Bereits mit dem [ersten Band 635 des neuen Zyklus von Monika Felten hatte ich so meine Probleme. „Das Erbe der Runen“, so der Name der aktuellen Reihe der Autorin, die mit ihrer „Elfenfeuer“-Saga zum ersten Mal sehr positiv aufgefallen war, bot eine Menge Potenzial, das jedoch in einer zu offensichtlichen bzw. vorhersehbaren Handlung und dem zu schleppend vorangehenden Erzähltempo ertränkt wurde. Dass man das Buch dennoch einigermaßen gut lesen konnte, lag vor allem an Feltens eindringlichem Erzählstil, der einen schließlich doch noch über die Zeit retette, die maßgeblichen Mängel aber nicht übertünchen konnte.
Im Grunde genommen könnte ich diese Kritik auch beim zweiten Band dieser Serie genau so stehen lassen. Auch „Die Feuerpriesterin“ bewegt sich nur behäbig voran und ist im direkten Vergleich zum Vorgängerbuch sogar noch eine Nummer schwächer ausgefallen, was vor allem daran liegt, dass die im Buch auftretenden Charaktere noch durchschaubarer sind und der Handlung einen großen Teil der Spannung nehmen – sofern diese überhaupt mal im erwünschten Maße zum Vorschein kommt …
_Story_
Ajana hat mit Hilfe ihres Runenamuletts das Land Nymath gerettet und die Nebel wiederbelebt, bleibt aber dennoch in Aufruhr, weil Vhara, die Dienerin des Dunklen Gottes, dies nicht ungesühnt lassen möchte. Erfüllt von einem ungeheuren Rachedurst, schwört sie, die Nebelsängerin ein für allemal zu zerstören, und mit ihr gleich auch die von ihr geschiedenen Uzoma, mit denen sie nach der Niederlage nicht mehr zusammenarbeiten kann. Dazu sind ihr alle Mittel recht, und so beginnt sie mit ihrem Feldzug samt ihrer Feuerwesen, die in Windeseile das halbe Land in Flammen aufgehen lassen.
Die neutral erscheinenden Uzoma hingegen sind zunächst gar nicht in der Lage, sich gegen die Feuerpriesterin zu stellen, geschweige denn überhaupt irgendetwas auszurichten. Nach dem Kampf sind sie in den Nebeln gefangen und drohen zu erfrieren und zu verhungern. Dann treten jedoch plötzlich die Vaughn auf und bieten ihnen ihre Hilfe an. Zusammen mit drei Fürsten der Vereinigten Stämme sollen sie an einer Versammlung teilnehmen, die den Frieden für Nymath garantieren und die Auslöschung des Bösen einleiten soll.
Doch die gnadenlose Vhara durchkreuzt diese Pläne, und bevor das geplante Tribunal stattfinden kann, legt sie die gesamte Region in Schutt und Asche. Überall sind ihre Feuerwesen aktiv und verbrennen alles, was sich ihnen in den Weg stellt. Ajana tritt ihr schließlich entgegen und macht sich auf, um die Feuerpriesterin mit weiteren Abgeordneten der Stämme zu bekämpfen. Doch dies soll nicht das einzige Problem der Nebelsängerin bleiben: Auch der Dunkle Gott ist wieder aktiv und bedroht Nymath in Abwesenheit der übrigen schlafenden Götter …
_Meine Meinung:_
Wenn man den ersten Band von „Das Erbe der Runen“ bereits gelesen hat – was übrigens nicht dringend erforderlich ist, um in die Geschichte hineinzukommen – wird man sich bereits nach diesem kurzen Überblick vorstellen könne, wie die Erzählung zu Ende gehen wird. Das ist nunmal die große Schwäche, von der auch der zweite Roman aus diesem Zyklus nicht verschont bleibt. Hinzu kommt, dass sich Monika Felten bisweilen auch zu oft an irgendwelchen Belanglosigkeiten aufhält. Es geschehen zwischendurch viele Dinge, die den eigentlichen Plot im Grunde genommen gar nicht voranbringen und lediglich zur Kenntnis genommen werden. So sterben in der ersten Hälfte zum Beispiel einige zunächst wichtig erscheinende Charaktere, die dies aber in letzter Konsequenz dann doch nicht sind. Und da hätten wir direkt auch eine weitere Mangelerscheinung: Die Geschichte kommt einfach nicht so richtig voran. Trotz der Vielzahl der Ereignisse stockt der Hauptstrang immer wieder, und als sich dann endlich eine Art Steigerung ausmachen lässt, ist das Buch auch schon wieder zu Ende, was bei mehr als 500 Seiten ja schon fast Bände spricht. Und ausgerechnet die in Band 1 noch gelobte Stärke, der Erzählstil der Autorin, wird ihr hier zum Verhängnis. Sie verschiebt manchmal die Prioritäten recht ungünstig und hält sich zu lange an Beschreibungen von nicht wirklich interessanten Einzelheiten auf und verschenkt so wichtigen Raum, der ihr zum Ende hin dann fehlt. Selbst der Versuch, durch die Erwähnung einiger nebulöser Personen, die dann später eingeführt werden, Spannung zu erzeugen, schlägt letztendlich fehl, weil das beschriebene Mysterium weitaus unspektakulärer ist, als es hier angedeutet wird.
Zumindest unterlaufen Felten in diesem Werk keine logischen Fehler; alles bleibt schön nachvollziehbar – kein Wunder bei den teilweise sehr ausgiebigen Schilderungen – und wenn man an einen Fantasy-Roman keine großen Ansprüche stellt, wird man hier auch relativ schnell zufrieden sein. Doch beim nach wie vor reichhaltigen Angebot an phantastischer Literatur wird es die preisgekrönte Autorin mit diesem Werk, und letztendlich auch mit dem gesamten Zyklus, schwer haben, vor den kritischen Augen der Leser zu bestehen.
Mein Fazit möchte ich dennoch diplomatisch formulieren: Wer den Zyklus „Das Erbe der Runen“ einmal begonnen hat, und wem die Materie bis dahin gefallen hat, sollte auch „Die Feuerpriesterin“ lesen. Neueinsteigern sei hingegen empfohlen, sich anderweitig umzusehen, denn der Markt gibt weitaus spannenderes Material her als diese Serie. Vielleicht kann mich ja der dritte Band „Der Schrei des Falken“ von Osanna Vaughn am Ende doch noch positiv stimmen, aber nach einem gerade mal ordentlichen und einen recht durchschnittlichen Buch mache ich mir da momentan keine großen Hoffnungen – und bei einem Preis von ca. 20 Euro reicht dann auch die schöne (leider aber sehr kurze) Audio-CD mit Liedern der jungen deutschen Sängerin Anna Kristina als Entschädigung nicht mehr aus …
|Es ist nicht tot,
was ewig liegt,
bis dass die Zeit
den Tod besiegt.|
(Auszug aus dem „Necronomicon“ und dem „CTHULHU Spielleiter-Handbuch“
_Allgemein_
Der gewöhnliche Rollenspieler ist ein Mensch, der bereit ist, viel Zeit und Geld in sein Hobby zu investieren. Doch riecht er Geldmacherei, rümpft er pikiert die Nase. Daher stehen Grundegelwerke, die in Spieler- und Spielleiterhandbuch aufgeteilt sind, stets unter sehr genauer Beobachtung mit der abschließenden Frage: „Wollen die uns nur abzocken, oder ist die Trennung wirklich sinnvoll?“ In Bezug auf das „CTHULHU Spielleiter-Handbuch“ lautet meine Antwort: Wenn es bei irgend einem Rollenspiel sinnvoll ist, dann beim „CTHULHU-Rollenspiel“.
Nicht nur, dass es anhand der Masse von Informationen schon sinnvoll ist, die Bände zu trennen, sondern vor allem verliert es einfach seinen großen Reiz, wenn die Spieler den Schrecken kennen, der da gerade um die Ecke schlurft. Da es bei „CTHULHU“ hauptsächlich um die Atmosphäre geht und nicht so sehr auf Action ankommt, würde zu viel Spielerwissen die ganze Spielrunde torpedieren.
Das hat bei der früheren einbändigen Ausgabe dazu geführt, dass die Spieler keine Möglichkeit hatten, sich einzulesen, weil der Spielleiter das Regelwerk unter Verschluss gehalten hat.
Übrigens ist auch der Umfang des nunmehr getrennten „CTHULHU Spielleiter-Handbuchs“ mit knapp 400 Seiten der eines ganzen Romans.
_Inhalt_
Selten habe ich erlebt, dass in einem Regelwerk auf den ersten fünfzig Seiten nur erklärt wird, wie man die Rollenspielrunde am besten leitet. Da diese Tipps durchaus anschaulich und teilweise ziemlich unterhaltsam dargestellt werden, sind sie aber mitnichten langweilig. Ob es nun der Aufbau von Kampagnen ist, das Regeln von Actionsequenzen oder das Erzeugen von typischer „CTHULHU-Atmosphäre“ – alles wird so erläutert, dass selbst erfahrene Rollenspieler noch etwas lernen können.
Nach einer Komplettübersicht aller bisher erschienen deutschen „CTHULHU-Publikationen“ werden eine Übersicht über den „CTHULHU-Mythos“, dessen Auswirkungen auf die irdische Prähistorie sowie eine Auswahl von geheimen Kulten und mysteriösen Orte geboten.
Auch auf das sagenhafte „Necronomicon“ sowie andere okkulte Bücher (wobei ich zu meinem Erstaunen bemerkte, dass sich sogar eines davon in meinem Bücherschrank verbirgt – zum Glück aber ohne psychischen Stabilitätsverlust!) wird eingegangen und auch Howard Phillips Lovecraft wird mit einer vierseitigen Kurzbiographie geehrt.
Einen großen Teil nehmen natürlich auch die Monster, Götter und die Magie des „CTHULHU-Mythos“ ein. Mit dieser Auswahl an Monstern, sowie einer Liste von über hundert Zaubern, ist wohl der Grundstein dafür gelegt, dass die Abenteuer einer Spielrunde über die nächsten Jahre nicht eintönig werden dürften.
Als Geschichtsfan und -student haben es mir besonders die Spielhilfen angetan. Ein so genannter ewiger Kalender ermöglicht das Rückrechnen eines Datums auf den Tag genau, was äußerst praktisch ist, wenn man nicht gerade aus dem Stehgreif die Frage beantworten kann: „Was war denn der 23. Februar 1924 für ein Wochentag?“
Mein Lieblingsteil der Spielhilfen sind aber die drei Ereigniskalender. Sie gelten alle für den Zeitraum von 1890 bis 2003. Im ersten werden alle okkulten, kriminellen und futuristischen Ereignisse dieses Zeitraums erwähnt (wie zum Beispiel 1925: ein in Kalifornien angeschwemmtes Seemonster; oder 2002: Eine Sekte gibt bekannt, sie habe den ersten Menschen geklont. Wer erinnert sich?).
Im zweiten wird von den wichtigen Ereignissen und Kuriositäten des Zeitraums berichtet. Von der Prohibition (1920) über die Ermordung Ghandis (1948) bis hin zum amerikanisch-britischen Angriff auf den Irak (2003) wird alles aufgeführt, was auch nur im Entferntesten für eine Kampagne inspirierend wirken könnte.
Im letzen Kalender werden die Katastrophen, ob von Menschen geschaffen oder nicht, aufgeführt. Der Untergang der Titanic (1912), etwaige Naturkatastrophen oder der erste Anschlag auf das World Trade Center (1993) sind hier die passenden Beispiele.
Ganz zum Schluss gibt es noch einmal ein dramatis personae mit Romanfiguren Lovecrafts sowie fünf Abenteuer für das „CTHULHU-Rollenspiel“.
_Mein Eindruck_
Das „CTHULHU Spielleiter-Handbuch“ ist der wohl gehaltvollste Regelband, der mir je untergekommen ist. Die vierhundert Seiten liefern so viele Informationen, dass sie einen fast erschlagen. Doch durch die Vernetzung mit kurzen Geschichten bleibt es stets lesenswert und kurzweilig. Auch die Gestaltung des Bandes ist vorbildlich: Edel aufgemachter Hardcover-Einband, integriertes Lesezeichen, verstörende Photos und detaillierte Zeichnungen lassen hier keine Wünsche offen.
Hier möchte ich noch nachdrücklich erwähnen, dass das „CTHULHU Spielleiter-Handbuch“ nicht die Grundregeln enthält, diese sind bereits im [„CTHULHU Spieler-Handbuch“ 1744 enthalten. So wäre zwar das Spielen ohne das Spielleiter-Handbuch theoretisch möglich, faktisch aber wegen des fehlenden Hintergrundwissens kaum zu empfehlen. Und selbst diejenigen, die das „CTHULHU Spielleiter-Handbuch“ durchgelesen haben, sollten sich auf jeden Fall einige Kurzgeschichten Lovecrafts zu Gemüte führen. (Empfehlungen dazu sowie Informationen über Lovecraft findet ihr in der Rezension zum Spieler-Handbuch nebst angehängter Linkliste.)
_Mein Fazit_
„CTHULHU“ ist ein recht schwieriges und daher nur für erfahrene Spieler geeignetes Rollenspiel. Doch was die Aufmachung und die Hintergründe betrifft, kann kein Horror-Rollenspiel „CTHULHU“ das Wasser reichen. Aber wer auf Action-Horror steht, ist hier an der falschen Adresse. Atmosphärisches und stimmungsvolles Rollenspiel steht hier klar im Vordergrund. Wer sich also auf das „CTHULHU-Rollenspiel“ einlässt, den wird einige Vorbereitungsarbeit erwarten, für die er aber angemessen belohnt werden wird.
Patricia Melo, geboren 1962 in Sao Paulo, arbeitet als Drehbuchautorin und Schriftstellerin und ist eine der bekanntesten Autorinnen ihres Landes. Mit dem Kriminalroman „O Matador“, für den sie 1998 den Deutschen Krimipreis erhielt, und der Gesellschaftssatire „Wer lügt, gewinnt“ gelang ihr der internationale Durchbruch. Ihre Romane wurden u. a. ins Englische, Französische, Italienische, Spanische, Niederländische und Chinesische übersetzt. Der |Spiegel| nannte sie „eine begnadete Sprachhexe“ und lobt ihre Scharfzüngigkeit. „Schwarzer Walzer“ ist nach „Inferno“ ihr fünfter Roman. Patricia Melo lebt mit ihrer Tochter in Sao Paulo.
_Inhalt_
„Schwarzer Walzer“ ist alles andere als ein gewöhnlicher Roman. Die Autorin erzählt die Geschichte eines alternden Dirigenten, dessen Lebensumstände kaum besser sein könnten. In seinem Beruf wird er trotz seiner schwierigen Art respektiert, in der Presse ist er als musikalisches Genie verschrien, und auch auf privater Ebene könnte es ihm mit seiner neuen Herzdame, der dreizig Jahre jüngeren Marie, kaum besser gehen. Aber nach der Hochzeit erkennt sich dieser Mann kaum wieder. Er zweifelt an der Aufrrichtigkeit seiner neuen Gattin und beauftragt seine Dienerin damit, ihr nachzuspionieren. Fest davon überzeugt, dass Marie ihn mit einem anderen Mann betrügt, verfolgt er jeden ihrer Schritte, wühlt in ihren Zeitschriften herum und klammert sich an jeden noch so kleinen Strohhalm, weil er glaubt, hier den Beweis für eine Affäre gefunden zu haben. Doch immer wieder stellt sich heraus, dass er mit seiner Vermutung falsch liegt, denn Marie liebt ihn und würde ihn nie betrügen. Mehrmals verlässt sie ihren Ehemann, weil sie seine ständige Eifersucht und seinen Besitzanspruch nicht mehr ertragen kann, doch die dadurch entstehende Hassliebe bringt sie immer wieder von Neuem zusammen, und ihre sexuelle Begierde und die damit verbundene Phantasie steigt von Mal zu Mal. Eines Tages jedoch hält es Marie in der konfusen Welt des verstörten Dirigenten nicht mehr aus. Endgültig packt sie ihre Koffer und verschwindet, doch der zusehends zermürbte alte Mann lässt von seiner Verfolgung nicht mehr ab und reist um die halbe Welt, nur um sich seine Behauptung, Marie schlafe mit einem anderen Mann, irgendwie bestätigen zu lassen – ohne Erfolg …
_Meine Meinung_
Die Art und Weise, wie Patricia Melo den Hauptcharakter dieses Buches beschreibt, ist schon fast abschreckend. Nicht dass der Dirigent jemals bodenständig gewesen wäre – seit eh und je führt er ein sehr extravagantes Dasein – doch durch die zunehmenden Zwänge, die sich nicht nur in seiner Herrschsucht und seinen zunehmenden Besitzansprüchen äußern, verliert er vollkommen die Kontrolle über sich selbst und sucht immer wieder nach neuen Sicherheiten, um nicht vollkommen den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er hat die schönste Frau, die tollste Reputation als Musiker, unbeschränkte Möglichkeiten wegen seines verdienten Reichtums, und, und, und – aber all das beunruhigt ihn mehr, als dass es ihn zufrieden stellt, denn je mehr er besitzt, desto größer wird die Angst, es auch wieder zu verlieren. Marie, seine neue Frau, bekommt dies am deutlichsten zu spüren. Jeder Mann in ihrer Nähe ist eine potenzielle Gefahr und ein Grund für einen erneuten Streit, jeder angestrichene Artikel über ihre Heimat Israel birgt irgendeine Gefahr, auch wenn sich der Mann das genaue Ausmaß gar nicht erklären kann, aber auch jede Minute, in der er seine Frau aus den Augen und somit auch die totale Kontrolle über sie verloren hat, wird zur unendlichen Tortur, die mit den wildesten Gedanken und den größten Ängsten verbunden ist.
Nach und nach bricht seine Psyche zusammen, und je mehr er und Marie sich auseinanderleben, desto größer sind die Eskalationen, denen er sich hingibt. Und dennoch verzeiht seine Frau ihm immer und immer wieder. Er selber nennt dies ein Spiel, das ein wichtiger Teil ihrer Beziehung ist, wird sich aber der Tragweite seiner zwanghaften Persönlichkeit gar nicht bewusst. So kommt es, wie es kommen muss: Marie zieht aus, und mit einem Schlag besitzt er sie nicht mehr. Er kann sie nicht mehr lenken, sie nicht mehr beaufsichtigen, und vor allem nicht mehr mit ihr schlafen. Das zerreißt ihn schließlich endgültig und erweitert das Phänomen seiner Zwänge um neue Eigenschaften, die ihn letztendlich vollkommen zerstören und ihm auch den letzten Halt nehmen, den er in seinem ohnehin schon chaotischen Leben noch hatte.
Der Autorin ist es sehr gut gelungen, die Abgründe im Inneren des Protagonisten zu ergründen. Sie erzählt die Geschichte aus seiner Sicht und nimmt von Beginn an auch seine abstruse Denkweise auf. So findet sie in der Person des Dirigenten auch stets Rechtfertigungen für sein unlogisches Verhalten, legt dann aber im nächsten Augenblick auch wieder den Schalter um und schildert die Furcht, die mit dem vermuteten Verlust seines Besitzes verbunden ist, kehrt also im ständigen Wechsel zum seelischen Chaos zurück. Bemerkenswert ist dabei die realitätsnahe Härte, die sich durch den Roman zieht. Der Mann hat zum ersten Mal in seinem Leben die echte Liebe entdeckt, und das ist der vornehmliche Unterschied zu seiner ersten Ehe mit Teresa. Aus diesem Grund zeigt er auch keine Gefühle gegenüber seiner Tochter Eduarda und lässt sie – während ihre Mutter mit dem neuen Lebenspartner in die Vereinigten Staaten aufbricht – fast verwahrlosen. Erst als sie eines Nachts nicht nach Hause zurückkehrt, macht er sich, ebenfalls zum ersten Mal, richtig Sorgen, muss dann aber verbittert zur Kenntnis nehmen, dass Eduarda bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Diese dramatische Geschichte, und vor allem die Art und Weise, wie sie von Patricia Melo beschrieben wird, geht zutiefst unter die Haut und übertrifft das Drama zwischen ihm und Marie sogar fast noch.
Die Autorin hat aber keine Fakten ausgelassen und beschreibt die zwanghafte Persönlichkeit genau so, wie sie – nun, ja – im Buche steht. Die Eigenschaften, die er nämlich bei anderen hasst, sind seine eigenen. So verurteilt er seine Frau, die wie angedeutet Jüdin ist, wegen ihrer Herkunft und verurteilt die grausamen Verbrechen an der Menschlichkeit, die in Israel tagtäglich geschehen. Bei seiner Reise in das Land wird er in seiner Meinung nur bestätigt und beschreibt seine Erfahrungen mit einem Sarkasmus, der seinesgleichen sucht. Außerdem schläft er fortwährend mit anderen Frauen und betrügt seine Gattin mehrfach, beschuldigt sie aber gleichzeitig auch, dass sie eine Ehebrecherin wäre. Die eigenen Schandtaten werden abgewertet und die gar nicht geschehenen der Anderen angeklagt. Diese Ungleichung zieht sich als roter Faden durch den Roman und charakterisiert das Denken des psychischen Wracks.
Am Ende frage ich mich, wie Melo dazu gekommen ist, in die Rolle eines solch widerwärtigen Misanthrops zu schlüpfen. Doch gleichzeitig bewundere ich auch die nüchterne Erzählweise, die tabulose Sprache und die durchgängige Lebensnähe, in der die Handlung (?) sich abspielt. Was sich auf diesen 270 Seiten abspielt, ist gleichermaßen krank, verrückt, ekelhaft, provokativ, faszinierend und genial. Und gerade die letztgenannte Eigenschaft sollte man sich merken, denn was ich schlussendlich sagen möchte, ist, dass „Schwarzer Walzer“ ein Meisterwerk ist, für das ich der Autorin meine größte Bewunderung aussprechen möchte, und das zu lesen sich in jeglicher Hinsicht lohnt.
Wer kennt ihn nicht – Moby Dick, den weißen Pottwal, ein arger Wüterich, der vom rachsüchtigen Kapitän Ahab, welchem er einst ein Bein abbiss, kreuz und quer über die Ozeane gejagt wird, bis er sich seinem Verfolger endlich stellt und ihn samt Schiff und Mannschaft auf den Grund des Meeres schickt? Hermann Melville gelang 1851 ein literarischer Klassiker erster Güte – ein Abenteuerroman mit psychologischer Tiefe, abgerundet durch ein profundes Wissen über die See. Seit mehr als anderthalb Jahrhunderten liest man [„Moby Dick“; 1144 es gibt mindestens drei Verfilmungen, Hörspiele, Comics und andere multimediale Inkarnationen.
Natürlich war Tim Severin nicht der erste Leser, der sich die Frage stellte, ob denn in Melvilles Geschichte ein wahrer Kern stecken könnte. Deshalb weiß man schon länger, dass in den Weltmeeren tatsächlich permanent missgestimmte Pottwale hausen, welche es denen, die sie mit der Harpune jagen, zu allen Zeiten ordentlich heimzahlten, indem sie deren Fangboote zerschmetterten und die Insassen zerkauten. Unvergesslich ist auch der Untergang des Walfangschiffes „Essex“, das 1820 von einem Pottwal planvoll gerammt und versenkt wurde.
Doch gab es auch einen weißen Pottwal – den wahren Moby Dick? Wie könnte Melville auf den Gedanken gekommen sein, Ahabs Nemesis zu bleichen? Tim Severin ist ein Mann, den man als Berufsabenteurer bezeichnen könnte. Also packte er wieder einmal seine Sachen und beschloss, vor Ort der Sache buchstäblich auf den Grund zu gehen. Herman Melville war mit Fakten nicht geizig. Er ließ die Jagd auf Moby Dick in den bekannten Fanggründen für Pottwale stattfinden. Die sind noch heute bekannt, zumal die Wale ihnen treu blieben. Ahabs „Pequod“ hat es irgendwo im Südpazifik erwischt. Genau dort begann Severin seine Suche. Auf malerischen Inseln mit Fernweh weckenden Namen wie Nuku Hiva, Pamilacan, Tonga und Lamalera stieß er auf wagemutige Männer, die seit Urzeiten Wale und große Fische mit kleinen Booten jagen. Unter Einsatz ihres Lebens springen sie wagemutig gigantischen Walhaien, Mantarochen und Walen ins Kreuz, um ihnen die Harpune direkt in den Leib zu rammen.
Severin erfährt relativ wenig über weiße Wale, umso mehr jedoch über den harten Alltag auf einsamen Inseln, die sich als recht lebensfeindliche Orte entpuppen, die zwar viel Sonne und Sand, aber wenig Nahrung oder Zukunftsperspektiven zu bieten haben. Die kühnen Meeresjäger sind ein aussterbender Menschenschlag; ihre Beute ist durch Überfischung und Umweltverschmutzung fast verschwunden. Mit den letzten Booten fährt Severin mit hinaus aufs Meer und fühlt sich zurück in die Zeit von Herman Melville versetzt. Er erlebt vieles, das von der Forschung anders oder noch gar nicht zur Kenntnis genommen wurde. Schließlich gelingt es ihm sogar, dem weißen Wal zumindest auf die Spur zu kommen …
Moby Dick ist natürlich vor allem ein Chiffre, eine Symbolgestalt, in die sich allerhand interpretieren lässt. Ihn als reales Lebewesen zu betrachten, ist deshalb ungewöhnlich; selbst Melville hat das nur innerhalb bestimmter Grenzen getan. Trotzdem ist die Suche nach dem weißen Wal als Aufhänger für eine Reise in die Ferne gut genug. Tim Severin muss schließlich Sponsoren finden, die ihm den Trip finanzieren … Der Erfolg steht in den Sternen, denn in den 150 Jahren, seit Melville seinen Klassiker schrieb, wurde nie ein weißer Pottwal entdeckt bzw. gefangen oder fotografiert und auf diese Weise unbestreitbar gemacht.
So ist es kein Wunder, dass Severin den vermeintlichen Grund seiner Reise oft aus den Augen verliert. Er lernt stattdessen eine hoch entwickelte Kultur am Ende ihres Weges kennen. Die Fischer und Jäger des Südpazifiks stellen sich ihrer riesenhaften Beute buchstäblich im Kampf Mann gegen Monster. So haben es die Walfänger zu Melvilles Zeiten auch getan. Nur in dieser Konstellation konnte ein Moby Dick zur mythischen Gestalt werden; hundert Jahre später hätten ihn die modernen Walschlächter mit der Harpunenkanone in Stücke geschossen.
Severin ist fasziniert und das teilt sich seinen Lesern auch mit, denn er besitzt die Gabe sowohl zu informieren als auch zu unterhalten. Da stört es nicht, dass er den roten Faden immer wieder aus den Augen verliert, denn er hat immer etwas Interessantes zu erzählen. Für sein Buch hat er ausgiebige Hintergrundrecherchen betrieben. Deshalb weiß er das, was er vor Ort beobachtet, in seinen historischen oder kulturellen Kontext einzuordnen.
Seine Fragen nach dem weißen Wal irritieren die Menschen, die er trifft. Sie haben Wichtigeres zu tun als sich müßig akademischen Fragen zu widmen. Stattdessen stehen sie im Lebenskampf. Severin ist überrascht, als ihm eher beiläufig bestätigt wird, dass es offenbar weiße Pottwale gibt. Sie gelten den Jägern als tabu, weil sie angeblich ihre schwarzen Artgenossen verteidigen oder sogar rächen, gelten aber trotzdem nicht als Sensation, sondern gehören zu einem insgesamt mühseligen Alltagsleben.
Severin kehrt in einem Ringschluss zu seiner Ausgangsfrage zurück: Streitbare Pottwale gab und gibt es, aber ein Moby Dick wie in Herman Melvilles Schilderung hat wohl nicht existiert. Weiße Pottwale mag es geben; Severin hat zwar keine Fotos vorzuweisen, doch es gelang ihm, durchaus überzeugende Berichte von Augenzeugen zusammenzutragen. Im Mittelpunkt seines Reiseberichts stehen indes Menschen, die er als Individuen in ihrer eigenen Lebens- und Glaubenswelt vorstellt, statt sie als glückliche Naturkinder zu verkitschen. Auch die Jagd auf den Wal, der eindeutig intelligent ist und recht grausam zu Tode kommt, wird für die Radikalen unter den Tierschützern nicht eindeutig genug verdammt. Severin sagt, wie es ist: Der Wal bietet den Menschen Nahrung in einer Region, in der es sonst kaum etwas zu essen gibt bzw. man es sich nicht leisten kann. Das ist eine zweckgebundene, archaische Philosophie, die jedoch in diesem Winkel der Welt noch ihre Berechtigung hat.
Nebenbei gelingt es dem Verfasser, dem großen Melville einige allzu menschliche Mogeleien nachzuweisen. Der Autor von „Moby Dick“ hat die Weltmeere befahren, aber er war niemals der große Abenteurer, der selbst mit der Harpune in der Hand Wale jagte oder vor den wilden Menschenfressern der Marquesas flüchten musste. Für solche und andere wüste „Erlebnisse“ hat er eigene Erfahrungen kräftig übertrieben, frühere Reise- und Expeditionsberichte tüchtig ausgeschlachtet und seine Fantasie spielen lassen. Severin betont freilich, worauf es wirklich ankommt: Melville nahm das, was er fand, und schuf daraus mit seinem schriftstellerischen Talent etwas Neues, Originäres. (Er hätte aus heutiger Sicht nur ein wenig offener mit den Quellenangaben sein müssen …)
Wie gesagt gibt es keine Fotos von weißen Walen. Severin hat dennoch seine Kamera mit auf die Reise genommen. „Der weiße Gott der Meere“ liefert in seinem Bildteil Beweise dafür, dass es tatsächlich Menschen gibt, die mit der Harpune in der Hand auf einen Riesenhai oder Wal springen, um ihn auf diese Weise an die Fangleine zu nehmen. Das ist mehr als verblüffend genug und rundet ein angenehmes Lektüreerlebnis ab.
Tim Severin, geboren 1940 und oxfordstudierter Berufsreisender, Autor, Dokumentarfilmer und Lektor, wusste seit jeher, sein Hobby (oder seine Berufung) geschickt zum Beruf zu machen. Klappern gehört zum Handwerk, dieses Motto berücksichtigt er bei der Planung seiner diversen Abenteuer. Seine [Website]http://www.timseverin.net listet sie auf und macht Severins Talent für PR deutlich. So ist er in einem nach zeitgenössischen Quellen rekonstruierten Lederhautboot durch den Atlantik geschippert, um auf diese Weise nachzuprüfen, ob der Hl. Brendan, ein Mönchsmissionar des 6. Jahrhunderts, womöglich schon lange vor den Wikingern und Columbus Amerika entdeckt hat. Von Oman nach China segelte Severin auf den Spuren Sindbads, des Seefahrers aus 1001er Nacht. Weitere Fahrten unternahm er in den Fußstapfen Jasons und Odysseus’, suchte nach dem Grab des Dschinghis Khan, fand die Insel des wahren Robinson Crusoe. Zu jeder Fahrt erschien ein Buch, so dass weitere Unternehmungen der beschriebenen Art folgen werden.
Für seine Taten wurde Severin u. a. mit der Goldmedaille der „Royal Geographical Society“ und der Livingstone Medaille der „Royal Scottish Geographical Society“ ausgezeichnet. Inzwischen ist er auch als Belletrist tätig geworden und hat die „Viking“-Trilogie veröffentlicht, die von den kühnen Taten kerniger Wikinger erzählt.
Nach einem Jahr der Parallexistenz dreier Jahrbücher zur SF kann man deutlich die Trennungslinien zwischen den dreien ausmachen. Wo |Heyne| den Rundumschlag in Sachen SF praktiziert, wobei es jedes Mal einen thematischen Schwerpunkt gibt, und das |ALIEN CONTACT|-Jahrbuch die „Heft“-Inhalte des letzten Jahres mit Schwerpunkt auf Unterhaltung beinhaltet, also deutlichem Primärtextanteil, scheint sich das |Shayol|-SF-Jahrbuch auf die Gesamt- und Überblicksdarstellung der deutsch-sprachigen und ausgewählter Aspekte der internationalen SF zu spezialisieren; ergänzt durch die sehr ausführliche und gediegene Bibliografie.
Die Bibliografie empfand ich im letzten Jahr als nicht so bedeutend, aber diesmal muss ich gestehen, machte sie mir großen Spaß. Es ist ja tatsächlich so, dass man auch als versierter, interessierter und suchender SF-&-Phantastik-Fan kaum noch den Überblick bewahren kann. Die SF wird zunehmend in deutsch-sprachigen Ländern zum Tummelplatz der Klein-, SmallPress- und semiprofessionellen Verlage, ganz zu Schweigen vom Internet und |books on demand|. Hier findet man also eine auf Vollständigkeit getrimmte Übersicht. Das geht so weit, dass Erzählungsbände auf vereinzelte SF- oder artverwandte Storys hin untersucht werden.
Im Einzelnen bedeutet dies: Die beiden (Haupt-)Herausgeber empfanden das vergangene Jahr als Jahr der SF-Erzählung. Wobei sie auch auf die relativ zahlreichen fannischen Buchproduktionen eingingen. Diese gingen oft aus Schreibolympiaden etc. hervor. Da wurde kein Blatt vor den Mund genommen und auch darauf hingewiesen, dass viele Schreibversuche als solche erkennbar sind.
Zwei Artikel widmen sich den Neuerscheinungen in den USA 2004; einmal von einem US-amerikanischen Autor, zum anderen von Hannes Riffel. Beide sind sicher recht subjektiv und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit; aber sie geben interessante Einblicke und Kauf- und Leseanregungen – für die Zukunft (so man des Englischen nicht mächtig genug ist). Da kommt einiges auf uns zu!
Das kann man von den anderen Ländern, die hier vorgestellt werden, sicher nicht behaupten. Dabei hätten sie es verdient! Gerade, was so in Polen und Russland vor sich geht, erscheint mitunter sehr interessant. Leider wird da sicher nicht viel ‚rüberwachsen. Vielleicht ja die Bücher zu dem in unseren Kinos laufenden russischen Mysterythriller. Die Bücher zu „Night Watch“ von Sergej Lukjanenkow müssen in Russland ziemlich abgeräumt haben. Ob man da hoffen kann, dass außer dem Auftakt auch die Folgebände ins Deutsche übersetzt werden? Aber wer weiß, ob dies tatsächlich eine Bereicherung darstellen würde, schließlich werden die Filme bei uns auch deshalb gezeigt, weil sie sich an die Machart ihrer Brüder im Geiste aus Hollywood annähern. Bei den Büchern vermute ich dasselbe. Aber besser als nichts. Dabei zeigt der Artikel, dass es im vergangen Jahr tatsächlich einige sehr vielversprechende Veröffentlichungen gab.
Ebenso in Polen; in Griechenland und Bulgarien aus meiner Sicht eher nicht. Die Artikel lesen sich schon ziemlich esoterisch; was es so alles gibt … Auch die Niederlande erschienen mir nicht so sehr interessant. Aber das mag Geschmackssache sein, wichtig ist es auf alle Fälle, mal zu sehen, was da so geschieht.
Bei der Häufung der Länderdarstellungen schleicht sich Routine, wenn nicht gar etwas Langeweile ein. Mehr ist tatsächlich nicht nötig, aber bitte, liebe |Shayol|-Leute, behaltet dies bei!
Die „Länderartikel“ sind allerdings auch mehr als nur Rückschauen auf 2004; sie holen meist weiter aus und zeigen die Entwicklung der SF in dem jeweiligen Land, insbesondere in jenen, von denen man ansonsten ohnehin nie viel mitbekommt.
Insgesamt zeichnen sich die Essays durch einen hohen Grad an Individualität aus; es sind oft sehr persönliche Sichtweisen, auch auf die SF-Serien in der BRD: Perry Rhodan, Bad Earth, oder der von Franz Rottensteiner, die ich wie im letzten Jahr mit großen Vergnügen las! Sein altes Motto: „Wider die verderbliche Schundliteratur!“ kommt hier immer wieder zum Ausdruck.
Gerd Frey hat wie im |Heyne|-SF-Jahrbuch wieder die wichtigsten SF-Spiele vorgestellt. Da mich das Gebiet nicht so sehr interessiert, weiß ich nicht, worin sich die beiden Artikel nun unterscheiden.
Dazu: Filmrückblick, zahlreiche Buchrezensionen, Nachrufe. Alle diese Rubriken findet man natürlich auch im |Heyne|-SF-Jahr. Ob man sich da noch etwas ausdenken könnte, um sich vom Großen Bruder zu unterscheiden? Aber vielleicht ist das auch nicht nötig, man muss sich dann eben nur entscheiden, wem man den Vorzug gibt. Eine solche Entscheidung möchte ich nicht fällen.
Kuriose, liebenswerte, naive Verlierertypen mit Heldenmut müssen sich stets mit einem messen: Forrest Gump. Auch Homer Idlewilde wird sich wohl bei manchem Leser damit vergleichen lassen müssen. Parallelen gibt es sicherlich, dennoch ist Homer Idlewilde kein zweiter Forrest Gump. Auch er ist ein reichlich naiver Typ, der sich zum Helden mausert, dennoch trennt ihn einiges von Forrest Gump. Er macht zwar auch einen eher kindlichen Eindruck, entzieht sich dem Erwachsenwerden aber nicht durch sein geistiges Niveau, sondern eher durch seinen Hang zu Streichen und kleineren Sabotageakten. Homer ist eine kauzige, aber ebenso liebenswürdige Vagabundenfigur, deren Schicksal vielleicht nicht so rührend ist wie das von Forrest Gump, dessen Geschichte aber dennoch zu unterhalten weiß und zu Herzen geht. Wer will auch schon einen zweiten Forrest Gump …
Homer Idlewilde, Findelkind und Waisenjunge, wächst in Farrago, im Norden Kaliforniens auf. Schon in jungen Jahren zieht er vagabundierend übers Land, um sich dem Zwang der Schulpflicht zu entziehen. Nachdem er seinem schulpflichtigen Alter entronnen ist, zieht es ihn zurück in seine Heimat Farrago. Es ist Anfang der Siebzigerjahre, ob es das Jahr 1971 oder vielleicht 1973 ist, weiß Homer genauso wenig, wie den Tag, an dem er geboren wurde. Homer vertreibt sich die Zeit mit Träumereien und Gelegenheitsjobs. Er vertändelt seine Zeit auf dem Schrottplatz bei seinem Freund Duke, bei dem Taugenichts Elijah, der schon seit 15 Jahren eine Schmiede eröffnen will, oder im Lebensmittelladen seines Freundes Fausto.
Eines Nachts, als Fausto ihm erzählt, wie es ihn nach Farrago verschlagen hat, und Homer staunend feststellt, dass Fausto das hat, was er selbst nicht hat, nämlich eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden, tut sich auch für Homer eine neue Perspektive auf. Eine Sternschnuppe fällt vom Himmel und Homer wünscht sich ein Schicksal, eine eigene Geschichte, die ihn aus der Bedeutungslosigkeit seines Daseins heraushebt. Und noch bevor Homer begreift, was überhaupt vor sich geht, nehmen die Dinge ihren Lauf. Homers Schicksal entwickelt sich …
Mit „Das zufällige Leben des Homer Idlewilde“ hat der Franzose Yann Apperry einen sympathischen Roman abgeliefert. Es ist sein zweiter Roman, nachdem er, erschreckt durch den Medienrummel um seinen Debütroman, aus Frankreich in die USA geflohen und dort zwei Jahre vagabundierend durch die Lande gezogen ist. Ein bisschen Homer scheint also auch in Yann Apperry zu schlummern.
Mit viel Herz erzählt er die Geschichte seiner Hauptfiguren, die allesamt ein wenig schräge Vögel sind. Homer und Duke, zwei Vagabunden, die zusammen auf dem Schrottplatz über das Leben philosophieren; Elijah, der von seiner Schmiede träumt, aber geistig nicht ganz auf der Höhe ist; Fausto, der ein trauriges Dasein im Lebensmittelladen von Farrago fristet, obwohl er eigentlich mehr aus seinem Leben machen könnte. Und dann wäre da noch Ophelia, die im Puff von Farrago arbeitet und Homers heimliche Geliebte ist und ihn vor die größte Herausforderung seines Lebens stellt.
Homer ist sympathisch und schlitzohrig zugleich. Vom Sheriff wird er ständig wegen irgendwelcher kleineren Delikte gesucht, gleichzeitig aber auch wegen seiner Ortskenntnisse in den Wäldern um Farrago geschätzt. Im Grunde ist Homer ein außerordentlich naiver Kerl, mit einer ausgeprägten kindlichen Ader, die ihn immer wieder in Schwierigkeiten bringt. Ein Träumer, der sich durchs Leben treiben lässt – zumindest bis zu jenem denkwürdigen Sternschnuppenwunsch. Von diesem Moment an nimmt Homers Leben eine Wendung. Für ihn beginnt eine Odyssee, in deren Kern die Suche nach dem Sinn des Lebens steht. Homer erlebt gleichsam Komisches wie Tragisches, und das Schicksal nimmt schneller seinen Lauf, als Homer es begreifen kann, doch am Ende scheint er begriffen zu haben, worum es im Leben geht und wie er seinem eigenen Leben einen Sinn geben kann.
Rund um die Figur des Homer erzählt Yann Apperry allerhand kuriose, komische und tragische Geschichten über das Leben in Farrago. Er erzählt frei von der Leber weg einfach drauflos, in einem schlichten, aber auch durchaus zu Herzen gehenden Stil. Genau das ist es, was diesen Roman lesenswert macht. Es ist Lektüre, die Spaß macht, sich durch einen sehr feinsinnigen Humor auszeichnet und den Leser einzunehmen versteht.
Man mag dem Autor vorhalten, dass seine Figuren allesamt zu schräg sind, um wirklich realistisch zu erscheinen und wirklich rühren zu können, doch Apperry verpackt seine Geschichte sprachlich so schön, dass man gerne darüber hinwegsehen mag. „Das zufällige Leben des Homer Idlewilde“ hat seine rührenden Momente, die der Leser nicht vergessen wird, auch wenn der Plot mit Blick auf Homers heldenhafte Taten ein wenig zurechtgebogen erscheinen mag.
Ein wenig steht die Geschichte eben auch im Zeichen jener Magie, die mit dem ausgesprochenen Wunsch beim Anblick der fallenden Sternschnuppe verbunden ist. Da kann man eine etwas fantastisch anmutenden Entwicklung des Plots durchaus verzeihen, da sie sicherlich auch genau so beabsichtigt ist. Damit mag sich mancher Leser mehr anfreunden können und mancher eben weniger.
Ganz zufällig stolpert Homer in Situationen, die ihn als Held erscheinen lassen, ohne dass er viel dazu beitragen muss. Er mäandert ein wenig orientierungslos durch sein Schicksal, aber er lernt, das Beste daraus zu machen, und schafft es obendrein, sich der Verantwortung zu stellen, mit der er konfrontiert wird. So zufällig wie Homer in die verschiedensten Situationen stolpert, so stetig reift er heran und entwickelt sich. Es ist kein plötzliches Erwachsenwerden, sondern ein zunächst zaghaftes Sichausliefern gegenüber dem Leben mit allen Schikanen. Und dabei muss eben auch ein Homer Idlewilde erkennen, was es ist, das das Lebens lebenswert macht.
Bleibt abschließend festzuhalten, dass Yann Apperry sich wirklich aufs Geschichtenerzählen versteht. Recht unspektakulär mag sein zweiter Roman „Das zufällige Leben des Homer Idlewilde“ erscheinen, unaufregend und ein wenig zu fantastisch. Aber dahinter verbirgt sich ein wahres Kleinod, das manchmal rührend, manchmal tragisch und manchmal gar komisch ist.
Apperry hat einen feinsinnigen Humor, mit dem er seine Erzählung zu würzen versteht. Wer offen für eine leise, etwas fantastisch anmutende Geschichte mit liebevoll skizzierten, aber gleichermaßen schrägen Figuren ist, der wird an „Das zufällige Leben des Homer Idlewilde“ sicherlich seine Freude haben.
Sie sind beileibe nicht nur die Erben der Dinosaurier, sondern bereits deren Zeitgenossen. „Schauplatz Mara“ beschreibt in einer Momentaufnahme, wieso Krokodile so erfolgreich in der Evolution waren und sind. Eindrucksvolle Bilder informieren über eine Stelle am Mara, einem afrikanischen Fluss, wo die Panzerechsen ihre Fähigkeiten als Jäger unter Beweis stellen.
„Komplexe Echsen“ zeigt dann Tiere, die weitaus mehr als Furcht erregende Tötungsmaschinen sind, sondern über ein komplexes „Gesellschaftsleben“ verfügen und durchaus gewisse soziale Kompetenzen unter Beweis stellen. Dazu gehört auch die Sorge um den Nachwuchs, wie die Kapitel „Wiegen im Sand“ und „Mutterpflichten“ belegen.
In „Saurier gegen Säuger“ kehren wir an den Mara zurück. Nun ist der Blick bereits geschärft, was uns Lesern hilft zu verstehen, dass auch Krokodile mit bestimmten Schwierigkeiten zu kämpfen haben, für die ihre besondere Physis verantwortlich ist – sie sind halt „Archaische Jäger“, die aber aus dem, was die Natur ihnen zur Verfügung stellte, das Beste gemacht haben. Insofern sind sie tatsächlich die „Erben der Dinosaurier“, weil sie mehr als 60 Millionen Jahre Zeit hatten, bei aller Urtümlichkeit auf dem aktuellen evolutionären Stand zu bleiben und beileibe nicht identisch mit den Krokodilen der Erdfrühzeit sind.
Das größte Problem entsteht diesen Tieren ohnehin von anderer Seite. „Der Fänger der Echsen“ beschreibt die Jagd auf Krokodile, die trotz ihrer wundersamen Lebenstauglichkeit dem Menschen nicht wirklich etwas entgegenzusetzen haben. Dies vertieft Verfasser Radke später im Kapitel „Mensch und Krokodil“, wo wir erfahren, dass hier und da Echsen doch den Spieß umdrehen und für ihre menschlichen Opfer wahrlich Albträume wahr werden – böse Überraschungen inklusive, denn wie Radke in „Tödliche Tümpel“ zeigt, sind Panzerechsen auch an Land beweglicher, als man ihnen zugestehen möchte, wenn man sie gemächlich an Flussufern watscheln sieht.
Dennoch sind es primär die Krokodile, für die es hier und heute und in Zukunft um „Sein oder Nichtsein“ gehen wird, denn eines ist sicher: Eine enge Nachbarschaft zwischen Mensch und Krokodil ist ganz sicher nicht möglich, da Letzteres als Hausgast oder gar -tier absolut untauglich ist.
Das Werk schließt mit einer kurzen, aber erschöpfenden Systematik aller Krokodilarten, die es auf dieser Erde gibt. Die erstaunliche Vielfalt überrascht; weder Salzwasser noch Frost oder wüstenhafte Trockenheit können Krokodile dauerhaft aufhalten. Wir erfahren von Siebenmeter-Monstern, die wie Delfine aus dem Wasser springen – keine Erfahrung, die man als Passagier auf einem flachbordigen Boot machen möchte – oder bizarren Fischfängern mit Pinzettenkiefern.
Noch heute sieht man sie im B-Movie baumstammgleich und scheinheilig unauffällig vorzugsweise in afrikanischen Flussläufen treiben, bis sie urplötzlich unter den Nebendarstellern aufzuräumen beginnen: Krokodile, hässlich, unheimlich und folgerichtig heimtückisch und böse, wenn auch als Ledermantel oder -tasche wohl gelitten in der Damenwelt. Beides war und ist gar nicht bekömmlich für die großen Panzerechsen, die tatsächlich nur wollen, was wir alle uns wünschen – in Ruhe gelassen zu werden.
Gönnt man ihnen dies und beobachtet sie womöglich dabei, erschließt sich dem interessierten Betrachter die fremde, aber faszinierende Welt einer Lebensform, die seit stolzen 230 Jahrmillionen auf dieser Erde weilt und noch alles überstand, was diese in Form herabstürzender Riesenmeteore oder Sintfluten traf und immer wieder für |tabula rasa| sorgte. Wieso schafften die Krokodile, woran die ungleich weiter entwickelten Dinosaurier scheiterten? So „primitiv“ (weil doch so alt) können sie wohl nicht sein. Aber wie passen sie ins Darwinsche Evolutionskonzept, nach dem bekanntlich nur die Harten in den Garten kommen, d. h. die Schnellsten, Klügsten, sich ständig fortentwickelnden Lebewesen überdauern?
Solchen und vielen anderen Fragen (auf die man meist nicht kommen würde, die einen aber trotzdem interessieren) geht der Biologe und TV-Tierfilmer Reinhard Radke in diesem beispielhaften Sachbuch nach. Es liest sich wie ein Roman, obwohl es sich an die Fakten hält. Da diese nicht gerade allgemein bekannt sind – wer wusste denn beispielsweise, dass Krokodile sich wie Wale oder Elefanten per Infraschall verständigen können? -, faszinieren sie auch den biologischen Laien, der (oder die) wenigstens ein wenig Interesse für die Umwelt aufzubringen in der Lage ist. Krokodile sind (wie wir schließlich wissen) gut zu Fuß und gar nicht blöd, sie kennen und respektieren gesellschaftliche Regeln und dort, wo man ihnen wenigstens ein bisschen kugelfreien Raum belässt, praktisch so unverwüstlich, dass wie wahrscheinlich auch die Menschen überleben werden.
„Krokodile“ ist in der Präsentation ein sehr modernes Sachbuch. Reinhard Radke versucht das eigentlich Unmögliche: Er verbindet Information mit Unterhaltung. Anders als im Privat-TV ist das Ergebnis nicht „Infotainment“ (= vergnügliches Pseudo-Wissen für die Dummen & Denkfaulen), sondern – welches Risiko in heutiger Zeit! – eine sorgfältig aufeinander abgestimmte Kette lehrreicher Lektionen, die ohne vorsätzliche Infantilisierung, aber auch ohne erhobenen pädagogischen Zeigefinger ihr Thema zum Leben erwecken.
Fazit: Ein nicht ganz preisgünstiger Bild-/Textband mit (über 100) sensationellen Farbfotos, der umfassend über die „Zeugen der Urzeit“ (wie das einleitende Kapitel überschrieben ist) informiert und jeden Cent wert ist.
Es gibt Männer und es gibt Kerle – dies ist die Prämisse, von der Dave Barry ausgeht. Während Erstere relativ unauffällig daherkommen, sind es Letztere, die als politisch unkorrekte Quertreiber gegen die Regeln einer auf Gleichberechtigung und Gleichbehandlung ausgerichteten Gesellschaft auftreten. Kerle sind geistig einfach gestrickt – wortkarg, wenn es um Gefühle geht, aber offen in der Präsentation diverser Körperfunktionen; sie haben eine eigenwillige Auffassung von körperlicher Hygiene, zwischenmenschlichen Beziehungen und ehelicher Treue. Sport steht bei ihnen zuzeiten höher im Kurs als die Bedürfnisse ihrer Familie, sinnlose Wetten mit vorprogrammiert peinlichem Ausgang locken sie an wie das Licht die Motten.
Im Kielwasser des Kinofilms und des letztes Jahr stattgefundenen DVD-Releases, erfreute sich nun auch die literarische Vorlage von „Master & Commander“ steigender Verkaufszahlen. Ein recht später Ruhm. Das Buch ist erstmals 1984 veröffentlicht worden und hat somit immerhin schon über 20 Jahre auf dem Buckel, dennoch überschlugen sich Anno 2004 die Lizenz-Verlage (etwa |Club Bertelsmann| und |Weltbild|), möglichst auf der Welle mitzuschwimmen, und verpassten dem Reprint gleich ein neues Cover – meist passend zum Film.
Der eingedeutschte Titel „Manöver um Feuerland“ alleine reichte augenscheinlich wohl nicht aus, um zu verdeutlichen, dass es sich um die Romanfassung der Verfilmung handelt. (Bei der angloamerikanischen Originalfassung ist dies nicht nötig, da Buch- und Filmtitel „The Far Side Of The World“ identisch sind.) Das Schaffen des im Jahr 2000 verstorbenen Autors Patrick O’Brian rund um die Hauptfiguren Kapitän Aubrey und Doktor Maturin auf der britischen Fregatte HMS „Surprise“ umfasst insgesamt 20 Bände, das hier vorgestellte Buch ist als Band 10 (international) bzw. als Band 11 (in Deutschland) erschienen.
_Zur Story_
Mittelmeer. Wir schreiben das Jahr 1812. Kapitän Jack Aubrey hat die Befürchtung, dass er demnächst als Arbeitsloser auf „Halbsold“ gesetzt wird – und das bei seiner prekären finanziellen Lage. Im Laufe der Zeit hat der wackere und wagemutige Kapitän privat einen Stapel Schulden angehäuft. Es sieht jedoch so aus, als würde sein treues Schiff „Surprise“ demnächst aus Altersgründen abgewrackt werden und sich die aufeinander eingeschworene Mannschaft in alle Winde zerstreuen. Die großen Seekriege der Epoche sind längst vorüber und Aubrey hat dementsprechend nach halbwegs erfolgreicher Ausführung seines letzen, mehr diplomatischen Auftrags immer noch kein neues Kommando zugesprochen bekommen.
So befindet sich die „Surprise“ auf ihrer vermeintlich letzten Fahrt nach Gibraltar, wo Aubrey Rapport beim Admiral erstatten soll, um dann ihn und das Schiff nach England in eine ungewisse Zukunft zu überführen. Doch das Schicksal will es anders. Aubrey erhält unerwartet noch einmal Aufschub für sich, Schiff und Mannschaft in Form eines neuen Marschbefehls. England befindet sich derzeit im Clinch mit den Amerikanern, die sich von Europa und somit von der Kolonialmacht unabhängig machen. Dazu gehört auch, dass die USA Kaperfregatten entsenden, um die britischen Walfänger und Handelsschiffe aufzubringen.
Eins dieser Schiffe ist die im Gegensatz zur „Surprise“ recht moderne „Norfolk“, welche Aubrey mit günstigem Wind noch im Atlantik schätzungsweise vor der Küste Brasiliens abfangen könnte. Zumindest theoretisch und wenn die Geheimdienstinformationen stimmen. Der Auftrag der „Surprise“ ist es, die amerikanische Fregatte aufzuspüren und nach Möglichkeit zu verhindern, dass die „Norfolk“ um Feuerland / Kap Horn herum in den Pazifik entschlüpft, um dort die britischen Schiffe aufzumischen. Dieses Primärziel der Engländer schlägt fehl. Die „Surprise“ wird bei einem Sturm vor Südamerika stark beschädigt, sodass sie die gesichtete „Norfolk“ erst einmal ziehen lassen müssen. Nach der Reparatur jedoch nimmt Aubrey die Verfolgung auf – wie der (deutsche) Buchtitel verrät, um Feuerland herum in den Pazifik.
_Meinung_
Wie man anhand der kurzen Inhaltsangabe bereits ersehen kann, bestehen schon einmal frappante Unterschiede zur Storyline des Films. Hier sind es Amerikaner und keine Franzosen, die gejagt werden. Zudem ist der Film natürlich um einiges eingekürzt worden, viele Handlungsstränge und Charakterisierungen aus dem Buch sind dabei entweder massiv abgeändert worden oder komplett entfallen. Der Roman ist selbstverständlich wesentlich akribischer in seiner Personenbildung, was deren Beschreibung, deren Background und ihre Funktion an Bord angeht. Schiffsarzt Dr. Stephen Maturin ist nicht nur der beste Freund des 100-Kilo-Kolosses Aubrey, sondern gleichzeitig auch noch Geheimdienstagent seiner Majestät und … latent drogensüchtig.
Mehr als einmal spricht er dem „Laudanum“ (einem Opiat) zu, welches er sonst für gewöhnlich bei den häufig fälligen (Not-)Operationen an Bord seinen Patienten als Betäubungsmittel einflößt. Seine Figur ist neben der Aubreys natürlich am detailliertesten ausgeführt, wobei es sich O’Brian – politisch korrekt – nicht verkneifen kann, ihm Selbstzweifel über seinen Drogenmissbrauch anzudichten. Gemeinhin wird angenommen, dass O’Brian mit Maturin so etwas wie ein Alter-Ego in der Geschichte geschaffen habe; inwieweit das zutrifft kann man nicht mit Sicherheit sagen, fragen kann man ihn ob seines toten Zustands auch nur noch schwerlich.
Maturin als gelehrter Wissenschaftstyp ist jedenfalls in diesem Duo der Gegenpol zum etwas raubeinigen Aubrey, der zwar ein waschechter Kapitän der britischen Marine, aber kein Leuteschinder ist. Vielmehr ein brillanter Taktiker, doch alles andere als eine Leuchte in Sachen Allgemeinwissen, dafür aber mit dem Herz am rechten Fleck, dem das Wohlergehen des Schiffes und seiner Besatzung über alles geht. Von den gelegentlichen Saufgelagen und dem Musizieren in der Offiziersmesse mal abgesehen. Ein ehrgeiziger, ziemlich schrulliger Kauz, dieser Aubrey – und vermutlich deshalb so sympathisch, weil er als Offizier nicht aus dem Adel, sondern aus dem Volk stammt. Er beachtet natürlich die Regeln und den Kodex der britischen Kriegsmarine, beugt sie aber gelegentlich und lässt auch mal Fünfe gerade sein.
Im Vorwort weist Patrick O’Brian darauf hin, dass Kenner der Materie Parallelen zu einer realen, historisch belegten Verfolgungsjagd wieder erkennen werden: HMS „Phoebe“ versus USN „Essex“. Aus der Luft gegriffen ist der Stoff also nicht. Das gilt auch für einige der Begebenheiten an Bord, die auf zeitgenössischen Schilderungen beruhen, allenfalls die Figuren und die Zusammenhänge sind fiktiv. Zum Teil hat sich O’Brian auch Versatzstücke aus anderen Logbüchern und Reiseberichten aus der entsprechenden Zeitperiode zusammengesucht und sie hier mit eingeflochten. Das hat er so geschickt gemacht, dass man kein Flickwerk argwöhnt, sondern die Handlung fast für eine historisch korrekte Überlieferung halten könnte.
_Fazit_
Wer den Film schon für zu detailreich und langatmig empfand, den wird das Buch lehren, was Detailtreue wirklich bedeutet. Im positiven Sinne ist O’Brian hier höchst akkurat bei seiner spannenden Verfolgungsjagd auf See. Insbesondere maritim interessierte Leser werden den Roman ob seiner exakten Darstellung der alten Windjammer-Zeit in ihr Herz schließen und verschlingen. Weniger Genre-Beschlagenen wird der Konsum erschwert, da sie ständig in den Appendices oder der Schemazeichnung des Schiffes nachblättern müssen, was beim Klaubautermann all die ihnen unbekannten Begriffe bedeuten. Das bremst speziell diese Leserschaft aus. Wenn man sich darauf aber einlässt, lernt man eine Menge darüber, Was-Wer-Wie-und-Warum an Bord eines Schiffes dieser Ära funktioniert. Nautisch, technisch sowie soziologisch.
_Die Buchdaten auf einen Blick:_
Originaltitel: „The Far Side Of The World“
Ersterscheinungsjahr: 1984, Harper Collins
Deutsche Übersetzung: Andrea Kern
Erschienen: 2002 Econ Ullstein List / München
420 Seiten Hardcover, Vorsatz illustriert, ISBN: 3-5482-5837-9
478 Seiten Taschenbuch, broschiert, ISBN: 3-5482-5443-8
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden in Europa jedes Jahr ca. 500 000 Frauen und Mädchen zur Prostitution gezwungen. Der Umsatz wird auf ca. zehn Milliarden Euro jährlich geschätzt. Waren die Hauptherkunftsländer der Opfer in den 80er Jahren noch in Asien und Afrika zu finden, kommt seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs die überwiegende Zahl der Opfer, über 80 %, aus Mittel- und Osteuropa. Es ist leichter und billiger für die Händler, ihre „Ware“ von dort ganz ohne Flugkosten einzuführen. Heute kommen aus Afrika noch 2,8 %, aus Asien 2,9 % und aus Lateinamerika 1,3 % der Opfer. Die Ursache ist in Osteuropa auch im völlig verrotteten Wertesystem begründet, wo nach langen Jahrzehnten des Kommunismus das Überleben in einem wilden Kapitalismus für alle zum aggressiven Kampf ums Dasein geworden ist.
Erschütternd wird die Lage der Opfer geschildert, die in Osteuropa auf Sklavenmärkten im großen Stil zum Verkauf feilgeboten werden. Es sind Wohnungen von Mittelsmännern in anonymen Großstädten oder einsame Häuser auf dem Land, in denen die Frauen aus aller Herren Länder zusammengetrieben werden. Dort erfolgt der „Fleischbeschau“ durch die Endabnehmer, Zuhälter und Mittelsmänner aus ganz Europa, die für ihre Establishments oder ihre Kunden einkaufen. Das Ganze unterscheidet sich nicht vom Pferdeverkauf. Andere hier versklavte Frauen werden tatsächlich durch falsche Versprechungen in die westlichen Länder gelockt, ihrer Pässe beraubt und dann unter Gewalt und Not in Gefangenschaft zur Prostitution gezwungen. Auf dem Markt kostet eine hübsche Weißrussin, Ukrainerin oder Bulgarin zwischen 1000 und 2000 Euro, also weniger als ein Pferd.
Osteuropäische Zwangsprostituierte sind beliebt wegen ihres so genannten GFS-Service („Girlfriendsex“), also Sex wie mit der eigenen Freundin: Zungenküsse, Streicheln, Haare kraulen, Massieren, Sex ohne Kondom, Nähe, Wärme, Kuscheln. Ein Qualitätsmerkmal und offenbar eine unglaubliche Marktlücke im deutschen Profi-Gewerbe. Osteuropäerinnen gelten als warm, herzlich und hingebungsvoll. Im Gegensatz zu ihnen sind die „knallharten“ deutschen Profi-Prostituierten abgebrüht und teuer, die Nummern sachlich, schnell und steril. Küsse wie auch der Wunsch „ohne Kondom“ werden von den meisten deutschen Prostituierten abgelehnt.
Die Freier bemerken eigentlich, was sich da abspielt, aber in der Regel schreiten auch sie nicht ein. Freier ist in Deutschland sowieso im Gegensatz zu anderen Ländern ein sehr verharmlosender Begriff, denn er stammt noch vom mittelalterlichen Begriff „freien“ („auf Freiersfüßen gehen“) ab, der sogar nach „frei“ klingt. Auf Englisch ist das Wort für einen Freier „John“ – nach dem gebräuchlichsten Vornamen – und in Polen ist es „Anton“. Freier sind lichtscheue Wesen, die kaum erforscht sind. Immerhin gibt es in Deutschland ca. 12 Millionen Freier, die regelmäßig die Dienste einer Prostituierten in Anspruch nehmen, d. h. jeder dritte Mann. Durch deren Wünsche werden rund sechs Milliarden €uro Umsatz pro Jahr erwirtschaftet – aber es gibt keine echten „Marktanalysen“ und kaum Untersuchungen zum Käuferverhalten. Im Gegensatz zu den USA existiert in Deutschland keine Freier-Forschung, die Sexualwissenschaften in Forschung und Lehre fristen bei uns an deutschen Universitäten ein Mauerblümchendasein. Obwohl es an jeder Straßenecke und in jedem Medium um die Themen Sex, Erotik, Trieb und Gewalt geht, steckt echte interdisziplinäre Forschung ebenso wie der Wille und der staatliche Auftrag dazu in den Kinderschuhen.
Auf Regierungsebene schaut man ebenso eher weg. Vor wenigen Jahren wurde der Skandal aufgedeckt, dass selbst die deutschen KFOR-Soldaten auf Kosovo-Friedensmission im Jahr 2000 die Dienste zur Prostitution gezwungener Opfer in mit Gitter verschlagenen Gefängnis-Bordellen nutzten. Was dort stattfand, war für jeden Soldaten offensichtlich. Alle Zimmerfenster waren mit schweren Gitterstäben versehen, das Grundstück mit einem übermannshohen Sicherheitszaun versehen, die Eingangstür des Bordells verschlossen. Wenn es zur Sache ging, wurden Freier und Frauen im Zimmer eingeschlossen. Mittlerweile wurde aufgrund der Aufdeckung das Bordell zerstört, der Besitzer allerdings erhielt vom Staat Mazedonien Entschädigungszahlungen. Belangt wurde er nie. Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen in Deutschland mussten Anfang 2004 eingestellt werden, obwohl zweifelsfrei festgestellt wurde, dass dort schwerster Menschenhandel vorlag. Bis heute bestreitet das Bundesverteidigungsministerium vehement, dass deutsche Soldaten überhaupt in Bordelle gehen. Was nicht sein kann, darf nicht sein. Doch das Lügengebäude wankt. Die Zeugenaussagen sowohl von Opfern als auch von Soldaten selbst liegen vor.
Als Einzige wagte bisher 2003 die CDU-Bundestagsabgeordnete Ute Granold den Vorstoß, Freier bei Zwangsprostitution mit strafbar zu machen. Bislang sieht das deutsche Menschenhandelsgesetz noch keine Freierbestrafung vor. Aber seit dem Skandal im Sommer 2003 um Michel Friedmann oder jüngst um Peter Hartz und die Vorkommnisse bei VW wird endlich über die Verantwortung der Freier diskutiert. Michel Friedmann hatte sich für seine Sex- und Drogenpartys Zwangsprostituierte bestellt und war in Menschenhandel verwickelt. Er behauptete, davon nichts gewusst zu haben und brauchte sich nur wegen harmlosen Drogenbesitzes verantworten. Das Ausnutzen der Notlage von Menschenhandelsopfern, die verschleppt, brutal misshandelt, ausgebeutet und zur Prostitution gezwungen wurden, galt als Kavaliersdelikt. Heute moderiert er längst wieder. Nicht anders im Falle Peter Hartz. Inzwischen steht endlich ein Gesetzesentwurf im Raum, Freier unter Strafe zu stellen, wenn sie offensichtlich wissen, was sich abspielt. In den 80er Jahren war das, was sich da abspielte, gesellschaftlich ja auch nicht mal verpönt. Damals konnten noch Reiseveranstalter ungeniert mit „Sonne, Sand und Sex“ für die Urlaubsparadiese Pattaya (Thailand) oder Mombasa (Kenia) werben. Es war vollkommen üblich, dass Unternehmen ihre Manager mit solchen Reisen belohnten.
Nicht nur bei Prostituierten, deren hier geschilderte Schicksale wahrlich aufrüttelnd sind, liegt Menschenhandel vor. Auch für die Heiratsmärkte gilt dasselbe. Als Beispiel brüstet sich ein Heiratshändler damit, in einem einzigen Jahr zehntausend Frauen aus aller Welt an deutsche Männer vermittelt zu haben. In seinem Umfeld wurde nachgeforscht und man fand auf der Kölner Bahnhofsmission eine völlig verzweifelte Brasilianerin, die dort am Ende ihrer Kräfte zusammengebrochen war. Drei potenzielle Ehemänner hatten sie jeweils fünf Wochen lang „ausprobiert“, aber „die Ware“ letztendlich nicht gekauft. Und „Maria“ sollte nun dem besagten Heiratshändler seine Unkosten erstatten, seinerzeit 7000 Mark für Flug, Reisepapiere, Vermittlungsgebühr und Unterhalt während ihres Aufenthalts in der Hölle. Noch mehr solcher Fälle – hauptsächlich zuhause eingesperrte Thaifrauen – werden geschildert. Deutsche Ehemänner sperren sie ein und misshandeln sie. Der deutsche Staat hatte auch lange Zeit nichts dagegen, denn kam derlei heraus, wurden die Frauen abgeschoben. Ende der 80er Jahre musste eine Ausländerin sechs Jahre mit einem Deutschen verheiratet sein, wenn sie Aufenthaltsrecht für sich beanspruchen wollte. Ein deutscher Mann, der seine gekaufte Ware loswerden wollte, musste nur zum Ausländeramt gehen, die Ehe für gescheitert erklären und schon wurde abgeschoben. Bereits die Flucht vor Prügeln ins Frauenhaus war Abschiebegrund. Heute gilt nach zwei Jahren Heirat Aufenthaltsrecht. Mit Kind darf sie sowieso bleiben und nun auch im „Härtefall“ bei Misshandlung.
Die Schilderungen richten sich nicht gegen Prostitution an sich. Im Jahre 2001 wurde in Deutschland durch Änderung des § 180a StGB Prostitution legalisiert, sie ist nicht mehr sittenwidrig und ihre Förderung auch nicht mehr verboten. Ziel war es ja, Prostituierten mehr Rechte einzuräumen und zu ermöglichen, dass sie sich versichern, also Kranken- und Sozialversicherungen abschließen können. Das ist wichtig bei freiwilliger Prostitution, damit sie auch Arbeitsverträge abschließen können. Das Gesetz scheint aber an der Wirklichkeit vorbeizugehen. Nach Auskunft der Gewerkschaft Verdi für Deutschland gibt es zurzeit weniger als fünf Arbeitsverträge mit Prostituierten. Das nur nebenbei: Es geht in diesem Buch um Menschenhandel, nicht um freiwillige Prostitution.
Die Autorinnen gehören der NGO-Organisation „Solwodi“ (Solidarity with women in distress – Solidarität mit Frauen in Not) an, die in Deutschland über zehn Beratungsstellen verfügen. Sie setzen sich für Migrantinnen ein, die in Deutschland in Not geraten sind. Es handelt sich dabei um Frauen, die über Arbeitsemigration, Sextourismus, dubiose Heiratsvermittlungen oder als Opfer von Menschenhandel gekommen sind. Diesen Frauen bietet Solwodi allgemeine Beratung und Rückkehrhilfen für die Klientinnen, die zurück in ihr Heimatland möchten. Opfer von Gewalt erhalten psychosoziale Betreuung, Unterbringung in einer betreuten Schutzwohnung und Vermittlung von juristischer, medizinischer und therapeutischer Hilfe. Ein Schwerpunkt ist die Begleitung von Opferzeuginnen bei Gerichtsverfahren gegen die Täter. Auf Initiative der Bundesfrauenministerien wurde der „Arbeitskreis Frauenhandel“ gegründet, dem Vertreter verschiedener Bundes- und Landesministerien, des Bundeskriminalamtes und der Landeskriminalämter, von Justiz- und Ausländerbehörden sowie von Solwodi und anderen Nichtregierungsorganisationen angehören.
Schlimm ist, nebenbei bemerkt, auch, dass es gar keine Razzien in den Bordellen wegen Menschenhandels gibt. Im Durchschnitt gibt es pro Bundesland und Jahr eine einzige solche Razzia, was völlig ungenügend ist. Angeklagt wird dann auch nicht auf Menschenhandel, sondern auf Schleusung. Die Verfahren sind dann einfach und kürzer, der Strafbestand ist leichter und ohne Aussagen der Zeugin im Prozess nachweisbar. Danach kann die Zeugin abgeschoben werden. Die EU versucht seit längerem, Menschenhandel im nationalen Recht umzusetzen. 2004 legte auch die Bundesregierung ein Gesetz gegen Menschenhandel vor, das im November 2004 verabschiedet wurde, aber völlig mangelhaft ist. Die Bestrafung der mitwissenden Freier findet ebenso wenig statt. Und Zwangsheirat wird nach wie vor nicht als Menschenhandel gewertet und nicht bestraft.
|“Vier Menschen sitzen im Kreis –
Zwei Frauen und zwei Männer.
Alle blicken nach innen, alle sind leicht vorgebeugt,
als starrten sie etwas an, das in der Mitte des Kreises liegt.
Alle vier sind tot.“|
Detective Stella Mooney ermittelt in einem der seltsamsten Fälle ihrer Laufbahn. Was hat die vier älteren Menschen dazu getrieben, sich selbst umzubringen? War es etwa ein ritueler Selbstmord, der von einer geheimen Sekte befehligt wurde? War es überhaupt ein groß angelegter Suizid? Und wer waren diese vier Menschen überhaupt?
Stella arbeitet in einem der zwielichtigsten Viertel von London, nämlich in Notting Hill, einerseits ein bekanntes Mode-Viertel, in dem sich die extravagantesten Menschen herumtreiben, andererseits aber auch ein sozialer Brennpunkt mit einer großen Drogenszene und der wohl stadtintern höchsten Prostitutionsrate. Und in die letztgenannte Szene ist Mooney, so stellt sich alsbald heraus, anscheinend hineingeraten. Die erste Spur führt sie nämlich in die Welt eines der entdeckten Opfer, eines gewissen Jimmy Stone, der sich sein täglich Brot mit dem Verkauf von Erinnerungsstücken blutiger Mordanschläge verdiente. Er ist auch der Einzige in der Gruppe, der offensichtlich durch einen Fremdeingriff ermordet wurde, so dass sein Umfeld als Erstes überprüft wird. Monney findet heraus, dass Stone nicht nur mit obskuren Gegenständen handelte, sondern auch für die Gangsterfamilie Tanner arbeitete. Offensichtlich hat er sich deren Unmut zugezogen und wurde so zum gefährdeten Spielball der Mafiosi.
Die Vermutung eines rituellen Selbstmords hat Stella Mooney derweil völlig abgelegt, denn immer tiefer führt sie die Spur in die Londoner Unterwelt und schließlich auch bis zu besagter Gangsterfamilie. Doch die Polizei scheint machtlos gegen das organisierte Kriminalunternehmen, das scheinbar überall seine Finger im Spiel hat. Einen Mord konnte man den offensichtlichen Verbrechern jedoch noch nicht nachweisen, bis nun die Leiche von Stone aufgetaucht ist. Mooney und ihr neuer Gehilfe John Delany, der eigentlich nur als Journalist an dem seltsamen Fall interessiert war, suchen nun nach Beweisen, um die kompromisslose Familie wegen ihres neuesten Opfers endlich hinter Gitter zu bringen und den Machenschaften des Tanner-Konzerns endgültig ein Ende zu setzen – aber ihre Gegner kennen keine Gnade …
Der Titel und auch die Beschreibung auf dem Backcover von „Der Kreis der Toten“ sind sehr kryptisch. Vermutet man nämlich hier einen zeitgemäßen Psychothriller mit scheinbar religiösem Hintergrund, stellt sich bereits nach wenigen Seiten heraus, dass es sich bei dem Fall um einen ‚ganz normalen‘ Mord handelt, bei dem lediglich die Hintergründe ein wenig verzwickter sind. Das soll nun nicht falsch verstanden werden, denn dies mindert die Qualität des Inhalts keineswegs. Einigen wir uns also darauf, dass das von David Lawrence bereits 2002 veröffentlichte Buch eher eine Mischung aus Mafia-Thriller und Kriminalroman ist.
Vom Inhalt her ist die Geschichte aber wirklich sehr intensiv und auch vielschichtig dargestellt. David Lawrence hat nämlich ganz nebenher auch noch ein detailliertes Bild über die gesellschaftlichen Unterschiede und die dadurch entstehenden Randgruppen, die auch das moderne London bevölkern, gezeichnet, bei dem er vor allem dem organisierten Verbrechen sein Hauptaugenmerk schenkt. Lawrence erzählt von Menschenhandel, Prostitution, Mord und dem nackten Kampf ums Überleben und untermalt seinen fiktiven Text hierbei mit einem durchaus authentischen Rahmen, der einerseits erschreckend wirkt, der düsteren, beklemmenden Atmosphäre des Buches aber sehr zugute kommt. Besonders dramatisch ist diesbezüglich die Darstellung der bosnischen Nutte Zuhra Hadžic, die bei ihrer Flucht aus dem heimischen Kriegsgebiet, in dem ihre Eltern vor ihren Augen brutal ermordet wurden, Menschenhändlern auf den Leim geht und schließlich auch im Netz des Tanner-Clans landet.
Die zunächst erhoffte Sicherheit in einem fremden Land entpuppt sich für das Mädchen als Schein, und bevor es sich versieht, hat es sie in London noch schlimmer angetroffen als im Land des Bürgerkriegs. Unter Aufsicht der Handlanger der Tanners führt sie als Prostituierte ein menschenunwürdiges Leben, das sie wahrscheinlich nur noch durch ihren Tod mit Stolz erfüllen kann. Doch mit dem jüngsten Mord ergibt sich für sie eine unerwartete – und sicherlich die einzige – Chance, ihrem brutalen Schicksal zu entkommen und trotz ihrer grausamen Geschichte endlich Frieden zu finden. Doch Zuhra ist ängstlich, weil sie weiß, dass ein falscher Schritt von den Tanners sofort mit ihrem letzten verbliebenen Gut, dem Leben, bezahlt wird. Und genau diese Angst beschreibt Lawrence wirklich sehr schön, wenngleich er sich nie zu konzentriert diesem Thema widmet. Stattdessen meistert er dies über die teils sehr emotionslose Darstellung der Londoner Unterwelt und ihrer Gefangenen, die ihm schließlich im Falle des bosnischen Mädchens am besten gelungen ist.
Die Kriminalgeschichte profitiert somit auch ständig von diesen gelungenen Portraits und schreitet in ziemlich flottem Tempo voran. Gleichzeitig fällt es auch nicht schwer, in die Geschichte hineinzufinden, denn der Autor steigt sofort beim Mordszenario und dem Totenkreis ein und kommt auch mit der Vorstellung der Hauptcharaktere zügig auf den Punkt. Insgesamt hat Lawrence so eine nahezu perfekte Mischung aus gehörigem Erzähltempo, bedrohlich-authentischer Atmosphäre, starken Charakterzeichnungen und toller Story gefunden, die zwischendurch mit zahlreichen Höhepunkten aufwarten kann und darüber hinaus auch bis zum Ende spannend bleibt.
Unterm Strich ergibt das einen fabelhaften Kriminalroman, der mittendrin teilweise sehr hart ist (Lawrence beschreibt die Gewaltexzesse ziemlich ausführlich), sprachlich sehr eigenwillig erscheint und nicht selten zutiefst unter die Haut geht. Mit diesem Debütwerk hat sich der Autor direkt in die Liste der besten seines Faches eingereiht, daher auch eine ganz klare Empfehlung für „Der Kreis der Toten“.
Seit einer Ewigkeit – und das ist hier wörtlich zu verstehen – reisen die Gefährten Andrej Delany und der Nubier Abu Dun nun bereits durch die Weltgeschichte. Das Rätsel um den Ursprung und die Geheimnisse ihrer Existenz als Vampyre treibt sie unermüdlich voran. Mehr als einmal haben sie auf ihrer gemeinsamen Reise Kopf und Kragen riskiert, nur um einer noch so vagen Spur nachzugehen. Mehr als einmal musste ihre Freundschaft einer Zerreißprobe standhalten und mehr als einmal war das Angebot aufzugeben allzu verführerisch. Und doch haben sie ihren Weg nie aus den Augen verloren.
Länger als ein Menschenleben währt nun schon ihre Freundschaft, die im fernen Transsylvanien des 13. Jahrhunderts unter einem unglücklichen Stern begonnen hat. Als Feinde standen sich die beiden ungleichen Charaktere auf dem Sklavenschiff des Nubiers gegenüber und kämpften erbarmungslos auf Leben und Tod.
Nun stehen sie Seite an Seite im Sand der lybischen Wüste und haben Jahrhunderte ins Land gehen sehen, Kriege ausgefochten und nur in wenigen Momenten gespürt, wie sich Frieden im Herzen anfühlt. Beide haben sie auf dem langen Weg Geliebte und Freunde verloren und einzig die Erkenntnis gewonnen, dass Vertrauen und Aufrichtigkeit zu den rarsten Eigenschaften der Menschen gehören. Geblieben ist ihnen ihre Freundschaft, die unter der Fassade von sarkastischen Sticheleien tiefer geht, als sie sich jemals eingestehen würden. Bis jetzt.
Nachdem sie gemeinsam Himmel und Hölle erlebt haben, droht nun das Band zwischen ihnen zu zerreißen. Der Grund – wie könnte es anders sein – sind eine Frau und unangenehme Erinnerungen an längst vergangene Zeiten.
Seit Tagen sind die beiden Helden von einem Meer aus Sand und Fels umgeben und fernab jeglicher Zivilisation – so scheint es. Doch ehe sie sich der Gefahr bewusst werden, tritt ihnen eine Horde Sklavenhändler entgegen. Zwar bedarf es nur weniger Schwerthiebe und Faustschläge um der Situation Herr zu werden, doch insbesondere bei Abu Dun hinterlässt diese Begegnung Spuren.
Er vermutet hinter diesen Sklavenhändlern jene Organisation, die auch ihn einst versklavte und, als Folge dieser Gefangenschaft, auf den Weg brachte, selbst Sklavenhändler zu werden. Nach unablässiger Suche scheint der Nubier nun dem Versteck dieser Bande auf die Schliche gekommen zu sein. Doch der einzige Weg, Zugang zu ihrer Festung zu bekommen, scheint, sich freiwillig in die Hände seiner Todfeinde zu begeben. Andrej, der nur wenig Begeisterung für dieses selbstmörderische Vorhaben aufbringen kann, bringt es dennoch nicht über das Herz, seinen Freund im Stich zu lassen.
Doch als sie dem Oberhaupt Ali Jhin und seiner Räuberhorde unbewaffnet gegenübertreten, kommen ihnen berechtigte Zweifel am Sinn ihres Plans. Etwas voreilig scheinen sie sich in dieses Abenteuer gestürzt zu haben.
Als wäre diese Erkenntnis nicht Strafe genug, muss Abu Dun zusehen, wie sein bester Freund dem Zauber einer mysteriösen und unheimlichen Frau verfällt – Meruhe, Gefangene und im selben Moment Herrin der Sklaven mit uneingeschränkten Befugnissen.
Nicht das erste Mal bedroht eine Frau das Schicksal ihres gemeinsamen Weges, aber nie stand ihre Freundschaft derart auf Messers Schneide. Zu allem Überfluss in einem Moment größter Bedeutsamkeit für die beiden Vampyre, denn sie treffen auf Wesen ihrer Art, die so alt wie die Erde selbst sind. Noch nie waren sie so nahe daran, das Geheimnis um ihre Unsterblichkeit zu lüften.
An dieser Stelle wäre es fatal, auch nur ein weiteres Wort zum Inhalt zu verlieren, denn Wolfgang Hohlbein schafft es über die gesamten 530 Seiten, die Spannung auf einem abscheulich hohen Niveau zu halten. Abscheulich, weil der Leser des Gefühls der inneren Anspannung und nervenzerreißenden Erwartung auf die folgenden Seiten einfach nicht abkömmlich wird. Um nicht vollständig das Nervengerüst zum Einsturz zu bringen, spickt Hohlbein den Text mit feinsten Spitzen schwarzen Humors und einem guten Maß an Action. Für Liebhaber der Buchreihe sind diese Kriterien wohl aber eher sekundär. Was zählt, ist schließlich der Inhalt. In diesem Punkt lässt es sich leider nicht ohne kritische Worte auskommen.
Ein Manko, das auch in den Vorgängerbüchern schon zum Tragen kam, ist die Wiederholung einiger Handlungsschemata. Die schöne Unbekannte mit dem dunklen Geheimnis, die Freundschaft der Protagonisten auf dem Prüfstand, .. alles schon gehabt. Was in Band sieben noch ungeheuer gestört hat, kompensiert Hohlbein hier durch die Dynamik seiner Erzählung und gleicht es durch Fortschritte in der Gesamthandlung aus. Explizit soll das heißen, dass der rote Faden, die Suche nach dem Geheimnis der Unsterblichkeit, endlich weitergesponnen wird. Während die vorangegangenen Episoden eher schmückendes Beiwerk waren (man hätte sicherlich inhaltlich auf Band 3 und 7 gut verzichten können), wird hier wieder fokussiert und der Blick auf das Wesentliche gerichtet. Zumindest in dem Rahmen, den ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt des vorliegenden Bandes ihm lässt. Denn bedeutsam ist selbstredend auch der längst überfällige Einblick in die Vergangenheit des Nubiers. Während Andrejs Geschichte bereits mit den ersten Bänden wesentlich abgedeckt ist, bleibt Abu Dun über lange Strecken zweidimensional. Allein aus diesem Grund ist das Buch bereits ein Gewinn für die Serie.
Summa summarum lässt sich festhalten: Nichts Neues, aber viel Gutes. Der achte Band der |Chronik der Unsterblichen| macht endlich wieder Lust auf mehr.
|Nach dem bahnbrechenden Erfolg des Online-Rollenspiels war es nur eine Frage der Zeit, bis die D20-Ausgabe eine Neuauflage erfahren würde.|
_von Dominik Cenia
mit freundlicher Unterstützung unseres Partnermagazins http://www.ringbote.de/ _
Das alte „Warcraft“-D20-Buch war nicht mehr als ein Setting, ohne wirklichen Regelanteil. Man benötigte also die entsprechenden D20-Regelbücher, um in die Welt von Azeroth einzutauchen. Die übrigen Informationen waren über weitere Quellenbücher verteilt. Eine Reihe von weniger gelungenen Illustrationen und die manchmal etwas merkwürdige Verteilung des Quellenmaterials machten aus „Warcraft“-D20 einen Exoten, der irgendwie nicht so richtig ankommen wollte.
Diese Fehler hat man sich zu Herzen genommen und dem Regelwerk eine komplette Frischzellenkur verpasst. Auf fast 400 vollfarbigen Seiten im Hardcover präsentieren sich die neuen Regeln für „World of Warcraft“. Das Besondere: Das Buch enthält alle Grundregeln, die für D20 notwendig sind. Damit hat man mit dem Buch quasi ein komplettes, eigenes D20-Rollenspiel und nicht einfach nur eines von vielen Settings.
Die neuen Regeln sind jedoch trotz einiger Änderungen weiterhin mit den alten Quellenbücher kompatibel. Gerade das alte „Manual of Monsters“ oder das „Alliance & Horde Compendium“ sind zum Beispiel weiterhin zu gebrauchen (wobei |Blizzard| hier bereits zwei neue Bücher angekündigt hat). Inhaltlich orientiert sich das Buch aber stärker an dem MMORPG von |Blizzard|. Namen, Skills, Feats und Charakterklassen lehnen sich vom Begriff her eher an das Computerspiel als an den üblichen D20-Terminologien an.
Die alten Regeln des „Warcraft“-Rollenspiels hatten das Problem, dass die Rassen von der Stärke her unausgeglichen waren. Ein Taure mit Lvl. 10 war einfach stärker als ein Mensch auf dem gleichen Level. Unabhäng von der Klassen waren einfach die allgemeinen Startbedingen und Grundboni zu unausgeglichen verteilt. Das neue Regelwerk hat genau dieses Problem in Angriff genommen. Ab sofort ist es möglich, so genannte „Racial Levels“ aufzusteigen, also quasi Stufen innerhalb einer Rasse. Dies stellt die innere Stärke und Einigkeit dar, die ein Charakter gegenüber seines Volk hat. Ein Taure taucht damit tiefer in die spirituelle Welt seiner Ahnen ein, während ein Mensch mehr und mehr anfängt, sich mit den Werten der Allianz zu identifizieren. Dies bringt weitere Vorteile mit sich und sorgt dafür, dass die einzelnen Rassen deutlich ausgeglichener sind.
Der „Arcanist“ und der „Healer“ sind zwei neue Charakterklassen, die sich wiederum in die bekannten Schulen wie etwa „Mage“, „Warlock“, „Necromancer“ respektive „Druid“, „Shaman“ und „Priest“ unterteilen. Wer jetzt jedoch Bedenken hat, dass es nur die Charakterklassen aus dem Online-Spiel gibt, kann beruhigt sein. Auch andere Klassen wie der „Barbarian“, „Scout“ und „Tinker“ haben es in das Buch geschafft – nicht zu vergessen eine ganze Reihe von Prestige-Klassen.
Es gibt Regeln für den Einsatz von Hero Points, und die Regeln für Verwundungen und das Ableben von Charakteren wurden ein wenig überarbeitet. Da die WoW-Welt eher für ein heroisches Spiel gedacht ist, starten die Spieler schon zu Beginn mit recht mächtigen Charakteren. Auch bei der Magie wurde Hand angelegt. Durch das neue „Slot-System“ können die Spieler nun wesentlich flexibler ihre Zauber aussuchen und für jeden Tag neu festlegen.
Das wären auch schon alle Änderungen. Der Rest besteht aus einzelnen Verfeinerungen und Umformulierungen. Das etwas komplizierte Kapitel über „Technological Devices“ wurde jedoch nicht überarbeitet.
Man kann so ziemlich alle Rassen übernehmen, die für das Schicksal der Welt von Azeroth eine Rolle spielen. Nacht- und Hochelfen, Menschen, Goblins, Gnome, Zwerge, Tauren, Orks, Trolle und die „verlassenen“ Untoten stehen zur Auswahl. Natürlich bietet es sich an, vor dem Spiel festzulegen, ob man lieber auf der Seite der Horde oder der Allianz spielt. Gerade der Konflikt zwischen den beiden Gruppen macht einen Großteil des Spiels aus. Gemischte Gruppe sind zwar auch möglich, doch stellt sich dann immer die Frage, was beispielsweise ein Mensch und ein Verlassener zusammen mit einem Gnom und einem Ork vor den Toren von Stormwind machen wollen.
Neben den Regeln zur Charaktererschaffung, zur Magie, zum Kampf, zu den Skills, zur Ausrüstung und zu den Feats, bietet das Buch einen umfangreichen Regionalteil, der sich mit der Geschichte von Azeroth und den Reichen Kalimdor, Lordaeron, Khaz Modan und Azeroth beschäftigt. Kenner des Online-Rollenspiels werden sich sofort wie zu Hause fühlen, denn die Beschreibungen der einzelnen Länder decken sich 1:1 mit denen aus dem Computerspiel. Leider hat man bei der Karte und den Beschreibungen auf einen Maßstab verzichtet. Schade, denn dadurch hat man nur den relativ kleinen Maßstab aus dem MMORPG im Kopf. Nur leider passt das überhaupt nicht zu einem Pen&Paper-Rollenspiel. Denn wie soll man eine ausführliche Reise etwa durch Schnee, Eis und Kälte ausspielen, wenn man auch einfach mit dem Greif von Stormwind nach Ironforge in nur wenigen Minuten fliegen kann? Hier müssen die Macher noch ein paar Dinge ausbessern, weil das Rollenspiel sonst leicht zu einer Karrikatur des MMORPGs von |Blizzard| verkommen kann.
Gut gelungen ist das Kapitel über Alignment, Affiliation und Faiths. In der „World of Warcraft“ gibt es weder Gut noch Böse. Beide Seiten, sowohl die Horde als auch die Allianz, haben ihre Gründe, einen ständigen Kampf ums Überleben zu führen, sehen ihren Gegner aber jeweils als „Böse“ an. So können also „gute“ Charaktere von beiden Seiten sich gegenseitig bekämpfen, in dem Glauben, dass ihr Gegner das absolut Böse darstellt. Ein Paladin kann also sein äquivalentes Gegenstück, zum Beispiel einen Ork-Schamanen, ruhigen Gewissens angreifen, obwohl eigentlich beide den fast gleichen moralischen Kodex haben.
In der „World of Warcraft“ gibt es nur wenige Götter. Die so genannten „Alten“, das heilige Licht, Naturgeister und die Mondgöttin „Elune“ bilden die wenigen spirituellen Kräfte der Welt. Gerade die Orks oder die Nachtelfen ziehen ihre Religion vor allem aus der Verehrung ihrer Urahnen oder Vorfahren. Die Menschen haben eine weit philosophischere Sicht der Dinge, und die Tauren glauben daran, dass alle Elemente und Dinge der Welt einen eigenen Geist besitzen (woran die Verlassen jetzt so glauben, ist nicht genauer erklärt). Auch die „brennende Legion“ kommt nicht zu kurz, darf die meiste Zeit aber als nur als „der böse Feind“ herhalten, auf den sowohl die Horde als auch die Allianz mit Freuden einschlagen dürfen.
Das phantastische neue Layout und die Tatsache, dass es sich bei dem Buch um ein komplett spielbares Regelwerk und nicht nur ein Setting handelt, täuschen nicht über die Tatsache hinweg, dass es sich trotzdem nur um eine „verbesserte“ Neuauflage des Spiels handelt. Besitzer des alten Rollenspiels sind also nicht wirklich genötigt, das neue Regelwerk zu kaufen. Die meisten Änderungen sind natürlich sinnvoll und ausgereifter. Wer jedoch mit den bisherigen Regeln gut zurechtgekommen ist, wird auf die neuen Ideen auch nicht unbedingt angewiesen sein. Hinzu kommen ein paar versteckte Fehler im Layout. So wurden etwa einige Überschriften in der falschen Schrift platziert, was einfach unschön aussieht.
_Fazit:_ Das Buch stellt einen guten Einstieg in die Welt der Rollenspiele dar. Die Illustrationen stammen beispielsweise direkt aus dem Online-Rollenspiel, sodass vor allem Quereinsteiger, die Azeroth bisher nur vom Monitor her kennen, schnell einen Zugang zu dem System finden können. Bleibt nur die Frage, ob wir in Zukunft die gleichen „spannenden“ Quests des Computerspiels erleben dürfen. Mir persönlich graut es schon vor solchen Abenteuern wie „Fliegt mit dem Greif von Ironforge in den Wald von Elwyn und bringt mir zehn Defias-Kopftücher“. Um „World of Warcraft“-D20 richtig spielen zu können, muss man also die Abläufe des Computerspiels aus seinem Hirn verbannen. Für alte Hasen kein Problem, doch für Neueinsteiger wohl schwer zu vollziehen. Vielleicht fördert das Spiel dadurch in den falschen Händen ein wenig zu sehr das sogenannte „Powergaming“. Wobei ich das natürlich nicht hoffen will …
Nachdem Twig im ersten Teil der „Klippenland-Chroniken“ auf der langen Reise durch den Dunkelwald seinen Vater bei den Himmelspiraten entdeckt hat, geht die Geschichte um den nun etwas reiferen Jungen weiter. Gemeinsam mit seinem legendären Vater und dessen Mannschaft zieht er hier auf eine weitere spannende Reise, die wieder einmal von Hörbuch-Genius Volker Niederfahrenhorst erzählt wird. War die erste Geschichte schon sehr gut, kann sich das Ganze in der Fortsetzung sogar noch einmal steigern, denn die Action und die Spannung nehmen bei „Twig bei den Himmelspiraten“ nochmals zu – leider aber auch die Zahl der Todesopfer, die im Verlaufe der Produktion anfallen …
In den letzten Jahren haben die australischen Autorinnen unaufhaltsam den deutschen Markt erobert. Nach Sara Douglass und Elisabeth Haydon erscheinen nun auch von Juliet Marillier verstärkt Romane. Schon bei |Knaur| ist eine Trilogie um „Die Tochter der Wälder“ erschienen, in der sie die Zeit des 9 Jh. lebendig werden lässt und ihre keltischen Wurzeln heraufbeschwört.
In ihren neuen Zyklus „Unter dem Nordstern“ entführt sie den Leser in eine frühere Zeit. Im Schottland des 6. Jahrhunderts ringen mehrere gälische und piktische Königreiche um die Macht. In dieser Zeit wird Bridei in Wales geboren, doch seine Eltern geben ihn schon früh in die Obhut des Druiden Broachan, der ihn mit in den fernen Norden nimmt. Von nun an ist das Leben des Kindes von Lernen bestimmt. Dazu gehören nicht nur Lesen, Schreiben und Lehren über die Natur und das Recht, sondern auch handfestere Tugenden wie die Kriegskunst.
Unter den zufriedenen Blicken des alten Druiden und seines Haushaltes entwickelt sich Bridei prächtig. Nur in einem wehrt er sich gegen das Machtwort seines Ziehvaters und der anderen. Er will das zur Wintersonnenwende gefundene Mädchen nicht seinem Schicksal überlassen. Obwohl es kein Mensch zu sein scheint, möchte er die Kleine immer in seiner Nähe wissen und sich um sie kümmern.
So bleibt die kleine Tuala auch im Haushalt des Druiden und widersteht mehreren Versuchen, sie loszuwerden, wenn Bridei nicht da ist und über sie wachen kann. Mit zunehmendem Alter lässt sie sich weniger gefallen, erfährt aber auch von ihrer Herkunft durch zwei geheimnisvolle geflügelte Wesen. Diese machen ihr klar, dass sie ein Kind des Waldes ist – ein Feenmädchen, das den Göttern näher steht als den Menschen.
Als sie fast fünfzehn Jahre alt ist, gibt es jedoch kein Ausweichen mehr. Menschen, die sie früher gemocht haben – so wie ihre Amme, ziehen sich von Tuala zurück, und der Druide verlangt von ihr, dass sie sich nun entweder entschließt, einen Mann zu heiraten, oder aber in die Schule der Weisen Frauen zu gehen.
Das Mädchen hat keine andere Wahl, denn Bridei weilt mittlerweile in einem anderen Haushalt, um dort seine Studien zu vertiefen und eine erste Bewährungsprobe in der Schlacht hinter sich zu bringen. Denn mittlerweile ist er ein Mann und man darf ihm nicht länger vorenthalten, welches Schicksal man ihm zugedacht hat …
Magische Waldwesen, ein Kind, das zwischen den Welten steht und ein auserwählter Junge, der erst noch seine Lehrzeit hinter sich bringen muss – das sind genau genommen die Zutaten fast aller Fantasy-Romane, in denen die mythische Vergangenheit Englands mitsamt den keltischen Wurzeln heraufbeschworen wird.
Da macht auch „Die Königskinder“ keine Ausnahme. Zwar sind Bridei und einige andere Figuren historisch belegte Personen, aber da hört es auch schon auf. Da man im Grunde sehr wenig über die Pikten, ihre Kultur und den Kontrakt/die Vermischung mit anderen Völkern – gerade zu dieser Zeit – weiß, nimmt sich Juliet Marillier die Freiheit, eine Ausbildung zu schildern, die sich überhaupt nicht von denen anderer keltischer Helden unterscheidet.
Da gibt es den weisen Lehrmeister, der seinen Schüler manchmal auch recht despotisch in die Schranken weist, den jungen und allzu klugen Helden, der zu viel zu oft hinterfragt, und das geheimnisvolle Mädchen, das seinen mystischen Weg erst noch entdecken muss und irgendwie doch zu seiner Gefährtin bestimmt ist.
Etwa die Hälfte des Buches wendet Juliet Marillier für die Kindheit von Bridei und Tuala auf, erst dann wird es spannender, als beide ihre eigentlichen Wurzeln entdecken und feststellen müssen, dass sie auch Feinde haben, die ihnen ans Leben oder sie grob voneinander trennen wollen. Es geht dabei sehr gefühlvoll zu – Bridei kommt lange nicht darüber hinweg, dass ein väterlicher Freund den für ihn bestimmten Becher mit Gift getrunken hat.
„Die Königskinder“ dürfte vor allem Lesern gefallen, die von gefühlvollen keltischen Helden und einer scheinbar magischen Liebesgeschichte nicht genug bekommen können und denen es auch nicht wichtig ist, dass die eigentliche Handlung kaum Geheimnisse birgt und eher flach dahinplätschert.
Alle anderen Leser dürften sich mehr oder weniger durch den zähen Roman mit seinen erheblichen Längen, altvertrauten Klischees und flachen Charakteren quälen und ihn vielleicht noch vor dem Ende genervt beiseite legen.
Band 18: [Spur ins Parakon 1951
Band 19: [Tabu-Planet 1966
Band 20: [Die Anachronisten 1967
Nach dem letzten Band hat sich die Spannung des |Parakon|-Zyklus immer näher zu einem Höhepunkt bewegt, der nun mit „Gefrorene Zeit“ wieder langsam abklingt. Im vierten und finalen Buch dieser Serie innerhalb der „Titan“-Reihe wird die gesamte Geschichte aufgelöst, jedoch weitaus schneller, als das so manchem Leser lieb sein mag. Margret Schwekendiek, die hier alleine verantwortlich zeichnet, lässt die Erzählung zum Schluss hin in sich zuammenbrechen und klärt die wichtigsten Ereignisse innerhalb von wenigen Seiten auf. Die gesamte Spannung, die man über immerhin drei Bücher aufgebaut hat, wird mit einem Schlag weggefegt, und irgendwie ärgert man sich darüber auch ein wenig, denn schließlich haben die Autoren auch vorher nie mit genauen Beschreibungen gegeizt und die Geschichte durchgehend schön ausgeschmückt. Dies ist hier allerdings nicht der Fall; im Gegenteil, ständig werden Szenarien aus der Vergangenheit neu zitiert, was für diejenigen, die erst mit diesem Band einsteigen, sicherlich auch willkommen ist. Aber man darf insgeheim ja schon erwarten, dass alle Leser sich dem Zyklus von Anfang an widmen, und genau diese müssen jetzt nicht erneut vorgekaut bekommen, was sich auf dem Planeten T’earr zugetragen hat, oder warum Eleni Demetrios nun in der Krankenstation der Asteroidenwerft liegt. Und das sind nur einige der Fakten, die man hier neu aufgesetzt bekommt …
_Story_
Die Besatzung der TITAN hat sämtliche Systeme auf dem Planeten T’earr mit Hilfe der Antitronik lahmgelegt, um so auch sicherzustellen, dass man auf der Flucht von diesem seltsamen Ort nicht erneut verfolgt und angegriffen wird. Für die T’earron hat dies entsetzliche Folgen: Die gesamte Kontrolle über den Planeten geht verloren und in Windeseile bricht in der sonst so geordneten Welt die Anarchie aus. Weil die stellaren Impulse nun auch nicht mehr empfangen werden können, besteht für die Rasse der T’earron die Gefahr, völlig ausgelöscht zu werden. Doch ein Regierungsmitglied hat für den Ernstfall vorgesorgt und entsendet als letzten Rettungsanker ein verstecktes Schiff, das nicht in den Sog der Antitronik geraten ist, um die Menschen an Bord der |TITAN| um Hilfe zu bitten. Doch die trauen dem Braten nicht ganz, zumal die Besatzung des entsandten Schiffes sich bei der Kontaktaufnahme nicht besonders klug anstellt und versehentlich auf das Schiff der Menschen schießt …
Währenddessen sucht die Spezialeinsatztruppe der Space Police, die Pioneers, weiterhin nach einer Spur der Entführer von Amos Carter. Man hat mittlerweile herausgefunden, wer genau hinter den Anschlägen steckt, und so weiß man auch, dass die Entführer absolut keine Skrupel haben und nicht davor zurückschrecken würden, den Vorsitzenden der CRC auf der Stelle zu töten. Schließlich entdeckt man das feindliche Schiff in den Ringen des Saturn, verliert es aber ständig wieder aus den Augen und plant deshalb, den Entführern bei ihrer Rückkehr zur Asteroidenwerft eine Falle zu stellen. Als Sicherheitschef Thomas Chiavelli dann aber über Funk ein Bild des bereits furchtbar entstellten Carter gesendet bekommt, überschlagen sich die Ereignisse, und die Vorbereitungen für einen Hinterhalt laufen auf Hochtouren …
_Meine Meinung_
Bewegt man sich in der ersten Hälfte des Buches noch vornehmlich auf dem bekannt hohen Niveau – selbst wenn die mehrfachen Rückblenden irgendwann zu stören beginnen – kann es der Autorin später gar nicht schnell genug gehen. Zwischenzeitlich wird man den Eindruck nicht los, als wollte Margret Schwekendiek die Sache endlich zu Ende bringen und keine neuen Gedanken mehr spinnen und verfolgen. Ein sehr gutes Beispiel ist der Zwist zwischen der Besatzung der |TITAN| und den T’earron. Enorm ausschweifend wurde im Voraus die Geschichte dieses Volkes mit all ihren Besonderheiten erzählt, und auch die anarchischen Zustände, die auf dem Planeten T’earr vorherrschen, kommen in „Gefrorene Zeit“ noch sehr gut herüber. Doch dann wird in der Kürze der noch verbleibenden Zeit zügig heruntergerasselt, dass das Volk Hilfe braucht, die |TITAN| trotz aller Bedenken zur Rettung eilt und das war’s dann.
Ein anderes Beispiel ist die Entführung von Amos Carter: So zügig, wie dieser Teil der Handlung auf den letzten Seiten aufgelöst wird, kann die Spannung kaum abflachen. Den Leser hätten hier sicherlich noch einige Einzelheiten mehr interessiert, doch die kann Schwekendiek nicht liefern. Im Grunde genommen wäre hier vorher noch genügend Potenzial für zwei Bände dagewesen, aber man hat sich dann schließlich entschieden, alles in einem zu bündeln. Das hätte ganz bestimmt auch noch irgendwie anständig funktionieren können, jedoch hätte man dann von den vielen Rückblicken auf die vergangene Geschichte absehen sollen, denn die davon betroffenen Tatsachen sind dem Leser zu diesem Zeitpunkt schon allesamt bekannt gewesen.
„Gefrorene Zeit“ ist deswegen zwar immer noch kein schlechtes Buch, aber als Abschluss eines so guten Zyklus hätte man sich eine etwas umfassendere Darstellung und eine breiter gefächerte Auflösung der Story gewünscht. Ich kann meine Enttäuschung jedenfalls nicht verbergen und finde es irgendwie schade, dass man zum Ende die Lektüre nicht in gebührendem Maße abschließen kann. Wer die Serie aber bis hierhin verfolgt hat, muss natürlich auch dieses Buch lesen – trotz aller Kritik.
Und trotz aller Kritik freue ich mich jetzt auch schon auf den neuen Zyklus, bei dem sich die „Titan-Sternenabenteur“ in den Bereich Social-Fiction bewegen werden. Mehr dazu demnächst in der Rezension zu „Todesanzeigen“, dem Folgeband.
|Wenn es draußen regnet, rückt die Welt in die Ferne. Wirklichkeit und Phantasie verlieren sich fast aus den Augen. Wer im Spätherbst Geburtstag hat, weiß, was gemeint ist. Während Schulkameraden Grillfeste veranstalteten, saß man bei schlechtem Wetter drinnen und war mit sich selber beschäftigt. Nach innen gekehrt. Die Hauptfigur in dem neuen Buch von Neil Gaiman ist ein Mädchen namens Coraline Jones. Auch sie wüsste, was gemeint ist.|
Coraline liebt es, sich nach Innen zurückzuziehen, in ihre Phantasie. Wenn es draußen regnet, wenn sämtliche Videos schon angeguckt und wenn alle Bücher schon gelesen sind, dann wird es langweilig. Ihr Vater sitzt den ganzen Tag am Schreibtisch und arbeitet. Ihre Mutter ist entweder unterwegs oder hat etwas Wichtiges zu tun. Missmutig sitzt sie am Fenster und beobachtet, wie die Regentropfen am Glas hinunterlaufen. In ihrer Phantasie ist es besser. Dort ist irgendwie alles aufregend.
Für Coraline hat die Realität schon nach wenigen Tagen an Glanz verloren. Obwohl sie und ihre Eltern erst vor kurzem in das alte Haus eingezogen sind, gibt es hier nicht mehr viel Neues zu entdecken. Den alten Tennisplatz hinterm Haus, den verwilderten Garten und das Brunnenloch kennt sie schon. Die beiden alten Schauspielerinnen Miss Spink und Miss Forcible und ihre weißen Terrier kennt sie schon. Den verrückten Herrn, der angeblich einen Mäusezirkus trainiert, kennt sie schon. Und die Sommerferien dauern sechs Wochen, das ist verdammt lange für ein kleines, aufgewecktes Mädchen.
Das einzige Ding, was Coralines Interesse noch weckt, ist die Tür in der guten Stube. In der Küche hängt ein alter, schwerer Schlüssel, mit dem sie sich öffnen lässt. Dahinter ist eine Mauer, hinter der eine andere, leer stehende Wohnung liegt. Angeblich jedenfalls. So recht mag Coraline den Erklärungen ihrer Mutter nicht glauben. Für das Mädchen wird die Tür zur Grenze, die sich in jeder Aliceonade verbirgt, zum Kaninchenbau, zum Schrank nach Narnia oder zur Unendlichen Geschichte auf den Knien von Bastian Balthasar Bux. Ihre Vorstellungskraft hat endlich ein Loch in der Wirklichkeit entdeckt, durch das sie schlüpfen kann. Was Coraline hinter der Tür findet, soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Nur so viel: Es wird unheimlich.
Neil Gaiman beschäftigt seit Jahren nur ein Thema: das Verhältnis von Wirklichkeit und Phantasie. Seine berühmte Comic-Serie „The Sandman“ kündet ebenso davon wie die Romane „Sternwanderer“ und „Niemalsland“. Für Gaiman ist die Phanatsie ein essenzieller Teil der menschlichen Existenz. Er ist ein Träumer, der sich mit seinem Werk trotzig in den rauen Wind von Rationalität und Sachlichkeit stellt. Als Autor sind Träume sein Metier, und es ist ein wahres Glück, dass er immer wieder zauberhafte, sehr persönliche Lesejuwelen ersinnt. Coraline ist ein gutes Beispiel dafür. Als wolle er uns zwischen den Zeilen zuflüstern: Hört nicht auf zu träumen.
Tobias Schäfer: Hallo Andreas, ich bin hocherfreut, dich in unserem Magazin begrüßen zu dürfen! Für alle, die Andreas Brandhorst etwas näher kennen lernen wollen: Wer bist du und was treibst du so?
Andreas Brandhorst: Ich bin 1956 in Norddeutschland geboren und schreibe, seit ich schreiben gelernt habe. Inzwischen lebe ich seit über zwanzig Jahren in meiner Wahlheimat Italien, wo ich nach dem Ende meiner zweiten Ehe (mit einer Italienerin) geblieben bin, weil ich dieses Land, seine Leute und Kultur sehr liebe. Lange Zeit habe ich vor allem übersetzt, aber seit einigen Jahren schreibe ich auch wieder selbst.
Tobias Schäfer: Was sagst du zu dem »Vorwurf«, neuer Shooting-Star der deutschen Science-Fiction zu sein?
Andreas Brandhorst: Zum Glück bezeichnet man mich nicht als Nachwuchsautor, denn immerhin werde ich nächstes Jahr 50! 🙂 Shooting-Star … Na ja, ich mag diesen Ausdruck nicht sehr, denn immerhin bin ich seit fast dreißig Jahren als Profi in der deutschen SF tätig und habe schon damals Romane geschrieben und an den legendären Terranauten mitgewirkt. Aber: In gewisser Weise hat er durchaus seine Berechtigung, denn ich sehe einen klaren Unterschied zwischen meinem heutigen Werk und der damaligen Arbeit. Heute bin ich einfach reifer, viel reicher an Lebenserfahrung, und ich gehe mit einem ganz anderen Anspruch an die Schriftstellerei heran. Der Andreas Brandhorst von heute ist ein anderer als der von damals. Als »Star« sehe ich mich allerdings nicht. 🙂
Tobias Schäfer: Durch das Kantaki-Universum hast du die deutschen Science-Fiction-Leser auf dich aufmerksam gemacht. Seit »Diamant« im Mai ’04 auf den Markt kam, kann man dich zu den produktivsten Schriftstellern des Genres rechnen. In den Jahren reiner Übersetzertätigkeit hat sich deine Kreativität anscheinend stark gestaut?
Andreas Brandhorst: »Diamant« im Mai ’04, es folgte »Der Metamorph« im Januar ’05 und »Der Zeitkrieg« im Oktober ’05. Wenn man berücksichtigt, dass ich vor dem Erscheinen von »Diamant« ca. ein Jahr an dem Roman gearbeitet habe, so sind das drei Romane in 29 Monaten (ohne »Exodus der Generationen«). Das ist eigentlich nicht übermäßig produktiv, oder? An Kreativität hat es mir nie gemangelt (die braucht man auch fürs Übersetzen), aber ich schreibe heute sehr langsam und sehr, sehr sorgfältig, etwa drei Seiten pro Tag, aber jeden Tag – das sind etwa tausend Seiten im Jahr, also anderthalb dicke Romane. Es geht mir heute vor allem um die Qualität und nicht um die Quantität. Ich hoffe, das merkt man den Romanen an.
Tobias Schäfer: Da kann ich dich beruhigen 😉 Der umfassend ausgearbeitete Hintergrund zu den Romanen um Valdorian und Lidia bietet Raum für unzählige noch unerzählte Geschichten. Die fremden Völker des Universums üben einen besonders großen Reiz aus. Jedes von ihnen hat eine spannende Geschichte, die anfangs ziemlich schwarz-weiße Weltsicht hat sich schließlich im »Zeitkrieg« verwischt. Was passiert nun mit den Temporalen, Kantaki, Feyn? Und vor allem: Was ist mit den Xurr? In dieser Hinsicht lässt du den Leser sehr erwartungsvoll zurück.
Andreas Brandhorst: Ich habe sehr viel Zeit und Mühe in die Ausarbeitung des Hintergrunds für das Kantaki-Universum investiert, denn so etwas lohnt sich: Als Autor bekommt man dadurch eine große Bühne mit vielen Kulissen, um Geschichten zu erzählen. Natürlich kann ich hier nicht verraten, was aus den bisher geschilderten Völkern wird, obwohl mein Computer viele entsprechende historische und chronologische Daten enthält. (Hoffentlich fordere ich mit diesem Hinweis keine Hacker-Angriffe heraus …) Es ist wie mit einem Eisberg: Nur ein kleiner Teil zeigt sich über Wasser, der Rest bleibt darunter verborgen. Bisher kennen die Leser nur einen winzig kleinen Teil des Kantaki-Universums. In den nächsten Büchern wird es bestimmt die eine oder andere Überraschung geben …
Tobias Schäfer: Vor allem im letzten Band »Der Zeitkrieg« drängen sich die hintergründigen Informationen. Hättest du die Geschichte lieber noch ein wenig ausgedehnt?
Andreas Brandhorst: Nein, eigentlich nicht. »Der Zeitkrieg« beantwortet viele Fragen, die in »Diamant« und »Der Metamorph« offen blieben. Der große Kreis schließt sich zu Recht in diesem Band; ein vierter Roman hätte alles nur gedehnt und langatmig gemacht. Aber es bleibt auch das eine oder andere offen, was mir Gelegenheit gibt, vielleicht noch einmal darauf zurückzukommen: auf Olkin und das Flix, oder auf die Xurr … 🙂
Tobias Schäfer: Rückblickend kann man sagen, dass dir der Charakter »Valdorian« am stärksten am Herzen lag. Über ihn hast du die Suche nach dem ewigen Leben neu erzählt. Was macht für dich die Faszination dieser Figur und/oder dieses Themas aus?
Andreas Brandhorst: Ich glaube, dass in jedem Bösen etwas Gutes steckt, und dass jeder Gute auch einmal böse werden kann. Die Komplexität des menschlichen Wesens fasziniert mich, und ich glaube, die kommt im Valdorian gut zum Ausdruck, wenn man seine Entwicklung vom Saulus zum Paulus über die drei Romane hinweg verfolgt. Außerdem beschäftige ich mich immer mehr mit dem Leben an sich und dem Tod, einem Thema, dem sich keiner von uns entziehen kann. Der Tod, welch eine Verschwendung: Man verbringt das ganze Leben damit, Wissen zu sammeln und Erfahrungen zu machen, klüger zu werden, und dann, in einem Augenblick, geht das alles verloren. Und die verschiedenen Straßen des Lebens, die Diamant und Valdorian beschreiten: Oftmals gibt es nach einer getroffenen Entscheidung kein Zurück mehr. Wir alle müssen versuchen, das Beste aus unserem Leben zu machen, und genau dieser Gedanke hat ja zunächst die verschiedenen Lebensentscheidungen von Diamant und Valdorian bestimmt.
Tobias Schäfer: Für manche Leser mag die Wandlung Valdorians zu plötzlich erfolgen. Wie antwortest du auf Vorwürfe der Unglaubwürdigkeit? Kommt so was überhaupt vor?
Andreas Brandhorst: Nein, bisher sind solche Vorwürfe noch nicht aufgetaucht, oder mir zumindest nicht bekannt. Valdorian ist, wenn man genau hinsieht und aufmerksam liest, eine sehr komplexe Person, zuerst mit einem schwierigen Verhältnis zu seinem Vater, der dann aber sogar zu seinem Idol wird. Es gibt in allen drei Romanen Stellen, die seinen inneren Zwist zeigen, seine Zerrissenheit – er ist nie schwarz oder weiß, sondern grau. Die Konfrontation mit Diamants Einstellungen zum Leben verändert ihn nach und nach, und ein wichtiges Schlüsselerlebnis in diesem Zusammenhang ist die Begegnung mit seiner Mutter in »Der Zeitkrieg«. Er beginnt zu verstehen, dass Dinge, die er für unwichtig gehalten hat, tiefe Bedeutung haben, und er denkt darüber nach. Er fängt an, Verantwortung zu übernehmen, für sich selbst und auch die Welt (das Universum), in der er lebt. All diese subtilen Veränderungen schlagen schließlich als Quantität in Qualität um. Ein neuer Valdorian wird geboren, und damit schließt sich für ihn ein eigener Kreis: Er, der am Ende seines Lebens nach neuer Jugend strebte, erneuert sich im Tod.
Tobias Schäfer: Wo wir gerade bei den Lesern waren: Wir leben ja im Zeitalter der ungehemmten Kommunikation. Stehst du in engem Kontakt mit Menschen, die erst durch deine Geschichten an dich herangetreten sind? Kannst du dich vor Leserpost kaum retten oder traut sich niemand an dich heran?
Andreas Brandhorst: Es ist nicht so, dass ich jeden Tag zwei Säcke Post bekäme … 🙂 Für die Leser gibt es verschiedene Möglichkeiten, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Da wäre zum Beispiel das Forum der Kantaki-Site [down, Anm. d. R.] wo ich mich bemühe, jeden Beitrag zu beantworten. Abgesehen davon bekomme ich erstaunlich viele E-Mails und frage mich manchmal, woher die Schreiber meine E-Mail-Adresse kennen. Auch in diesem Fall versuche ich, jede Mail zu beantworten.
Tobias Schäfer: In dem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Anekdote aus dem Perry-Rhodan-Werkstattband, wo William Voltz ständig unangemeldeten Besuch seiner Leser bekommt. Wirst du manchmal persönlich behelligt oder beschränkt sich diese Art Kontakt auf Cons?
Andreas Brandhorst: Da ich in Italien wohne, kommt es (fast) gar nicht zu solchen Überraschungsbesuchen. Es gab nur eine Ausnahme, vor zwei Jahren … 🙂 Vor etwa 25 Jahren, als ich noch in Deutschland wohnte und Romane für die Terranauten schrieb, kam es öfter vor, dass plötzlich Leute vor meiner Wohnungstür standen, in einem Fall eine Gruppe von sieben oder acht Jugendlichen. Wir haben uns dann zusammengesetzt und gemütlich miteinander geplaudert …
Tobias Schäfer: Dein erster Beitrag zum sogenannten »Perryversum« war erstens eine Überraschung und stellt zweitens einen unbestrittenen Höhepunkt der Serie dar. Wie bist du dazu gekommen? Ist nach deinem Roman »Die Trümmersphäre« weiteres Engagement in der Serie geplant?
Andreas Brandhorst: Dazu gekommen ist es durch ein Gespräch im Heyne Verlag, im Oktober 2003, glaube ich, wo Sascha Mamczak, der mit Klaus Frick in Verbindung stand, das Lemuria-Projekt ansprach. Ich hatte gerade »Diamant« fertig gestellt, und mich reizte die Vorstellung, einen Beitrag für das Perryversum zu schreiben, das für mich als 12/13-Jähriger praktisch der Einstieg in die SF war – ich habe die Romane damals regelrecht verschlungen. »Die Trümmersphäre« habe ich nach dem »Zeitkrieg« geschrieben, und dieser zweite Beitrag für das Perryversum war aus mehreren Gründen extrem harte Arbeit. Nach der Fertigstellung dieses Romans dachte ich mir: Jetzt nimmst du dir erst einmal eine Auszeit und widmest dich ganz deinen eigenen Projekten. Damit ist die Frage praktisch schon beantwortet: Eine weitere Mitarbeit meinerseits bei PR ist derzeit nicht konkret geplant, was sie aber mittel- oder gar langfristig nicht ausschließt.
Tobias Schäfer: Was erwartet die Leser in deinen nächsten eigenständigen Romanen? Kannst du dazu zu diesem Zeitpunkt schon etwas verraten?
Andreas Brandhorst: Ja, ich denke, ich kann hier ein kleines Geheimnis lüften. Derzeit arbeite ich an »Feuervögel«, einem Roman, der im Oktober 2006 bei Heyne erscheinen wird, aller Voraussicht nach als erster Band einer neuen Trilogie; die Arbeitstitel für den zweiten und dritten Band lauten »Feuerstürme« und »Feuerträume«. Und: Diese neuen Romane sind im Kantaki-Universum angesiedelt, allerdings in einer aus Valdorians und Diamants Sicht fernen Zukunft. Vom Umfang her werden die neuen Romane den ersten drei Kantaki-Romanen ähneln. Was den Inhalt betrifft … (Schnitt)
Tobias Schäfer: Als Schriftsteller scheinst du ziemlich ausgebucht zu sein. Da wirkt es erstaunlich, deinen Namen noch regelmäßig bei Übersetzungen vorzufinden, derzeit vor allem bei Terry-Pratchet-Romanen – und ganz aktuell bei David Brins »Copy«. Wie bringst du das alles unter einen Hut?
Andreas Brandhorst: Indem ich knallhart arbeite. Der Brin zum Beispiel hat wirklich meine ganze Kreativität gefordert; ich glaube, es war eine der schwierigsten Übersetzungen, die ich jemals gemacht habe. Mit Pratchett bin ich nach circa 30 Romanen gut »synchronisiert« … Eigentlich gefällt mir die Mischung aus eigenem Schreiben und Übersetzen. Ich möchte sie nur noch etwas mehr zugunsten der eigenen Werke verändern.
Tobias Schäfer: Was ist das für ein Stoff, den Pratchet schreibt? Seine Romane sind ja regalfüllend in diversen Buchhandlungen zu finden. Was macht den Reiz dieser Geschichten aus?
Der besondere Reiz von Pratchetts Geschichten besteht aus der genialen Mischung von Intelligenz und Humor. Ich halte Terry Pratchett für einen der besten Schriftsteller überhaupt. Ihm gelingt es, Personen mit ein oder zwei Sätzen zu charakterisieren, und seine Schilderungen zeichnen sich immer durch große Tiefe aus. Man kann seine Romane auf zwei Arten lesen: als lustige, leicht verdauliche Unterhaltung, und als tiefsinnige Romane, bei denen einem manchmal das Lachen im Halse stecken bleibt.
Tobias Schäfer: Wir haben jetzt viel über den offiziellen Brandhorst gesprochen. Danke sehr für die interessanten Antworten! Aber was macht der Mensch Andreas, wenn er ein bisschen Zeit für sich findet?
Andreas Brandhorst: Nach all der Zeit am Computer lege ich großen Wert darauf, mich körperlich fit zu halten. Ich laufe fast jeden Tag mindestens eine Stunde, egal ob es stürmt, regnet oder schneit. Wenn ich nicht laufe, stemme ich Gewichte. Manchmal schnappe ich mir Notebook und Auto, reise durch Italien – ich liebe dieses Land! –, und bleibe eine Zeit lang, wo es mir gefällt. Ich bin nach zwei Ehen wieder Single, Sohn und Tochter sind erwachsen … Ich genieße meine Freiheit, laufe im Winter an menschenleeren Stränden, schreibe an einem warmen Kaminfeuer, denke über das Leben nach … 🙂
Tobias Schäfer: Dann wünsche ich dir, dass diese Zeit nicht zu kurz kommt – obwohl ich natürlich vor allem auf viele spannende Romane von dir hoffe. 🙂 Alles Gute weiterhin!
Kazuo Ishiguro hat mit „Was vom Tage übrigblieb“ einen Weltbestseller abgeliefert, der nicht nur mit Anthony Hopkins in der Hauptrolle verfilmt sondern obendrein mit dem |Booker Prize| ausgezeichnet wurde. Erneut auf die Long List für den |Booker Prize| 2005 hat Ishiguro, der in Nagasaki geboren wurde und seit 1960 in London lebt, es mit seinem neuesten Roman geschafft. „Alles, was wir geben mussten“ heißt das Werk und wird nicht umsonst von Kritikern und Presse gleichermaßen vollmundig gelobt.
„Alles, was wir geben mussten“ ist auf den ersten Blick eine ganz gewöhnliche Internatsgeschichte. Doch der Schein trügt. Die Kinder sind keine gewöhnlichen Kinder, auch wenn man ihnen das nicht ansieht. Sie spielen Fußball, gehen jeden Tag zum Unterricht und erleben genau wie andere Kinder die Tücken der Pubertät. Und doch ist das Internat Hailsham etwas ganz anderes, als man auf den ersten Blick denken mag. Die Lehrer werden hier Aufseher genannt und den Kindern, die allesamt keine Eltern haben, wird schon von früh auf bewusst gemacht, dass sie etwas Besonderes sind. Sie sollen später „spenden“ und „betreuen“. Darauf soll Hailsham sie vorbereiten, doch was die Kinder sich darunter vorzustellen haben, sagt ihnen keiner so recht.
In Hailsham wachsen auch Kathy, die die Geschichte aus ihrer Sicht erzählt, und ihre besten Freunde Ruth und Tommy auf. Sie wachsen gut behütet auf, bleiben aber nicht nur in Hailsham, sondern auch später von der Außenwelt größtenteils abgeschnitten. Kathy hat eine ebenso ungewöhnliche wie auch erschütternde Lebensgeschichte zu erzählen, als sie mit einunddreißig auf ihre Jugendjahre zurückblickt …
„Alles, was wir geben mussten“ ist ein Roman, der es in sich hat. Auf den ersten Blick noch ein harmloses Stück Jugend- und Internatsgeschichte, entpuppt sich der Roman mit fortschreitender Seitenzahl zunehmend als moralischer Abgrund. Ishiguro greift einen Themenkomplex auf, der gerade in ethischer Hinsicht viele Fragen aufwirft. Man ahnt es schon beim Lesen der Inhaltsbeschreibung. Die Kinder in Hailsham sind keine normalen Waisenkinder. Und schon nach wenigen Kapiteln erlangt man zunehmende Gewissheit. Sie sind Klone, erschaffen, um als lebende Ersatzteillager für die Medizin zu dienen. Die Kinder wissen um ihr Schicksal und wissen es gleichzeitig nicht.
Ihre ganze Jugend dient dazu, sie auf ihre Aufgabe vorzubereiten. Das lernen die Kinder schon früh. Ob sie sich aber der Tragweite des Ganzen bewusst sind und ob sie wirklich begreifen, wer und was sie sind, das darf natürlich bezweifelt werden. Sie ahnen es vielleicht, aber damit umzugehen, sich der Konsequenzen bewusst zu werden, das zeigt ihnen niemand. Ihr Leben ist streng vorgezeichnet. Weil sie wertvoll und wichtig sind, werden sie entsprechend sorgsam behütet.
Entsprechend seines Themas ist „Alles, was wir geben mussten“ ein Roman, der den Leser intensiv beschäftigt. Lebhaft skizziert Ishiguro seine Figuren, und gerade weil der Leser anfangs noch genauso ahnungslos ist wie die Kinder, gerade weil die grausame Realität erst dann komplett entblättert wird, wenn man die Protagonisten schon längst in sein Herz geschlossen hat, trifft einen ihr Schicksal besonders hart. Man lernt sie als Kinder kennen, ist nicht in der Lage, sie nicht als vollwertige Menschen zu sehen und ist dann zutiefst getroffen von dem, was ihnen bevorsteht, wenn sie erwachsen sind. Gerade die Ahnungslosigkeit, mit der die Kinder ihrem Schicksal entgegentreiben, lässt die bittere Realität umso härter erscheinen.
„Alles, was wir geben mussten“ ist ein Lehrstück in Sachen Fremdbestimmtheit. Durch die stetige Einflussnahme von Beginn an treten die Kinder schicksalsergeben ihrer Zukunft entgegen. Aufbegehren gibt es nur im Kleinen, im Großen fügen sie sich alle in das ihnen aufgezwungene Schema. Und so wirft der Roman auf sehr vielschichtige Weise moralische Fragen auf. Die ethische Frage nach einer Rechtfertigung des Klonens ist dabei nur ein Aspekt, wenngleich sicherlich der wichtigste. Ishiguro vermag sich dieser Frage aber durch seinen feinfühligen Umgang mit den Figuren von verschiedenen Seiten zu nähern. Vor allem die persönliche Ebene ist dabei wichtig. Er betrachtet die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder vor dem Hintergrund dieser Problematik und zeigt, wie sie um die Unbeschwertheit ihrer Kindertage betrogen werden, um einem höheren Zweck zu dienen.
Die wissenschaftliche und technologische Komponente tritt dabei in den Hintergrund. Ishiguro konzentriert sich voll und ganz auf die Figuren und als Gegenpol dazu auf die Gesellschaft. Was dabei besonders beeindruckt, ist, wie realistisch Ishiguro das Thema angeht. So, wie er es schildert, von der gesellschaftlichen Komponente und von moralischer Seite her, wäre es durchaus vorstellbar. Nichts wirkt überzeichnet. Alles erscheint so, wie man es sich in der Realität tatsächlich vorstellen könnte.
Und so zeichnet sich „Alle, was wir geben mussten“ eben auch dadurch aus, dass das Buch vom moralischen und ethischen Standpunkt aus gerade deswegen so viel Stoff zum Nachdenken liefert, weil Ishiguro es in einen so leicht vorstellbaren gesellschaftlichen Rahmen steckt. Im Kleinen wie im Großen, in den Figuren wie auch in den äußeren Rahmenbedingungen wirkt alles bis ins Mark im Rahmen des theoretisch Möglichen und das macht die Angelegenheit dann auch ein bisschen unheimlich.
So fiebert der Leser mit den Figuren, ohne dass Ishiguro sich irgendwelcher Effekthascherei bedienen müsste. Das Gefühlsleben der Protagonisten, ihre Sicht der Welt und ihr langsames Begreifen dessen, was da vor sich geht, sind für sich genommen fesselnd und aufwühlend genug. „Alles, was wir geben mussten“ ist Lektüre, die zu Herzen geht, zum Nachdenken anregt und ganz hervorragend als Diskussionsgrundlage dient.
Sprachlich ist Ishiguros Werk faszinierend schlicht gestrickt. Er bedient sich einer recht einfachen Sprache und erzählt aus Sicht der Kathy, als würde sie in ihrer Erinnerung kramen, die sie nach und nach vor dem Leser ausbreitet. Den Kern seiner Thematik fasst Ishiguro geradezu mit Samthandschuhen an. Einschlägige Fachbegriffe tauchen kaum auf. Nur selten ist vom Klonen direkt die Rede. Die Sprache, die die Kinder in Hailsham lernen, verschleiert die Dinge und steht damit im harten Kontrast zur Wirklichkeit. Der Leser als derjenige, der die Hintergründe erahnt, weiß auch so genug Bescheid, und der Moment, an dem auch für die Protagonisten die Fassade bröckelt, wirkt dadurch besonders hart.
Zusammenfassend kann man „Alles, was wir geben mussten“ wirklich nur jedem ans Herz legen. Ein Roman ohne unnötige Effekthascherei, der sich ganz auf seine Protagonisten konzentriert und dabei so schwerwiegende moralische und ethische Fragen aufwirft, dass man noch eine ganze Weile daran zu knabbern hat. Ein wenig verstörend, aber auch schön erzählt Ishiguro eine ungewöhnliche Jugendgeschichte. Erschreckend, nachdenklich stimmend und zutiefst berührend. Ein leiser, aber gleichzeitig immens kraftvoller Roman, der im Gedächtnis haften bleibt.
Mit „Fröhliche Weihnachten, Mr. Scrooge!“ begannen |Titania Medien| im letzten Jahr eine Reihe von ganz besonderen Hörspielen, bei deren Ursprung es sich zwar ebenfalls um Klassiker der britischen Literatur handelt, die aber mit den Kriminal- und Gruselerzählungen des deutschen Hörspiel-Labels nichts gemeinsam haben – außer vielleicht einige Sprecher.
Der erste Teil dieser „Titania Special“-Reihe beruht auf der klassischen Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens, „A Christmas Carrol“, und beschreibt die Geschichte des grimmigen Geldverleihers Ebenezer Scrooge, der am Heiligen Abend eine komplette Persönlichkeitswandlung durchlebt und plötzlich zum nettesten und zuvorkommendsten Menschen in ganz London avanciert. |Titania Medien| wurden für dieses Hörspiel mit dem Kritiker- und Publikums-Hörspiel-Award in Gold als „Bestes Einzelhörspiel 2004“ ausgezeichnet, und wenn man mal ganz abseits von der Erzählung die Leistung der beteiligten Sprecher ins Auge fasst, dann kann man nur unterstreichen, dass dieser Preis völlig verdient eingefahren wurde, denn die prominente Riege hat sich hier erneut sehr gut verkauft, ganz besonders Christian Rode in der Hauptrolle des böswilligen Geizkragens Ebenezer Scrooge!
_Story_
1843 am Heiligen Abend im viktorianischen London: Für den griesgrämigen Geldverleiher Ebenezer Scrooge ist Weihnachten nicht mehr als verabscheuungswürdiger ‚Humbug‘. Daher hält er auch nicht viel von den Gefühlsduseleien seines Mitarbeiters Bob Cratchit und seines Neffen Fred, die ihm trotz seiner gewohnt miesen Stimmung ein schönes Fest wünschen. Scrooge hingegen interessiert auch das recht wenig; ihn bewegen nur Geld, Geschäfte und Macht, und von alldem hat er reichlich, ist aber nicht bereit, es zumindest auch nur ansatzweise mit den Armen der Stadt zu teilen.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erscheint Ebenezer der Geist seines verstorbenen früheren Teilhabers Jacob Marley, der ihm einen Spiegel seines derzeitigen Verhaltens vorhält und drei Geister schickt, die Scrooge davon überzeugen sollen, dass er mit seiner skrupellosen Lebensweise auf Dauer nicht glücklich werden kann. Mitten in der Heiligen Nacht erscheinen ihm die Geister der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Weihnacht und lehren Ebenezer den wahren Sinn des Weihnachtsfestes.
Ich habe „A Christmas Carrol“ nun schon in zwei Sprachen gelesen, als TV-Produktion angeschaut und auch schon damals im Englisch-Unterricht durchgenommen. Die Geschichte ist also bestens vertraut, macht aber immer wieder sehr viel Spaß, gerade nun zum Beginn der besinnlichen Zeit. In einer Welt, in der materielle Inhalte weitaus wichtiger geworden sind als Moral, Mitgefühl und Herzlichkeit, trifft die Erzählung von Charles Dickens uns immer wieder mitten ins Herz und zeigt auf, worauf genau es im Leben eigentlich ankommt.
Dies muss auch der einst so böse und stets mies gelaunte Mr. Scrooge hier erfahren, als er während der Reise vorbei an den verschiedenen Weihnachtsfesten entdeckt, was er mit ein wenig Nächstenliebe alles bewirken kann, aber auch, was andere ihm geben können, wenn er sich auf ihre Gefühle einlässt. Erst die Vorstellung, dass ein kleiner Junge sterben muss, weil das notwendige Kleingeld für die dringend nötige Operation nicht aufgebracht werden kann, bewegt Scrooge schließlich dazu, einiges von einer anderen Seite zu betrachten und sich sowie sein Umfeld restlos glücklich zu machen.
Scrooge entdeckt dabei zunächst seine glückliche Vergangenheit mit seiner Schwester Fanny, die schönen Weihnachtsfeste im Kreise seiner Lehrjahre und letztendlich auch die erste Begegnung mit seiner damaligen Verlobten Belle, stößt aber gleichzeitig auch auf negative Erfahrungen wie etwa die Trennung von seiner Herzdame, die nicht ganz so schöne Familiensituation in jüngster Kindheit und auch den Wandel seines Egos. Hier macht Scrooge den Anfangs seiner aktuellen Entwicklung und hinterfragt zum ersten Mal, warum sich manche Dinge genau so ereignet haben, beharrt aber schließlich darauf, in seinem Leben alles richtig gemacht zu haben.
Danach erscheint ihm der Geist der gegenwärtigen Weihnacht und zeigt ihm die Familie seines Helfers Bob Cratchit. Bobs Sohn, der kleine Tiny Tim, leidet nicht nur an einer Gehbehinderung, sondern auch an einer Krankheit, für deren Heilung sehr viel Geld notwendig ist. Scrooge erfährt, dass der Junge dringend einen finanziellen Zuschuss benötigt und verspricht dem Geist – gerührt von Tiny Tim – dass er dem Vater des Jungen sofort eine Gehaltserhöhung gewähren wird, damit der Kleine weiter leben kann. Außerdem erfährt Scrooge beim Blick auf das Weihnachtsfest im Heim seines Neffen Fred, wie die Leute wirklich über ihn denken, und dass sie den griesgrämigen alten Mann nicht mehr so ernst nehmen.
Die Zukunftsvision löst aber letztendlich die größten Gefühle in Ebenezer aus. Hier sieht er nur Tod und Schrecken, und von dieser düsteren Aussicht noch weiter angespornt, entschließt er sich letztendlich, sein gesamtes Leben zu ändern und Weihnachten wieder so zu feiern, wie es im ursprünglichen Sinn auch sein sollte – nicht ohne dabei insgeheim eine Träne im Knopfloch zu haben …
Im Hörspiel kommen diese Emotionen – wie eigentlich immer bei |Titania Medien| – sehr gut herüber, dafür sorgt alleine schon die super aufgelegte Besetzung mit ihrem Kopf Christian Rode in der Hauptrolle und dem Erzähler Friedrich Schönfelder. Schon bald hat die Geschichte die erforderliche Atmosphäre inne und versetzt den Zuhörer auch sofort in die Stimmung, die ja jedes Jahr rund ums Fest herrscht. Aber diese geniale Stimmung gibt die Vorlage natürlich auch schon her, weswegen die Sprecher hier leichtes Spiel haben, „Fröhliche Weihnachten, Mr. Scrooge!“ zu einem echten Hörgenuss zu veredeln. Für mich ist dieses Hörspiel definitiv die beste Produktion aus dem Hause |Titania|, und das hat sie fast ganz alleine dem toll agierenden Christian Rode zu verdanken, der seine Rolle hier nicht nur spielt, sondern wirklich auslebt. Doch auch das Restensemble darf sich sehr wohl mit den Lorbeeren des Kritikerpreises schmücken, denn die Riege der Sprecher, bei denen es sich einmal mehr um zahlreiche Hollywood-Synchronsprecher handelt, macht einen astreinen Job und lässt mit sehr viel Hingabe einen der wichtigsten Klassiker der Weltliteratur wieder aufleben.
Daher mein Fazit: Ein toller Beginn für eine sehr viel versprechende Spezialreihe!
Besetzung:
Erzähler – Friedrich Schönfelder
Ebenezer Scrooge – Christian Rode
Bob Cratchit – Herbert Schäfer
Annie Cratchit – Daniela Hoffmann
Tiny Tim Cratchit – Lucas Mertens
Martha Cratchit – Theresa Mertens
Fred – Alexander Doering
Julie – Manja Doering
Caroline Wilkins – Dagmar von Kurmin
Spendensammler – Lothar Didjurgis
Straßnejunge – Lucas Mertens
Geist 1 – Friedrich Schönfelder
Geist 2 – Peer Augustinski
Geist 3 – Heinz Ostermann
Scrooge als Junge – Lucas Mertens
Fanny Scrooge – Therea Mertens
Junger Mr. Scrooge – Alexander Doering
Belle – Manja Doering
Mrs. Fezziwig – Regina Lemnitz
William Fezziwig – Heinz Ostermann
Mrs. Dilber – Arianne Borbach