Scott, Manda – Im kalten Morgenlicht

Es ist eine kalte, dunkle Nacht in Glasgow, Schottland, in der Dr. Kellen Stewart, Therapeutin, erfahren muss, dass ihre jetzige Freundin und einstige Geliebte Bridget Donnelly tot aufgefunden wurde. Auf ihrem Bauern- und Reiterhof, den sie gemeinsam mit Kellen besitzt, hat sie offenbar mit starken Beruhigungsmitteln Selbstmord begangen; so denkt jedenfalls die Polizei, die natürlich gleichgültig und voller Vorurteile ob solcher moralisch verworfener Kundschaft an den Fall herangeht, wie Kellen und ihre Freundinnen Caroline und Lee sogleich im kollektiven lesbischen Verfolgungswahn konstatieren. (Stopp: „gleichgeschlechtlich“ ist die politisch korrekte Bezeichnung.) Nein, eine solche starke, lebenslustige Frau, eine wahre Heilige – viele (sehr viele) Rückblenden auf entsprechende Episoden des Donellyschen Lebens stellen dies eindrucksvoll unter Beweis -, kann sich niemals selbst gemeuchelt haben. Das wissen Kellen & Co. genau und beginnen folglich mit eigenen Ermittlungen.

Siehe da, Bridget Donnelly ist nicht das einzige Opfer in der Familie: Ihren Bruder Malcolm hat es schon einige Wochen zuvor niedergestreckt. Ein Herzanfall soll die vielversprechende Karriere des Biologen und Genforschers beendet haben, aber bei näherer Betrachtung fallen unseren Hobby-Detektivinnen einige Unstimmigkeiten auf. Der hochbegabte, idealistische und seiner Wissenschaft ergebene Malcolm hatte die Universität verlassen und sich in die Krakenarme eines pharmazeutischen Konzerns geworfen, der ihm seine Forschungen finanzierte, die offenbar weiter gediehen waren als es der Menschheit zuträglich ist – jedenfalls nach Auffassung des plötzlich von Skrupeln befallenen Entdeckers. (Man könnte dies die „Lex Frankenstein“ nennen.) Dabei spielen zwei harmlos aussehende Hühner eine Hauptrolle, die es indes in sich haben. Malcolm hatte sie gentechnisch aufgerüstet und dann, als ihm der Schrecken ob seines sündhaften Tuns (seltsam, dass er nie vor begangener Tat einen Gedanken daran verschwendete …) ins Gebein gefahren war, nicht etwa gebraten und auf solche Weise seinen finsteren Geldgebern entzogen, sondern auf dem Hof der Schwester unter vielen Artgenossen versteckt. Klug ausgedacht, aber in der Realität nicht schlau genug, wie beide Donnellys zu ihrem Nachteil erfahren mussten.

So rekonstruieren Kellen und ihre Verbündeten nach und nach Malcolms und Bridgets letzte Lebenswochen, was es im Dienste der Wahrheit erforderlich macht, des Nachts in zwielichtige Laboratorien einzubrechen, Computernetze zu knacken oder diverse Körperteile auf die Seite zu schaffen, bis endlich die mordlüsternen Hintermänner aufmerksam werden und beschließen, sich der neugierigen und lästigen Schnüfflerinnen zu entledigen …

„Im kalten Morgenlicht“ (dessen Titel im Original wesentlich treffender „Hühnerzähne“ lautet, was aber nicht übernommen wurde, weil es für den geistig schlichten und als Buchkäufer lieber nicht zu verwirrenden Krimi-Michel offenbar zu angelsächsisch, d. h. originell war) ist ein medizinischer Thriller mit ausgeprägten belletristischen Elementen. Die Genre-Leser werden mit den üblichen, aber immer wieder gern gesehenen Szenen (Untat, Ermittlung, Präventivschlag des Täters, großes Finale mit Auflösung und Verfolgungsjagd und/oder Schießerei) bedient, die Anhänger „richtiger“ Literatur massiv mit einer vorgeblich sozialrelevanten Nebenhandlung umworben. Hier bildet das Milieu der gleichgeschlechtlichen Frauenliebe die Kulisse, was völlig legitim und auch interessant ist, wäre die Verfasserin nicht gar zu eifrig damit beschäftigt, eine Art lesbische Parallelwelt zu gestalten, deren Bewohnerinnen geradezu aufdringlich deutlich von denselben großen und kleinen Dingen bewegt werden wie ihre „normalen“ Zeitgenossen. Davon ist der Leser schon bald oder ohnehin überzeugt und beginnt sich zu langweilen, wenn er (oder eher sie, wie man wohl das primäre Zielpublikum einschätzen darf) nicht gar zu sehr an den Irrungen & Wirrungen aus dem zwischenmenschlichen Bereich interessiert ist. Solche Kritik ist subjektiv, das weiß Ihr Rezensent; sie lässt sich hier aber mit objektiven Argumenten bestätigen. Hier sind vor allem die zahlreichen, oft willkürlich eingeschoben wirkenden Rückblenden auf prägende Erlebnisse aus der Vergangenheit unserer Heldinnen zu nennen, welche die ohnehin nicht gerade vor Leben sprühende Handlung unterbrechen und sich arg in die Länge ziehen. Denkt man sich zu all dem Seufzen, den seelenvollen Blicken ins Leere und bedeutungsschwangeren Sprüchen noch die passende Musik dazu, hat man quasi das kommende TV-Highlight der Woche („Genteufel im Moor – Rettet meine Geliebte!“) schon vor dem geistigen Auge.

Unter kriminalistischem Gesichtspunkt stellt „Im kalten Morgenlicht“ ebenfalls Schmalkost dar. Entkleidet man den Plot aller künstl(er)ischen Verwicklungen, kommt er recht bescheiden daher, was immerhin gewährleistet, dass er funktioniert. Dass Manda Scott für ihren Debütroman 1997 für den britischen „Orange Prize for Fiction“ nominiert wurde, erstaunt aber trotzdem. Nur: Solche Auszeichnungen gibt es inzwischen wie Sand am Meer, und sie werden (unter typisch pompösen Namen) heute anscheinend hauptsächlich ins Leben gerufen, um für die Institutionen zu werben, die sie verteilen. Daher sagt so ein Preis zunächst einmal gar nichts über die Qualität des ausgezeichneten Buches aus, was man besonders deshalb im Hinterkopf behalten sollte, da „Im kalten Morgenlicht“ besagten „Orange Prize“ letztlich gar nicht gewonnen hat, was im Klappentext übrigens keine weitere Erwähnung findet … (Ja, ja, der Rezensent prüft so etwas nach!)

Schwer leiden die Darsteller unseres Spiels unter dem Ehrgeiz ihrer geistigen Mutter. Trotzdem verdienen sie es nicht, von der Werbung als schlaue Girls mit flotten Sprüchen in die düstere Kiste zu den unsäglichen „Frauen-Krimis“ verbannt zu werden. Stattdessen sind Scott durchaus dreidimensionale, nicht gar zu dreist angepilcherte Frauengestalten gelungen, die aus ihrem glaubhaft geschilderten Alltag gerissen werden. Freilich ist Scott vorzuwerfen, dass sie den Alibi-Mann Inspektor Stewart MacDonald als typische Klischeefigur auftreten lässt. Recht unbeholfen muss er nach dem Willen der Verfasserin belegen, dass es unter den männlichen Bewohnern dieses Planeten auch ganz Gute gibt. Also ist er betont verständnisvoll, höflich, gebildet, stellt keine chauvinistischen Ansprüche & verschenkt Hundebabys – Herz, was willst du mehr? Ansonsten teilt sich die Welt der Männer in echte Schurken, impertinente Ignoranten und Dummköpfe; sie spielen hier nur die zweite Geige, was im gewählten Rahmen in Ordnung geht, in seiner naiven Schwarz-Weiß-Zeichnung aber dennoch irritiert und verärgert.

Manda Scott ist Tierärztin, passionierte Bergsteigerin und Schriftstellerin. Sie ist in Schottland geboren und lebt heute im ländlichen Suffolk mit einem Jagdhund und allen möglichen anderen tierischen Bewohnern. Kein Werbetexter vergisst, dieses idyllische Bild vom kleinen Schriftsteller-Glück zu malen; wer trotzdem noch Näheres wissen möchte, werfe einen Blick auf die Website der Verfasserin: http://www.mandascott.co.uk.

Als Autorin ließ Scott Kellen Stewart inzwischen in zwei weiteren Kriminalromanen auftreten. Darüber hinaus schrieb (oder besser verbrach) sie ein grauenvolles Historien-Garn namens „Die Herrin der Kelten“ (im |Goldmann|-Verlag erschienen) um Breaca, die Keltenprinzessin und „listige Kriegerin“, die sich (und den Leser) auf der schmerzvollen Suche nach Recht, Weltfrieden & Mr. Right durch das vorzeitliche Britannien quält.

Richard Morgan – Gefallene Engel

„Gefallene Engel“ ist der direkte Nachfolger von Richard Morgans Bestseller „Das Unsterblichkeitsprogramm“ , der unter anderem mit dem |Philip K. Dick Award| ausgezeichnet wurde. Wieder berichtet er aus der Perspektive des „Envoys“ Takeshi Kovacs aus einer düsteren Zukunft, in der körperlicher Tod kein Problem mehr darstellt: Denn das in einem kleinen, schwarzen Kästchen (der sogenannte kortikale „Stack“) im Nacken oder extern gespeicherte Bewusstsein eines Menschen ist potenziell unsterblich. Der Körper hingegen kann geklont werden, man wechselt seinen „Sleeve“, sobald er zerstört wird, und erhält einen Körper von der Stange oder mit besonderen Eigenschaften für Spezialaufgaben – oder eben auch nicht, alles eine Frage des Geldes und ob man gebraucht wird …

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Val McDermid – Das Lied der Sirenen

Bradfield, eine kleine Stadt in Nordengland. Ein Serienmörder versetzt die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Die ungewöhnliche Grausamkeit der Taten steigert die Panik, denn die verstümmelten Leichen zeigen deutlich die Spuren bizarrer und grausamster Folterungen. Ein Muster scheint den Morden zugrunde zu liegen: Die Opfer werden immer an Orten und Plätzen abgelegt, die von den homosexuellen Bürgern Bradfields bevorzugt werden. Das ist aber auch die einzige Erkenntnis, zu der die Polizei bisher gelangen konnte, die ansonsten wie üblich im Dunkeln tappt. Bedrängt von diversen Politikern, die auf rasche Aufklärung des Falls pochen, und natürlich von der Presse, muss die Polizei Hilfe von „außen“ in Anspruch nehmen. Assistent Chief Constable John Brandon engagiert den Psychologen Tony Hill, der als „Profiler“ die seltsame Kunst beherrscht, das Wesen eines Serienmörders aus den am Tatort zurückgelassenen Spuren zu rekonstruieren und auf diese Weise einen Steckbrief zu erstellen, mit dessen Hilfe sich der Täter womöglich finden lässt, wenn es keine Fingerabdrücke, Fotos oder andere Indizien gibt, die eine „klassische“ Polizeiarbeit ermöglichen.

Brandons Vorgesetzte, aber auch seine Untergebenen sind wenig begeistert davon, sich von einem „Fremden“ zeigen zu lassen, wie sie ihre Arbeit zu tun haben. Sie heißen Hill daher keineswegs willkommen, sondern geben ihm mehr oder weniger deutlich (meistens mehr) ihre Ablehnung zu verstehen. Hinzu kommt eine eindeutig homophobe Grundstimmung im Revier: Die Ermittlungen werden durch die heimliche oder offen geäußerte Abneigung vieler mit dem Fall beschäftigter Polizisten gegen die homosexuelle Gemeinde ihrer Heimatstadt behindert.

Stone hat also einen schweren Stand. Private Nöte lassen ihn noch angreifbarer werden. Er kämpft mit eigenen sexuellen Problemen, die er sorgfältig zu verbergen trachtet, wäre ihr Bekanntwerden doch der ideale Ansatzpunkt für seine Gegner, sich seiner zu entledigen – und gleichzeitig seine berufliche Reputation zu zerstören.

Allen Schwierigkeiten zum Trotz fällt dem Profiler bald auf, dass die ermordeten Männer keineswegs zur schwulen Szene Bradfields gehörten, sondern eindeutig heterosexuell waren. Die Möglichkeit, ein schwuler Mörder könne sich an seinen „normalen“ Mitbürgern vergreifen, heizt die ohnehin explosive Situation noch weiter auf. Überhaupt wird die Lage langsam kritisch, da sich der Abstand zwischen den Morden laufend verkürzt.

Der Mörder verfolgt mit dem Interesse eines publicitysüchtigen Künstlers die Berichterstattung über seine Untaten. Seine „Kritiken“ nimmt er sehr ernst und reagiert daher missgelaunt, als das Bild, das sich Tony Hill allmählich von ihm zu machen beginnt, der Presse zugespielt wird und er sich nicht gebührend gewürdigt, sondern als gemeingefährlicher Psychopath gebrandmarkt und herausgefordert sieht. Das fünfte Opfer, so entscheidet der Wahnsinnige, soll daher Tony Stone heißen. Als dieser dann tatsächlich entführt wird und in der Folterkammer des Täters erwacht, weiß er, dass die Zeit des Theoretisierens endgültig vorüber ist. Nun heißt es für den Profiler, sein ganzes Wissen aufzuwenden und mit dem Mörder um sein Leben zu feilschen …

„Das Lied der Sirenen“ gehört zu den größten Erfolgen der seit einigen Jahren ohnehin auf Bestsellerruhm abonnierten Schriftstellerin Val McDermid. Die ehemalige Oxford-Dozentin und Journalistin gehört zu den prominenten Mitgliedern der homosexuellen Gemeinde ihres Heimatortes Manchester. Jahrgang 1955, ist sie gerade noch alt genug, die Zeit der offenen Diskriminierung und Verfolgung persönlich erlebt zu haben. Heute ist es um die Gleichberechtigung besser bestellt, aber die alten Vorurteile haben überlebt und üben ihre unheilvolle Wirkung mehr oder weniger offen weiter aus. McDermid schreibt gegen sie an, aber sie tut es nicht (g)eifernd oder mit erhobenem Zeigefinger, sondern „verpackt“ das, was sie sagen will, in spannende Genregeschichten. Da sie über ein beachtliches schriftstellerisches Talent verfügt, geht die Rechnung auf, zumal McDermid die Frage der sexuellen Gleichberechtigung nicht stets und unbedingt zum Leitmotiv ihrer Bücher erhebt, sondern harmonisch in die Handlung integriert.

Der vorliegende Thriller gehört eindeutig in die Sparte „Starker Tobak“. Kritiker messen den literarischen „Wert“ (was immer das sein mag) eines Buches gern am Grad der Zurückhaltung, mit der sich der Autor (männlich oder weiblich) seinem Thema nähert. Das gilt besonders, sobald Gewalt ins Spiel kommt. Insofern hat Val McDermid schlechte Karten, denn sie bricht die Spielregeln, und zwar rigoros. Ihr psychopathischer Mörder lässt sich bei seinen Folterungen durch die Vorbilder des Mittelalters „inspirieren“. Damals wie heute erleiden die Opfer dieser Tortur nicht „nur“ höllische Schmerzen; darüber hinaus werden ihre Körper langsam zu einem blutigen Fleischfetzen zerschunden – einst zum Wohle der Gerechtigkeit oder im Namen Gottes, jetzt ganz offen zur krankhaften Belustigung des Folterers. McDermid beschreibt das mit drastischen Worten und in allen Einzelheiten. Wohliges Gruseln stellt sich zu keinem Zeitpunkt ein, denn sie lässt den Mörder selbst seine Gräueltaten schildern. Die morbide Sachlichkeit seiner Worte kann den kaum unterdrückten, wahnsinnigen Zorn nur unzureichend kaschieren – dieser Serienkiller ist kein medientauglicher Publikumsliebling vom Schlage Hannibal Lecters, sondern ein kaltblütiger Schlächter, dessen brutale Unmenschlichkeit keine Möglichkeiten bietet, ihn zu „verstehen“ oder sich mit seinen Taten zu arrangieren.

Auch die „Guten“ taugen wenig als Identifikationsfiguren. Persönliche Ängste und Schwierigkeiten, Engstirnigkeit, Intrigen, Mobbing und über allem das Bemühen, die Serienmorde von Bradfield in einen Baustein für die eigene Karriere zu verwandeln, zeichnen ein sehr realistisches Bild von der Arbeit eines modernen Polizeireviers abseits aller Hollywoodthriller-Klischees.

Val McDermids außergewöhnlichen Fähigkeiten ist es zu verdanken, dass dem schon recht ausgelaugtem Genre des Serienmörder-Thrillers ein neues Glanzlicht aufgesetzt wurde. Die |British Crime Writers‘ Association| würdigte dies, indem sie „Das Lied der Sirenen“ 1995 mit dem |Golden Dagger Award| als besten Kriminalroman des Jahres auszeichneten. Auch in Deutschland war McDermid mit den „Sirenen“ sehr erfolgreich – und zu Recht, denn das Buch ist von der ersten bis zur letzten Seite spannend und liest sich dazu auch noch flüssig.

Lancaster, Peter – blaue Portal, Das (Die Chroniken der Anderwelten 1)

Eva, fünfzehn Jahre alt und mit ihren Eltern und ihrem Onkel Friedrich in einer Burg in Hessen lebend, hat ein verdammt zukunftsweisendes Aufeinandertreffen im Keller, als sie ihrem dem Alkohol verfallenen Onkel neuen Stoff für die Sinne holen will. Hinter einem Regal kommen kleine, sprechende, menschenähnliche Pferde hervor, die einem Portal in eine andere Welt entsprungen sind. Dort werden sie von den beheimateten Kreaturen als eine Art Sklaven gehalten.
Nach langer Flucht, bei der einige der Pferde ihr Leben lassen mussten, erreichen sie das bläulich schimmernde Portal über eine ellenlange Treppe, die schließlich in den Keller der Burg führt.
Nachdem sich die zwei Parteien zunächst nicht wohlgesonnen sind, kehren nach einiger Zeit Ruhe und Vertrauen im Umgang der ungleichen Schlossbewohner ein. Bis sich das Portal erneut öffnet und zum zweiten Mal Besucher anklopfen. Und die haben nichts Freundliches im Sinn …

Es folgt eine genreübergreifende Story, die jugendtaugliche Literatur über Phantastik bis hin zu Horror umfasst und auch vor geschichtsrecherchierten Fakten nicht zurückschreckt. Leider verzettelt sich der Autor (Peter Lancester; zugleich Chef des |Eldur|-Verlags) manchmal in zu vielen Querverweisen, Zeitsprüngen, Fußnoten und Charakterzeichnungen. Man muss aber sagen, dass es Lancester gelungen ist, liebevolle Typen auf seinen Seiten zu erschaffen, die abseits vom leidigen Heldenstatus als eher kauzige und unbedarfte Charaktere ihrer wahren Größe entgegensteuern.

„Das blaue Portal“ ist ein überwiegend locker zu lesendes Buch, das hier und da mal etwas verwirrend in den Zeiten umherspringt. Man muss aber dazu sagen, dass der Roman der erste Teil von insgesamt fünf Büchern ist. Somit werden noch viele Fragen in den folgenden Bänden aufzulösen sein und Lancester wäre schön blöd, würde er sein komplettes Pulver schon zu Beginn verschießen.

Ein Publikum für diese fremde Welt zu empfehlen, fällt mir etwas schwer, da für jüngere Leute die teilweise explizit derbe Gewalt doch eine Nummer zu heftig sein dürfte. Lassen wir also die Kleinsten mal weg und fangen bei gesetzteren Jugendlichen an, die man aufgrund der medialen Alltagsgewalt sowieso durch nichts mehr schocken kann. Wer sich vom Stress des täglichen Lebens erholen will und seine Gedanken in eine andere Welt transportieren lassen möchte, ist bei Peter Lancester bestens aufgehoben.

Die Aufmachung und der Druck des Buches sind, typisch für den |Eldur|-Verlag, professionell gestaltet und ansprechend. Die Schriftgröße ist für ein Taschenbuch perfekt gewählt und verhilft trotz der Größe des Romans nicht zu blutenden Augen.
Summa summarum freue ich mich bereits auf die restlichen Teile, bleiben doch so viele Fragen offen, die Lust auf ein tieferes Eintauchen ins blaue Portal machen. The show must go on …

|Nachtrag d. Ed.: Der Roman wurde für den Deutschen Phantastik-Preis 2005 nominiert. Es handelt sich um einen Leserpreis, zu dem jeder mit seiner Stimme beitragen kann. Zum Abstimmungsformular geht es hier entlang: http://www.foltom.de/phden05.html.|

Larry Niven – Rainbow Mars

Niven Rainbow Mars Cover kleinDas geschieht:

Die Erde ist im Jahre 3054 ein durch Raubbau und Umweltverschmutzung zerstörter Planet. Da ist es gut, dass die Zeitmaschine inzwischen erfunden wurde. Sie sollte es möglichmachen, das Ausgerottete kurzerhand aus der Vergangenheit zu holen und in der Zukunft neu anzusiedeln. Genauso befiehlt es Waldemar X., der geistig leicht unterbelichtete aber politisch gewiefte Generalsekretär der Vereinten Nationen, die inzwischen das Sagen auf der Erde haben.

In der Realität ist das Abfischen der Vergangenheit allerdings mit zahlreichen schwer kalkulierbaren Risiken behaftet. Waldemar reicht dieses Problem an das „Institut für Zeitforschung“ weiter. Ra Chen, der Direktor, und vor allem Hanville Svetz, seines Zeichens Zeitreisender, müssen viele Zwischenfälle meistern: Die Zeitmaschine kann zudem in parallele Dimensionen abgleiten, was neben der Gefahr auch die Möglichkeit, dem Generalsekretär interessante Beute vorzuweisen, erhöht. Larry Niven – Rainbow Mars weiterlesen

Isau, Ralf – Wahrheitsfinder, Der (Der Kreis der Dämmerung, Teil 2)

Der Kreis der Dämmerung:

Band 1: „Das Jahrhundertkind“
Band 2: „Der Wahrheitsfinder“

Nachdem David aus dem lichterloh brennenden Palast seines vorerst größten Widersachers Toyama geflüchtet ist, reist er sofort in die USA zurück. Sein Freund und Journalistenkollege Briton Hadden, Mitbegründer des |Time Magazine|, ist krank. Als David endlich in New York ankommt, liegt der Mann bereits im Sterben. Dennoch gelingt es ihm, noch ein paar Worte an David zu richten. Eines davon lautete Palatin, und so führt Davids Suche ihn als nächstes nach Europa. Er ahnt nicht, dass diese Reise der Auftakt zu einem Versteckspiel ungeahnten Ausmaßes ist, denn inzwischen wird er nicht nur von Nekromanus, dem Schatten Lord Belials, verfolgt, es beschattet ihn auch ein geheimnisvoller Mönch, ein Jesuit mit einer Narbe über einem Auge.
Während David geradezu nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen sucht und angesichts der gewaltigen Aufgabe dazu übergeht, Bundesgenossen und Helfer zu gewinnen, zieht sich gleichermaßen ein Netz um ihn selbst zusammen. Denn so erfolgreich er im Kleinen auch sein mag, das Große liegt außerhalb seines Einflussbereichs. Und schließlich zieht das Netz sich zu …

Der zweite Band des Kreises der Dämmerung umfasst grob gesagt den Zeitraum von der Weltwirtschaftskrise bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, also nicht ganz ein Vierteljahrhundert. Wie erwartet und kaum zu vermeiden, dominiert der Nationalsozialismus mehr oder weniger den Verlauf der Handlung. Isau begnügt sich jedoch auch diesmal nicht mit allgemein bekanntem Schulwissen. Vielmehr schildert er die Entwicklung so, wie sie einem Mann wie David damals tatsächlich erschienen sein mag: von einer Randerscheinung, die gelegentlich stirnrunzelnd erwähnt, aber zunächst von vordringlicheren Aufgaben verdrängt wird, über eine wachsende und immer ernster zu nehmende Bedrohung bis zum alles bestimmenden Faktor. Und das alles ganz allmählich, angefangen bei den Kontakten mit dem heiligen Stuhl über die Krise der Weimarer Republik bis zur Machtergreifung und Gleichschaltung.

Politik und Gesellschaft laufen auch hier nahtlos nebeneinander her. In Davids vergeblichem Anrennen gegen Ignoranz und Verbohrtheit wird die ganze Machtlosigkeit des Einzelnen im Angesicht der Massen sichtbar. Während er oder seine Helfer verzweifelt versuchen, den Verantwortlichen die Augen über die Nazis zu öffnen, zeigt sich im täglichen Leben nur allzu deutlich, wie wenig all diese Bemühungen fruchten. Gleichzeitig zeigt sich im Geschehen nach der Machtübernahme ebenso deutlich, dass offenbar nicht einmal David sich wirklich im Klaren darüber war, in welcher Gefahr er selbst schwebt. Die Ereignisse in dem Haus, in dem er wohnt, das ständige Auftauchen der Gestapo, die jedes Mal jemand anderen mitnimmt – erst den Kommunisten, dann den Sozialdemokraten, die Zeugen Jehovas und schließlich die Juden – , hätte ihm eigentlich die Augen öffnen sollen. Es dauert ziemlich lange, bis er erkennt, dass er sich auf seinen britischen Pass nicht mehr verlassen kann.

Wie im ersten Band Toyama, ist diesmal von Papen Davids größter Widersacher. Ein zwar mächtiger, aber doch hauptsächlich im Hintergrund agierender Mann, verantwortlich für die Vorbereitung und die Ebnung von Wegen, zum Beispiel zum Konkordat mit dem Vatikan, zur Einsetzung Hitlers als Reichskanzler oder auch zum Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich. An dieser Stelle ist es Zeit, die Recherchen des Autors zum historischen Hintergrund seiner Geschichte einmal lobend herauszustellen! Im ersten Band fällt dies dem europäischen Leser wohl nicht so sehr auf, da ein Großteil der Handlung in Japan spielt. Die Feststellung, wie genau Isau die Entwicklung zwischen 1929 und dem Kriegsbeginn sowie Papens Rolle darin dargestellt hat, ließ mich aber derart aufhorchen, dass ich mir die Mühe gemacht habe, nach Toyama zu suchen. Die Suche hat gezeigt, dass Mitsuru Toyama tatsächlich gelebt und die Geheimgesellschaft des „Schwarzen Drachen“ gegründet hat. Der Leser darf also getrost davon ausgehen, dass Isau seine gründlichen Recherchen nicht nur auf die europäischen Seiten der Weltgeschichte ausgedehnt hat, sondern tatsächlich auf alle. Einer derart akribischen, detaillierten Basisarbeit gebührt Respekt. Schade, dass nicht mehr Autoren sich das zu Eigen machen.

Der Handlungsteil, der unmittelbar mit dem Kreis der Dämmerung zu tun hat, zieht sich diesmal etwas in die Länge. Briton Haddens Tipp hat David zu einem Jahrtausende alten Manuskript geführt, das einen Geheimzirkel mit einem Großmeister Belial erwähnt. Es enthält außerdem Hinweise darauf, wie dieser Großmeister gerufen werden kann, und Anspielungen auf die Bedeutung der Siegelringe, die die Geheimbündler tragen. David geht dem nach und stößt schließlich auf eine äußerst bemerkenswerte gläserne Kugel, kann das Rätsel in diesem Band jedoch noch nicht lösen. Irgendwann geht dieser Faden im Versteckspiel mit den Nazis unter und taucht erst am Ende des Bandes wieder auf, als David sich als Kriegsberichterstatter im Pazifik aufhält. Insgesamt gesehen, tritt der Kreis der Dämmerung als solcher in diesem Band eher in den Hintergrund, wenn man von der unmittelbaren Verfolgung Davids und Rebekkas absieht. Im zweiten Band überwiegen die Ereignisse der Geschichte, nicht zuletzt durch ihre pure Ungeheuerlichkeit.

David wirkt in diesem Band ein wenig wie Sysiphus. Er weiß genau, dass er eigentlich keine Chance hat, die Entwicklungen aufzuhalten, und versucht es dennoch. Sein Scheitern sowohl im Hinblick auf seine Bestimmung als auch auf seine Frau lässt ihn beinahe zerbrechen, letztlich jedoch geht er aus dieser extremen Belastung gestählt hervor. Er hat seine Zögerlichkeit verloren, seine Unsicherheit und seine Angst. Sie haben einer grimmigen Entschlossenheit Platz gemacht, unter anderem auch, was die Nutzung seiner außergewöhnlichen Begabungen angeht. Er ist noch immer nicht – oder besser: noch weniger als bisher – bereit zu töten. Ansonsten hat er seine Empfindlichkeiten und Vorbehalte abgelegt. Er hat nichts mehr zu verlieren!

„Der Wahrheitsfinder“ ist schon allein durch die zugrunde liegende Historie, aber auch durch die persönlichen Verluste Davids weit düsterer geraten als „Das Jahrhundertkind“. Viel mehr noch als die Unmenschlichkeit des nationalsozialistischen Systems und die Grauen des Krieges wirkt das unausweichliche Hineinschlittern in die Katastrophe auf den Leser, der all das aus mit den Augen Davids kommen sieht, seine verzweifelten Anstrengungen miterlebt und doch im Gegensatz zu ihm bereits weiß, dass sie vergebens sind. So ähnlich muss sich der Kapitän der Titanic beim Anblick des Eisbergs gefühlt haben: Auge in Auge mit dem unvermeidlichen Untergang!
Unmöglich, sich dem Sog dieses Szenarios zu entziehen. Die vorübergehende Länge im Zusammenhang mit der Glaskugel fällt dagegen kaum ins Gewicht. Auch für dieses Buch gilt: unbedingt lesen!

Ralf Isau, gebürtiger Berliner, war nach seinem Abitur und einer kaufmännischen Ausbildung zunächst als Programmierer tätig, ehe er 1988 zu schreiben anfing. Aus seiner Feder stammen außer der Neschan-Trilogie und dem Kreis der Dämmerung unter anderem „Der Herr der Unruhe“, „Der silberne Sinn“, „Das Netz der Schattenspiele“ und „Das Museum der gestohlenen Erinnerungen“. In der Reihe Die Legenden von Phantásien ist von ihm „Die geheime Bibliothek des Thaddäus Tillmann Trutz“ erschienen. Im Juli dieses Jahres kam der erste Band der Chroniken von Mirad unter dem Titel „Das gespiegelte Herz“ heraus, im September wird „Die Galerie der Lügen“ herausgegeben. In der Zwischenzeit arbeitet der Autor an den Folgebänden der Chroniken von Mirad.

Taschenbuch: 827 Seiten
ISBN-13: 978-3-404-15319-0

http://www.luebbe.de/
http://www.isau.de/index.html

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (4 Stimmen, Durchschnitt: 1,00 von 5)


http://www.isau.de

Walker, Mary Willis – Laß die Toten ruhn

Austin/Texas: In dem US-amerikanischen Staat, der stolz auf seine Wild-West-Vergangenheit und die Wehrhaftigkeit seiner Bürger ist, soll ein neues Gesetz verabschiedet werden, das den Besitz von Feuerwaffen drastisch einschränkt. Befürworter und Gegner liefern sich vor der Abstimmung einen erbitterten Kampf, dessen Ausgang freilich von einigen fanatischen Waffenfreunden zu ihren Gunsten beeinflusst werden soll: Sie planen allen Ernstes, einen Giftgas-Anschlag auf den texanischen Senat zu verüben, wo über besagte Gesetzes-Vorlage entschieden werden soll.

Die obdachlose Sarah Jane Hurley, genannt „Cow Lady“, hört zufällig mit, als das Attentat geplant wird. Die Verschwörer werden auf sie aufmerksam. Durch ein Versehen halten sie jedoch nicht Sarah für die unerwünschte Zeugin, sondern eine Freundin. Als diese brutal ermordet wird und Sarah erfährt, dass die Täter ihren Irrtum anschließend bemerkt haben, sucht sie Hilfe. Sie wendet sich an die Journalistin Molly Cates, die gerade an einer Reportage über obdachlose Frauen in Austin arbeitet und dabei auch Sarah befragt hat.

Sarah kann Molly zunächst nicht erreichen, denn diese ermittelt in eigener Sache: Vor fast drei Jahrzehnten ist ihr Vater unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Schon damals hat sich Molly bemüht, das Rätsel zu klären; darüber ist sie fast zerbrochen. Nun gibt es plötzlich neue Hinweise. Molly nimmt die Spur auf, und wie in ihrer Jugend ist sie bereit, rücksichtslos sich selbst, ihrer Familie und ihren Freunden gegenüber die Wahrheit herauszufinden.

Daher ist es fast zu spät, als sie der Hilferuf der „Cow Lady“ erreicht. Deren Verfolger haben sie entdeckt und sind ihr hart auf den Fersen. Als Molly, die inzwischen nach Austin zurückgekehrt ist, Sarah endlich findet, schnappt die Falle zu – sie soll zusammen mit Sarah umgebracht werden, um jeden Hinweis auf das geplante Attentat zu verwischen …

Mit dem vorliegenden Werk beschert Mary Willis Walker ihrer Lesergemeinde ein Wiedersehen mit Molly Cates, der engagierten und unbequemen Journalistin aus Texas. Um es vorweg zu nehmen: Nach „Der rote Schrei“ (Goldmann-Verlag, ISBN: 3-442-42984-6) und „Unter des Käfers Keller“ (Goldmann-Verlag, ISBN 3-442-43513-7) ist ihr erneut ein überdurchschnittlicher Thriller gelungen.

Diese erfreuliche Tatsache wurde von der Kritik nicht immer mit der gebührenden Objektivität gewürdigt. Seit „Unter des Käfers Keller“, jenem Buch, das seiner Autorin zu Recht einen überragenden Erfolg bescherte, werden Walkers Romane an diesem außergewöhnlichen Werk gemessen. Doch das ist ungerecht; nicht immer geraten Qualität, aktuelles Zeitgeschehen und Zeitgeschmack so perfekt in einen Gleichklang.

Bei „Laß die Toten ruhen“ war Walker der Wirklichkeit ein paar Jahre voraus. Vor dem Hintergrund des Massakers von Littleton (April 1999), bei dem zwei gestörte Schüler über ein Dutzend ihrer Schulkameradinnen und -kameraden umbrachten, und weiterer Amokläufe gewinnt die Geschichte ganz andere Dimensionen. Hierzulande kann sich vermutlich niemand wirklich vorstellen, mit welcher Inbrunst in den Vereinigten Staaten für und wider den freien Waffenbesitz gestritten wird. Die katastrophalen Folgen der derzeitigen Gesetzgebung werden zwar durchaus erkannt, gleichzeitig jedoch von einer zahlenmäßig etwa gleichwertigen und einflussreichen Gegenbewegung negiert. Freie Waffen für freie Bürger – so lässt sich deren Haltung zu diesem Thema vereinfachend umschreiben. Verfolgt man Berichte über paramilitärische und bis an die Zähne bewaffnete Gruppen, die es überall in den USA zu geben scheint, und ihre oft sonderbaren bis gemeingefährlichen Ansichten, erscheint die Vision eines Giftgas-Attentats auf den texanischen Senat überhaupt nicht mehr unrealistisch.

Walker begnügt sich nicht mit diesem einen Plot. Sie verwebt die eigentliche Kriminal-Handlung mit einem Blick auf das Problem der Obdachlosigkeit in den Vereinigten Staaten. Auch hier ist es nicht einfach, die Brisanz des Themas zu erkennen. Zu den Schattenseiten des „Amerikanischen Traums“, nach dem jede/r zu Wohlstand, Erfolg und Glück gelangen kann, wenn er oder sie sich nur tüchtig anstrengt, gehört der unumstößliche Glaube großer Teile der amerikanischen Bevölkerung, dass jene, die auf der Straße leben, sich offenkundig nicht genug ins Zeug gelegt und ihr Unglück selbst verschuldet haben. Ruft man sich dann noch ins Gedächtnis, dass es in den USA, einem der reichsten Länder der Welt, nur ein rudimentäres soziales Netz gibt, das jene auffängt, die das Pech haben, auf dem „American Way of Life“ in eine Sackgasse zu geraten, gewinnt auch der Handlungsstrang um Sarah Jane Hurley, die „Cow Lady“, und ihre unglücklichen Leidensgenossen an Eindringlichkeit.

Als sei dies noch nicht genug für einen einzigen Roman, widmet sich Walker schließlich dem chaotischen Privatleben ihrer Heldin. Molly Cates, die in ihrem Beruf so erfolgreich ist, wurde durch den rätselhaften Tod ihres Vaters nachdrücklich aus der Bahn geworfen. Die fanatische Suche nach den mutmaßlichen Mördern hat sie krank werden, ihre Familie vernachlässigen und ihre Freunde auf Abstand gehen lassen. Dreißig Jahre später hat Molly ihr Leben und ihre Karriere zwar im Griff, doch den Bruch in ihrer Jugend konnte sie niemals wirklich verarbeiten. Schon einige wenige neue Hinweise reichen aus, um sie erneut in den Strudel ihrer Obsession zu ziehen.

Drei Geschichten in einer also, die „Laß die Toten ruhn“ erzählt – ein wenig zu viel für einen simplen Thriller, ließe sich einwenden. Wo steht allerdings geschrieben, dass ein Triller immer einfach sein muss? Mary Willis Walker gelingt es jedenfalls, die von ihr sauber recherchierten Themen zu einem komplexen, dichten und immer spannenden Roman zusammenzufügen. Längen gibt es nicht, und sogar das obligatorische Finale mit Knalleffekten wirkt nicht aufgesetzt, sondern folgerichtig.

Reed, Kit – Körperkult

Jung, schlank, schön – das Idealbild des Menschen der oberflächlichen, modernen, globalisierten Gesellschaft. In gewisser Weise trifft das schon heute zu, wenngleich mehr im Seifenopern-Leben der TV-Landschaften als in der Realität. In besonderem Maße trifft es auf die Menschen in Kit Reeds visionären Zukunftsroman „Körperkult“ zu.

_Dein Körper ist ein Tempel!_

„Körperkult“ wirft einen Blick auf das Amerika der möglicherweise nicht mehr allzu fernen Zukunft. Die Religionen versinken in der Bedeutungslosigkeit. Die Menschen glauben nicht mehr an Gott, sondern an Schönheit und Jugend. Der Körper ist der Tempel, in dem dieser neue Glaube zelebriert wird. Oberster Prediger der Glaubensgemeinschaft ist Reverend Earl Sharpnack – ein charismatischer Redner, der mit Fitnessclubs, Diätprodukten und Schlankheitskuren Milliarden scheffelt und sich ein gigantisches Imperium geschaffen hat.

Die Menschen eifern alle denselben Idealen nach: Schlank wollen sie sein, schön, gut gekleidet und auf ewig jung. Wer nicht in dieses Raster passt, wer von der Schönheitsnorm abweicht, bekommt die Folgen bitter zu spüren. Dicke werden in den Untergrund verbannt, Magersüchtige werden in geschlossenen Anstalten wieder auf Normgewicht gebracht, gut betuchte Übergewichtige erkaufen sich einen Platz in Sylphania, einem riesigen Wüstencamp, wo die Menschen gemeinschaftlich abnehmen und sich auf ein „Leben nach dem Fett“ vorbereiten.

Reed stellt in ihrem Roman mehrere Menschen vor, die ihre ganz eigenen Probleme mit dem aufgezwungenen Idealbild haben. Da wäre zum einen die 16-jährige Annie, die ihre Magersucht so lange geheim halten kann, bis ihre Eltern sie eines Tages erwischen. Da ihr Vater diese Schande möglichst schnell beseitigt sehen möchte, ruft er die „Guten Schwestern“ herbei, die Annie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in eines ihrer Klöstern bringen. Die Guten Schwestern sind ein obskurer Nonnenorden und Teil von Reverend Earls Imperium. Übergewichtige und Magersüchtige werden in ihren Einrichtungen weggesperrt, ohne Chance auf ein Entrinnen. Annies Geschwister, die Zwillinge Betz und Danny, sind nicht bereit das hinzunehmen und machen sich zusammen mit Annies Freund Dave auf die Suche nach dem Kloster, in dem Annie festgehalten wird.

Eine gänzlich andere und dennoch sehr ähnliche Geschichte erzählt Jeremy. Der reiche aber übergewichtige Geschäftsmann hat sich für viel Geld einen Platz in Sylphania erkauft, um dort abzuspecken. Als er dort ankommt, stellt er schon bald den erschreckenden Unterschied zwischen Schein und Wirklichkeit fest. Das Leben in dem Camp in der Wüste ist hart. Es gibt kaum etwas zu essen und Jeremy wird harte Arbeit abverlangt. Seine Aussichten auf eine „Erlösung im Leben nach dem Fett“ schmelzen schneller dahin als die Pfunde auf seinen Hüften. Unzufriedenheit macht sich breit. Und er ist nicht der Einzige, der mit der Zeit immer mehr das Bedürfnis hat, den falschen Propheten Earl Sharpnack von seinem Sockel zu reißen. Es formieren sich Kräfte, die einen Aufstand herbeiführen wollen …

_Globalisierte Seifenopernrealität_

Auf den ersten Blick scheint „Körperkult“ sich in eine Reihe mit Globalisierungssatiren wie [„Logoland“ 96 von Max Barry stellen zu können. Die Thematik ist ähnlich. Es geht um die globalisierte Gesellschaft von morgen. Während „Logoland“ einen Schwerpunkt auf den Markenterror setzt, geht es bei „Körperkult“ um die Oberflächlichkeit einer Gesellschaft, die auf Äußerlichkeiten mehr Wert legt als auf Persönlichkeit und Charakter. Eine gesellschaftliche Tendenz, die sich auch heute schon, geschürt durch die Scheinrealität des Fernsehens, erkennen lässt.

Reed skizziert vor diesem Hintergrund ein Szenario, das von der satirischen Überspitzung lebt. In vielen Aspekten unterscheidet sich die Welt von „Körperkult“ nicht großartig von unserer. Der Grad der Technisierung entspricht in etwa heutigem Standard, so dass Reeds Utopie in Teilbereichen durchaus bodenständig und zeitgemäß wirkt. Alle Dinge, die sich um Schönheit, Essverhalten und Alter drehen, wirken dagegen schon recht schräg.

Es herrscht ein aus heutiger Sicht absolut überzogenes Figur- und Fitnessbewusstsein vor. Fast-Food-Ketten gibt es zwar immer noch, aber dort sündigen kann natürlich nur, wer anschließend im Fitnessstudio Buße tut. Das sind für sich genommen noch die harmloseren Auswüchse von Reeds figurbewusster Gesellschaft und es gibt auch heute schon genug Menschen, deren Denkweise ähnlich (wenngleich weniger radikal als bei Reed) erscheint. Allein der Blick auf die Milchprodukte eines durchschnittlichen Kühlregals im Supermarkt suggeriert auch heutige schon ein Mantra, das ebenso gut von Reverend Earl stammen könnte: Fett ist böse! Selbst wenn es nur die 3,5 Prozent der Vollmilch sind. So unglaublich die Geschichte von „Körperkult“ auch zunächst klingen mag, so ganz unvorstellbar erscheint sie nicht.

Radikaler wird Reeds Utopie, wenn sie ihren Blick auf die Menschen richtet, die es nicht schaffen, die aufgezwungene Norm zu erfüllen. Die Klöster der „Guten Schwestern“, hermetisch abgeriegelt von der Gesellschaft, wirken wie ein Zwischending aus Gefängnis und Krankenhaus. Wer hier fliehen will, hat schlechte Karten und wird obendrein brutal bestraft – das bekommt auch Annie zu spüren.

Sylphania setzt dem noch eins drauf. Ein riesiges Camp mitten in der Wüste. Wer sich hier mit viel Geld einen Platz zum Abspecken sichert, haust in einem verrosteten Wohnwagen, wird wie ein Gefangener behandelt und hat nur geringe Aussichten, jemals davon erlöst zu werden. Wer hier nicht abspeckt, hat weder einen Chance auf Verbesserung seiner Situation noch auf Freiheit. Es gibt eine strengere Hierarchie, die Reverend Earl medienwirksam in seinen wöchentlichen TV-Shows in Szene setzt. Die, die es schaffen, von ihren überflüssigen Pfunden erlöst zu werden, werden zu so genannten Engeln befördert, ziehen in das fürstliche Clubhaus ein, genießen Hummer zum Frühstück und das von Reverend Earl stets propagierte „Leben nach dem Fett“. Sylphania ist in Erscheinungsbild und Organisation noch einen Tick radikaler als die Klöster der „Guten Schwestern“. Das Ganze erinnert an eine Mischung aus Internierungslager und „Big Brother“.

Das wirkt für sich betrachtet schon recht abgedreht, dennoch erschien mir Reeds Roman nicht ganz so bitterböse, wie es beispielsweise Max Barrys „Logoland“ ist. Die Grundidee überzeugt zwar durchaus, dennoch weiß Reed ihre Geschichte nicht ganz so gut zu verkaufen wie Max Barry. Letztendlich gibt es vier verschiedene Erzählstränge: die Suche der Zwillinge nach Annie, Annies Erlebnisse bei den „Guten Schwestern“, Jeremys Erlebnisse in Sylphania und die Suche von Annies Mutter nach ihrer Tochter. Gerade der zuletzt genannte Erzählstrang wirkt wenig überzeugend. Annies Mutter wird für den Leser nicht so recht greifbar. Sie bleibt ein wenig fremd und wie der Erzählstrang am Ende mit den übrigen verknüpft wird, erscheint schon ein wenig holprig.

Auch die eine oder andere Frage, die mehr oder weniger ungeklärt im Raum zurückbleibt, trübt am Ende ein wenig die Freude. Der bereits im Klappentext versprochene Aufstand tritt erst auf den letzten 50 der insgesamt 381 Seiten ein und verläuft weniger radikal als man von einer „bitterbösen Satire“ (Zitat Klappentext) eigentlich gerne erwarten möchte. Insgesamt bleibt das Ende, das Reed mit einigen offen in den Raum gestellten Fragen dem Leser allein überlässt, ein wenig schwammig und unbefriedigend.

Auch mit Blick auf die Erzähltechnik bleibt ein etwas durchwachsener Eindruck zurück. Reed wechselt nicht nur immer wieder die Handlungsebenen, sie wirkt auch in ihrem Erzählstil teils etwas sprunghaft. So tauchen unvermittelt immer wieder Passagen auf, die direkt an den Leser gerichtet sind und sich auch in der Anrede direkt an ihn wenden. So ganz stimmig mit dem übrigen Text wirkt das leider nicht immer. Auch der eingebaute Wechsel der Erzählperspektive im Jeremy-Erzählstrang überzeugt nicht wirklich. Alles, was der Leser über Jeremy erfährt, wird in Form seiner eigentlich in Sylphania verbotenen Tagebuchaufzeichnungen dokumentiert. Die sonst neutrale Erzählperspektive wechselt hier immer zu einem Ich-Erzähler. Als es dann allerdings auf den Showdown zugeht, wechselt auch dieser Erzählstrang in die neutrale Erzählperspektive, was etwas unglücklich wirkt.

Die Figurenzeichnung überzeugt mal mehr, mal weniger. Manche Figuren laden zum Mitfiebern ein, andere lassen einen weitestgehend kalt. Jeremy und Annie werden am eindringlichsten geschildert und hinterlassen auch den meisten Eindruck, während die Zwillinge und Dave schon etwas blasser bleiben. Annies Mutter dagegen wirkt etwas deplaziert und der ganze Erzählstrang um sie herum wie Füllwerk.

Der Spannungsbogen wird durch ständige Perspektivenwechsel bestimmt. Der Leser begleitet mal die eine Figur, dann wieder eine andere. Dabei schafft Reed es oft, den Leser neugierig darauf zu machen, wie es in den anderen Teilen der Handlung weitergeht. An manchen Stellen nutzt Reed aber auch die Perspektivenwechsel mit ihrem Potenzial zur Spannungssteigerung nicht aus. Die spannendsten Erzählstränge sind logischerweise die, die von ständigen Fluchtgedanken geprägt sind, wie es bei Jeremy und Annie der Fall ist. Besonders diese beiden Erzählstränge tragen im Wesentlichen die Spannung weiter, während die übrigen Handlungsteile nicht immer durchgängig spannend sind.

Alles in allem bleibt am Ende ein etwas durchwachsener Eindruck zurück. Die Grundidee der Geschichte, das Gesellschaftsbild, das Reed in ihrem Roman skizziert, wirkt absolut überzeugend und macht den Roman durchaus lesenswert. Die Art, wie Reed mit ihrem Bild des vom Schönheitswahn getriebenen Amerika auf satirische Art Denkanstöße zur heutigen Gesellschaft liefert, weiß durchaus zu überzeugen. Über ein paar Schönheitsfehler der Erzählung kann diese Tatsache allerdings nicht ganz hinwegtäuschen. Die Erzähltechnik wirkt manchmal ein erzwungen und auch die Balance zwischen den einzelnen Erzählebenen wirkt nicht immer solide. Eine Reihe unbeantworteter Fragen aus dem Handlungsverlauf geben ebenso zu denken wie das offene, unbefriedigende Ende.

Fazit: Nicht immer hundertprozentig schlüssig und erzählerisch souverän, aber schon aufgrund des entworfenen Szenarios dennoch lesenswert.

Redmond, Patrick – Schützling, Der

Hinter Michael Turner liegt ein hartes Leben. Nach dem frühen Tod seiner Eltern wuchs er in Waisenhäusern auf, bis er zu einer Pflegefamilie kam. Doch auch dort fand er nie die Nähe und Wärme, nach der er sich sehnte.

Heute ist Michael Ende zwanzig und es scheint, dass ihn das Glück endlich erhört hat. Dem jungen Anwalt steht eine gute Karriere in einer renommierten Kanzlei bevor und er hat in seiner Verlobten Rebecca die große Liebe gefunden. Trotzdem fürchtet Michael, das Schicksal könnte eines Tages wieder erbarmungslos zuschlagen und ihm alles nehmen, wofür er lebt.

Bis zum Kauf eines eigenen Hauses ziehen er und Rebecca in eine Übergangswohnung. Bald schon lernen sie den Vermieter kennen. Max ist ein wohlhabender Mann Ende vierzig mit einer beeindruckenden Ausstrahlung. Von Anfang an zeigt er großes Interesse an Michael. Da auch er seine Kindheit in Waisenhäusern verbrachte, fühlt er sich ihm besonders verbunden. Es scheint, als sähe Max in Michael eine jüngere Version von sich selbst. Immer wieder spricht er Einladungen zum Essen aus und heißt ihn in seinem Landhaus willkommen. Dank seines Einflusses unterstützt er Michael sogar bei beruflichen Missgeschicken. Wann immer er Hilfe braucht, ist Max für ihn da. Schon bald sieht Michael in ihm mehr als einen Vermieter und guten Bekannten, sondern einen väterlichen Freund und Mentor.

Dennoch fühlt sich Michael hin und wieder unwohl durch Max‘ übertriebene Aufmerksamkeit. Auch Rebecca weiß nicht recht, was sie von dieser Männerfreundschaft halten soll. Je mehr Zeit Michael mit Max verbringt, desto mehr scheint er sich von ihr zu entfremden. Das Paar spürt, dass Max mit seiner besitzergreifenden Persönlichkeit Michael am liebsten für sich allein hätte – und dass er dafür zu allem bereit ist …

Die Ähnlichkeiten zu Redmonds erstem Roman [„Das Wunschspiel“ 1488 liegen auf der Hand. Auch hier dreht es sich um die Abhängigkeit von einem anderen Menschen und um den Preis, den man für die Erfüllung seiner Wünsche bezahlt.

Die Charaktere sind nicht ganz so herausragend wie im „Wunschspiel“, aber dennoch lebendig und überzeugend. Protagonist Michael hat keine besonderen Eigenschaften, eignet sich dadurch aber auch gut zur Identifikation. Er ist ein junger Mann mit einer schlimmen Vergangenheit, der durch seine einfache Art dem Leser schnell sympathisch wird. Man gönnt ihm sein Glück mit Rebecca und leidet entsprechend mit ihm, wenn das Schicksal es mal weniger gut meint. Michael ist ein erfolgreicher und sehr intelligenter Anwalt, aber dabei kein Streber. Auch ihm passieren Nachlässigkeiten und Unsauberheiten, er ist also trotz seines Ehrgeizes angenehm unperfekt. Auch in seinem Privatleben gibt es Schwächen, die man nur allzu gut nachvollziehen kann: Rebeccas Familie, bestehend aus ihren Eltern und ihrem Bruder, hat von Anfang an eine große Abneigung gegen Michael. Ihm geht es umgekehrt ebenso und jedes Treffen knistert nur so vor Feindseligkeiten und Anspannung. Diese Kleinigkeiten machen aus Michael eine Figur, in der der Leser sich selbst oder Menschen aus seinem Alltag auf Anhieb wiederfindet.

Ebenso verhält es sich mit Rebecca, die dem Bild einer durchschnittlichen jungen Frau entspricht. Sie träumt von einer Karriere als Künstlerin, was mangels Erfolg jedoch in weite Ferne rückt. Sie ist zerrissen zwischen der Zugehörigkeit zu ihrer Familie und ihrer Liebe zu Michael. Den Höhepunkt ihrer Krise erlebt sie, als sich Max in die Beziehung drängt und sie hilflos mitansehen muss, wie ihr Verlobter sich von ihr entfremdet. Ihre Gedanken und vor allem ihre Ängste werden dabei absolut nachvollziehbar geschildert, so dass sich der Leser ganz auf ihrer Seite fühlt.

Max dagegen ist ein sehr individueller Charakter. Der ältere Mann besitzt eine außergewöhnliche Ausstrahlung, angefangen mit seiner wohlklingenden Stimme bis hin zu seinem souveränen Auftreten in jeder Situation. Trotz seines Geldes schätzt er die einfachen Dinge des Lebens und seine Fürsorge gegenüber Michael erscheint zunächst wie ein Glücksfall. Von Beginn an ist nachvollziehbar, dass Michael von Max fasziniert ist und sich bei ihm gut aufgehoben fühlt. Erst allmählich kristallisiert sich heraus, dass Max in außergewöhnlichem Maße besitzergreifend ist – und dass ihm jedes Mittel recht ist, um seinen Willen durchzusetzen …

_Spannung vom Feinsten_

Für den Großteil der Faszination des Buches ist der geschickte Spannungsaufbau zuständig. Immer wieder spielt der Autor mit dem Leser und schickt ihn auf falsche Fährten. Mehrmals gibt es Hinweise darauf, dass Max seine Loyalität bloß vortäuscht. So wie der Leser zweifelt auch Michael, nur um dann wieder eines Besseren belehrt zu werden, indem Max eine einwandfreie Erklärung liefert. Diese Ambivalenz zwischen Maxens liebevoller Rolle als Vaterersatz für Michael und seinem manipulativen Wesen wächst sich zu einer sanften Bedrohung aus und zieht die Schlinge um Michael von Mal zu Mal enger.

Das komplizierte Verhältnis der beiden Männer zieht immer weitere Kreise. Bald sind nicht nur Rebecca, sondern auch ihre Familie, ihre Freundinnen und Michaels Kollegen und Vorgesetzte in die Geschichte verwickelt. Für Max ist es ein Leichtes, auf alles und jeden Einfluss zu nehmen und jeden Lebensbereich des Paares zu kontrollieren. Und so scheint am Ende eine Katastrophe unvermeidlich …

Durch den flüssige und sehr gut lesbaren Stil liest sich der knapp 500-Seiten-Schmöker wie in einem Rutsch. Es ist keine besondere Konzentration nötig, um der Geschichte zu folgen, so dass man den Roman bequem auf Zugfahrten, in Wartezimmern oder beim Essen lesen kann. Schwächen gibt es, wenn überhaupt, nur in der außergewöhnlichen Überzeugungskraft von Max, der scheinbar jeden Menschen mühelos um den Finger wickelt. Etwas störend ist auch die rasche Vertraulichkeit, als Max bei einem seiner ersten Zusammentreffen mit Rebecca sie direkt auf die Wange küsst, obwohl er bis dato nur den Status des Vermieters innehat. Das kennt man aus Hollywood-Filmen, so wie dort auch Ärzte schnell ihre Patienten beim Vornamen ansprechen, entspricht aber kaum der Realität.

Zeitweise ist der Verlauf der Handlung sehr vorhersehbar, bedingt durch das altbekannte Plotmuster: Ein Fremder tritt in das Leben des Protagonisten, mischt sich immer weiter ein und baut seinen Einfluss aus, um ihn zu isolieren und greift dabei zu den härtesten Mitteln. Dieser schematische Ablauf wird aber ausgeglichen durch das dramatische und – so viel darf verraten werden – angenehm ungeschönte Ende.

Wer unmittelbar davor „Das Wunschspiel“ gelesen hat, stört sich eventuell an den Ähnlichkeiten. Doch auch dann weiß „Der Schützling“ zu überzeugen und bietet jedem Thrillerfan je nach Anspruch und Erwartung solide bis hervorragende Unterhaltung.

_Fazit:_ Ein locker geschriebener und bis zum dramatischen Schluss sehr spannender Roman über Abhängigkeiten, Intrigen und zerstörerische Freundschaften. Wie schon im „Wunschspiel“ überzeugt Patrick Redmond den Leser mit interessanten und gut vorstellbaren Charakteren. Eine glatte Empfehlung für jeden Fan der Spannungsliteratur.

_Patrick Redmond_ wurde 1966 geboren. Bereits zu Schulzeiten wollte er Schriftsteller werden, doch auf Drängen seines Vaters schlug er eine juristische Laufbahn ein. Sein Debütroman „Das Wunschspiel“ stürmte auf Anhieb die Bestsellerlisten.

Gerhard Augustin – Der Pate des Krautrock

In den späten Sechzigern, in einer Zeit, in der die Jugend vom Schlager und der immer noch grassierenden Beatmusik langsam aber sicher die Nase gstrichen voll hatte, kam in Deutschland eine vollkommen neue Musikbewegung in Gange, deren Einflüsse bis zum heutigen Tage anhalten sollten. Mit Gruppen wie AMON DÜÜL, CAN, POPOL VUH, TANGERINE DREAM und den immer noch aktiven SCORPIONS entstand eine Szene, die unter amderem aufgrund der damit einhergehenden Vorliebe für bewusstseinserweiternde, rauchbare Substanzen den Namen Krautrock erhielt und den deutschen Underground prägte wie wohl keine zweite Bewegung seither. Eine ihrer wichtigsten Figuren war zweifelsohne Gerhard Augustin, der die Szene nicht nur mitverfolgte, sondern auch einen großen Teil dazu beitrug, eine Basis für Rockmusik außerhalb des Mainstreams zu schaffen. Augustin war in vielerlei Hinsicht der Denker und Lenker, der im Hintergrund die Fäden zog, während die oben genannten Bands plötzlich überregional bekannt, geschätzt und schließlich auch berühmt wurden. Daher wurde ihm auch eines Tages der Name „Der Pate des Krautrock“ verliehen.

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Sandford, John – Jagdpartie, Die

Die vier Direktoren – und eine weibliche Direktorin – der „Polaris“-Bank gehen auf Einladung ihres Vorstandsvorsitzenden gemeinsam auf die Jagd. Was auf den ersten Blick ein reines Wochenend-Vergnügen zu sein scheint, entpuppt sich als grimmiges Spiel um Macht und Geld. Der Vorstandsvorsitzende hat die Fusion mit einer Konkurrenz-Bank in die Wege geleitet; ein Deal, der ihm unendlich viel Geld bescheren, seinen Direktoren aber wahrscheinlich den Job kosten wird. Da ist es kaum verwunderlich, dass der Vorsitzende plötzlich mit einem Loch in der Brust im Wald aufgefunden wird – ein Jagdunfall ist es nicht gewesen …

Deputy Chief Lucas Davenport von der Mordkommission der Stadt Minneapolis steht vor fünf mächtigen, ungeduldigen Verdächtigen, was die Fahndung erheblich erschwert, zumal der Mörder seine Spuren gut verwischt hat. Weit ist die Polizei mit ihren Ermittlungen noch nicht gekommen, als die weibliche Direktorin plötzlich ebenfalls umgebracht wird. Zusätzlich abgelenkt wird Davenport, als seine ehemalige Verlobte beinahe einem Brandanschlag zum Opfer fällt. Womöglich will sich ein von dem Detective hinter Gitter gebrachter Verbrecher auf diese Weise an ihm rächen.

Trotz der Probleme trägt die Ermittlungsarbeit langsam Früchte. Wilson McDonald, einer der vier überlebenden „Polaris“-Direktoren, kann möglicherweise mit dem Mord in Verbindung gebracht werden. Die geplante Fusion würde seine Karriere auf jeden Fall beenden, und der grobschlächtige Mann, der seine Ehefrau brutal zu schlagen pflegt, ist niemand, der sich dies gefallen ließe.

Hellhörig werden Davenport und sein Team, als sie Hinweise finden, die McDonald mit einigen ungeklärten Mordfällen der Vergangenheit in Verbindung bringen. Und dann ist da noch die unerklärlich hohe Todesrate unter denen, die McDonald in den letzten Jahren beruflich in die Quere gekommen sind …

Bevor Davenport endgültige Klarheit gewinnen kann, überschlagen sich die Ereignisse: Audrey McDonald bringt ihren gewalttätigen Ehemann nach einer neuerlichen Attacke um – anscheinend in Notwehr, denn sie ist schwer verletzt. Davenport ist misstrauisch, denn in ihm steigt langsam der Verdacht auf, dass eher Audrey als ihr Gatte für die zahlreichen Todesfälle im Umfeld dieses seltsamen Ehepaares verantwortlich sein könnte …

Die Lösung dieses ausgezeichneten Thrillers soll an dieser Stelle nicht verraten werden; es wäre ungerecht, obwohl es das Vergnügen an der Lektüre nicht unbedingt schmälern würde. Autor John Sandford lässt die Katze selbst schon vor dem letzten Drittel des Romans aus dem Sack; nun verfolgt der Leser gespannt das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Davenport und dem wahnsinnigen, aber gleichzeitig ebenso intelligenten wie rücksichtslosen Serienmörder.

Lucas Davenport ist nicht gerade das, was man eine Identifikationsfigur nennen würde. Er ist Polizist mit Leib und Seele und engagiert sich oft so intensiv, dass sein Privatleben ernsthaften Schaden nimmt. Dabei treten die weniger angenehmen Seiten seines Wesens zutage. In „Kalte Rache“, dem achten Teil der Davenport-Serie, tötet er überlegt und kaltblütig einen Kidnapper, der seine Verlobte gefangen hält. Diese gibt ihm daraufhin den Laufpass, was Davenport in eine depressive Phase treibt, die ihn zu Beginn von „Die Jagdpartie“ noch in ihrem Bann hält. Doch im Verlauf der Ermittlungen beginnt er eine Affäre mit der Polizistin Sherrill, die indes von Anfang an unter keinem guten Stern zu stehen scheint.

Die differenzierte Figurenzeichnung beschränkt sich nicht auf Davenport. Aber auch der Plot an sich lässt wieder einmal nichts zu wünschen übrig. Man erfährt einiges über das Geschäftsgebaren in den Vorstandsetagen moderner Bank-Konzerne, und da Sandford als Journalist etwas vom Recherchieren versteht und das Ergebnis als Schriftsteller gekonnt umzusetzen weiss, ist plausibel, was er schildert. Die Glaubwürdigkeit der Geschichte hängt an vielen Stellen davon ab – besonders in den ersten beiden Dritteln des Romans, als noch unklar ist, dass der Tod des Vorstandsvorsitzenden mit den internen Machtkämpfen an der Bankspitze nur mittelbar zu tun hat.

Zimperlich geht es in der Welt John Sandfords nicht zu. Gewalt und Verbrechen dienen jedoch nicht der vordergründigen Unterhaltung, sondern sind zweckgebunden: Serienmörder, allein dem Eigennutz verpflichtete Geschäftsleute, überlastete Polizei-Beamte – hier wird mit harten Bandagen gekämpft, und Sandfort schildert diesen Alltag nüchtern, fast dokumentarisch, verweist damit auf seine journalistischen Wurzeln (dazu unten mehr) und erhöht dadurch die Eindringlichkeit seiner Schilderungen.

Aufgelockert wird der Ernst der Handlung durch wohl dosierten, knochentrockenen Humor, den Sandford zum ersten Mal in diesem Umfang einsetzt. Auch hier zeigt er sich als Meister, der die meisten Lacher erzielt, indem er zum Beispiel nur schildert, in welche Nöte Davenport gerät, als 24 Großmütter, die illegal Mohn gezogen und Opiumtee daraus gebraut haben, sich ihm gleichzeitig stellen wollen und sämtliche Kolleginnen und Kollegen sich aus dem Staub gemacht haben … Der Humor entsteht aus der Darstellung; er wird nicht herbeigezwungen und wirkt dadurch wesentlich stärker.

„Die Jagdpartie“ ist seit 1989 bereits das neunte Abenteuer, das John Sandford seinen Lucas Davenport bestehen lässt. Mit dieser Figur begann die schriftstellerische Karriere des Autors, der eigentlich John Camp heißt und 1944 in Iowa geboren wurde. Der junge Mann studierte zunächst Geschichte, leistete dann seinen Militärdienst in Korea und ging anschließend an die Universität zurück. Mit dem „Master’s Degree in Journalism“ in der Tasche arbeitete Camp zwischen 1970 und 1978 für die „Miami Herald Tribune“, wo er Seite an Seite mit seinen inzwischen ebenfalls als Thriller-Autoren zu Ruhm gekommenen Kollegen Carl Hiaasen und Edna Buchanan arbeitete. (In „Die Jagdpartie“ spielt Camp auf diese Zeit an und flicht einen Witz auf Kosten seines Freundes Hiaasen in die Handlung ein: S. 368 und 371.) Seine journalistische Laufbahn gipfelte Mitte der 80er Jahren im Gewinn des renommierten Pulitzer-Preises für eine Artikelserie, die ein Jahr im Leben einer modernen Farmer-Familie beschrieb. Einige Jahre später begann Camp, Romane zu schreiben – er debütierte gleich mit zwei Büchern, von denen das eine – unter dem Pseudonym „John Sandford“ veröffentlicht – den ersten Auftritt Lucas Davenport schilderte. Mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks ließ Camp pro Jahr einen weiteren Davenport-Roman folgen, die im amerikanischen Original übrigens immer das Nomen „Prey“ – gleich „Opfer“ oder „Beute“ – im Titel tragen.

(Die biografischen Angaben sowie die Liste der Davenport-Romane wurden dem Sandford-Autoreninfo auf der immer empfehlenswerten Website www.kaliber38.de entnommen. John Sandford hat auch eine eigene Website, die bemerkenswert aktuell gehalten wird und unter www.johnsandford.org zu finden ist.)

Douglas Adams – Per Anhalter durch die Galaxis

Anders als dies momentan so üblich ist, ist dieser Roman nicht etwa das Begleitbuch zum Kinohit „Per Anhalter durch die Galaxis“, welcher seit einigen Wochen die Lichtspielhäuser der Republik füllt, sondern die Originalversion aus dem Jahre 1981 (deutsche Erstausgabe), jedoch ergänzt durch einige Kommentare derjenigen, die das Projekt schließlich auf die Leinwand gebracht haben. Wer von dem Werk noch nicht Kenntnis genommen hat, der ist zunächst einmal selber schuld, weil die Geschichte schon seit langer Zeit als Kult abgefeiert wird (und das vollkommen zu Recht), soll aber dennoch wissen, dass es sich hier um ein herrlich skurriles Buch handelt, das nicht nur mit typisch britischem Humor aufwarten sondern den Leser auch manchmal selbst in den Wahnsinn treiben kann. Warum das so ist, erkläre ich dann später …

_Story:_

Arthur Dent hasst Donnerstage. So auch diesen speziellen Donnerstag, an dem er sich plötzlich dazu gezwungen sieht, sein Haus vor der Planierraupe zu schützen, die das gesamte Wohngebiet zu einer Brachlandschaft umfunktionieren möchte. Doch Dent bleibt standhaft und wehrt sich mit allen Kräften, auch wenn die Lage zunächst aussichtslos scheint. Doch dann bekommt er unerwartete Hilfe von einem gewissen Ford Prefect, der vorgibt, unterwegs zu sein, um das neue Universalhandbuch „Per Anhalter durch die Galaxis“ vorzustellen, in einem Rutsch aber auch erzählt, dass es nicht mehr viel Sinn ergibt, das Haus zu schützen, weil der Planet eh in wenigen Minuten dem Erdboden gleichgemacht werden wird. Arthur glaubt dem Fremden natürlich erst mal nicht, muss aber, als er wieder aufwacht, feststellen, dass er unerwartet mitten durch den Kosmos reist und seine Heimat als solche nicht mehr existiert.

Zusammen mit seinem neuen ‚Freund‘ Ford Prefect macht sich Arthur auf den Weg, die Ursache für die Auslöschung der Erde ans Tageslicht zu bringen und stößt dabei auf die wirrsten Theorien, was dies betrifft. Irgendwann kann Arthur den abgedrehten Ausführungen Prefects schließlich nicht mehr folgen, gibt sich und sein Leben sogar schon auf, weil er nicht mehr hinter den ganzen Wahnsinn blickt, der sich in der Galaxis abspielt, findet schließlich aber doch noch Antworten auf seine Fragen. Ob sie ihm jedoch weiterhelfen bzw. ob es das ist, was Arthur sich so vorgestellt hat, steht auf einem anderen Blatt geschrieben …

Die Geschichte ist wirklich ziemlich abgefahren, scheint manchmal sogar keine konkrete Handlung zu besitzen. Doch irgendwann, nachdem Adams wieder einmal einen ziemlich skurrilen Eintrag aus dem Reiseführer „Per Anhalter durch die Galaxis“ geschildert hat, fällt es einem dann doch wieder leicht, den roten Faden aufzunehmen und dem wirren Strang zu folgen. Vorausgesetzt natürlich, man steht auf den ziemlich eigenartigen Humor, mit dem Adams hier immer wieder mal gerne arbeitet, und ist bereit, sich auch durch die Stellen zu kämpfen, an denen man glaubt, absolut gar nichts mehr zu verstehen.

Grob gesehen könnte die Handlung auch auf hundert Seiten beschränkt bleiben, denn inhaltlich gibt die Story nicht viel mehr her. Aber es sind diese irrwitzigen, bunten Ausschmückungen, mit denen Adams den Leser selbst in ’schwierigen‘ Passagen bei der Stange hält, so zum Beispiel, wenn er die einzelnen kosmischen Charaktere beschreibt oder über die Entstehung der Erde philosophiert. Und genau dieses Außergewöhnliche, der fast schon widersinnige Schreibstil des Autors macht aus dem Buch dann auch wieder etwas ganz Besonderes, andererseits aber auch etwas sehr Extremes. Adams lehnt sich nicht nur einmal etwas weit aus dem Fenster und spielt mit Gedanken, bei denen man nicht gerade vermuten mag, dass ein ’normaler‘ Mensch dahintersteckt. Daher kann es auch nur zwei Meinungen zu „Per Anhalter durch die Galaxis“ geben: entweder man lacht und philosphiert mit Douglas Adams, oder man wünscht seine weltfremden Ausführungen zum Teufel.

Ich persönlich zähle mich definitiv zur ersten Sparte, muss aber auch zugeben, dass ich das ein oder andere Mal den Kopf habe schütteln müssen, wenn zwischendurch mal wieder ein zweiseitiges Kapitel auftauchte, das irgendwie nicht in die Geschichte einzuordnen war. Aber um das zu verstehen, muss man eben das Buch gelesen haben, in dem das Bizarre übrigens weitaus mehr zum Tragen kommt als im auch schon sehr guten Kinofilm.

Als zusätzlicher Anreiz sollte dazu noch das Bonusmaterial genannt werden, denn die Neuauflage beinhaltet nicht nur den Roman. Nein, zusätzlich gibt es noch ein recht ausführliches Nachwort von Robbie Stamp sowie Interviews mit den Hauptdarstellern aus dem gleichnamigen Film, namentlich Mos Def (Ford Prefect), Zooey Deschandel (Tricia McMillan), Bill Nighty (Slartibartfuß), Martin Freeman (Arthur Dent), Sam Rockwell (Zaphod Beeblebrox) und als besonderes Schmankerl noch ein Selbstinterview mit Drehbuchautor Karey Kirkpatrick. Hier erfährt man noch eine ganze Menge – immerhin nimmt allein dieser Part hundert Seiten ein – über die Hintergründe und die Motivationen der Darsteller, dieses Projekt ins Kino zu bringen.

Wenn ich also jetzt zu dem Schluss komme, dass das ‚Paket‘ wirklich klasse ist, meine ich damit den Roman und die tatsächlich sehr lesenswerten Zusatzinfos. Und so ist es dann auch: „Per Anhalter durch die Galaxis“ hat in mir sämtliche Lachmuskeln in Bewegung gebracht und macht dies beim Gedanken an die Weltgeschichte aus Sicht von Douglas Adams noch immer. Wer das Original noch nicht sein Eigen nennt und auf derben Humor von der Insel steht, der ist hier genau an der richtigen Adresse und sollte auch mal den übrigen Katalog aus der Feder des Schriftstellers antesten.

„The Hitchhiker’s Guide To The Galaxy“ erschien zuerst 1978 als Radiosendung der BBC. Die fünfbändige Buchreihe dazu erschien nachfolgend in stark veränderter und erweiterter Fassung. Douglas Adams schrieb zuvor unter anderem einige Folgen der „Doctor Who“-Serie und arbeitete auch kurzzeitig mit Monthy Python zusammen. Adams verstarb im Mai 2001 an den Folgen eines Herzinfarktes.

Für mehr Informationen siehe auch unsere Rezensionen zu:
[„Keine Panik! – Mit Douglas Adams per Anhalter durch die Galaxis“ 1363 (Neil Gaiman)
[„Per Anhalter ins All“ 697 (Hörspiel)

Chen, Da – Meister Atami und der kleine Mönch

Luka ist ein außergewöhnliches Kind. Es trägt auf jeder Fußsohle fünf schwarze Muttermale, das Zeichen dafür, dass er der auserwählte Kaiser ist, der nur alle fünfhundert Jahre vom Himmel steigt. Das erzählt Meister Atami dem kleinen Jungen jeden Tag. Und das ist auch der Grund, warum der Kleine so unendlich viel lernen muss. Manchmal kommt es dem Zwölfjährigen so vor, als müsste ihm jeden Moment die Decke auf den Kopf fallen. Doch Meister Atami lehnt es kategorisch ab, dass Luka ihm in die Stadt folgt und beim Betteln hilft. Irgendwann reißt Luka einfach heimlich aus. Und wird gleich als Erstes auf dem Markt des Diebstahls beschuldigt! Doch er verrät den wirklichen Dieb nicht, und das verschafft ihm die erste Freundschaft eines Gleichaltrigen in seinem Leben. Der Gassenjunge und sein kleiner Bruder geben zusammen mit dem Mönchsschüler ein recht merkwürdiges Trio ab.

Dann kommt der Tag, an dem Luka zum ersten Mal miterlebt, auf welche Art und Weise sein väterlicher Lehrer die Speisereste für ihn und sich selbst erbettelt! Die Grausamkeit der Soldaten schockiert ihn so, dass er sich nicht zurückhalten kann. Sein Eingreifen bringt ihn und seinen Meister in große Schwierigkeiten. Es dauert nicht lange, und die Häscher sind hinter ihnen her. Atami wird gefasst, Luka jedoch kann fliehen. Allerdings nicht für lange!

Lukas Geschichte spielt während der Besetzung Chinas durch die Mongolen, die hier Moro genannt werden. Luka ist der Enkel des letzten Kaisers. Pikanterweise ist sein Vater ausgerechnet Ulanbaat Ghengi, der Anführer der Mongolen, der seinen Großvater abgesetzt hat! Verständlicherweise hat sein Vater überhaupt kein Interesse daran, dass dieses Kind einmal Kaiser wird. Und so ist Atami eifrig bemüht, die Identität seines Schützlings geheim zu halten. Luka macht diese Bemühungen zunichte, als er versucht, seinen Meister gegen die Moro zu beschützen und damit seine Kampfausbildung offenbart. Fortan ist Luka fast ununterbrochen auf der Flucht, nur um letztlich doch Auge in Auge seinem Vater gegenüberzustehen und gegen ihn zu kämpfen.

Lukas Kampfausbildung basiert auf den Lehren des Tao. Ziel jeder Übung sind die eigene Vervollkommnung und das Erreichen des Tao. Grundsätzlich existieren auf diesem Weg keinerlei Grenzen, es sei denn, der Betreffende setzt sie sich selbst. Insofern hat es nicht unbedingt etwas mit Magie zu tun, wenn Luka fliegen kann, oder wenn Großmeister Gulan sich den Unterarm abreißt, um ein Ungeziefer loszuwerden, und ihn danach einfach wieder ansetzt, sondern mit Jin-Gong, einer durch Übung erworbenen inneren Kraft, die mit dem Mondlicht zusammenhängt. Atami verfügt über eine verwandte Macht, die von der Sonne stammt, Yin-Gong. Beide gemeinsam sind fast unüberwindlich und werden von Mönchen des Xi-Ling gelehrt.
Auch Ghengi kann fliegen, welche Kraft ihn dazu allerdings befähigt, wird nicht gesagt. Als Mongole kann er keine Xi-Ling-Ausbildung genossen haben. Dennoch ist es ihm gelungen, seinen verlorenen Arm durch eine Klob-Zange ersetzen und seinen Körper mit grünen Schuppen überziehen zu lassen.

Der Klob ist ein Meeresungeheuer, das seiner Beschreibung nach wie ein monströser Hummer aussieht. Seine Jungen, die offenbar eine Kreuzung aus Hummer und Schlange sind, werden sinnigerweise Klobster genannt. Das Gift des Klob ist tödlich, einziges Gegenmittel ist das Blut des gepanzerten Wesens, das ein Prinz des Königreiches Ozeana ist. Außerdem kommen zwei Snagon vor, Riesenschlangen, die für ihre früheren Verbrechen büßen und danach zu Drachen werden, und ein Goldener, ein großer Frosch, der golden schimmert und ebenfalls für seine Sünden büßt. Hier taucht erneut die Lehre des Tao auf, wonach jeder durch demütiges Erdulden Erlösung erlangen kann. Keines dieser Ungeheuer ist wirklich böse, nicht einmal der Klob, der von Ghengi mutwillig süchtig gemacht wurde, um ihn zu unterwerfen.

Ghengi und seine Moro sind die einzigen wirklichen Bösewichte. Das ist wohl auch der Grund, warum sie Moro und nicht Mongolen genannt werden, denn so auffallend die Parallelen sein mögen, entbehrt die Darstellung der Moro doch jeglicher Objektivität. Die Moro sind gleichgültig, grausam und schmarotzend, schlicht: genau so, wie die Chinesen die mongolischen Besatzer vielleicht empfunden haben mögen. Die positiven Seiten der Khane und ihrer Herrschaft, die es zweifellos auch gab, sind vollständig ausgeblendet, Ghengi als Oberhaupt der Moro zu einer Monstrosität verzerrt.
Gleichzeitig werden die Moro durch das Plakat, das die Brautfütterung ankündigt, komplett ins Lächerliche gezogen. Kein Gewaltherrscher würde einen solchen Text verfassen! Aber auch die Chinesen kriegen ihr Fett weg. Die außerordentlich abartigen Heilungsmethoden, die hier angewandt werden, können eigentlich nur als Anspielung verstanden werden. Viele Chinesen glauben immer noch, Rhinozeroshörner wären ein Potenzmittel. Und die übertriebene Anzahl von Muttermalen ausgerechnet an den Fußsohlen kann irgendwie auch nicht wirklich ernst gemeint sein.

Solche Anwandlungen von Humor sind allerdings ziemlich selten, es sei denn, ich hätte einige überlesen, was mich nicht wundern würde, denn vieles in diesem Buch war so exotisch und ungewöhnlich, dass ich manchmal Mühe hatte, mich wirklich hineinzudenken. Da Chen macht sich auch nicht die Mühe, viele Erklärungen abzugeben. Ein Chinese braucht sie sicherlich auch nicht, ich dagegen fragte mich gelegentlich schon, wie manche Dinge zusammenhingen oder zustande kamen. Das gilt zum Beispiel für die Skorpione unter den Goldbarren, die Schildkrötenstraße oder diesen seltsamen Wasserweg, der vom Xi-Ling-Kloster direkt in die kaiserliche Kloake führt.

Gelegentlich stolperte ich auch über simple Logikfehler. Lukas Freund Mahong steigt heimlich ins Kloster ein, um mit Großmeister Gulan zu sprechen, denn so hat Atami es ihm aufgetragen. Ein anderer würde ihm nicht glauben, weil er ein Straßenbengel und ein Dieb ist. Mahong erzählt aber auch, sie hätten von Gulans und Lukas Flucht aus dem Gefängnis erfahren. Wenn also Mahong weiß, dass beide entkommen sind und dass Gulan im Kloster ist, warum weiß er dann nicht, dass auch Luka da ist?
Und wie kommt es, dass Luka trotz seiner Macht des Jin-Gong an einer Mauer scheiterte, die sein Widersacher Yi-Shen ohne diese Macht durchbrechen konnte? Wie kommt es, dass Mahongs kleiner Bruder auf der Zinne der Gefängnismauer sitzen und auf das Gegengift für Atami warten kann? Sind die Wachen, die dort oben patroullieren, denn blind? Abgesehen davon hätte ich als Vorsteher von Lukas Gefängnis mit der Hinrichtung eines so brisanten Gefangenen keine sechs Monate gewartet, ganz gleich, wie überlastet die Hinrichtungskommandos auch sein mögen!

Da Chen hat hier eine ganz eigene Mischung von Abenteuerroman, Fantasy und Cinologie abgeliefert, wobei die beiden Letzteren für mich nicht immer klar zu trennen waren. In jedem Fall ist sie extravagant und ziemlich bunt und auch nicht uninteressant. Ich muss aber gestehen, dass mir die Meister-Li-Romane von Barry Hughart besser gefallen haben. Ich fand sie weniger verwirrend, leichter zu lesen und witziger. Das mag daran liegen, dass Barry Hughart kein Chinese ist.
Für Leute, die sich für China interessieren und vielleicht sogar mehr als oberflächliche Kenntnisse von chinesischer Philosophie und Mythologie besitzen, dürfte der Roman aber möglicherweise weniger verwirrend sein als für mich. Ansonsten könnte es ratsam sein, sich beim Lesen Zeit zu lassen. Trotz der einfachen Sprache ist das Buch nichts für Schnellleser und Überflieger, es sei denn, derjenige fühlt sich im Kulturraum des Hintergrundes schon wie Zuhause. Lesenswert ist es durchaus.

Das Lektorat war in Ordnung. Und auch das Cover hat mir gut gefallen. Eine praktische Idee waren die Drachenklauen und Tigerpranken, die die Kapitelanfänge zieren. Man sieht sie auch von außen, sodass man auch dann seine Seite wiederfindet, wenn das Lesezeichen das Weite gesucht hat. Vorausgesetzt natürlich, man hat am Ende eines Kapitels abgesetzt.

Da Chen stammt aus der chinesischen Provinz, wanderte aber im Alter von 23 Jahren nach Amerika aus. Er lebt mit seiner Familie in New York und arbeitet als Kalligraph und Schriftsteller. Außer „Meister Atami und der kleine Mönch“ erschien von ihm bisher nur ein weiteres Werk unter dem Titel „Die Farben des Berges“, in dem er seine Erinnerungen an China niedergeschrieben hat.

Peace, David – 1974

„Red Riding Quartet“ nennt David Peace seine Tetralogie, die sich um das England der 70er und frühen 80er Jahre dreht. „1974“ ist deren erster Teil, der international viel Beachtung fand und von der Presse als eines der spektakulärsten Debüts der letzten Jahre gefeiert wird. „1974“ ist ein unglaublich harter Brocken – schwer verdaulich einerseits, absolut atemberaubend andererseits. Ein Krimi, der so düster und desillusionierend ist, dass es schwer fällt, Vergleiche zu ziehen.

Der Dezember 1974 ist ein harter Monat für den neuen Gerichtsreporter der Yorkshire Post in Leeds, Edward Dunford. Kaum hat er seinen Job angetreten, stirbt zunächst sein Vater. Doch auch beruflich kommt einiges auf ihn zu: Ein junges Mädchen, Clare Kemplay, wird vermisst gemeldet und wenige Tage später grausam zugerichtet und ermordet aufgefunden.

Dunford recherchiert in dem Fall, knüpft Beziehungen zwischen diesem Mord und zwei weiteren spurlos verschwundenen Mädchen. Er sucht nach Verbindungen zwischen den drei Fällen und sticht mit seinen Nachforschungen in ein Wespennest. Als dann auch noch Dunfords Kollege Barry Gannon bei einem „Autounfall“ ums Leben kommt, steht er plötzlich mitten in einem undurchsichtigen Dickicht aus Korruption und Vertuschung, in das nicht nur die Ermittlungsbehörden verstrickt sind, sondern auch einige hochrangige Persönlichkeiten der Stadt …

Aus der Masse der Kriminalromane sticht David Peace mit seinem Werk deutlich hervor. Bei Peace läuft vieles entgegen der gängigen Klischees. Hier sind die Polizisten die Bösen und die Journalisten die Guten, die ohne Furcht nach der Wahrheit suchen. Zeitlich überschneidet sich der Roman mit einem dunklen Kapitel in der Geschichte Yorkshires. Es war etwa zur gleichen Zeit, als der so genannte Yorkshire Ripper sein Unwesen trieb und vierzehn Frauen ermordete. Fünf Jahre lang lebten die Menschen in Yorkshire in der Furcht vor dem Ripper. Mit dieser Furcht ist auch der im Westen Yorkshires geborene David Peace aufgewachsen, so dass ein Teil des Romans sicherlich auch die Bewältigung dieser Ereignisse beinhaltet.

„1974“ ist ein Roman, wie man ihn so schnell vermutlich nicht wieder zu lesen bekommen wird. Ein |Krimi Noir|, wie er düsterer und beklemmender kaum sein könnte. Vergleiche lassen sich höchstens zu James Ellroy ziehen. Beide Autoren ähneln sich in gewissen Zügen. Beide stricken Geschichten, die ein undurchsichtiges Geflecht von Macht und Korruption, von Gewalt und Brutalität enthalten, und beide ziehen ihren düsteren, schwer durchdringbaren Plot mit einer ähnlichen Sprachgewalt und Faszination auf.

Peaces Stil wirk dabei etwas abgehackt und gewöhnungsbedürftig. Knappster Satzbau, Einwortsätze, eingestreute Songtitel und Schlagzeilen, die nebenbei im Radio laufen und den Geist der Zeit heraufbeschwören, Zitate, die stets wiederholt werden – Peaces sprachliche Mittel erscheinen schlicht, wirken aber umso eindringlicher. Man braucht eine gewisse Einlesezeit, um mit diesem Stil warm zu werden, aber dann beginnt er mit jeder Seite, sich machtvoller zu entfalten. Ähnlich schlicht und knapp, aber gleichzeitig sprachgewaltig wirkt auch James Ellroys [„L.A. Confidential“ 1187 auf mich.

Peace webt eine dichte Atmosphäre und baut einen kontinuierlich aufstrebenden Spannungsbogen auf, der den Leser nägelkauend weiterlesen lässt. Man kommt ab einem bestimmten Punkt nicht mehr von dem Buch los und will, von bösen Vorahnungen geplagt, möglichst bald wissen, wie sich Geschichte und Figuren weiterentwickeln.

Dabei fällt der Einstieg zunächst nicht ganz leicht. Peace verlangt dem Leser ein hohes Maß an Konzentration ab, weniger aufgrund des sprachlichen Stils, sondern mehr aufgrund der großen Mengen auftauchender Namen und Figuren. Gerade in den ersten Kapiteln haut Peace dem Leser die Namen um die Ohren, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Peace treibt die Geschichte in einem geradezu halsbrecherischen Erzähltempo ihrem dunklen Höhepunkt entgegen und nimmt den Leser mit auf eine düstere Achterbahnfahrt. Alles in einen Zusammenhang einzuordnen, fällt dabei nicht immer ganz leicht. Peaces Romangebilde ist eben sehr komplex.

Ganz im Zeichen dieser Komplexität steht auch Peaces Umgang mit Klischees. Er stellt vieles auf den Kopf, vertauscht Gut und Böse und zeichnet kein Schwarzweiß-Gemälde. Auch Edward Dunford, der auf der Suche nach der Wahrheit hinter der Story ist, ist längst kein strahlender Held. Er hat einige unsympathische Züge und behandelt seine Mitmenschen nicht immer gerade nett, was sich besonders an seinem Umgang mit Frauen zeigt. Es gibt keine per Definition rein Guten, so wie es keine irgendwelchen Klischees entsprechenden Bösen gibt. Auch das lässt sich durchaus als Qualitätsmerkmal festhalten, denn es fordert den Leser.

„1974“ ist dabei nicht nur ein Krimi, sondern gleichermaßen eine Gesellschaftsstudie und ein Spiegel seiner Zeit. Mangelnde Moral in gut situierten Kreisen, die Käuflichkeit von so ziemlich jedem und das Interesse der Öffentlichkeit an grausamen Kapitalverbrechen, dessen Halbwertszeit sich nach dem medialen Unterhaltungswert der Meldung richtet.

Das Szenario, das Dunford durch seine Ermittlungen am Ende des Romans entblättert, ist gleichermaßen schockierend und düster. Man ahnt, dass der Antiheld Dunford kein gutes Ende nehmen wird und dass es auch für den Fall an sich kein Happyend geben kann. Alles gipfelt in einem außerordentlich blutigen Finale. Dunford verknüpft die unterschiedlichen Handlungsebenen, zieht die richtigen Schlüsse und steht am Ende vor der grausamen Wahrheit, ohne selbst genau zu wissen, wie er damit umgehen soll. Entsprechend düster, verstörend und bluttriefend fällt das Finale aus, und entsprechend düster ist auch der Abschied von Dunford.

Und ein kleines bisschen ist man am Ende auch froh, dass es vorüber ist, während man gleichzeitig bedauert, dass der Roman zu Ende ist. „1974“ ruft zwiespältige Gefühle hervor und verlangt dem Leser einiges ab. Dennoch blickt man erwartungsfroh nach vorn und wartet ungeduldig auf die Fortsetzung des „Red Riding Quartet“. Peace hat einfach eine packende und faszinierende Art, die zwar etwas anstrengend sein mag, aber eben auch so fesselnd ist, dass man davon nur schwer loskommt.

Kurzum: Preisauszeichnungen und überschwängliches Presselob hat David Peace sich redlich verdient. Sein Debütroman sticht aus der Masse der Kriminalliteratur äußerst positiv hervor. Ian Rankin sieht David Peace als „die Zukunft des Kriminalromans“. Wenn sich das bewahrheiten sollte, sieht die Zukunft des Kriminalromans in der Tat sehr gut aus. Peace weiß zu fesseln, inszeniert einen düsteren Plot und eine beklemmende Gesellschaftsstudie. „1974“ ist nicht nur ein ausgezeichneter Kriminalroman, sondern auch ein Stück Zeitgeschichte. Sprachlich wie inhaltlich ein harter, schwer verdaulicher Brocken, aber dafür einer, der garantiert im Gedächtnis haften bleibt und obendrein Lust auf die weiteren Teile des „Red Riding Quartet“ macht.

Redmond, Patrick – Wunschspiel, Das

England im Jahr 1954: Eigentlich ist es eine Ehre, im elitären Knabeninternat Kirkston Abbey aufgenommen zu werden. Allerdings herrschen dort auch strenge Regeln, Rivalität und eine brutale Hackordnung.

Auch der 14-jährige Jonathan ist hier nicht glücklich. Im Gegensatz zu vielen anderen Jungen stammt er aus eher einfachen Verhältnissen. Ältere Schüler machen sich einen Spaß daraus, ihn herumzustoßen und auch manch ein Lehrer lässt ihn spüren, dass er nicht erwünscht ist. Nur die Freundschaft zu drei Jungen macht die Schulzeit erträglich. Da sind zum einen die Zwillinge Stephen und Michael, die trotz ständiger Streitereien zusammenhalten wie Pech und Schwefel. Und da ist vor allem Nicholas Scott. Nicholas, dank Brille und schmächtiger Statur ebenfalls ein beliebtes Opfer, ist Jonathans engster Vertrauter.

Auch Richard Rokeby, der in ihre Klasse geht, ist ein Außenseiter. Aber im Gegensatz zu den anderen Jungs verzichtet er freiwillig auf Freundschaften. Gutaussehend, hochintelligent und voll zynischen Humors geht er seinen Weg allein. Niemand wagt es ihm zu widersprechen und selbst die Lehrer finden kein Mittel gegen seine beleidigende Höflichkeit. Viele Jungen bewundern ihn wegen seines Mutes und seiner selbstbewussten Ausstrahlung. Gerne wären sie sein Freund – doch Richard hat für alle anderen nur Verachtung übrig.

Umso verblüffter ist Jonathan, als Richard ihm eines Tages im Lateinunterricht aus der Verlegenheit hilft. Ersten zaghaften Gesprächen folgen vereinzelte Treffen, bis sich langsam aber sicher zwischen den beiden eine Freundschaft entwickelt. Jonathan ist stolz darauf, dass ihm alleine Richards Gunst gehört, auch wenn er nicht ganz begreift, warum Richard ausgerechnet ihn erwählt hat. Richard beschützt ihn vor den Angriffen der anderen Jungen und läd ihn sogar in den Ferien zu sich nach Hause ein. Hier beginnt Jonathan zu ahnen, dass sich einige dunkle Geheimnisse in Richards Vergangenheit befinden …

Zurück in der Schule sorgt Richard dafür, dass sich nicht nur Jonathans Feinde, sondern auch seine Freunde immer mehr von ihm abkapseln. Und dann ist da noch dieses seltsame Spiel, das angeblich Wünsche in Erfüllung gehen lässt. Immer tiefer gerät Jonathan in einen Strudel aus Abhängigkeit und Gewalt …

Die ersten dreihundert Seiten des Romans sind wahrlich atemberaubend. Einprägsame Charaktere, eine mitreißende Handlung, lebendige Dialoge und ein flüssiger Schreibstil machen das Buch zu einem „Pageturner“. Diese ersten beiden Drittel lesen sich in einem Rutsch weg, so dass man gar nicht merkt, wie dabei die Zeit vergeht.

Ein großes Plus des Romans sind die überzeugend dargestellten Charaktere. Der Leser ist sofort von der kalten, sterilen Atmosphäre des Internats gefangen genommen und kann nur zu gut Jonathans Einsamkeit dort nachvollziehen. Der junge Protagonist hat keine besonderen, markanten Eigenschaften, aber gerade deswegen passt er auf fast jeden Leser als Identifikationsfigur. Ein liebenswerter, etwas schüchterner, heranwachsener Junge, der sich in einer schwierigen Zeit behaupten muss. Ihm gehören die Symapthien des Lesers. Man muss nicht selber in einem Internat gewesen sein, um die Probleme dort zu verstehen. Jeder Leser wird sich an ähnliche Situationen aus dem eigenen Schülerleben erinnern können und erahnen, dass es den Jungen in Kikston Abbey noch schlimmer ergeht. Sowohl Lehrer als auch Schüler tragen unverhohlenen Standesdünkel nach außen. Jonathans Vater gehört mit seinem Beruf als Bankdirektor schon zur unspektakulären Garde. Wer sich den dominaten Schülern widersetzt, wird entweder zusammengeschlagen oder durch erniedrigenden Rituale gequält. Dazu kommt, dass die zentrale Handlung des Romans nicht in der heutigen Zeit, sondern in den Fünfzigerjahren spielt. Spießbürgertum und Tabus stehen an der Tagesordnung, Homosexualität wird strafrechtlich verfolgt. Es ist eine strenge, kalte Zeit, in der die Jungen leben und in der eine Freundschaft manchmal alles bedeutet – und jeden Preis wert zu sein scheint.

Die zweite zentrale Gestalt des Romans ist natürlich der geheimnisvolle Richard. Obwohl dem Leser von Beginn an klar ist, dass von ihm das Unheil ausgeht, ist er doch gleichzeitig von ihm fasziniert. Richard besitzt einen trockenen, bissigen Humor, der jedem seiner Gegner den Wind aus den Segeln nimmt. Sein Selbstbewustsein und seine lässige Arroganz und vor allem das völlige Fehlen jedweder Anbiederung, sowohl gegenüber anderen Jungen als auch Autoritätspersonen, lassen auch den Leser nicht unberührt. Gleichzeitig fühlt man sogar etwas Sympathie für Richard, als er Jonathan unter seinen Schutz stellt.

Damit hat der Autor einen charakterlichen Volltreffer gelandet: Leser lieben weder die makellosen noch die unsymapthischen Figuren. Richard aber ist ein charmanter Bösewicht, der durch Witz und eine beneidenswerte Souveränität besticht, die ihn unangreifbar macht. Als beispielsweise der angesehene General Collinson eine Rede vor den Schülern hält, kündigt er halb im Scherz an, dass jeder, der etwas Besseres vorhabe, gehen dürfe. Alle lachen, weil diese Bemerkung nicht mehr als eine Floskel ist. Doch Richard schert sich nicht um gute Manieren oder Höflichkeit und verlässt demonstrativ den Saal. Die Lehrer sind aufgebracht, aber da Richard gegen keine feste Regel – sondern nur gegen die Ettikette – verstieß, entgeht er einer Bestrafung.

Für noch mehr Humor als Bewunderung sorgt die Szene, in der Richard es mit dem dümmlich-brutalen George Turner aufnimmt. Als George gerade einen Mitschüler drangsaliert, macht Richard ihm ein Kompliment wegen seiner angeblich schönen Augen. George ist dadurch verwirrter als es jede Beleidigung erreicht hätte. Richard geht noch weiter und fragt in die Klasse, ob jemand etwa der Meinung sei, George habe keinen schönen Augen. Natürlich wagt niemand zu widersprechen. George wird rot, was wiederum Richard laut erwähnt …
Zurück bleiben ein völlig verstörter George Turner und ein amüsierter Leser.

Dieser sowohl bewunderte als auch verachtete Junge wird vor den Augen des Lesers lebendig. Man hört förmlich den lakonischen Tonfall, in dem Richard seine Widersacher zurückweist, man sieht seinen überlegenen Blick und die Kälte in seinen Augen. Man sieht Richard mit Jonathans Augen. Wie ein Ertrinkender klammert sich der Junge an diesen überlegen Freund, der ihm ein nie gekanntes Selbstwertgefühl verleiht. Und gleichzeitig spürt man Jonathans Schaudern auf der Haut, wenn Richards glasiger Blick ins Leere schweift:
„Warum macht er dir solche Angst“, fragt James seinen Schlägerfreund und Stuart antwortet: „Ich weiß nicht, was er tun oder wie weit er gehen würde.“

Man ist hin- und hergerissen zwischen dem Verständnis für Jonathan, dass er sich auf diese gefährliche Freundschaft einlässt, und dem brennenden Wunsch, ihn vor einem Fehler zu bewahren, der sein Leben für immer verändern wird. Richard Rokeby wird für seine Ambivalenz geliebt und gehasst.

Trotz der Dominanz dieser beiden Charaktere sind die restlichen Figuren mehr als nur Staffage. Da ist der allseits beliebte Vertrauensschüler Paul Ellerson, der sich so überraschend das Leben nahm. Nicht nur Jonathan fragt sich, was der Grund gewesen sein mag … Da ist der junge, dynamische Geschichtslehrer Alan Stewart, den ein düsteres Geheimnis umgibt. Da sind die Zwillinge Michael und Stephen, die sich zwischen ihrem Widerwillen gegenüber Richard und ihrer Loyalität zu Jonathan entscheiden müssen. Und da ist Nicholas, dessen Treue zu seinem einstmals besten Freund auf eine harte Probe gestellt wird …

Sie alle verstricken sich in einem unauflösbaren Netz aus Lügen, Hass, Neid und Gewalt, das am Ende zum Tod mehrerer Menschen führen wird.

Die Handlung selber ist vom reinen Plot her zunächst bereits altbekannt: Zwei Außenseiter, die sich zusammentun, und gegenseitige Abhängigkeit sind hier die Schlagworte. Durch die lebendige Darstellung und die überzeugenden Charaktere gelingt es dem Autoren jedoch, den Leser trotz dieses leicht klischeebehafteten Themas bei der Stange zu halten.

Umso unerfreulicher ist dann die übertriebene Wendung, die der Roman nimmt, und die schließlich in einem überzogenen Schluss endet. Meiner Meinung nach hätte die zerstörerische Freundschaft zwischen Richard und Jonathan bereits gereicht, um zu einer Katatstrophe zu führen. Doch stattdessen kommen nach und nach noch übersinnliche Mächte ins Spiel. Zwar subtil angedeutet und immer mit der leisen Option, dass es sich doch um Zufall handelt – aber trotzdem überflüssig. Schade, denn diese Komponente wäre nicht nötig gewesen.

Ebenfalls schade ist das überhastete Ende, bei dem zu viele Dinge fast gleichzeitig geschehen und in Kürze abgehandelt werden. Mehrere Personen sterben in rascher Abfolge, so dass der Leser die Ereignisse kaum verdauen kann.

Unterm Strich bleibt dem Leser ein zu großen Teilen brillanter Thriller über Freundschaften und tödliche Versuchungen, wobei das Ende hinter den Erwartungen des furiosen ersten Teils zurückbleibt.

_Fazit:_ „Das Wunschspiel“ bietet dem Leser in den ersten zwei Dritteln atemberaubende Spannung, um dann leider etwas abzuflachen und mit einem leicht überzogenen Ende auszuklingen. Lebendige Dialoge, der flüssige Stil, sehr gut gezeichnete Charaktere und eine spannende Handlung sorgen für gute Unterhaltung, die nur durch den Schluss und die unnötige übersinnliche Komponente geschmälert wird. Trotz der leichten Schwächen ein absolut empfehlenswerter Thriller über zerstörerische Freundschaft und Abhängigkeiten und ein beeindruckendes Romandebüt.

_Patrick Redmond_ wurde 1966 geboren. Bereits zu Schulzeiten wollte er Schriftsteller werden, doch auf Drängen seines Vaters schlug er eine juristische Laufbahn ein. Sein Debütroman „Das Wunschspiel“ stürmte auf Anhieb die Bestsellerlisten. Inzwischen erschienen noch „Der Schützling“ und „Der Musterknabe“.

Huff, Tanya – Hotel Elysium – Die Chroniken der Hüter I

Ein Sturm zwingt die junge Hüterin Claire Hansen und ihren nicht mehr ganz so jungen, schwarzweißen Kater Austin, Zuflucht im Hotel Elysium zu suchen, einer äußerst heruntergekommenen Absteige in Kingston. Am nächsten Morgen stellt Claire zu ihrem Entsetzen fest, dass der Besitzer Augustus Smythe sich aus dem Staub gemacht und ihr das komplette Hotel überschrieben hat, mit der einzigen Anweisung, bloß nicht Zimmer sechs zu betreten. Vielleicht hätte sie sich an die Anweisung halten sollen, denn als sie Zimmer sechs von ihrem neuen Angestellten Dean McIssac öffnen lässt, finden sie dort ausgerechnet eine schlafende, böse Hüterin.

Hüter sind in der Lage, Magie zu nutzen, indem sie Energie von außerhalb unserer Realität abziehen. Zwischen dieser Energiequelle, die Magie möglich macht, und der Realität liegt eine Barriere, die die Energie daran hindert, unkontrolliert einzusickern und schlimme Schäden anzurichten. Manchmal entstehen Löcher in dieser Barriere, durch Unfälle oder auch in böser Absicht willentlich erzeugt. Hüter haben die Aufgabe, diese Löcher wieder zu schließen oder zumindest die verursachten Schäden so klein wie möglich zu halten. Bei den Stellen, die nicht geschlossen werden können, weil die Löcher zu groß geworden sind, müssen die Hüter sie mit ihrem Sein versiegeln. Sie sind dann für den Rest ihres Lebens an diesen Ort gebunden.

Als sich vor mehr als vierzig Jahren im Heizungskeller des Hotels ein Loch öffnete und als Zugang zur Hölle manifestierte, entschied sich die damalige Hüterin, die nun leicht zugängliche Energie für ihre Zwecke zu nutzen. Nur mit vereinten Kräften konnten zwei andere Hüter sie daran hindern. Da sie sie nicht töten wollten und sie auch nicht in der Lage waren, das Loch im Heizungskeller zu schließen, schickten sie sie mit einem „Dornröschen-Zauber“ schlafen. Nun werden ihre Kräfte dazu genutzt, das Loch einzudämmen und daran zu hindern, sich weiter auszubreiten, während die Energien dieses Höllenzugangs dazu genutzt werden, sie in Stasis zu halten. Ein sehr empfindliches Gleichgewicht, das einer ständigen Beaufsichtigung bedarf.

Augustus Smythe war lange Zeit mit der Aufgabe betraut gewesen, den Zugang zur Hölle und die schlafende Hüterin zu überwachen, und darüber schon ziemlich merkwürdig geworden. Deshalb ergriff er natürlich schnell die Gelegenheit zu verschwinden, als er in Claire eine Hüterin erkannte. Claire fühlt sich jedoch noch viel zu jung, um schon in den Ruhestand zu gehen und für den Rest ihres Lebens dieses Loch zu beaufsichtigen, geschweige denn das Hotel zu führen. Also versucht sie das Unmögliche, einen Weg zu finden, das Loch zu schließen und dabei gleichzeitig die böse Hüterin dauerhaft unschädlich zu machen.

Rund um die spannende Haupthandlung entfaltet sich eine absurde Welt, in der alles möglich scheint. So führt der Fahrstuhl des Hotels auf jeder Etage in verschiedene Dimensionen und Wirklichkeiten, unter anderem auch auf die Brücke der Enterprise. Außerdem scheint das Hotel eine Reihe sehr merkwürdiger Gäste anzuziehen, Werwölfe, Vampire und Geister oder auch die abgetakelten Götter des griechischen Pantheons, die wie Rentner von Hermes, dem Götterboten, in einem Bus durch die Gegend gefahren werden. Was jedoch besonders Spaß macht, ist der sprechende Kater Austin; mit jedem Satz merkt man, dass die Autorin schon länger fest unter der Pfote steht. Der Kater liefert sich herrliche Wortgefechte mit seiner Besitzerin Claire, wobei schon nach wenigen Seiten klar wird, wer hier wen besitzt.

Bislang in Deutschland vor allem durch die eher dem Horror zuzurechnende „Chronik des Blutes“ um die Privatdetektivin Vicki Nelson und den Romane schreibenden Vampir Henry Fitzroy bekannt geworden, gibt Tanya Huff mit „Hotel Elysium“, dem ersten Band der „Chronik der Hüter“, einen hervorragenden Einstand in die Welt der humoristischen Fantasy. „Hotel Elysium“ macht Lust auf mehr und so ist es nur gut, dass die nächsten beiden Teile „Auf Teufel komm raus“ und „Hüte sich, wer kann“ schon Ende dieses Jahres ebenfalls im Verlag |Feder & Schwert| erscheinen.

|Tanya Huff bei Buchwurm.info:|
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Tosches, Nick – Dino. Rat-Pack, die Mafia und der Traum vom großen Glück

Die coolen Crooner sind wieder da; Steven Soderbergh ließ im Kino mit „Ocean’s Eleven“ & „Ocean’s Twelve“ das „Ratten-Pack“ aus dem Las Vegas der 50er und 60er Jahre neu erstehen, und Robby Williams (der arme Tropf) hält sich für die Inkarnation von Frank Sinatra. Da kann es nicht ausbleiben, dass auch das Interesse am vielleicht rätselhaftesten Bombast-Schmalzer des 20. Jahrhunderts neu erwacht: Dino Crocetti alias Dean Martin (1917-1995), Sänger, Schauspieler, TV-Star, Spieler, Schwerenöter und Trinker, Macho und Mimose – die lebende Parodie auf den Amerikanischen Traum, Idol für Millionen und eine menschliche Sphinx, deren Mysterien – falls es denn welche gab – weder die engsten Freunde noch die eigene Familie je zu lösen vermochten.

Nick Tosches unternahm den bisher wohl ambitioniertesten Versuch, dieser mysteriösen Persönlichkeit auf die Spur zu kommen. Schon 1992, also noch zu Lebzeiten Martins, begann er zu recherchieren. Martin selbst verweigerte Tosches wie noch jedem Biografen jegliche Zusammenarbeit; wie dieser später entdeckte, war es dazu ohnehin zu spät: Zu den vielen Tragödien, die Dean Martin in seinem Leben trafen, ist die Demenz der letzten Jahre wohl die schrecklichste. Sterben würde er schließlich an Lungenkrebs, und nur dieser Kampf fand seinen Niederschlag in der Presse. Dass der große Dean Martin da schon nicht mehr wusste, wer er war, blieb weitgehend unerwähnt – ein ungewöhnliches Zugeständnis der Medien, das Tosches dezent aber deutlich enthüllt.

Ansonsten hält Tosches nichts von falscher Heldenverehrung. „Dino“ zeichnet das keineswegs schmeichelhafte Bild eines mit vielen Talenten gesegneten, aber nicht gerade liebenswerten, weil verschlossenen und egoistischen, an den Dingen um ihn herum sträflich uninteressierten Mannes, der sogar eine recht ausgeprägte dunkle Seite besaß. Wie wir jedoch erfahren, war der Einsatz der Ellenbogen unverzichtbar für einen Mann, dem der Erfolg als Künstler kaum in die Wiege gelegt wurde. Tosches hat fabelhafte Kärrnerarbeit geleistet und Martins frühe Jahre in der Industriestadt Steubenville, Ohio, akribisch nachgezeichnet. Der spätere Superstar stammte aus einfachen Verhältnissen. Daraus hat er nie ein Geheimnis gemacht oder sich gar dessen geschämt, aber er hat auch nur wenige Worte darüber verloren. Tosches hatte das Glück des Tüchtigen: Er fand zahlreiche Zeitgenossen, die Aufschlussreiches über Dean Martins frühe Jahre zu erzählen wussten. Sogar die europäischen Ursprünge der italienischen Einwandererfamilie Crocetti in den kargen Abruzzen konnte er offen legen.

Nie beschränkt sich Tosches auf die simple Nacherzählung von Fakten. Er fügt sie stets in den historischen Kontext ein. So erleben wir die Crocettis nicht als singuläre Reisende ins Gelobte Land Amerika, sondern als Körnchen in dem Strom, der sich im späten 19. Jahrhundert aus Europa über den Atlantik gen Westen ergießt. Dass Dean Martins Leben so verlief, wie es quasi verlaufen musste, ist eine Folge von Ereignissen, die auf den ersten Blick mit ihm als Person gar nichts zu tun haben. Tosches Verdienst ist es, die unterschwelligen Verbindungen erkannt und aufgedeckt zu haben. Das betrifft Martins tiefe Verwurzelung in der italienischen Kultur seiner Vorfahren, die ihn stärker prägte als bisher bekannt war. Integraler Bestandteil dieser Kultur waren aber auch Martins Verbindungen zum organisierten Verbrechen, die natürlich das Interesse des heutigen Lesers ganz besonders erregen. Während sein Kumpel Frank Sinatra entsprechenden Nachforschungen zeitlebens mit einen Stall gut dotierter und angriffslustiger Juristen begegnete, legte Martin Tosches keine Steine in den Weg. So recherchierte der Verfasser praktisch ungehindert und rekonstruierte mit bisher nicht gekannter Eindringlichkeit die Rolle der Mafia in der Unterhaltungsindustrie der USA.

Dean Martins Kontakte zum organisierten Verbrechen gingen schon auf seine Jugendjahre in Steubenville zurück, das sich in Tosches Rückschau als wahres Mekka der Kriminalität entpuppt. Wie wenig Martin mit dem daueralkoholisierten Bruder Leichtfuß gemein hatte, den er später so erfolgreich seinem Publikum vorgaukelte, lässt sich schon daraus folgern, dass er zwar mit den Gangstern von Steubenville gut Freund war, aber niemals mit dem Gesetz in Konflikt kam: Dino Crocetti wusste stets sehr genau, was gut für Dean Martin war; während seine Jugendfreunde ihr Leben als arme Schlucker beschlossen, die sich wehmütig daran erinnerten, wie sie ihre Tage einst mit infantilen Großmannsträumen vertaten, starb ihr Kumpel zwar unglücklich, aber immerhin reich.

„Dino“ ist ein mit Fakten, Geschichten und Anekdoten überreich gefülltes Horn, das über die gesamte Distanz von immerhin 700 Seiten jederzeit unterhält. Das heißt nicht, dass es nichts zu bemängeln gäbe. So kommt auffällig oft dem Biografen Tosches, der virtuos die Vergangenheit wieder aufleben lässt, der Schriftsteller Tosches – dem wir mit „Trinities“ (1994, dt. „Die Meister des Bösen“) einen der besten zeitgenössischen Romane um die Mafia überhaupt verdanken – in die Quere. Letzterer kann einfach nicht widerstehen, Wissen durch Fantasie zu ersetzen. Es lässt sich nun einmal nicht leugnen, dass es auch dem unermüdlichen Tosches misslungen ist, den emotionalen Panzer Dean Martins zu „knacken“. Das ist jedoch kein Freibrief dafür, die Lücken mit hypothetischen Selbstreflexionen eines imaginären Dino Crocetti zu füllen – ganz besonders dann, wenn der Verfasser mehr als einmal anklingen lässt, dass dieser zur Selbstreflexion womöglich gar nicht fähig war. Aber Martin/Crocetti muss einfach Tosches‘ Vorstellungen eines von dämonischen Begierden tragisch Getriebenen und schließlich Gescheiterten erfüllen; das sind die Menschen, die ihn interessieren und von denen er meint zu wissen, wie sie funktionieren. Wir finden diese für Tosches typischen, literarisch eindrucksvollen, aber sachlich fragwürdigen Sentenzen auch in seinen Biografien über den Musiker Jerry Lee Lewis oder den Boxer Sonny Liston; „Hellfire“ bzw. „Der Teufel und Sonny Liston“ heißt es da dräuend und verheißungsvoll schon im Titel – Theaterdonner und faule Tricks für die Armen im Geiste.

In dieselbe Kerbe schlägt Tosches, wenn er hier und da der Verlockung erliegt, die Vergangenheit so zu inszenieren, dass sie seinem pessimistischen Weltbild entspricht. Dabei stören weniger die unverhohlenen Wertungen – er verabscheut sichtlich aus tiefem Herzen die Kennedys oder macht sich über Frank Sinatra und Ronald Reagan lustig -, denn sie lassen sich als |vox toschesi| vom Leser klar erkennen. Schwieriger fällt dies, wenn der Verfasser seinem Hang nachgibt, die Trivialisierung der US-Gesellschaft und -Kultur seit dem II. Weltkrieg zu geißeln. Tosches gilt als Kritiker des American Way of Live – und zwar als ebenso wortgewaltiger wie guter, was ihn besonders der Intelligentia Europas zum Lieblingskind werden ließ. Aber er hat halt auch einen Hang zum Prediger und redet gern in Zungen; machtvoll und ungedämmt fließt der Strom seiner Worte, wenn es gilt, die Boheme und Künstlerszene der Prohibitionszeit oder den Wahnsinn Las Vegas zu beschwören. Schwere Jungs und leichte Mädchen, Sex & Schnaps & nein, noch nicht Rock ’n‘ Roll, aber Schlagerschmalz rund um die Uhr, gutes Geld und schlechter Geschmack, das Leben ein pausen- und bedeutungsloser Rausch von Erfolg und Ruhm – ohne es zu merken, reiht der Verfasser Klischee an Klischee. Schlimm ist das in fader Rührseligkeit versickernde Finale, aber noch deutlicher verraten ihn die Fußnoten (Tosches liebt Abschweifungen): Das rührselige, erstaunlich distanzlos vorgetragene Klagelied von Marilyn Monroe, dem armen, kleinen, von den Männern/den Kennedys/der Mafia/dem FBI/den Außerirdischen verratenen & verkauften Mädchen, hat man z. B. ein wenig zu oft gehört, um es noch hören oder gar ernst nehmen zu können.

Der Schaden hält sich indes in Grenzen, weil Tosches immer wieder rasch auf den Boden der Tatsachen zurückfindet. Dort leistet er Großes, bringt völlig Neues ans Tageslicht oder entlarvt alte, lieb gewonnene Legenden. Darin ist Tosches ein wahrer Meister. Ob Jerry Lewis, Dean Martins Partner der frühen, turbulenten Jahre, wohl ahnte, wie ihm geschehen würde, als er seinem Gesprächspartner Rede und Antwort stand? Tosches hörte ihm und seinen vielen anderen Gesprächspartnern sehr genau zu – und überprüfte wie jeder wirkliche gute Biograf oder Historiker das Notierte mit Hilfe anderer Quellen. Dabei ergaben sich viel sagenden Diskrepanzen; man liest es mit Vergnügen (und Schadenfreude) und lernt viel darüber, wie Stars „gemacht“ werden.

Bleibt abschließend die Frage, ob denn die zehnjährige Differenz zwischen Original und Übersetzung dem Werk nicht Schaden zufügt. Die Antwort ist nein; ohne das eingangs erwähnte Crooner-Revival wäre dem deutschen Leser dieses bei allen Fehlern fabelhafte Werk sicherlich gänzlich vorenthalten geblieben. Außerdem gibt es Martins Leben nach 1992 rein gar nichts mehr hinzuzufügen; da reicht tatsächlich ein lakonisch dem Anhang eingeflickter Hinweis: „Dean Martin starb am 25. Dezember 1995“. Wie wir nun wissen, war er da eigentlich schon mindestens zehn Jahre tot.

Hillerman, Tony – Dunkle Kanäle

„Dunkle Kanäle“ ist das aktuellste Buch aus der Feder des Erfolgsautors Tony Hillerman, der mich in der Vergangenheit bereits mit einigen Büchern begeistern konnte. Daran sollte sich mit dem neuesten Taschenbuchroman natürlich nichts ändern, auch wenn es dieses Mal etwas länger gedauert hat, bis ich mich mit dem Inhalt anfreunden konnte, weil Hillerman seinen Erzählstil und die gesamten Rahmenbedingungen schon ein wenig an die Moderne angepasst hat. Der Spannung schadet das aber natürlich nicht, wenngleich man dieses Mal ungewöhnlich schnell hinter die kriminellen Machenschaften blickt, die den etatmäßigen Cops Manuelito, Leaphorn und Chee das Leben schwer machen.

_Story:_

Ganze 176 Milliarden Dollar Abgaben für indianische Bodenschätze sind spurlos verschwunden, und keiner hat auch nur leiseste Ahnung davon, wie das für einen Treuhandfonds vorgesehene Geld abhanden kommen konnte. Die CIA setzt deshalb einen Agenten unter falschem Namen auf den Vorfall an, und der scheint auch schnell erste Erfolge bei seinen Ermittlungen zu erzielen – bis er kurz darauf von zwei Unbekannten aus dem Weg geräumt wird.

Das ruft den zur Border Patrol gewechselten weiblichen Officer Manuelito auf den Plan, auch wenn sie erst einmal in ganz anderer Sache ermittelt. Sie entdeckt nämlich, dass auf einem abgesperrten Gebiet, auf dem unter anderem nicht mehr verwendete Pipelines verlaufen, plötzlich wieder Aufbauarbeiten beginnen, kann sich aber erst nicht den genauen Zweck hinter dieser seltsamen Angelegenheit ausmalen. Und einen Zusammenhang zum Fund der Leiche des Agenten sieht Officer Manuelito auch nicht, bis sie dann Kontakt zu ihren ehemaligen Kollegen Jim Chee und Joe Leaphorn aufnimmt, die ebenfalls von den mysteriösen Vorfällen erfahren haben und sich infolgedessen auf den Weg ins Grenzgebiet machen.

Inzwischen nehmen die Ereignisse ihren Lauf. Bernie sieht sich mit einigen recht seltsamen Kontrollen seitens ihres Chefs konfrontiert, Chee gerät in Sorge, weil eine Schmugglerbande in Mexiko ein Foto von Bernie Manuelito bekommen hat, und während die Polizisten sich noch die Köpfe zerbrechen, was auf der abgesperrten Tuttle Ranch passiert, plant eine einflussreiche Gangsterbande einen riesigen Coup …

_Bewertung:_

Hillerman hat auch in diesem Buch an seinem recht verzwickten Stil festgehalten und lässt wiederum mehrere Handlungsstränge parallel und zunächst unabhängig voneinander ablaufen. So erzählt er von den Ereignissen an der mexikanischen Grenze, gibt einen Einblick in korrupte Staatsgeschäfte, beschreibt das innige Verhältnis zwischen Chee und Manuelito, auch wenn die beiden nicht in der Lage sind, ihre Gefühle füreinander auszusprechen, und lässt nebenbei auch wieder den schon länger berenteten Kommissar Leaphorn zu alter Form auflaufen. Gut gemacht, keine Frage, und dennoch ist die Geschichte dieses Mal schon weit im Voraus vorhersehbar oder zumindets in groben Zügen erahnbar, auch wenn Hillerman sich bis zum Ende noch einige vollkommen unerwartete Überraschungen aufgespart hat.

Das Glänzende an diesem Buch sind aber einmal mehr die drei Hauptdarsteller, auch wenn Joe Leaphorn hier nicht mehr ganz so zum Zuge kommt wie in vorangegangenen Geschichten. Mir gefällt vor allem die Rolle des dickköpfigen Cops Jim Chee, vielleicht aber auch, weil ich hier durchaus eigene Charakterzüge wiederentdecke. Auch die herzliche, stellenweise aber auch etwas tollpatschige Bernie Manuelito ist prima dargestellt, mit sämtlichen Stärken und Schwächen, die man auch einem Cop zugestehen muss. Besonders zum Schluss brilliert sie noch mit einem fabelhaften Charakterzug, zu dem ich aber an dieser Stelle nichts verraten möchte.

Zur Gesamtgeschichte sollte noch einmal kurz der etwas modernere Touch der Handlung erläutert werden. Der 11. September ist beispielsweise an manchen Stellen präsent, das neue Medienzeitalter blickt auch manchmal durch, aber auch die Wortwahl von Tony Hillerman tendiert sehr oft ins 21. Jahrhundert. Das soll aber nicht als Abschreckung verstanden werden, denn stilistisch hat sich im Grunde genommen nichts verändert, „Dunkle Kanäle“ ist also auch ein „echter Hillerman“.

Mit den Hillerman-Storys Vertraute sind übrigens klar im Vorteil, denn nicht selten gewährt der Autor Rückblicke in vergangene Bücher, wobei der davor erschienene Roman [„Das goldene Kalb“ 1429 speziell im Bezug auf die Beziehung zwischen Manuelito und Chee immer wieder ins Gedächtnis gerufen wird. Voraussetzung für das Verständnis der Handlung sind diese Geschichten aber dennoch nicht.

_Fazit:_

Zweifellos ist es Tony Hillerman wieder gelungen, eine packende und spannende Geschichte zu erzählen, in der er zeigt, dass er trotz seiner langjährigen Erfahrung als Schriftsteller mit der Zeit geht und vor modernen Elementen nicht Halt macht. Das macht ihn einerseits unberechenbarer, zweitens aber auch sympathischer, als Letztes und Wichtigstes aber auch glaubhafter in seinen Ausführungen. Nicht zuletzt deswegen kann ich „Dunkle Kanäle“ daher auch wieder nur weiterempfehlen. Oder anders gesagt: Der Meister des Ethno-Thrillers hat wieder zugeschlagen.

José Giovanni – Das Loch

giovanni-loch-cover-kleinSechs Männer in einer Gefängniszelle. Alle haben sie nur einen Gedanken: hinaus! Sie schmieden einen bemerkenswerten Plan, der ihnen die Freiheit bringen soll. Minuziös und die stets misstrauischen Wärter im Nacken setzen sie ihn um. Doch unter ihnen befindet sich ein Verräter … – Ungemein spannender, auch kongenial verfilmter Krimiklassiker aus Frankreich, der seine besondere Eindringlichkeit dem einschlägigen „Fachwissen“ des Verfassers verdankt, der selbst viele Jahre einsitzen musste und die Gefängniswelt als Mikrokosmos mit ureigenen Regeln beschreibt.
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H. G. Wells – Krieg der Welten

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