeizuführen. TNT plus Uran ergibt eine ziemliche große „schmutzige Bombe“, erklärt er Vaughan. Doch ob diese Theorie zutrifft, müsste man in einem riskanten Einsatz mal herausfinden.

Unterm Strich

Diese Handlung klingt gar nicht mal schlecht, und die letzten 90 Seiten (im Großdruck meiner Originalausgabe) sind tatsächlich von Action und Entdeckungen geprägt. Doch bis der Leser dorthin gelangt, verlangt der Autor dem leser an vielen Stellen ein gerüttelt‘ Maß an Geduld ab. Er hat nämlich die Unsitte bis zum Exzess praktiziert, jeden noch so kleinen Handgriff zu beschreiben.

Sicher, das verleiht der Geschichte einen plausiblen Anstrich von Realismus, was bei so seltsamen Namen wie „Hope“ und „Despair“ auch nötig ist. Solche Namen gab man Stadtgründungen Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Siedlungsgrenze immer weiter nach Westen vorgeschoben wurde. Diese Namen war en Programm, aber wie kann ein Name wie „Verzweiflung“ Programm sein? In dieses Muster passt auch ein Stadtname wie „Halfway“, als „auf halber Strecke“. Colorado ist offenbar wirklich irgendwo im Nirgendwo.

Der Hyperrealismus der Beschreibungen ist ein Markenzeichen des ersten Dutzends an Reacher-Romanen, später verzichtete der Autor auf jedes minutiöse Detail – inzwischen nahmen ihm die militärischen Leser, an die er sich wandte, seine Sachkenntnisse ab. Und auch hier spielt die Sachkenntnis, die Reacher zu geschrieben wird, von großem Vorteil, um zu begründen wie die Hauptfigur handelt.

Die Gründe, die Reacher hat, und die Entdeckungen, die er macht, dürften, wie er viele Male selbst kommentiert, die PR-Abteilung des Pentagon wenig begeistern: Da werden alte Panzer und Humvees, ja, sogar iranische Autos, in den USA recycelt, allerdings mit einem Haken: Das abgereicherte Uran aus den Panzerungen muss irgendwohin, und die Entsorgung erfolgt alles andere als sachgerecht.

Zweitens geht es um Deserteure, die der Hölle des Irak-Kriegs nicht noch einmal begegnen wolle. Diese Deserteure haben einen Weg gefunden, in Hope/Despair auf einen kanadischen LKW zu kommen, um ins neutrale Ontario zu gelangen. Allerdings müssen sie einen Weg finden, auch ihre Freundinnen und Frauen zu treffen und mitzunehmen. Da wird’s knifflig. Dieses Problem ist Ramirez zum Verhängnis geworden, der im Niemandsland verdurstet ist.

Alles in allem kann man also feststellen, dass der Autor in diesem Reacher-Band einige fürs Pentagon ziemlich heiße Eisen anpackt. Mehr darf nicht verraten werden. Aber wer genügend Geduld aufbringt – ich legte lange Pause ein -, der wird auch von diesem Band zufriedengestellt werden.

Taschenbuch: 448 Seiten.
O-Titel: Nothing to lose, 2013
Aus dem Englischen von Wulf Bergner.
ISBN-13: 978-3442371631

www.blanvalet.de

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