Andreas Brandhorst – Diamant (Kantaki 1)

Mit dem Kantaki-Universum hat Andreas Brandhorst eine neue Space-Opera begonnen, die ihren Namen (nach modernem Verständnis) wirklich verdient.

Die Menschheit hat sich in einem Spiralarm der Milchstraße ausgebreitet und viele Welten besiedelt, was nur durch überlichtschnelle Raumfahrt möglich ist. In dieser Zeit sind nur zwei Varianten für diese Art der Fortbewegung bekannt bzw. können verwirklicht werden: Die Sprungschiffe der Horgh reißen das vierdimensionale Gefüge auf und überspringen die Distanz gewaltsam. Dabei entstehen brutale Schockwellen, die unverträglich für das menschliche Nervensystem sind. Die Kantaki dagegen setzen eine Gabe ein, durch die übergeordnete Strukturen des Plurials außerhalb unseres Universums erfasst werden können – ihre Piloten erkennen im Transraum zwischen den alles verbindenden Fäden jene, die das Schiff sicher an das gewünschte Ziel führen.

Noch ist die Menschheit nicht in der Lage, eigenständige Interstellarreisen zu unternehmen. Seit tausenden von Jahren bieten die Kantaki fortgeschrittenen Zivilisationen ihre Fährdienste an, gegen variable Bezahlung. Sie sind sehr feinfühlige, weise und tiefsinnige Geschöpfe, die auch mal den ungewöhnlichen Preis einer ehrlichen Träne von einem Heuchler und Betrüger für den Transfer fordern.

Die Kantaki leben und handeln nach dem Sakralen Kodex. Hierbei handelt es sich nicht um eine Religion, sondern um eine ständig im Fluss befindliche Weisheit, die die Kantaki aus ihren Meditationen im Plurial gewinnen. Ihre grundlegenden Erkenntnisse des Lebens fassen die Entwicklung des Kosmos in mehrere Stufen zusammen:

1. Die Ära der Geburt
2. Die Ära des Wachstums
3. Die Ära der Reife
4. Die Ära des Verstehens
5. Die Ära der Vergeistigung, mit der sich der Zyklus schließt: Der Materie gewordene Geist kehrt zur Sphäre des Geistigen zurück.

Der Sakrale Kodex hat ein hoch gestecktes Ziel: Die Ära des Verstehens zu verlängern. Für die Kantaki steht der Kodex über allen anderen Belangen. Verstößt eine Person oder ein Volk dagegen, verweigern sie den Betreffenden jegliche Dienste – was Isolation bedeutet. Ein schwer wiegendes Verbrechen stellt die Manipulation der Zeit dar. Zwar stehen die Kantaki (durch ihre eigentümlichen Schiffe und ihre geistigen Fähigkeiten) weitgehend außerhalb des normalen Zeitablaufs, haben also eine sehr hohe Lebenserwartung – aber Manipulationen, also Sprünge in der Zeit oder überlichtschnelle Raumfahrt mit ihrer Hilfe, gefährden den Sakralen Kodex. Deshalb kam es zu einem tausendjährigen Krieg gegen die Temporalen, die schließlich bezwungen und isoliert werden konnten.

Valdorian, der Sohn eines mächtigen Wirtschaftsmagnaten, findet die Liebe seines Lebens in Lidia, einer jungen Frau aus der einfachen Gesellschaft. Er bietet ihr ein Leben unbeschränkten Reichtums und Macht an seiner Seite, doch ihr sehnlichster Wunsch ist die Ausbildung zu einer Kantaki-Pilotin. Sie hat die Gabe und den Willen, und selbst Valdorians fürstliches Geschenk eines kognitiven Kristalls, dessen Gegenpart er behält, macht sie nicht schwanken. So trennen sich die Wege der beiden schon in ihrer Jugend – Lidia nimmt den Pilotennamen „Diamant“ an und lebt außerhalb des „normalen“ Zeitablaufs, Valdorian dagegen übernimmt die Herrschaft über das Wirtschaftsimperium und altert. Kurz vor seinem Tod versucht er, Diamant über die Kristalle zu beeinflussen, um sich in die Kantaki-Welt und damit sein Leben zu retten. Ein verzweifelter Wettlauf gegen die Zeit beginnt, während die Temporalen ihr Gefängnis in der Zeit zu überwinden trachten und über den einen kognitiven Kristall einen wirkungsvollen Handlanger in Valdorian haben, einen Schlüssel zu neuem Einfluss …

Die Gesellschaft der von Brandhorst entworfenen Zukunft ist eine ziemlich deutliche Extrapolation unserer kapitalistischen Weltanschauung. Aus den Bedürfnissen der interstellaren Menschen und den Ansprüchen der Kantaki für ihre Dienste lässt Brandhorst eine wirtschaftlich kontrollierte Politik entstehen, die sich schließlich in zwei mächtigen konkurrierenden Zusammenschlüssen verschiedenster Gesellschaften verfestigt. Das Konsortium mit Valdorian an der Spitze beherrscht den größeren Teil der von Menschen besiedelten Galaxis und streckt nun die Finger nach der Allianz aus, ihrem Gegner. Der persönliche Konflikt Valdorians, sein hohes Alter und seine unerfüllte Liebe werden in dieser Zeit zum beherrschenden Faktor seiner Handlungen. Er entfesselt den Krieg mit der Allianz, sein Interesse gilt aber nur seinem privaten Ziel: Diamant zu finden.

Valdorians Charakterentwicklung ist fließend und nachvollziehbar, auch wenn man sich nicht so schnell mit seinen Maßnahmen abfinden kann. Diamant bringt es auf den Punkt, als sie Valdorian rücksichtslosen Egoismus vorwirft. Die Perspektive wechselt regelmäßig zwischen Diamant und Valdorian, so dass hier beide Entwicklungen im Vergleich stehen. Mit Einblick in Valdorians Gedanken wird klar, dass er sich keines Fehlers und vor allem nicht seiner Einstellung dem Leben gegenüber bewusst ist. Für ihn zählt nur die Macht, das „Schachspiel des Lebens“ von außen zu kontrollieren, keine Figur des Schachbretts zu sein. Und so entwickelt sich beim Leser ein gewisses Mitgefühl, als es als Folge vieler Resurrektionen zur genetischen Destabilisierung kommt und Valdorian unglaublich schnell altert. Jetzt tritt erst recht alles andere in den Hintergrund, und doch kommen manchmal Gedanken an die Oberfläche, die Sympathie wecken: Er bemerkt, dass sein Sekretär ein Mensch mit Gefühlen und einer Familie ist und schämt sich, weil er ihn und seine Fähigkeiten stets benutzt hat wie einen Gegenstand.

Diamants Geschichte ist ebenso gut dargestellt. Sie studierte das verschwundene Volk der außerirdischen Xurr, die mit ihren lebenden Raumschiffen einen dritten Weg des Überlichtflugs gefunden hatten, ihre Geheimnisse jedoch mit in die Vergessenheit nahmen. Mit Hilfe ihres erweiterten Lebens außerhalb des Zeitstroms, als Kantaki-Pilotin, sieht sie die Möglichkeit, viele Wunder zu sehen und viel zu lernen. In Valdorian sieht sie einen Mann, der von der Gesellschaft und vor allem von seinem Vater fehlgeleitet wird. Zeitweise hofft sie auf den individuellen Valdorian, denn sie erkennt manchmal einen anderen Menschen in ihm. Schließlich muss sie sich entscheiden, und ihr tragischer Lebenslauf nimmt seinen Gang: Während sie außerhalb der Zeit steht und jung bleibt, gehen die Veränderungen der Welt weiter, Freunde sterben – ihre Einsamkeit nimmt mit jedem Jahr zu. Normalerweise hat ein menschlicher Pilot einen Partner, einen Konfident. Diese Möglichkeit lehnte Valdorian ab, doch durch seine Manipulationen mit dem Kristall kann Diamant nicht endgültig loslassen und verschließt sich neuen Bekanntschaften.

Brandhorst hat eine schlüssige Welt geschaffen, interessant und voller Geheimnisse, die auf ihre Lüftung warten. Die Fremdartigkeit der Kantaki zeichnet er durch ihre Weltanschauung; ihr Aussehen ist dabei nebensächlich und beschränkt sich auf wenige Andeutungen. Die anderen Außerirdischen, die Akuhashi oder Horgh, erhalten in diesem ersten Band kaum Farbe, sie bleiben Randfiguren. Eindrucksvoll gestaltet Brandhorst dieses Universum und ermöglicht dem Leser den Zutritt, denn die Geschichte um Valdorian und Diamant bietet verschiedene Blickwinkel auf die Welt und die Philosophien. Wenn der Sakrale Kodex manchmal zu abgehoben erscheint, drückt von der anderen Seite die kalte, reale Macht der Wirtschaftspolitik. Diamants Begeisterung findet ihre Berechtigung in den Erlebnissen, den Geheimnissen des Plurials, sie versteht nicht intellektuell, wie die Kantaki ihren Kodex leben, sondern durch Gefühle und ihre Erfahrungen im Transraum und im direkten Kontakt mit den Kantaki. Valdorian, der keinen Einblick in diese Ebene hat, verweigert sich auch das Verständnis für die Zusammenhänge, so dass die tragische Trennung der beiden unausweichlich ist. Und trotz Valdorians egozentrischem Blick bangt der Leser mit ihm, denn seine Gegner gehen auch nicht gerade zimperlich vor.

„Diamant“ ist der Auftakt einer Reihe von Romanen, die Brandhorst im Kantaki-Universum spielen lassen will. Anscheinend wird es eine zusammenhängende Geschichte, denn das Ende, das durchaus für diesen Band befriedigend wirkt, lässt deutlich den roten Faden in der Luft hängen – ich bin gespannt auf „Metamorph“, der im Januar erscheint. Brandhorst schafft es trotz des offensichtlichen Seriencharakters, einen in sich schlüssigen Roman zu schreiben und zwischen die spannenden Ereignisse unauffällig Details des Universums einzuflechten, um den Boden für die kommenden Geschichten zu bereiten. Einige Wiederholungen im Text, die Erklärungen für verschiedene Aspekte (meist für das Universum) lieferten, habe ich als störend empfunden. Hier hätte man etwas straffer schreiben oder den Rotstift anlegen sollen. Insgesamt bietet der Roman gute Unterhaltung und entwickelt faszinierende Möglichkeiten für die Fantasie.

Über den Autor

Andreas Brandhorst wurde 1956 in Norddeutschland geboren und schrieb bereits früh für deutsche Verlage. Zuletzt arbeitete er hauptsächlich als Übersetzer (zum Beispiel für „Star Wars“-Romane), um sich und seiner Familie das Leben zu finanzieren. Mit dem Auszug seiner Kinder erhielt er wieder den Freiraum, den er für die Romanarbeit benötigt. Er lebt und arbeitet in Norditalien; mit „Diamant“ startet er eine Reihe von Romanen, die im Kantaki-Universum angesiedelt sein sollen.

Der Autor vergibt: (4/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (5 Stimmen, Durchschnitt: 1,00 von 5)

Peter Millar – Schwarzer Winter

Das geschieht:

Theresa „Therry“ Moon, pflichtbewusste Nachwuchs-Reporterin der „Oxford Post“, kennt die inoffiziellen Absprachen und Mauscheleien, mit denen die örtliche Prominenz in Politik und Wirtschaft dafür sorgt, dass gutes Geld nicht an schafgleiche Bürger oder gar an das Pack der Armen und Chancenlosen verschwendet wird. Besonderes Augenmerk richtet Therry auf den windigen Bauunternehmer Geoffrey Martindale. Der lässt gerade ein ganzes Stadtviertel neu aus dem Boden stampfen. „Nether Ditchford“ soll die Siedlung heißen, eine Erinnerung an das verschwundene Dorf, das hier im Mittelalter stand. Dieser Auftrag ist lukrativ, Martindale skrupellos und aus seiner Sicht über das kleinliche Gesetz erhaben. Außerdem hat er sich sehr weit aus dem Fenster gelehnt; scheitert das Projekt, ist Martindale erledigt.

Doch Seltsames geht vor in Nether Ditchford. Obdachlose und Landstreicher werden aufgegriffen, die Symptome einer mysteriösen Krankheit zeigen, die sie grässlich verenden lässt. Man könnte meinen, sie seien der Pest zum Opfer gefallen, aber die ist in Europa schon lange ausgerottet. Der junge Assistenzarzt Rajiv Mahendra kennt die Pest aus seiner indischen Heimat, und der US-amerikanische Student Daniel Warren ist bei seinen Archivstudien auf eine Pfarrchronik aus Nether Ditchford gestoßen, in der geschildert wird, wie Anno 1349 praktisch die gesamte Bevölkerung an der Pest starb und in Massengräbern beigesetzt wurde.

Offenbar gibt es eine unheilvolle Verkettung zwischen den Todesfällen von einst und jetzt. Rajiv und Daniel, zu denen rasch Therry stößt, gehen der Frage nach, ob Martindale buchstäblich die Büchse der Pandora geöffnet hat, dies aber nun unterdrückt, um sein Bauprojekt nicht zu gefährden. Angesichts der Intensität, mit der plötzlich Mietmörder unser Trio verfolgen, spricht viel für diese Annahme …

Wir basteln uns einen Bestseller

Im herangereiften 21. Jahrhundert hat auch der Laie begriffen, dass unterhaltende Filme und Literatur wie Presspappe oder Gartenmöbel produziert werden. Die Spaßfabrikanten definieren „Kreativität“ als Versuch, aus dem nur unter Risiken zu befahrenden Meer der populären Unterhaltung die bewährten Elemente erfolgreichen Profitstrebens abzufischen, um diese Beute dann zu einem hoffentlich garantierten Blockbuster zu verleimen.

Was im Kino klappt, ist auch in der Literatur nicht unbekannt. Peter Millar führt es uns geradezu lehrbuchhaft vor. Er bedient sich einerseits aus dem Genre Historien-Roman, dessen Popularität ungebrochen ist. Ebenfalls gut im Trend (und nicht allzu lange in den Buchläden) liegen Wissenschaftsthriller, unter denen diejenigen besonders zahlreich sind, die tapfere Mediziner und neugierige Journalisten im Kampf gegen machtgeil-gierige Großkonzerne, irre Attentäter und scheußlich-gefährliche Weltuntergangs-Epidemien zeigen. Folgerichtig rührt Millar einen Arzt und einen Historiker in sein Romangebräu – vor allem der einst im Archivstaub wühlende Buchwurm hat in den letzten Jahren seine Thriller-Tauglichkeit bei der Aufdeckung zahlloser Vatikan-Verschwörungen unter Beweis gestellt. Hinzu kommt eine hübsche Frau, hier Journalistin, was berufsmäßige Neugier impliziert, die mordlüsterne Dunkelmänner garantiert und spannungsförderlich anzieht.

Was kann jetzt noch schief gehen? Zunächst einmal nichts, wenn man sich mit der Lektüre eines Abenteuers aus zweiter Hand begnügen möchte. Die Ausgangssituation verspricht durchaus einiges. Auch heute erzeugt allein der Klang des Wortes „Pest“ eine Gänsehaut; es scheint da so etwas wie eine kollektive Erinnerung zu geben. Dass es dafür Gründe gibt, lässt Millar erklärend einfließen: Allein zwischen 1347 und 1351 hat die Seuche in Europa schätzungsweise 25 Millionen Menschen getötet. Das war ein Drittel der damaligen Gesamtbevölkerung!

Der Autor als Thriller-Killer

Somit hat Millar eine wirkungsvolle Bedrohung aus der Vergangenheit als Aufhänger entdeckt. Jetzt geht er daran, den Pestschrecken in die Gegenwart zu tragen. Das ist gar nicht so einfach, denn das einstige Verderben ist heute heilbar. Kontinentweite Seuchenwellen können verhindert werden. Nur die Pestgruben von Nether Ditchford aufreißen zu lassen, genügt folglich nicht.

Deshalb konstruiert Millar ein Szenario, in dem die Pest erst einmal unbemerkt bleibt, damit sie sich ausbreiten kann. Dafür ist ihm nichts Besseres eingefallen als der Auftritt des weidlich bekannten Schlipsschurken, der Geld & Macht um jeden Preis ergattern will. Um sich schart er die üblichen Verdächtigen, d. h. eiskalte Killer & tumbe Totschläger.

Ihnen in den Weg stellen sich die ‚Guten‘. Sie sind idealistisch, jung, ansehnlich und tragen diese Eigenschaften quasi auf die Stirn tätowiert. Das ist auch wichtig, damit sie wenigstens ein bisschen Profil gewinnen. Denn Daniel, Therry & Rajiv haben als Figuren etwa so viel Substanz wie die Zappelmänner und -frauen deutscher TV-Thrillerserien. Sie denken und reden ausschließlich in Klischees, weil Verfasser Millar offensichtlich fürchtet, dass Originalität das möglichst breite Publikum verschrecken könnte.

Jede Figur ist auf ihre Art eine Zumutung. Daniel, der ‚Historiker‘, muss den schlauen aber versponnenen Träumer mimen, der in der Welt der Vergangenheit aufgeht. Das ist praktisch, da er mit traumwandlerischer Sicherheit jedes für die Handlung bedeutsame Dokument finden, jede Inschrift entziffern & jede mittelalterliche Analogie deuten kann. Der reale Wissenschaftler kann da nur neidisch werden.

Therry ist eine dieser politisch korrekten Überfrauen, die das Kino oder die Unterhaltungsliteratur minderer Güte terrorisieren. Selbstbewusst, ganz im Hier & Jetzt beheimatet, gesellschaftskritisch, selbstverständlich hübsch, aber deshalb erst recht tüchtig, nebenbei auf der Suche nach Mr. Right (Preisfrage: Wem wird in unserer Geschichte diese zweifelhafte Ehre zufallen?) und auch sonst eine schreckliche Nervensäge.

Unfug mit Botschaft

Darüber hinaus zwingt MillarTherry zu nicht endenden Tiraden über die Zersiedlung urbritischer Landschaftsidyllen. Wie besessen lässt er sie über skrupellose Bauunternehmer und Immobilienhaie wettern, die gute englische Wälder und Wiesen mit hässlichen, eigentlich unnötigen Neubausiedlungen überziehen. Mit Zahlen und ‚Beweisen‘ wird der Leser traktiert, den das herzlich wenig interessiert – wozu auch, da es mit der eigentlichen Geschichte überhaupt nichts zu tun hat?

Rajiv tritt auf, weil „Schwarzer Winter“ aus einleuchtenden Gründen einen Mediziner im Team benötigt. Assistent muss er sein, weil er so zwar viel wissen aber wenig ausrichten kann. Außerdem ist Rajiv Inder und taugt deshalb als Proporz-Ausländer, was eine mögliche Verfilmung realistischer werden lässt. Zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt Millar damit, dass Rajiv ‚zufällig‘ daheim Erfahrungen mit der Pest sammeln konnte.

Bleiben die Schurken in diesem Spiel. Ach, sind Mr. Millars Bösewichte böse! Man zittert vor Angst – oder vor Lachen (Reaktionsvariante 3: Verdruss). Es ist zu putzig, wie uns der Verfasser Geoffrey Martindale als kultivierten Teufel weismachen möchte. Die Welt des Weißkragen-Verbrechens ist nach Millar höchst simpel strukturiert; er bezieht seine Kenntnisse offenbar aus dem Studium diverser John-Grisham-Verfilmungen. Weil das Böse à la Hollywood stets irgendwie übermenschlich daherkommt, reden, handeln und killen Martindale und seine Schergen in einem quasi rechtsfreien Raum. Die Polizei hält sich freundlicherweise zurück, damit Martindales Finsterlinge und unsere drei Musketiere ungestört ihre Klingen kreuzen können, bis endlich das vor allem durch seine papierraschelnden Nicht-Dramatik eindrucksvolle Finale kommt und dem unterhaltungsarmen Spuk endlich ein Ende bereitet.

Autor

Peter Millar gehört zur Gruppe jener Journalisten, die eines Tages beschließen, die Früchte ihres aufregenden Berufsalltags zu ernten bzw. in blanke Münze zu verwandeln. Wer zu den Brennpunkten der Weltgeschichte reist und darüber schreibt, hält sich ebenso oft wie fälschlich dazu prädestiniert, ein spannendes und glaubhaftes Garn zu spinnen.

Millar ist im Auftrag der „Sunday Times“ oder des „Evening Standard“ in der Tat weit herumgekommen: Berlin, Moskau, Paris, Brüssel listet die Kurzvita des Bastei-Verlags als Wirkungsstätten auf. Auch in Osteuropa ist er journalistisch aktiv gewesen. 1992 fasste er seine Erlebnisse während des Mauerfalls in einem Buch mit dem verheißungsvollen Titel „Tomorrow Belongs to Me: Life in Germany Revealed as Soap Opera“ zusammen. Diesen Erfahrungen verdanken wir außerdem den Histo-Thriller „London Wall“ (2005; dt. „Eiserne Mauer“).

Im Spionagemilieu ließ Millar 2000 seinen ersten Thriller spielen. „Stealing Thunder“ (dt. „Gottes Feuer“) bietet die übliche Holterdipolter-Hetzjagd zu Wasser, zu Lande und in der Luft, während ein historisch brisantes Rätsel – hier im Umfeld der ersten Atombombe – gelöst werden muss.

Mit seiner Familie lebt Millar in London sowie in Oxfordshire. Dort ist er – übrigens ein geborener Nordire – auch aufgewachsen, was das (Zuviel an) Lokalkolorit in „Schwarzer Winter“ erklärt.

Über seine Arbeit informiert (eher nicht) Millars (offenbar irgendwo im Rohbau steckengebliebene) Website.

Taschenbuch: 445 Seiten
Originaltitel: Bleak Midwinter (London : Bloomsbury 2001)
Übersetzung: Ulrike Werner-Richter
http://www.luebbe.de

Der Autor vergibt: (0.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (7 Stimmen, Durchschnitt: 1,43 von 5)

Felten, Monika – Nebelsängerin, Die (Das Erbe der Runen 1)

Bei Felten nichts Neues, möchte man kalauern, nur wieder Krieg. Hintergrund des Konflikts: Auf einer Welt „irgendwo da draußen“ gelangen vor über 500 Jahren die Überlebenden von fünf menschlichen Stämmen auf der Flucht vor den Horden eines dunklen Gottes nach Nymath. Ein Gebirge, über das nur ein einziger Pass führt, trennt dieses Land vom Rest der Welt. Die Bewohner Nymaths, die menschenähnlichen Uzoma, nehmen die Flüchtlinge gastfreundlich auf, doch im Lauf der Jahrhunderte kommt es zu Streit und Hass. Da strandet ein Elbenschiff an der Küste des Landes, und die Elben helfen den Menschen. Ihre Magierin Gaelithil wirkt einen Täuschungszauber, der die Uzoma aus dem Land lockt, übers Gebirge fort, in die Steppen hinter dem Fluss Arnad hinein. Dann webt sie mittels eines Runenamuletts und eines Liedes mächtige Nebel, die die Uzoma hinter dem Fluss festhalten. Weil „finstere Schatten und Dämonen“ sie aber töten wollen, um die Nebel zu zerstören, flieht sie in unsere Welt, wo es keine Magie mehr gibt. Dort heiratet sie und bekommt Kinder, die wieder Kinder haben … Das Amulett und die Zauberkunst werden in der weiblichen Linie vererbt; wenn eine Nebelsängerin stirbt, tritt die nächste an ihre Stelle, kehrt zurück nach Nymath und erneuert die Kraft der Nebel. Doch zur Zeit der Handlung des Buches ist die schützende Magie erloschen, die Uzoma stehen vor der Festung, die den Pass bewacht, und fliegen mit Lagaren – giftigen Wüstenechsen – Angriffe über das Land. Der finale Angriff steht kurz bevor. Das „letzte Aufgebot von Elben und Menschen“ zieht aus, um dem Feind zu trotzen – aber wenn keine neue Nebelsängerin erscheint, wird alles vergeblich sein. Zum Glück lebt in unserer Welt noch Ajana, Gaelithils letzte Erbin, doch sie weiß von nichts, denn die Linie der Weitergabe der Kunst ist schon seit langem unterbrochen. Zwar erhält Ajana das Amulett und weckt zufällig seine Magie, aber als es sie daraufhin nach Nymath verschlägt, ist sie völlig hilflos.

Man weiß schon nach den ersten 50 Seiten, wie es weitergeht, und so kommt es auch. Der Bastard Keelin entwickelt sich zum tapferen Krieger, ebenso sein gering geschätzter Freund Abbas. Ajana findet einen Weg, die Nebelmagie zu erlernen. Die Uzoma greifen an und erobern fast die Festung – aber nur fast … Monika Felten bemüht dunkle Götter und böse Priesterinnen, brutale Finsterlinge und edle Elben, alte Legenden und Magie, doch das Ganze bleibt vorhersehbar und langweilig. Natürlich: die gängigen Klischee nutz(t)en seit Tolkien viele andere Autoren, so oder so. Man kann die Finde-deinen-Weg-und-rette-die-Welt-Story z. B. durch den Kakao ziehen, dann entstehen originelle, witzige Romane wie „Nebenan“ von Bernhard Hennen oder „Heldenherz“ von Sven Böttcher. Man kann sie auch ernst nehmen und im Rahmen einer spannenden, wendungsreichen Handlung schildern, wie der „tumbe Tor“ des Anfangs sich allmählich zum Helden wandelt; dann heißt man Tad Williams und braucht allein 900 Seiten, um einem Küchenjungen nur die Anfangsgründe des Sich-Bewährens beizubringen (von Heldentum nicht zu reden). Trotzdem kommt beim Lesen des Drachenbeinthron-Zyklus keine Langeweile auf, weder auf Seite 900 noch auf Seite 3000.

Auch Monika Felten hat ihren Küchenjungen. Abbas gehört zu den Wunand, dem Stamm der Amazonen. Männer haben dort nichts zu sagen, fühlen sich Frauen gegenüber unterlegen und dürfen keine Waffen führen. Er aber will mehr als nur Töpfe scheuern, zieht mit dem Heer zur Passfestung – und scheuert dort Töpfe. Also baut er sich (heimlich) eine Feuerpeitsche (die Amazonenwaffe) und folgt der kleinen Gruppe, die Ajana auf ihrem Weg begleitet. Als ein Ajabani, ein tödlich gefährlicher Killer, schon drei erfahrene Krieger der Eskorte ins Jenseits befördert hat, greift Abbas ein – und vertreibt ihn. Das mag Anfängerglück und Überraschungserfolg sein, aber wenig später besiegt er auch die Uzoma im Kampf. Dann kann er mit einem Mal reiten (er hat es mit Keelin heimlich geübt, erfahren wir zur Erklärung). So gelingt es ihm – ganz allein -, der gefangenen Amazone Maylea bis in die Hauptstadt der Uzoma zu folgen. Dort entpuppt er sich als Meister im Messerwerfen (mit Küchenmessern heimlich geübt, versichert uns die Autorin just an der Stelle, an der sie diese Fähigkeit einführt). Abbas schafft es sogar, Maylea aus dem Kerker zu befreien … „Glaubhafte Entwicklung eines Charakters“ kann man das nicht nennen. Und auch die übrigen Figuren sind so: Schablonen. Man kann an ihrem Schicksal keinen Anteil nehmen, weil sie im Grunde kein Schicksal haben, denn meist erzählt Monika Felten nicht, sondern stellt fest.

Auch andere Punkte fordern Kritik heraus.

Geographie: Da ist nur der eine Pass (ohne dieses Detail würde das Buch nicht funktionieren). Doch plötzlich gibt es (für Ajanas Gruppe extra hineingeschrieben) noch einen anderen Weg über das Gebirge, durch eine Schlucht, die von einer kleinen Garnison der Menschen bewacht wird. Aber die wurde von den Uzoma angegriffen, aufgerieben und völlig demoralisiert. Nun läge es für eroberungsgierige Finsterlinge nahe, eine Invasion „durch die Hintertür“ zu versuchen, doch ein solcher Versuch findet nicht statt.

Taktik: Um den Krieg schneller zu gewinnen, könnte der Feind ganze Gruppen von Uzoma auf den Lagaren ins Hinterland der Gegner fliegen. Das geschieht sogar, aber nur, um ein Dorf niederzubrennen und die Vorhut des Heeres zu überfallen; allerdings werden die Flugechsen und die Feuerwerfer, die auf ihnen reiten, so geschildert, dass sie auch das Hauptheer auf dem Marsch zur Festung zumindest dezimieren könnten, zumal ständig betont wird, die Lagaren seien nur mit großen Katapulten vom Himmel zu holen, und davon gibt es nicht einmal in der Festung genug. Warum unterbleiben solche Angriffe? Man darf in der Fantasy alle Parameter und Spielregeln selbst festlegen – aber wenn man das getan hat, sollte man sich nicht mehr in Widersprüche verwickeln.

Logik: Gaelithil lockte die Uzoma erst aus dem Land, über den Pass, durch die Steppe und über den Arnad, ehe sie die Nebel wob. Ajana webt die Nebel, als das Heer der Feinde vor der Passfestung steht, weit entfernt vom Arnad, den es nun nicht mehr überqueren kann. Die Krieger befinden sich also nach wie vor diesseits, die Gefahr für Nymath ist nicht vorüber. Ajana fragt denn auch den Heermeister nach dem Sinn des aktuellen Nebelwebens. Und was antwortet er? Es sei nicht die Aufgabe eines Kriegers, über Befehle nachzudenken. (Jedoch der Leser darf über Handlungskonstrukte räsonieren und tut es auch.)

Sprache: Hier finden sich nahezu auf jeder Seite Mängel; wer es nicht glaubt, schlage blindlings auf und lese genau. Eine willkürlich gewählte Kostprobe: Auf S. 170 steht „ein Spalier Fackeln tragender Krieger in unterschiedlichen Rüstungen“. Unterschiedlichen, hm. Wie sehen die denn aus? Einfach unterschiedlich. Warum es dann erwähnen? Und dieses Spalier weist den Weg zu einem Gebäude, „in dem sich das Quartier des befehlshabenden Kommandanten befand“. Eine völlig unsinnige Tautologie, denn ein Kommandant ist definiert als „Befehlshaber“ und nur als solcher. Auf S. 238 sehen wir „schwarz verkrüppelte Bäume“; als gäbe es rot verkrüppelte, weiß verkrüppelte etc. S. 298: Die Gruppe rastet in einer Höhle. „Man hatte Wachen aufgestellt. Die Krieger standen mit dem Rücken zur Höhle an der Felswand …“ – dass sie nicht die Felswand anstarren, sollte klar sein. – Was diesem Text fehlt, ist Lektorenarbeit à la Tucholsky: „Wat jestrichen is, kann nich durchfalln.“

Zwei Bemerkungen zum Schluss. Erstens: Dem Buch beigelegt ist eine CD, auf der die Hamburger Sängerin Anna Kristina den Soundtrack zum Werk darbietet, vier Lieder in zwölf Minuten und zehn Sekunden. Die CD gefiel mir. Sie hilft aber nicht über die Mängel des Textes hinweg.

Zweitens: Ich hoffe, dass dieses Buch keinen Phantastik-Preis gewinnt. Es gibt bessere Bücher deutscher Fantasy-Autoren, etwa Dieter Winklers Enwor-Fortsetzung, auch bei |Piper| erschienen. Monika Felten aber ist ein trauriges Beispiel dafür, dass jemand, der einen Preis bekommen und eine Stammleserschaft erworben hat, künftig alles verlegen kann, was er schreibt. Und wer hofft, Verlage würden wenigstens bei offenkundigem Versagen so genannter „Starautoren“ Qualitätsansprüche über Umsatz stellen, der ist ein reiner Tor.

_Peter Schünemann_ © 2004
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de veröffentlicht.|

Palliser, Charles – schwarze Kathedrale, Die

In letzter Zeit habe ich es offensichtlich mit Romanen, die im kirchlichen Umfeld stattfinden, schon wieder fand ein solcher den Weg in meine Hände. Dank des anstachelnden Klappentexts machte „Die schwarze Kathedrale“ einen überaus interessanten Eindruck. Im Original heißt der Roman übrigens wesentlich treffender |“The Unburied“| nämlich: „Der (oder Die) Unbegrabene(n)“, was der Handlung auch eher gerecht wird. Über misslungene deutsche Titelverballhornungen rege ich mich aber schon lange nicht mehr auf. Solange der Inhalt mich zu fesseln vermag, ist das eher zweitrangig, doch frage ich mich schon gelegentlich, welch Geistes Kinder sich die teils beknackten Eindeutschungen einfallen lassen.

_Zur Story_
Dr. Edward „Ned“ Courtine, seines Zeichens Referent und Lehrer für anglikanische Historie in Cambridge schlägt in der Vorweihnachtszeit 1881 gleich drei Fliegen mit einer Klappe. Er hat schon lange seinem Ex-Studienkollegen und altem Freund Austin Fickling versprochen, ihn in dessen Wahlheimat Thurchester zu besuchen. In der englischen Kleinstadt befindet sich zudem eine berühmte Kathedrale, in deren Bibliothek er ein bestimmtes Manuskript zu finden hofft, das seine Theorie über den mittelalterlichen König Alfred stützt. Wenn er das Manuskript tatsächlich findet, kann er das von einigen seiner Kollegen gehegte Bild der anglikanischen Geschichte ändern und ihm sogar einen Lehrstuhl einbringen.

Außerdem will Courtine sowieso über Weihnachten zu seiner Nichte und Thurchester liegt genau auf dem Weg, was liegt also näher, als all das miteinander zu verquicken und einen einwöchigen Zwischenstopp dort einzulegen? Er und Fickling haben sich nach einem Streit vor 20 Jahren nicht mehr gesehen und das Wiedersehen verläuft sehr seltsam, Courtine wirft seinem ehemaligen Kumpel (wenngleich er das nicht zeigt) insgeheim immer noch vor, ihn und seine Frau damals auseinander gebracht zu haben.

Das Warum und Wieso bleibt zunächst im Dunkeln, Courtines Wunden reißen schon allein wegen Ficklings sehr komischem und widersprüchlichem Verhalten alsbald wieder auf. Jeder in dieser provinziellen und kleinbürgerlichen Stadt scheint irgendwas zu verbergen zu haben, des Weiteren sind sich die Bewohner untereinander alle nicht wirklich grün. Gerüchte, Getuschel und teils offene Anfeindungen sind quasi an der Tagesordnung – da gönnt der eine dem anderen nicht die Wurst auf dem Brot.

Courtine hat als Außenstehender einen erhabenen Blick auf diese Leute, doch muss er sich mit allen gut stehen, schließlich möchte er ja freien Zugang zur Bibliothek haben. Gleichzeitig will er herausfinden, welches Geheimnis seinen alten Freund Austin umgibt, der sich mal aufgekratzt, mal wortkarg schroff gibt und öfters des Nächtens wer-weiß-wohin verschwindet. Bald geht es rund um die geschichtsträchtige Kathedrale aber nicht mehr um persönliche Animositäten, nicht um alte historische Folianten, nicht um rätselhafte Schauergeschichten aus der Geschichte des Bauwerks, sondern um handfesten Mord an einem Banker und das Auftauchen des Leichnams eines verschwunden geglaubten Mörders direkt aus der Vergangenheit in der Kathedrale selbst …

_Meinung_
Was sich schön düster und mysteriös-spannend anhört, ist in Wahrheit sehr dröge präsentiert, dabei fängt der eigentliche Roman mit einem guten Flair an. Ein verwunschenes Kleinstädtchen auf dem Land mit schrulligen Bewohnern und einer gespenstischen Kirche, die von Nebel umwabert ein schreckliches Geheimnis trägt, sogar eine ominöse Kapuzengestalt (angeblich ein ruheloser Geist) lustwandelt über den Kathedralenvorplatz. Das klingt ganz verlockend nach Altmeister Edgar Wallace.

Leider verliert sich Palliser alsbald in seitenlangem Geschwafel von Courtines Theorie über König Alfred, sein Verhältnis zu Austin Fickling und den Begebenheiten, die sich rund um das alte Gemäuer ranken – immer wenn ich dachte, jetzt käme der Clou oder es würde endlich der entscheidene Hinweis geliefert, wurde ich enttäuscht. Denn kaum etwas von dem überflüssigen Geschreibsel ist später von Bedeutung. Der Lesespass wird dadurch ganz erheblich gebremst und ich konnte mir ein zähneknirschendes: „Komm endlich zur Sache, Kerl!“ kaum verkneifen.

Schlicht gesagt, es passiert nichts Weltbewegendes, bis fast gegen Ende und dann muss sich der Autor Mühe geben, die unnötig verworrenen Stränge zu einem Abschluss zu bringen. Selbst der Mord an dem sonderlichen Bankier und das Auffinden einer eingemauerten Leiche in der Kathedrale finden erst im letzten Drittel statt und können diese Provinz-Posse auch nicht mehr retten. Das Bild der Stadt und seiner Bewohner porträtiert Palliser sehr genau – |zu| genau, um ehrlich zu sein, denn im Endeffekt ist es für den Mordfall ziemlich irrelevant, der (ich bin mal so frei und spoiler hier ein wenig) nach dem Hauptteil der Geschichte ungesühnt und (fast) ungeklärt bleibt. Stattdessen werden Courtines persönliche Probleme mit Austin breit getreten und die viktorianische Gesellschaft um diese Zeit aufs Korn genommen (das allerdings sehr trefflich) … Gesellschaftliche Zwänge, wer mit wem und wer nicht und immer wieder Verweise auf die ollen Kamellen der Vergangenheit.

Zum besseren Verständnis muss ich aber die Gliederung heranziehen: Der Anfang des Buches findet um 1920 herum statt (nach dem virtuellen Tod von Dr. Courtine), es ist ein kurzer Vorgriff auf die eigentliche Handlung, die erst nach dieser Einlage kommen wird. Der „Bericht“ über die Vorfälle ist in der Ich-Form geschrieben und stellt die Geschehnisse aus der Sicht von Courtine dar, wie er sie fiktiv „erlebt“ hat. Nach dem Augenzeugenbericht folgt dann der Epilog, in welchem dann die letzten Puzzle-Teile an ihren Platz kommen, gefolgt von einem ausführlich geschilderten (visionären) Traum, den die Hauptfigur hatte (wie überaus ergreifend) und einem bitter nötigen Namensregister aller beteiligten Figuren.

Ich mag solche Geschichten ohnehin nicht sonderlich, bei denen schon von vornherein feststeht, dass mittendrin alles nur Geplänkel ist und der Kracher erst im Epilog aus dem Hut gezogen wird. Leider gibt es – oops! – aber gar keinen wirklichen Kracher und die endgültige Auflösung des lieblos inszenierten Rätsels (Welches Rätsel, die Auflösung war so was von offensichtlich!?) ist reine Makulatur. Was habe ich aus dem Roman gelernt? Briten sind spießbürgerlich von einer geradezu perfiden Höflichkeit beseelt, leben bevorzugt im Nebel (auch und gerade dem der Vergangenheit), lieben Gespenster und ungenießbares Essen. Na toll, auch |das| wusste man schon vorher.

_Fazit_
Mal Butter bei die Fische: Streckenweise ist des Buch ganz interessant und hat einige gute Ansätze, die Palliser – als regelrechte Spaßbremse – aber gleich wieder ruiniert, da hätte man wesentlich mehr draus machen können, um den anfänglichen Spannungsbogen auch konstant aufrecht zu erhalten. Die wirklich guten und akribischen Charakterisierungen der viktorianischen Kleinstadt-Gesellschaft und ihres (Un-)Rechtssystems können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dem Plot massig an |pace| fehlt.

Zudem ist die Sache ziemlich leicht zu durchschauen, ich hatte mir nach nicht mal der Hälfte schon meine Theorie zurechtgelegt, die bedauerlicherweise erwartungsgemäß in beinahe allen Punkten zutraf – kein Ruhmesblatt für einen ausgewiesenen Thriller. Erschwerend kommt die akademisch-schwülstige „Von-Oben-Herab“-Schreibweise hinzu, die wohl Absicht ist, doch einem mit der Zeit ordentlich auf den Senkel geht, da sie die ohnehin schon langatmige Geschichte weiter unnötig verkompliziert und in die Länge zieht. Das dürfte vor allem Gelegenheitsleser sicher abschrecken. Eine (bedingte) Empfehlung spreche ich trotzdem aus, der Unterhaltungswert war mir trotz einiger guter Ansätze im Gesamtbild aber doch zu lau.

_Die Buchdaten auf einen Blick:_
Original-Titel: „The Unburied“
Genre: Viktorianischer Krimi
Ersterscheinungsjahr: 1999 (Phoenix House / London)
Deutsche Übersetzung: Sigrid Langhaeuser
Erschienen: 2000 (Droemer / München)
Format: Hardcover / 480 Seiten
oder Taschenbuch (Neuauflage 2002)
ISBN: 3-426-19496-1 (HC)
ISBN: 3-426-61995-4 (TB)

Girard, René – Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums

Die großen Weltreligionen sind im Niedergang, auch wenn derzeit noch einmal suggeriert wird, ein mächtiger Islam sei die große Bedrohung. Aber die fundamentalistische Gefahr geht in Wirklichkeit von kleinen Minderheiten aus und in den christianisierten Ländern kann kaum noch von einem Einfluss der Religionen auf die Gesellschaft gesprochen werden. René Girard übt mit seinen Werken einen großen Einfluss auf die Religionsgeschichte und Kulturanthropologie aus und im jüngsten Buch vergleicht er die jüdisch-christliche Religion mit ihr vorausgegangenen Mythen und stellt Ähnlichkeiten fest, die spektakulärer sind als die frühen Ethnologen erwarteten. Girard macht aus nichtreligiöser Beurteilung das Christentum zu einer neuen Religion.

Seine Sichtweise hat vor ihm noch niemand vertreten. In der Spirale der Gewalt sieht er das eigentliche Wesen des Satans: der Zerfall der Gesellschaft, der Krieg aller gegen alle. Aber Satan bietet auch die Wahl für einen Sündenbock und dessen einmütige Ermordung. Die Kreuzigung Christi als solche notwendige Tat zu erkennen, zielt auf eine Radikalisierung des christlichen Glaubens. Girard hält es für unausweichlich, dass eine Verwandlung des „Alle-gegen-alle“, das die Gemeinschaft fragmentiert, nur durch ein „Alle-gegen-einen“ ermöglicht wird. Nur so könne die Einheit der Gemeinschaft wieder hergestellt werden. Aufgrund solcher Gedankengänge wird Satan zum wahren Herrscher der Welt erhoben, dessen grandioser Machtanspruch darauf beruht, dass nur Satan fähig ist, den Satan auszutreiben. Damit ist er unentbehrlich und hat sich die Macht gesichert.

Lynchmord wird zu einer heroischen Tat, da sie wieder Frieden einkehren lässt, und das Opfer wird dabei göttlich und unsterblich. Kollektive Gewalt habe eine läuternde Wirkung. Um das eigene Gegengift zu erzeugen, muss sich die Gewalt erst mal übersteigern. Der Körper des Opfers wird mit dem Samen verglichen, der vergehen muss, um zu keimen. Dies wurde bereits in der biblischen Genesis mit der Ermordung Abels durch Kain festgelegt, welche der Autor als biblische Interpretation sämtlich vorhergehender Gründungsmythen ansieht. Gott schützt Kain und stellt sich hinter dessen Tat, da dieser Mord die Zivilisation begründet. Jedes Mal, wenn eine Kultur aufkommt, beginnt sie mit demselben Typus von Mord. Folglich steht Satan am Ursprung aller menschlichen Kulturkreise. Opferung ist das, was den Menschen vom Tier unterscheidet.

Um sein radikales Christentum von den alten heidnischen Mythologien abzugrenzen und über sie zu erheben, behauptet Girard, in den alten Opfergeschichten sei das Opfer immer schuldig und seine Verfolger im Recht. Das Verdienst am Christentum sei nun aber, dass das Opfer unschuldig sei und die Täter Sünder. Dies belegt er zwar auch ständig mit Beispielen sowohl im Alten wie im Neuen Testament, aber die Behauptung, dass das in den heidnischen Mythen anders gewesen sei, wird nirgends belegt und bleibt einfach postuliert. Dies ist der grundlegende Fehler und dahin richtet sich auch meine Kritik an den ansonsten durchaus interessanten Theorien. Meines Wissens nach ist es nämlich völlig anders, denn die frühen Opfer beruhten auf Freiwilligkeit und nicht auf Mord, wie er in der jüdisch-christlichen Mythologie stattfindet. Von daher beruhen die Thesen Girards auf einer infamen Lüge und glorifizieren eine verabscheuungswürdige Perversion, die tatsächlich Tradition hat, allerdings die der kriminellen monotheistischen Glaubensvorstellungen.

Girard entpuppt sich als Rattenfänger, der die Wahrheit verdreht. In seiner Rehabilitation des Christentums als einzigartige und bessere Religion führt er an, dass bis vor kurzem der Begriff Mythos in der Gesellschaft ein Synonym für Lüge war und im Volksmund bedeute er immer noch Lüge. Girard meint, der Volksmund habe Recht. Nein, der Volksmund hat nicht Recht, denn im Altgriechischen bedeutet Mythos „wahre Sprache“. Die Umkehrung des Verhältnisses von Unschuld und Schuld zwischen Opfern und Henkern sei der Eckstein der biblischen Inspiration. Auch dies ist falsch, denn es gab im Heidentum keine Henker.

Sowohl das Judentum wie der Islam sehen im Christentum den Rückfall in den Polytheismus, denn mit der Kreuzigung wird ja im Grunde ein heidnischer Tod- und Auferstehungsmythos eines Gottes zelebriert. Auch hier entgegnet Girard mit der angeblichen Einzigartigkeit der Struktur des Christentums. Im Gegensatz zu früheren Mythen seien die Christen eine kleine Gemeinschaft einer Minderheit gewesen, die in Jesus keine Schuld sahen, an dessen Ermordung nicht teilnahmen und deswegen keine Entsprechung zu den Mythen haben. In diesem Bruch zum angeblich Bisherigen glaubt er die eigentliche Offenbarung zu erkennen. Im Glauben an die Unschuld liegt für ihn der Sieg über den Prozess der satanischen Selbsttäuschung der Massen. Mit diesem Resultat zieht Girard dann auch seinen Kopf aus der Schlinge des „Hexenjägers“ und bekennt sich zur Unschuld und Nächstenliebe.

Jesus‘ Auferstehung als wahrer und einziger Gott sei die erste und einzige Auferstehung gewesen, im Gegensatz zu den vielen „falschen“ Auferstehungen der heidnischen Mythen. Der Triumph des Kreuzes läge darin, dass gleichzeitig Satan und das Spiel seiner Macht ans Kreuz geschlagen wurden. Satan habe die Offenbarungsmacht unterschätzt. Das Licht des Kreuzes beraubt Satan seiner Macht, den Satan auszutreiben und er kann sich nur noch selbst vernichten. Die Natur der Mythen sei es gewesen, Gewalt zu verbergen, die Natur Christus sei, sie offen zu legen.

Girards Christentum ist revolutionär und schwierig zu verstehen. Seiner Meinung nach aber so einfach, dass Satan es selbst nicht verstanden habe. Oder besser gesagt, zu spät verstanden, um sein eigenes Reich noch schützen zu können. Das Kreuz war eine göttliche Falle, stärker als die Listen Satans. Christus war der Köder, den Gott auf den Angelhaken steckt, um Satan in die Falle zu locken. Schon die griechischen Kirchenväter vertraten die Auffassung, im Kreuz sei Satan der auf den eigenen Schwindel hereingefallene Schwindler.

Sehr ins Abseits stellt sich Girard nach dieser überraschenden Wende am Ende seines Buches aber dennoch erneut. Der Versuch der systematischen Vernichtung des jüdischen Volkes durch den Nationalsozialismus sei ebenfalls etwas anderes gewesen als vorherige Völkermorde. Das „geistige“ Ziel des Hitlertums lag seiner Auffassung nach darin, zuerst Deutschland und dann ganz Europa der ihm aus der religiösen Tradition zugewachsenen Berufung, der Sorge um das Opfer, zu entreißen. Hätte Hitler gesiegt, hätte er belegen können, dass dank seiner die Sorge um das Opfer nicht mehr der unwiderrufliche Sinn unserer Geschichte ist. Hitler habe sich aber als unfähig erwiesen, diese Sorge auszurotten. Weit entfernt davon, die Sorge um die Opfer zu ersticken, habe er die Ausweitung dieser Sorge beschleunigt. Heutzutage würde durch ständige Überbietung die Sorge um die Opfer zu einer Dauerinquisition. Die Sorge um die Opfer würde antichristlich „radikalisiert“. Aber eigentlich hätten die Nazis versucht, um das Christentum abzuschütteln, die Welt zu veranlassen, die Sorge um die Opfer konsequent aufzugeben.

Heidegger z. B. habe die Hoffnung auf eine vollständige Auslöschung des christlichen Einflusses und auf einen vollkommenen Neubeginn, auf einen neuen mythischen Zyklus, nicht aufgegeben. Vom Triumph der Sorge um die Opfer profitiere jedoch nicht das Christentum, sondern diejenigen, die sich diese zu Eigen machen und sie radikalisieren, um sie zu paganisieren. Diese Kräfte würden dem Christentum Verfolgung, Unterdrückung und Inquisition unterstellen. Das sei der Versuch Satans, seine Stellung wieder zu festigen, indem er sich der Sprache der Opfer bedient. Satan ahme Christus immer perfekter nach und scheine ihn sogar zu übertreffen. Der Neopaganismus wolle die Zehn Gebote und die gesamte jüdisch-christliche Moral als inakzeptable Gewalt erscheinen lassen, und deren Abschaffung sei sein erstes Ziel.

Die christliche Kirche sei aus Schuldgefühlen ihrer Taten (Inquisition etc.) heutzutage besonders anfällig für die ständige Erpressung durch diesen zeitgenössischen Neopaganismus. Für diesen läge das Glück in der grenzenlosen Erfüllung der Begehren (vor dem das zehnte Gebot warnt) und folglich in der Aufhebung aller Verbote. Da die Tage Satans gezählt seien, nütze er sie nun maximal aus und entfessle sich im wortwörtlichen Sinn. Christus könne aber den Menschen den wahren göttlichen Frieden nicht bringen, ohne uns zuvor den einzigen Frieden zu nehmen, den wir haben. Diesen zwangsläufig gefährlichen historischen Prozess würden wir derzeit erleben. Die Verzögerung der Apokalypse, die auf fehlendem Verständnis der Offenbarung beruhe, käme aufgrund der Individuen, die sich bemühen auf Gewalt zu verzichten und Vergeltung zu entwerten. Darin sieht Girard eine unerträgliche Ungerechtigkeit in einer Epoche der Pluralismen und Multikulturalismen. Er behauptet, wir opferten die Wahrheit dem Weltfrieden.

Erstaunlich am Buch ist, dass diesen kranken Gedanken Girards sein deutscher Verleger ein Nachwort von Peter Sloterdijk angefügt hat, das auf den ersten Seiten rein thematisch verfehlt scheint, denn Sloterdijk schreibt über Eros und Eifersucht und darüber, dass die Engel unsere Welt verlassen müssen, damit die Erzengel kommen können. Aber dann kritisiert er Girard schonungslos. Dessen Ambitionen für eine Neustiftung des Christentums hält er für lächerlich und er entlarvt ihn als Vertreter einer falsch verstandenen Gnosis im Gewande des Kulturtheoretikers. Auch belächelt er, dass Girard keine Notiz davon nahm, dass viele der nichtchristlichen Kulturen in ihrer Therapie des Begehrens um einiges fortgeschrittener waren als die christliche Religion. Als Nietzsche-Kenner wehrt er sich gegen die Behauptungen, die Girard über diesen anführt, und auch die Aussagen über den „Neopaganismus“ weist er als theologisch-kulturkämpferisch zurück.

Ein Werk wie das von Girard darf nicht verboten, sondern muss diskutiert werden. Ein Lob an den Verlag, dies aber nicht kommentarlos veröffentlicht zu haben.

Über den Autor:
http://de.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9__Girard

Reiner Boller & Christina Böhme – Lex Barker. Die Biographie

In sieben Groß- und 25 Unterkapiteln wird das Leben und Schaffen des Alexander Crichlow „Lex“ Barker jr. vor dem überwältigten Leser ausgebreitet: Diese Biografie umfasst 550 großformatige, auf bestes Kunstdruckpapier gebannte Seiten – kein Buch, das man auf dem Rücken liegend & mit dem Bauch stützend lesen sollte …

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R. A. Salvatore – Kampf der Kreaturen (Die Rückkehr des Dunkelelf 2)

„Kampf der Kreaturen“ ist der zweite Band der Reihe „Die Rückkehr des Dunkelelf“, die einem altgedienten AD&D-Haudegen, dem beliebten Dunkelelf Drizzt Do’Urden, neuen Schwung verleihen soll: Hatten sich doch dessen Krummsäbel ein wenig an Routine und eher missglückten neuen Ideen abgestumpft.

Zurück zu den Wurzeln – mit einer gehörigen Prise Humor und altbewährtem und beliebtem Schneid. So das Motto des ersten Bandes [„Die Invasion der Orks“ 476. Klassischere – und dank der Tolkien-Verfilmung nur noch mehr populäre – Unholde kann es kaum geben. Eine riesige Armee aus Orks, Frostriesen und abtrünnigen Dunkelelfen rottet sich zusammen und stürmt die Länder der Menschen, Elfen und Zwerge. Drizzt und seine Freunde Bruenor, Wulfgar, Catti-brie und Regis stellen sich den Invasoren entgegen.

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Erbe, Günter – Dandys – Virtuosen der Lebenskunst

Günter Erbe, Dozent für Kultur- und Literatursoziologie an der FU Berlin und der Universität Zielona Gora in Polen, legt mit „Dandys – Virtuosen der Lebenskunst“ die erste umfassende kultur- und sozialgeschichtliche Darstellung des Dandytums im europäischen Maßstab vor. Erbe bedient sich hierbei aus einem reichhaltigen Fundus – als Quelle seiner Untersuchungen dienen ihm u. a. Memoiren, Briefe, Tagebücher von Zeitzeugen, Biographien, Traktate, Artikel der Modepublizistik, Karikaturen sowie die so genannte „schöne“ Literatur“.

Dieses breite Spektrum dürfte bereits andeuten, weshalb eine vergleichbare Untersuchung bisher nicht realisiert wurde: Das Dandytum ist ein äußerst vielschichtiges gesellschaftliches Phänomen, welches einen fließenden Übergang zwischen Ideal und praktischer Verwirklichung, zwischen Fiktion und Realität aufweist. Erbes Darstellung kann in diesem Kontext als Genealogie des Dandytums betrachtet werden. Indem wir rückwirkend das erstmalige Auftauchen und den anschließenden Werdegang des Typus „Dandy“ nachvollziehen, können wir nach und nach einen Eindruck davon gewinnen, was einen Dandy generell ausmacht, und was für mögliche Ausformungen dieses Typus es bisher gegeben hat. Ich werde daher kurz skizzieren, was sich der geneigte Leser überhaupt unter dem Begriff des Dandytums vorzustellen hat:

Das Dandytum – als Kunst der ästhetischen Selbstinszenierung – ist der Vorbote einer neuen sozialen Mobilität, welche die Grenze zwischen viktorianischer Aristokratie und dem reichen Bürgertum des modernem Liberalismus verwischen lässt. Jeder Dandy ist einem permanenten Spannungsverhältnis zwischen seinen individualistischen Bestrebungen einerseits und den Rollenerwartungen der mondänen Gesellschaft andererseits ausgesetzt. Er will die bestehenden Verhältnisse nicht umstürzen, sondern sich innerhalb der bestehenden Vorstellungen von Schicklichkeit Originalität verschaffen, um die modisch-kulturelle Entwicklung indirekt voranzutreiben. Die Vervollkommnung des bereits Bestehenden hat dabei absoluten Vorrang vor modischer Neuschöpfung. Gezielte Provokationen dieser „Modehelden“ finden immer innerhalb eines bestimmten Rahmens statt, welcher durch den jeweils amtierenden |arbiter elegantarium| („Schiedsrichter der Eleganz“) vorgegeben wird. Die wirkliche, „moderne“ Provokation zeigt sich primär im Habitus des einzelnen Dandys, nicht in seiner Kleidung.

George Brummel (1778 – 1840) – in vielerlei Hinsicht der erste Dandy – war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Sein aus einfachen Verhältnissen stammender Vater brachte es zu einigem Wohlstand und schickte George auf die Eliteschule Eton sowie anschließend das Oriel-College in Oxford. Bereits dort suchte Brummel den Kontakt zu gesellschaftlich höher gestellten Studenten, und während seines anschließenden Militärdienstes im Zehnten Husarenregiment machte er die Bekanntschaft des Prinzen von Wales. Als er 1799 eine Erbschaft von 30.000 Pfund antrat, verfügte er über alle wichtigen Ressourcen für einen gesellschaftlichen Aufstieg zum |arbiter elegantarium|: Die richtigen Kontakte, ein ausreichendes Startkapital, um sorgenfrei leben zu können, und – vielleicht das Entscheidendste – ein untrügliches Gespür für modische Eleganz und geistreiche Konversation. Auf dem Höhepunkt seiner Macht (1798 – 1816) kam keine exklusive Party ohne ihn aus – Brummel war selbst zum Statussymbol avanciert.

Das Dandytum, wie es durch Brummel konstituiert wurde (der Begriff setzte sich allerdings erst ab ca. 1815 durch), ist eine Synthese aus der Ästhetik des modebewussten „Beaus“ und den traditionellen Rollenvorstellungen des britischen Adels von Anstand und kultiviertem Benehmen. Brummel übernahm die damals verbindliche Kleidungsnorm des „Gentleman“ – lange Beinkleider, Frack, Weste, gestärkte Krawatte und Zylinderhut – und ergänzte sie durch gewitztes und schlagfertiges Auftreten. Er war in der Literatur und den schönen Künsten bewandert, übte sich im Zeichnen und in der Poesie und war ein Kenner seltener Antiquitäten.

Letztlich wurde Brummel zum Verhängnis, dass sich der soziale Status eines Dandys nicht an seinem realen Vermögen, sondern an seiner Kreditwürdigkeit misst. Sein kostspieliger Lebensstil und seine Wettleidenschaft führten ihn in den finanziellen Bankrott (ein Schicksal, das er mit vielen Dandys teilte), so dass er 1816 aus London nach Frankreich fliehen musste. Dort ließ er sich von den ihm verbliebenen Gönnern aushalten. Er lebte jedoch weiterhin über seine Verhältnisse, bis er im Alter von 62 Jahren völlig verarmt und geistig verwirrt aus dem Leben schied. Sein wohl inszenierter Abgang aus der Londoner High Society war jedoch rechtzeitig erfolgt, so dass sein Ruhm über seinen Tod hinaus andauern sollte.

Die Souveränität des Dandys, wie sie durch Brummel definiert wurde, äußert sich primär in der Verschwendung materieller Ressourcen und einer demonstrativen Zurschaustellung der persönlichen Distanziertheit. Es handelt sich hier mithin um eine soziale Rolle, die niemals zur Gänze verinnerlicht werden kann.

Der Aufstieg der Dandykultur geht einher mit dem Aufstieg der britischen Herrenklubs, welche aus den Kaffeehäusern des 17. Jahrhunderts hervorgegangen waren. Diese exklusiven Klubs waren zugleich eine Schnittstelle zwischen Adel und Bürgertum, so dass hier ein Übergang zwischen den sozialen Hierarchien entstand. Der Bewegungsraum der meisten Dandys beschränkte sich dementsprechend im Wesentlichen auf einzelne Klubs, Opernhäuser und bestimmte Geschäfte. Die gelangweilte britische High Society nahm das Phänomen des Dandytums dankbar auf und entwickelte auch die modische Raffinesse weiter. Die Nachfolger Brummels provozierten nun auch in modischer Hinsicht; sein Kriterium der Schlichtheit war fortan nicht mehr verbindlich.

Erbe konzentriert sich im Laufe seiner Untersuchungen primär auf bestimmte Individuen, welche als entscheidende Charaktere des britischen Dandytums hervorgehoben werden können: Lord Byron, Benjamin Disraeli, Thomas Carlyle, Alfred d`Orsay, Oscar Wilde, Max Beerbohm und Aubrey Beardsley. Zusätzlich untersucht er die Entwicklung des Dandytums innerhalb der französischen Kultur, nebst Persönlichkeiten wie Barbey d`Aurevilly, Charles Baudelaire, Robert de Montesqiou und Boni de Castellane. Das Spektrum der kulturellen Zusammenhänge reicht dabei von Verschwendung bis zur Askese, von satanischer Literatur bis zum Katholizismus, von sexueller Abstinenz bis zur mehr oder weniger offenen Homosexualität. Eine gesonderte Wiedergabe dieser Sachverhalte würde hier den thematischen Rahmen sprengen.

Das britische Dandytum breitete sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in vielen Ländern Europas aus. Erbe beschränkt sich hier auf eine Darstellung des französischen Dandytums – eigentlich schade, denn auch im deutschsprachigen Raum hätte es sicherlich viel Interessantes zu Entdecken gegeben. Analog zu den britischen Klubs etablierte sich in Paris eine neue Salonkultur, in welcher die französischen Dandys verkehren konnten. Insbesondere die nach der französischen Revolution weitgehend entmachteten jungen Adeligen fanden hier eine willkommene Möglichkeit der Ablenkung und Zerstreuung. Exklusive Herrenklubs waren jedoch auch hier bald im Entstehen begriffen. Eine interessante Entwicklung ist insbesondere bei Dandys wie Charles Baudelaire zu vermerken, welche finanziell zu einem bescheidenen Lebensstil gezwungen waren und als Ausgleich das Ideal des Dandytums literarisch überhöhten, indem sie es mit asketischen Motiven verbanden.

Erbe schließt seine Betrachtungen mit einem Ausblick auf die Zukunft des Dandytums im Zeitalter der Massenkultur. Was ist von der Eleganz des Dandys geblieben? Wer widmet sein Leben noch ausschließlich dem Vergnügen und der stilistischen Vervollkommnung? An Menschen, die prinzipiell über ein entsprechendes Budget verfügen, mangelt es nicht. Sicher: Das Bild eines Menschen, welcher den Großteil seiner Lebensspanne für sein modisches Image aufwendet, mag aus heutiger Sicht reichlich absurd erscheinen. Es steckt jedoch mehr dahinter. In unserer hektischen Zeit, in welcher Markenfetischismus und wirtschaftszentriertes Denken dominieren, ist der Dandy im Großen und Ganzen schlichtweg in Vergessenheit geraten.

Eleganz ist eine Frage der individuellen Präferenzen geworden, und doch scheint es, dass es nur mehr Wiederholungen des bereits Bestehenden gibt. Wo alles möglich ist, geschieht oftmals gar nichts – auch die Mode hat sich dem kulturellen Egalitarismus untergeordnet. Es gibt für potenzielle Dandys einfach kein Terrain, keine vollen Entfaltungsmöglichkeiten mehr.

Tatsächlich scheint sich jedoch der kulturelle Anspruch des Dandytums zumindest symbolisch erhalten zu haben. Der französische Modemacher Christian Lacroix etwa hat kürzlich ein neues Design für den „Striding Man“, das berühmte Markenzeiche des Whisky-Herstellers Johnnie Walker, entworfen. Lacroix:

„Der Dandy ist nicht nur ein Synonym für Raffinesse und Extravaganz. Er steht über der Mode und formt seinen eigenen Stil.“

In diesem Sinne kann auch der heutige Individualist von der Extravaganz des Dandytums profitieren. Er kann sich Anregungen für seine persönliche Definition von Stil und Eleganz verschaffen, ohne sich in der (modischen) Beliebigkeit der heutigen Massenkultur zu verlieren. Und er kann neue persönliche Ausdrucksformen für sich selbst in Literatur, Kunst und Mode entdecken.

Fazit: Erbes Untersuchungen genügen den Standards wissenschaftlicher Forschung, lassen aber auch erkennen, dass der Autor von der Thematik selbst begeistert ist. Das einzige, was mir persönlich noch gefehlt hat, ist eine konkrete bildliche Darstellung der einzelnen Modestile in den verschiedenen Epochen des Dandytums. Wer sich umfassend über Grundlagen und Geschichte des Dandytums informieren möchte, kommt an diesem Buch jedoch nicht vorbei. Der Geist der Exklusivität, welcher jederzeit in „Dandys – Virtuosen der Lebenskunst“ präsent ist, offenbart eine positive Reduktion, welche die Lektüre dieses Buches zu einem außergewöhnlichen Genuss werden lässt.

Buttler, Monika – Herzraub

In „Herzraub“ befasst Monika Buttler sich mit der Thematik der Organspende. Durch sorgfältige Recherche und einer gehörigen Portion Sachverstand versteht es die Medizinredakteurin, die Problematik der Explantation (Organspende) beängstigend und eindrücklich zu schildern, ohne dabei in einen reißerischen Erzählstil zu verfallen. Dabei wäre ihr fast ein erstklassiger Wissenschaftsthriller gelungen, hätte sie nicht versucht, das Ganze in einem altmodischem Krimi zu verpacken. Der Versuch, knallharte medizinische Fakten und Schicksale mit den üblichen Zutaten eines Krimis zu vermischen, verursacht in „Herzraub“ am Ende des Romans ein eher schales als befriedigendes Gefühl im Leser.

Zunächst geht es um den Mord an der bekannten Schauspielerin Celia Oswald, die vor zwei Jahren ein Spenderherz und damit ein zweites Leben erhielt. Nun wurde ihr dieses Herz gestohlen. Ein Spaziergänger findet ihre Leiche im Klövensteener Forst, dem Hamburger Stadtwald. Hauptkommissar Werner Danzig und sein Partner Torsten Tügel fangen an, in diesem bizarren Mordfall zu ermitteln. Verdächtig sind natürlich zunächst die engsten Angehörigen: ihr Lebensgefährte Marco Steinmann, ihr Exmann Claus Saalbach und ihr Sohn Alexander. Vorstellbar wäre aber auch, das der Täter aus dem Umfeld der Organspende zu finden ist: ein enger Angehöriger eines Organspenders oder ein Herzkranker, der zu Gunsten von Celia Oswald bei der Organspende übergangen wurde. Motive gibt es viele, doch zunächst tappen die Ermittler trotz der Hilfe der Wissenschaftsjournalistin Laura Fleming, die an einem Buch über Organspende arbeitet, im Dunkeln, auch ein anonymer Tipp führt ins Leere.

In einem zweiten Handlungsstrang geht es um den Regisseur Alexander Oswald, Celia Oswalds Sohn. Kurz nach dem Tod seiner Mutter verliert er bei einer rasanten Fahrt die Kontrolle über sein Motorrad und erleidet ein schweres Schädelhirntrauma. Von den Ärzten wird er als potenzieller Organspender trotz Hirntodes künstlich am Leben gehalten, nun muss sein Vater Claus Saalbach die schwere Entscheidung treffen, ob er die Organe seines Sohnes anderen Menschen spenden will. Dabei versuchen die Mitarbeiter des Organspendedienstes alles, um ihn zu einer Zusage zu bewegen. Schweren Herzens entschließt er sich letztlich, das Herz, und nur das Herz, seines Sohnes zu spenden. Das Transplantationsteam nimmt jedoch gegen seinen ausdrücklichen Wunsch eine Vollspende vor, d. h. dass sämtliche spendbaren Organe entnommen werden, Lunge, Leber, Herz, Bauchspeicheldrüse, Darm, Niere, Augenhornhaut und Knorpel.

Als Claus Saalbach seinen Sohn schließlich beim Bestattungsunternehmer ein letztes Mal sieht, ist er entsetzt, dass Alexander im wahrsten Sinne des Wortes ausgeweidet wurde. Als er beim verantwortlichen Arzt eine Rechtfertigung dafür verlangt, wird er von diesem nur lakonisch abgefertigt: „… Wer ein Organ aus Liebe gibt, der gibt doch auch alles, meinen Sie nicht?“ … „Sind Sie sicher, dass Sie noch zurechnungsfähig sind?“ In seiner Hilflosigkeit wendet sich Claus Saalbach schließlich an eine Selbsthilfe-Gruppe, die NZO (Nein zur Organspende), deren Mitglieder ähnliche Erfahrungen wie er gemacht haben. Dabei trifft er Brigitte Lasbeck, deren Sohn ebenfalls bei einem Motorrad-Unfall ums Leben kam und aufgrund ihrer Einwilligung explantiert wurde. Hier schließt Monika Buttler nun wieder den Bogen zum Mord an Celia Oswald. Denn ausgerechnet die Schauspielerin hat das Herz des fünfundzwanzigjährigen Holger Lasbecks bekommen.

So weit äußerst packend und authentisch geschrieben, doch plötzlich rückt die ganze Thematik der Organspende völlig in den Hintergrund, als die Ermittler beginnen, den Fall zu lösen. Der Herzraub wird zur Nebensache, denn Celia Oswald ist mit Rattengift getötet worden und zwar von dem wahrscheinlichsten Verdächtigen. Im letzten Drittel von „Herzraub“ schafft es Monika Buttler durch das klassische und langweilige Krimifinale, die im ersten Teil aufgebaute Dramatik auf den absoluten Nullpunkt fallen zu lassen.

Ein weiterer Minuspunkt sind eingeführte Handlungstränge, die komplett im Nichts verschwinden. Keine Auflösung, keine Erklärung, nicht einmal Hinweise auf eine Weiterführung der Geschichte in einer Fortsetzung. Wer bedroht die Wissenschaftsjournalistin Laura Flemming? Werden die verantwortlichen Ärzte zur Rechenschaft gezogen und gibt es eine größere Organisation hinter den Organspendediensten, denn die Ärzte und das Krankenhauspersonal bekommen ja offensichtlich ein Kopfgeld für jeden gemeldeten Organspender?

„Herzraub“ ist trotz der Mängel lesenswert, gerade wegen der schonungslosen Ehrlichkeit, mit der die Problematik der Organspende behandelt wird. Ein Thema, das immer noch in der Gesellschaft totgeschwiegen wird, obwohl seit fast 40 Jahren Transplantationen aus der Medizin nicht mehr wegzudenken sind. Wenn über Organspenden berichtet wird, dann immer nur einseitig aus der Sicht des glücklichen Empfängers, nur allzu oft wird vergessen, dass für das neue Leben ein Mensch erst sterben musste.

Scholl-Latour, Peter – Fluch des neuen Jahrtausends, Der

Und immer noch lässt uns alle die weltpolitische Lage nicht los. Während sich Michael Moore mit der transatlantischen Gemengelage auf humorige Weise beschäftigt, gehört Scholl-Latour zu der ernsthaften Literatur, die sich mit dem globalen Dilemma befasst, in welchem auch wir Europäer zwangsläufig mit drinstecken. Der mittlerweile zweite Irak-Krieg kam alles andere als unvorhergesehen und kann bei weitem noch nicht als beendet angesehen werden, trotz alle Beteuerungen aus Übersee und seines nunmehr für eine Amtszeit wiedergewählten Kriegs-Präsidenten Bush. Wenigstens ein Kenner der weltpolitischen Bühne hat schon lange darauf hingewiesen, dass es dazu kommen würde. Peter Scholl-Latour, seines Zeichens deutsches Journalismus-Urgestein und Globetrotter in Sachen Recherche, der Hardy Krüger der deutschen Presse sozusagen, hat es vorausgesehen und wurde nicht müde, das kundzutun.

In diesem vorliegenden Werk, welches Ende 2001 abgeschlossen wurde, zieht er bereits Bilanz über das noch recht junge Jahrtausend. Wiewohl eines, das aber bereits sehr kriegerisch beginnt. Die Brandherde sind mannigfaltig und scheinen nur auf den ersten Blick grundverschieden, doch einen sie mehrere Parallelen: Immer wieder sind die letzte Supermacht USA, der angebliche fundamentalistische Islam und natürlich auch die NATO und die UNO darin verwickelt. Selbst Deutschland steckt trotz der ehemals ach-so-pazifistischen Koalition aus Rot-Grün bis über beide Ohren im Schlamassel des vorgeblichen „Human Rights“-Wahns.

Dass dieses bigotte Streben nach wirtschaftlicher und politischer Macht nicht erst seit der Bush-Regentschaft gepflegt wird und dass so manche UN-Resolution aus ethnischer Sicht gefährlicher Nonsens ist, versucht Scholl-Latour mit „Fluch des neuen Jahrtausemds – Eine Bilanz“ zu verdeutlichen. Er begibt sich auf Spurensuche vom Balkan über den Kaukasus bis zum Hindukusch und der immer noch heißumkämpften Zone am persischen Golf. Überall dort befinden sich die vermeintlichen „Schurkenstaaten“, wobei die einen verdammt, die anderen hingegen beinahe hofiert werden vom großen Weltsheriff. Mit wechselnder Sympathie der USA mal für den einen, dann wieder für den anderen.

_Der Autor_
Peter Scholl-Latour stammt aus Bochum, wurde im Jahre 1924 geboren und kann heute somit auf ein 80-jähriges, äußerst erlebnisreiches Leben zurückblicken. Heute wird die Ikone der deutschen Presse gerne in diversen Talkshows und anderen Sendungen zu seiner Expertise über die derzeit herrschende Politik zwischen der westlichen und der islamischen Welt befragt. Vor allem |n-tv| wird in den letzten Wochen nicht müde, ihn zu diversen Sendeformaten einzuladen. Doch wer ist Peter Scholl-Latour eigentlich? Nun, nicht immer war er Publizist bzw. Reporter – neben seinem Studium an der Sorbonne in Paris, wo er in Politikwissenschaften promovierte, legte er noch einen nach und erwarb in Beirut das Diplom für Islam-Studien. Bevor seine journalistische Zeit 1950 anbrach, diente er in Indochina sogar für die französische Fremdenlegion. Bekannt wurde er jedoch in den Siebzigern, als er damals zusammen mit einer US-Marines-Einheit durch den Dschungel Vietnams krauchte, in der Funktion eines Kriegsberichterstatters (Heute würde man „embedded reporter“ sagen) für das ZDF.

Sein weiterer Werdegang ließ ihn Programmdirektor beim WDR und auch Herausgebers des „Stern“ werden. Sein Fachgebiet ist jedoch stets die Politik respektive der Orient/Islam geblieben, dessen Länder er auch heute noch regelmäßig bereist. Kein Wunder, dass seine fundierte Meinung zum tagesaktuellen Geschehen gerade im Irak-Krieg derzeit so hoch im Kurs steht. Kaum ein westlicher Berichterstatter ist in seinem Leben so weit herumgekommen oder hat eine solche Nähe auch zu den so genannten „Schurkenstaaten“ wie Scholl-Latour – der dort wegen seiner kritischen, aber ehrlichen Sichtweise ebenfalls hoch geschätzt wird und Interviews erhält, wo anderen Journalisten die Türen vielleicht verschlossen bleiben.

_Zum Inhalt_
Scholl-Latour stellt von 1997 bis 2001 beinahe monatlich, manchmal sogar täglich (je nachdem, ob seiner Meinung nach irgendetwas Berichtenswertes vorfiel) seine Gedanken und Reportagen zusammen und präsentiert sie uns Lesern in chronologischer Reihenfolge. Lediglich das Vorwort und das erste Kapitel tanzen aus dieser Zeitlinie, sie sind etwas wie ein Vorgriff auf die folgenden Beiträge, welche er jedoch allesamt seit ihrer Niederschrift unverändert gelassen hat. Zum Teil sind dies wirklich Berichte und Reportagen, die veröffentlicht wurden, andere wiederum basieren auf persönlichen Notizen, die er zu exakt dieser Zeit niederschrieb, als bestimmte Ereignisse ihm ins Auge sprangen. Diese Abschnitte „Kapitel“ zu nennen wäre übertrieben, meist beschränken sich die einzelnen Segmente (versehen mit Überschrift und Datum) auf zwei Seiten pro entsprechendem Datum, selten überschreiten sie sechs oder mehr Seiten.

Die Ausnahme bilden die Abschnitte über das Kosovo bzw. den Balkan-Konflikt, diese gehören grundsätzlich zu den längeren Passagen. Dem Balkan und seiner speziellen Problematik wird ohnedies sehr viel Raum gewidmet, offenbar liegt ihm dieser Krisenherd – den er gerne als „Eiterblase“ bezeichnet – im Kernland Europas sehr am Herzen. Stück für Stück ergibt sich aus vielen kleinen Mosaiksteinchen ein grausiges Gesamtbild unseres Planeten, in welchem es eigentlich nur noch um Machterhalt durch große Konzerne und ihren „Wildwest“-Kapitalismus geht, den fast alle Staaten mit Hurra-Geschrei als Globalisierung bejubeln. Jedenfalls solange man kräftig mitverdient und das Deckmäntelchen der „Human Rights“ gewahrt bleibt – da man bei Nordkorea auf Seiten der Amerikaner generös von Drohgebärden absieht (die haben schließlich Atomwaffen), wird stattdessen kräftig auf die kleinen „Schurkenstaaten“ eingeprügelt. Von Afrika und dem immer wieder entflammenden Kriegen und schweren Menschenrechtsverletzungen dort schweigt des Dichters Höflichkeit (und auch das Gros der Presse) geflissentlich.

Der Wettlauf in Übersee und Russland um die globalen Ressourcen wird anderswo unerbittlich ausgefochten, doch deutlich zeigt sich die Unfähigkeit Europas und der UNO, dem Moloch USA und seinem Hunger nach Allmacht entgegenzutreten. Der schwächelnde, aber unter Wladimir Putin – welchen er gern mit Zar Peter dem Großen vergleicht – wieder erstarkende russische Bär ist als „Evil Empire“, sprich: als Feindbild im Westen weggebrochen und daher müssen jetzt „fundamentalistische“ Islam-Staaten herhalten. Russland kann nicht mehr mithalten und holt sich derweil im Kaukasus eine blutige Nase, beim Geschacher um die Öl- und Gaspipelines, während die Clinton- und später die Bush-Administrationen intrigant und geschickt den Nahen und Mittleren Osten manipulieren, um sich die Ressourcen zu sichern.

Dabei wird die Türkei ebenso geködert wie zunächst der Irak gefördert, beide Staaten wären (und sind geopolitisch) ein exzellenter Brückenkopf und zudem ein Garant dafür, dass die angrenzenden arabischen Staaten es sich zweimal überlegen, das US-Protektorat Israel weiter zu bekämpfen, wenn „Big Brother“ direkt vor ihrer Haustüre campiert. Doch wenngleich man sich den Irak und somit auch den Iran gefügig machen will – auf der anderen Seite der Welt gibt es noch weitere Staaten mit Großmacht-Gelüsten: China, Nordkorea und die so genannten „Tigerstaaten“ in denen es auch brodelt und die endlich auch ein Stück vom Wohlstands-Kuchen haben wollen. China und Nordkorea haben zur Durchsetzung ihrer Ansprüche sogar Nuklear-Potenzial zur Verfügung. Wo wir grade bei Nuklear-Technik sind: Auch Indien, Pakistan und vermutlich der Iran sind im Besitz von Kernwaffen. Armut und religiös angestrichene Machthaber – ein extrem explosives Gemisch: Die Lunte brennt bereits …

_ Meinung_
Hilflos muss die Staatengemeinschaft, allen voran die Institutionen der UNO, immer häufiger zusehen, wie die US-Administration den Ton angibt und fast alle anderen blind – sei es aus wirtschaftlichen Überlegungen oder vor Konformismus – folgen bzw. zwangsläufig folgen müssen. Dies ist seit langen Politik in Washington, doch kaum jemand kann sich gegen diese Vormachtstellung der letzten großen Weltmacht behaupten, Europa schon gar nicht, wie wir in den zurückliegenden Monaten eindrucksvoll miterleben durften.

Schon die Begebenheiten rund um den geschilderten Kosovo-Konflikt ließen laut Scholl-Latour auf die heutige Entwicklung schließen und viele seiner Bedenken, die er damals bereits in sein Tagebuch schrieb, geben ihm heute Recht. Hierbei beweist er aber sein Gespür für ethnische Zusammenhänge, die selbst der UN und auch all den anderen staatlichen Regierungen entgehen oder geflissentlich ignoriert werden. Zu behaupten, dass die derzeitige Weltlage ein „Kampf der Kulturen“ oder gar ein verkappter Glaubenskrieg ist, trifft nur bedingt zu, im Hintergrund stehen – wie meistens – vorrangig wirtschaftliche Interessen.

Obwohl der (Unter-)Titel eindeutig von einer „Bilanz“ spricht, ist dieses Buch eher eine „Never Ending Story“ aneinander gereihter Streiflichter und Gedanken, die Peter Scholl-Latour in die richtige zeitliche Reihenfolge gebracht hat, sich aber beliebig mit aktuellen Geschehnissen fortführen lässt. Da das Buch Ende 2001 / Anfang 2002 herauskam, erscheinen heute viele der Prognosen (auch laut Covertext) „visionär“, dem möchte ich widersprechen, denn eine Vision als solche kommt aus heiterem Himmel und davon kann bei Scholl-Latour wirklich nicht die Rede sein. Vielmehr hat er über viele Jahre – ja, Jahrzehnte – hinweg die weltpolitische Lage und speziell die Lage in den islamischen Staaten unter Beobachtung gehabt und „nur“ die richtigen Schlüsse gezogen: Konsequent, schonungslos und überaus kritisch.

Das Buch dürfte für manchen schwer zu lesen sein, es strotzt vor Fremdworten und Phrasen, die – jedenfalls bei den Kiddies heute – kaum mehr in Gebrauch sind, darunter auch einige geflügelte Worte und Aphorismen in anderen Sprachen, welche manchmal nicht gesondert übersetzt sind. Das gilt im Besonderen für das Französische, welchem sich der Autor immer wieder gerne bedient und zuwendet. Diese leicht archaische Art des Sprachgebrauchs ist sicher nicht jedermanns Sache, passt aber zu seinem Stil und verdeutlicht seinen Standpunkt durch Wortspiele und -wahl.

Es wirkt nicht so, dass Scholl-Latour damit „von oben“ herab missionieren oder belehren will – es ist ganz einfach die Sprache seiner Generation. Als Kenner gerade der islamischen Welt, dem meist sogar bei Diktatoren die Türen für Interviews offen stehen, berichtet er quasi direkt von der „Front“ und das überaus kritisch und mit großer Sachkenntnis der tieferen Zusammenhänge – wenngleich nicht immer sehr distanziert, man merkt, dass ihm die besuchten Länder ans Herz gewachsen sind.

Was mich anbelangt, so kann ich mir förmlich vorstellen, wie Scholl-Latour mit seiner markanten, leicht nasalen Stimme diese Reportagen vorträgt, wie er es seinerzeit im ZDF beim „Länderspiegel“ immer tat und auch heute zum Teil noch in diversen Beiträgen auf verschiedenen Sendern tut. Dadurch, dass es sich streng genommen um Einzelbeiträge handelt, die nicht für ein Buchprojekt wie dieses angepasst wurden, wiederholen sich manche Sätze zwischendrin immer wieder mal fast wortwörtlich. Gerade diese Passagen fallen dem aufmerksamen Leser sehr ins Auge und beweisen rückblickend, dass eben jene Punkte und Einschätzungen, die ihm augenscheinlich so wichtig erschienen, von der Realität heute tatsächlich beinahe Wort für Wort eingeholt wurden.

_Fazit_
Es gibt leider nicht mehr viele Journalisten wie ihn, was teilweise an seinem Alter liegen mag; er hat während seiner langjährigen Karriere die ganze Welt bereist und kann dadurch auf einen Erfahrungsschatz zurückgreifen, der vielen der heutigen Reporter abgeht. Das Buch ist sicher kein leichter Lesestoff (nicht nur wegen der streckenweise archaischen Sprache) und richtet sich eindeutig an Leute, die sich auf der weltpolitischen Bühne, im Bereich der Allgemeinbildung und mit den handelnden Personen auskennen.

Bedauernswerterweise sind für Einsteiger in die Materie keinerlei Karten enthalten, so bleibt dem ambitionierten Nichtkenner der geopolitischen Lage nur der eventuelle Griff zum hoffentlich vorhandenen Atlas. Schade, ein wenig Kartenmaterial hätte dem lesenswerten Werk noch den allerletzten Schliff gegeben, wer allerdings ein wenig im Feuilleton der Presse heimisch ist, kommt auch ohne aus. Die Gliederung und die häppchenweise Präsentation machen es leicht, mal zwischendrin abzusetzen, man findet selbst dann problemlos wieder hinein. Am Stück gelesen, brauchen geübte Bücherwürmer etwa sechs bis sieben Stunden Lesezeit. Insgesamt betrachtet ein Exkurs internationaler Zusammenhänge und ethnisch-politischer Bildung, den man gelesen haben sollte, um die heute vorherrschende Lage auf der Weltbühne besser verstehen zu können.

_Die Buchdaten auf einen Blick:_
Titel: „Der Fluch des neuen Jahrtausends – Eine Bilanz“
Erscheinungsjahr: 2002 (Bertelsmann)
Format: Hardcover m. Schutzumschlag / 320 Seiten
oder: Taschenbuch / 352 Seiten (Goldmann / Mai 2004)
ISBN: 3-570-00537-2 (HC)
ISBN: 3-442-15272-0 (TB)
Preis: ab 9,95 (TB), 22 Euro (HC)

Bass, Bill / Jefferson, Jon – Knochenleser, Der

Knoxville im US-Staat Tennessee gehört zu jenen unglücklichen Städten, die nur über eine echte Sehenswürdigkeit verfügen, mit der indessen rein gar kein touristischer Staat zu machen ist: Hier hat die University of Tennessee in den 1970er Jahren die „Body Farm“ eingerichtet. Dr. Bill Bass, ein forensischer Pathologe, der von kriminalistischen Einrichtungen aller Art immer wieder als Berater bei rätselhaften Leichenfunden zu Rate gezogen wurde, war lange Zeit mit der ärgerlichen Tatsache konfrontiert, dass bei der Bestimmung der Zeit, die so ein „Kunde“ in einem Wald, einem Fluss oder unter dem Fundament eines Hauses gelegen hatte, der Zeitpunkt des Todes einfach nicht präzise festgestellt werden konnte: Niemand wusste wirklich, wie der Prozess der Verwesung ablief.

Aus Gründen, die auf der Hand liegen, waren selbst Wissenschaftler vor grundsätzlichen Forschungen auf diesem Gebiet zurückgeschreckt. Es bedarf einer besonderen Sorte Mensch, um sich planmäßig dem Grauen zu stellen, das Zeit, Feuchtigkeit und vor allem Insekten aus einer Leiche modellieren. Bill Bass ist ein solcher Mensch; zwar nicht immun gegen die unerfreulichen Seiten seiner Wissenschaft, aber mit Leidenschaft dabei, das Notwendige anzugehen. Den letzten Anstoß gab ihm die in ihrer grausigen Komik äußerst unterhaltsame Episode mit einer kopflosen Leiche, die er in einer bizarren Verkettung unglücklicher Zufälle um mehr als ein Jahrhundert falsch datierte.

Anschließend richtete Bass jene Institution ein, die von den dankbaren Medien später „Body Farm“ getauft wurde: Auf einem Stück Land wurden (und werden) Leichen auf den Waldboden oder in Pkw-Kofferräume gelegt, in Wasserbecken getaucht, flach oder tief eingegraben – und dann in Ruhe gelassen; in Ruhe der Fäulnis überlassen, um es beim Wort zu nennen, wobei dieser Vorgang detailliert in Wort und Bild festgehalten wird. Damit gewinnt man Vergleichsdaten, die es möglich machen, Leichen zu „entschlüsseln“, um so Todesursachen und –zeitpunkte zu fixieren.

Dass dies nicht nur Voyeure be- und Igittisten entgeistert, sondern von Wert für die kriminalistische Alltagsarbeit ist, weiß Bass an vielen Beispielen anschaulich zu belegen. So manchem Mörder konnte er ins Handwerk pfuschen, bevor dieser allzu sehr in Serie ging. Auch in der Archäologie sowie in allen Wissenschaften, die an den Überresten von Menschen über Menschen forschen, weiß man die Erkenntnisse zu schätzen, die Bass und seine magenstarken Kolleginnen und Kollegen ihren stinkenden Versuchspersonen entlocken.

Mit den Schilderungen berühmter oder „nur“ interessanter Fälle, an denen er forensisch beteiligt war, verknüpft Bass seine Lebensgeschichte. Beide Bereiche erklären einander, so dass Bass es nie nötig hat, in regelmäßigen Abständen einen neuen Gruselkadaver ins Geschehen zu bringen, um den gelangweilten Leser zu fesseln: „Der Knochenleser“ ist eine Biografie mit rotem Faden, keine kunterbunte Sammlung aberwitziger Anekdoten. An denen spart der Verfasser nicht, aber er stellt sie in den Dienst seiner Geschichte. Diese wird dadurch auch zur Historie der (US-)Forensik in den vergangenen fünfzig Jahren.

Weil Bass dabei das Persönliche nicht scheut, stellt er sich auch der verständlichen Frage, wie ein Mensch nur solche Arbeit tun kann. Unausgesprochen steht sie während der Lektüre immer im Raum. Die Labor- und Feldgeschichten sind spannend, sogar faszinierend, dazu witzig, aber dennoch … Wie schafft der Mann es, Tag für Tag mit faulenden, grässlich anzusehenden Leichen umzugehen, ohne darüber verrückt zu werden?

Die Antwort ist einfach – oder typisch amerikanisch, wenn man so möchte: Es liegt halt ein höheres Ziel und damit ein Sinn in dieser Tätigkeit. Bass sieht sich einerseits als Wissenschaftler, d. h. als Kopf-Mensch, der den Verstand an- und den Bauch (und die Nase) abschaltet, sobald ein „Job“ – die Identifizierung und Untersuchung eines Kadavers – ansteht. Andererseits gibt dies besagter Leiche, die einst ein Mensch war, der unter ungeklärten Umständen das Leben verlor, seine Identität, seine „Stimme“ zurück: Wenn er, Bill Bass, nicht klärt, was zum Zeitpunkt des Todes geschah, kommt ein Mörder davon und kann seine Tat womöglich wiederholen.

Starke Argumente, keine Frage, aber Mr. Bass gehört dennoch eindeutig einem ganz besonderen Menschenschlag an! Möglicherweise ist es ja auch sein Sinn für Humor bzw. die Absurditäten des Lebens & des Todes, die ihn zu seiner Arbeit befähigen. Negativ-Kritiker werden es ihm ankreiden, dass er es manchmal am gebotenen „heiligen“ Ernst mangeln lässt. Sie werden freilich überhaupt wie viele Bürger von Knoxville urteilen: Macht es, wenn es denn sein muss, aber schweigt darüber! Doch Bass ist stolz darauf, was er mit seinem Team geschafft hat. Außerdem will er der Mythenbildung vorbeugen.
Denn die „Body Farm“ ist spätestens seit Anfang der 1990er Jahre in aller Munde, als sie ganz besonderen Besuch bekam: Die ehemalige Forensikerin und spätere Schriftstellerin Patricia Cornwell besuchte Knoxville und ließ sich von Bass in die Geheimnisse der „Farm“ einweihen, die sie anschließend reichlich in einen ihrer enorm erfolgreichen Kay-Scarpetta-Romane („The Body Farm“; dt. „Das geheime ABC der Toten“) einfließen ließ. Seitdem genießt der seltsame Ort fast schon zu viel Publicity; sogar Pfadfindergruppen fragten schon Führungen nach … Faszination und Abscheu liegen beim Thema Tod sehr nahe beieinander!

„Der Knochenleser“ beinhaltet zwei Fotostrecken, die sich glücklicherweise nur in Andeutungen dessen ergehen, was der Verfasser im Text überaus drastisch beim Namen nennt. Der optische Eindruck davon, was den Alltag des Dr. Bass ausmacht, steigert allerdings die Bewunderung für das, was dieser Mann leistet. Seien wir ehrlich: Möchten wir wirklich die Fotos vom Hinterhof jenes pflichtvergessenen Bestatters sehen, der „seine“ Leichen nicht urnengerecht verbrannte, sondern sie zwischen Waldbäumen stapelte, in Schrottautos stopfte oder sonstwie „entsorgte“ – 339 Stück? Da kam es bei der anschließenden Identifizierung zu unerfreulichen Wiedersehensszenen zwischen Familienangehörigen, von denen die Lebenden die Toten längst in der Urne auf dem Kaminsims wähnten … Nein, wir sind Dr. Bass dankbar, dass er uns in klaren Worten, aber nicht gar zu krass über seine Arbeit informiert; darüber hinaus müssen und wollen wir nicht alles wissen! Das überlassen wir den Spezialisten, die es wissen müssen, um es anwenden zu können. Dank Bill Bass (wohltuend unterstützt vom wortgewandten Journalisten Jon Jefferson) ist uns nun klar, dass dieser Job keine Horde ghulischer Frankensteine erfordert, sondern Menschen mit Köpfchen, Herz & stählernen Nasen!

Margolin, Phillip M. – Hand des Dr. Cardoni, Die

Er ist ein echter Widerling, dieser Dr. Vincent Cardoni. Als Chirurg am St. Francis Medical Center in Portland, Oregon, schurigelt er seine Untergebenen. Die Kunstfehlerchen häufen sich, denn der Chirurg hat ein Kokainproblem. Seine schöne Frau, die Assistenzärztin Justine Castle, hat die Scheidung eingereicht, die schmutzig und teuer zu werden verspricht. Außerdem gibt es da womöglich Kontakte zum Drogengangster Martin Breach, dessen Gegner spurlos zu verschwinden pflegen.

Besagter Breach steigt gerade in den illegalen Organhandel ein. Er kauft und verkauft Herzen, Nieren und andere Innereien, deren ursprüngliche Besitzer sich womöglich nicht freiwillig davon trennen wollten. Gerade ist so ein Geschäft geplatzt, wofür Breach Cardoni verantwortlich macht. Der Arzt ahnt nichts von der Gefahr, die ihm durch den rachsüchtigen Gangster entsteht, denn ihn plagen ganz andere Sorgen: Auf dem Grundstück einer abgelegenen Waldhütte, die angeblich ihm gehört, wurden neun verstümmelte Leichen gefunden – offenbar mit Hilfe chirurgischer Instrumente teils zu Tode gefoltert, teils ausgeweidet.

Cardoni beteuert seine Unschuld und heuert als Anwalt den berühmten Frank Jaffe an. Diesem wird seit kurzem von seiner jungen, schönen (etc.) und ehrgeizigen Tochter Amanda assistiert. Mit der schleimigen Trickfertigkeit vorzüglich entlohnter US-Rechtsverdreher gelingt es dem Vater-Tochter-Team tatsächlich, der Polizei gravierende Verfahrensfehler nachzuweisen. Cardoni kommt frei – und vom Regen in die Traufe.

Ist er tatsächlich der Mörder, der jetzt womöglich weitermacht? Besonders Amanda macht dies zu schaffen. Ihre Ermittlungen deuten eine mögliche Schuld der gar nicht so redlichen Ex-Gattin Cardonis an. Amanda und ihr neuer Freund, der junge Arzt Tony Fiori – ein Kollege Dr. Castles – beschatten die Verdächtige und behalten auch Cardoni im Auge. Doch dieser verschwindet – nicht ganz spurlos, denn Amanda findet seine abgetrennte Hand …

Die Zusammenfassung macht es bereits deutlich: Originalität ist nicht gerade das Pfund, mit dem diese Story wuchern könnte. Stattdessen haben wir es mit einem durchschnittlichen Thriller zu tun, der seine grundsätzlich solide Geschichte ziemlich ungeschickt verkauft (und mit einem abstoßenden, die Selbstjustiz feiernden, zudem bei Quentin Tarantino „entliehenen“ Schlussgag ausklingt).

Denn Margolin ist durchaus in der Lage, Spannung und Atmosphäre zu erzeugen. Auch ein zu langsames Tempo kann man ihm nicht vorwerfen. Deshalb verzeihen wir ihm, dass er uns eigentlich nur alten Wein in neuen Schläuchen verkaufen möchte. Sadist killt in Serie, dieses Mal als Arzt, was stets funktioniert, weil uns alle kalte Schauder erfassen, wenn wir uns OP-Tisch und Skalpell vorstellen. Um auf Nummer Sicher zu gehen, konstruiert Margolin einen zweiten Handlungsstrang um einen brutalen Gangster, der zwar „nur“ geschäftsmäßig, aber mindestens genauso eklig mordet.

Vordergründigkeiten à la Kopf im Kühlschrank verfehlen auch nie ihre Wirkung, das laute Gekreisch soll verbergen, dass die Story mächtig über tief ausgefahrene Geleise rattert. Manchmal wird sie allerdings unvermittelt umgeleitet – und dann ist man unwillkürlich gefesselt. Margolin rüttelt gern an den Grundfesten des Plots. Verdächtige werden zu Opfern, Opfer zu Mördern, Mörder zu Marsmenschen … Es ist alles möglich, und manchmal schafft es Margolin sogar, auf dem schmalen Grat zwischen Überraschung und Übertreibung zu balancieren. Bemerkenswert ist es beispielsweise, dass es nach US-Gesetz offenbar möglich ist, als Serienmörder vor Gericht freizukommen, wenn die Beweise für das blutige Tun nicht vorschriftsmäßig erbracht wurden; sie werden dann höchstrichterlich für nichtig erklärt. Kann (oder will) man das glauben? Immerhin fällt uns dies leichter als sich vorgaukeln zu lassen, der untergetauchte Verbrecher könne sich chirurgisch so „umbauen“ lassen, dass sich seine schändlichen Spiele am Schauplatz früherer Übeltaten und unter den Augen ehemaliger Kollegen und Freunde ungestört fortsetzen lassen … (Dies wird nicht der letzte Sturz ins logisch Leere bleiben.)

Eindeutig der Schwachpunkt dieses Romans – die Figurenzeichnung. Was heißt Schwachpunkt: Margolin versetzt seiner gar nicht unflotten Geschichte fast den Todesstoß, indem er sie ausschließlich mit oberflächlichen Pappkameraden besetzt. Man fasst sich bei der Lektüre an den Kopf, weil man es gar nicht glauben kann, dass sich der Autor eine Dreistigkeit dieses Ausmaßes tatsächlich traut. Da treten also alle Hoffungsträger des modernen Thrillers in einem Buch versammelt auf: der taffe Anwalt, der rettungswütige Arzt, die schöne Unschuld, die verdächtige Schöne, der hartnäckige Cop, der degenerierte Gangster, der psychopathische Serienmetzler … Es gibt für sie kein Entrinnen, sie sind an ihre Rollen gebunden, die sie bis zum allerletzten Klischee durchspielen müssen.

Für den europäischen Leser kommt erschwerend hinzu, dass er (und sie) sich nicht recht am Bild des US-Anwalts als Helden erfreuen kann. Viele Seiten füllt Margolin (der selbst Anwalt war) mit salbungsvollen Vorträgen Frank Jaffes, dass es schließlich der Job eines Strafverteidigers sei, seine Klientin freizubekommen. Die Frage der Unschuld ist für ihn sekundär; er hofft aber immerhin, nicht den einen oder anderen Serienmörder oder Kinderschänder wieder auf die Welt losgelassen zu haben …

Töchterchen Amanda, die weibliche Hauptrolle, agiert so naiv, dass man schreien möchte. Sie schlägt sich mit diversen Reiches-Mädchen-will-selbstständig-werden-Problemchen herum, will ein noch schärferer Justiz-Hund als Papi werden und sucht natürlich nebenbei nach Mr. Right. Dass sich genau der scheinbar gefundene Prinz als der wahre Täter erweist, vermag nur Amanda zu verblüffen; selbst der nicht besonders aufmerksame Leser hat das schon circa auf Seite 100 herausgefunden, so auffällig bemüht sich Margolin, ihn unverdächtig wirken zu lassen.

Es wird besser nach dem Zeitsprung über vier Jahre, der den zweiten Teil des Romans einleitet. Möglicherweise wollte Margolin seine Amanda einem Reifeprozess unterziehen. Weil sein schriftstellerisches Talent nun einmal beschränkt ist, muss er dabei halt mit dem Quast und nicht mit der Feder arbeiten. Das betrifft, wie weiter oben skizziert, ebenso das übrige Personal. Der Mörder ist übrigens fast nur Gaststar in seiner Geschichte. Von seinen grausigen Taten hören wir nur indirekt. Ein kluger Schachzug, der die Vorstellungskraft unheilvoll stimuliert – wäre da nicht der Verdacht, dass Margolin auch hier kühl kalkuliert: Offene Folter- und Metzelszenen könnten nämlich die Mainstream-Leserschaft verstören und vom Kauf abhalten. Das gilt auch für Hollywood, das sich womöglich für „Die Hand des Dr. Cardoni“ interessieren könnte, denn Margolin hat sein Bestes getan, alle Elemente eines Drehbuchs für einen potenziellen Blockbuster zusammenzutragen …

Phillip M. Margolin wurde 1944 in New York geboren. Nach dem College studierte er Jura in Washington und New York. Zwischenzeitlich ging er für zwei Jahre mit dem Friedenscorps der Vereinigten Staaten nach Monrovia. Der studentischen Puppenhülle entschlüpft, zog Margolin nach Oregon und eröffnete eine Anwaltskanzlei. Hier spezialisierte er sich als Strafverteidiger auf Mordfälle und war damit (nach US-Maßstäben) anscheinend recht erfolgreich.

Seit den späten 1970er Jahren verfolgte Margolin seine schriftstellerischen Ambitionen. Nach einigen Jahren zeichneten sich solche Erfolge ab, dass er sich ab 1996 ganz dem Schreiben widmete. Margolins Romane haben Stammplätze auf den US-Bestsellerlisten. Sein unbedingter Wille, es allen Recht zu machen, wird dabei keine geringe Rolle spielen.

Phillip M. Margolin lebt mit Frau und zwei Kindern in Portland, Oregon.

Homepage des Autors: http://www.phillipmargolin.com/

Mankell, Henning – Brandmauer, Die

Kriminalromane sind in Deutschland so populär wie nie zuvor, und besonders schwedische Krimis stehen auf der Beliebtheitsskala dank Henning Mankell ganz weit oben. Der größtenteils in Afrika lebende Autor hat mit Kurt Wallander einen Kommissar geschaffen, der an Authentizität möglicherweise unübertroffen ist. Bei der „Brandmauer“ („Brandvägg“, 1998) handelt es sich leider um den letzten Fall, den Kurt Wallander in Ystad zu lösen hat.

_Wallander wird alt_
Inzwischen hat Kurt Wallander das stolze Alter von 50 Jahren erreicht, sodass ihm nur noch etwa zehn Jahre bis zur lang ersehnten Pensionierung bleiben. Einst war er mit Mona verheiratet, doch bereits vor „Mörder ohne Gesicht“ hatten die beiden sich getrennt. Aus der Ehe geblieben ist Wallander seine Tochter Linda, zu der er ein sehr wechselhaftes Verhältnis hat; mal verstehen die beiden sich blendend, mal scheint Linda ihrem Vater völlig entrückt zu sein. Wallander ist kein großer Held, er wird eher von vielen Zweifeln geplagt, ob sein Beruf wirklich noch das Richtige für ihn und er den immer schwierigeren Belastungen noch gewachsen ist. Bei Wallander wurde unlängst Diabetes diagnostiziert, sodass er inzwischen seinen Lebenswandel umstellen musste. Mittlerweile hat er etwas abgenommen und sich tägliche Spaziergänge zur Gewohnheit gemacht, aber auch das macht ihn nicht viel glücklicher, Wallander fühlt sich einsam, denn auch seine Beziehung zu Baiba Liepa, die in Riga lebt, ist in die Brüche gegangen, sein ehemals bester Freund Sten Widen will auswandern und auch sein exzentrischer Vater ist inzwischen gestorben. Was bleibt ihm noch?

_Mord oder Selbstmord – das ist hier die Frage_
Zu Beginn lernt der Leser kurz Tynnes Falk kennen, der sorgfältig seinen Tagesablauf notiert und eines Abends noch einmal spazieren gehen will. Er holt am Bankautomaten einen Kontoauszug und denkt, dass alles in Ordnung ist. Doch danach kann er sich an nichts mehr erinnern. Kurz darauf wird seine Leiche vor dem Bankautomaten aufgefunden.

Fast zur gleichen Zeit wird ein Anschlag auf den Taxifahrer Lundberg verübt. Zwei junge Mädchen, nämlich die neunzehnjährige Sonja Hökberg und die erst vierzehnjährige Eva Persson, überfallen den Taxifahrer, schlagen ihm mehrmals mit einem Hammer auf den Kopf und stechen ihm ein Messer in die Brust. Kurze Zeit später erliegt Lundberg seinen schweren Verletzungen und Wallander ist entsetzt angesichts der brutalen Gewalt, mit der die beiden jungen Mädchen vorgegangen sind. Schnell gestehen die beiden ihre Tat, zeigen allerdings keine Reue. Warum bloß haben sie den unschuldigen Taxifahrer angegriffen?

Wallander versteht die Welt nicht mehr, was ist passiert, dass junge Frauen so eiskalt sein können? Bald darauf kann Sonja Hökberg aus ihrer Haft fliehen, gleichzeitig zieht Eva Persson ihr Geständnis zurück. Dann fällt in Ystad der Strom aus und eine verkohlte Leiche wird in der Transformatorstation gefunden. War es Selbstmord oder Mord? Wie konnte die Tür zum Häuschen aufgeschlossen werden, obwohl die Schlüssel nur wenigen Menschen zugänglich sind? Wie hängen all diese mysteriösen Todesfälle zusammen? Wallander und seine Kollegen tappen im Dunkeln. Gleichzeitig gibt Wallander eine Kontaktanzeige auf, um vielleicht eine Frau kennen zu lernen. Zunächst ist er skeptisch, aber vielleicht wird ihm doch eine Frau antworten …

_Mankell-Wallandersche Betrachtungen_
Für mich ist und bleibt Henning Mankell ein echtes Phänomen. Seine Krimis sind absolute Weltspitze und reißen den Leser von Beginn an mit, selten habe ich spannendere Bücher gelesen. Auch hier steigen wir mitten in die Geschichte ein und schon im ersten Kapitel kommt Tynnes Falk ums Leben. Die Polizei steht vor einem Rätsel, denn Falks Todesursache bleibt lange Zeit im Dunkeln. Gleich am Anfang überschlagen sich die Ereignisse, denn sowohl zum Thema Tynnes Falk gibt es schnell neue Erkenntnisse, wie auch im Fall um Sonja Hökberg. Um den Leser und seine Aufmerksamkeit an keiner Stelle zu verlieren, baut Mankell regelmäßig Cliffhanger ein. Oftmals hängt Wallander seinen Gedanken nach:

|“Er konnte seinen Gedankengang nicht klar zu Ende denken. Aber er wusste, dass er wichtig war.“|

Als Leser könnte man Wallander dann nur zu gern am Kragen packen und schütteln, um seinen Denkprozess voranzutreiben, denn diese Ungewissheit ist kaum auszuhalten.

Einmal streut Mankell die Information ein, dass Wallander einen so schwerwiegenden Fehler begeht, dass er später immer wieder daran zurückdenken muss. Wallander befürchtet, an einem weiteren Todesfall schuldig zu sein und man fiebert der Auflösung dieses Fehlers entgegen, auf die man allerdings fast bis zum Schluss des Buches warten muss.

|“Später sollte Wallander stets denken, dass er an jenem Nachmittag, als er in seinem Büro saß und Ann-Britt zuhörte, einen der größten Fehler seines Lebens begangen hatte. Als sie von ihrer Entdeckung berichtete, dass Sonja Hökberg sehr wohl einen Freund gehabt hatte, hätte er sogleich begreifen müssen, dass an der Geschichte etwas faul war. Ann-Britt hatte nicht die ganze Wahrheit ausgegraben, sondern nur die halbe. Und halbe Wahrheiten haben, wie er wusste, die Tendenz, sich in ganze Lügen zu verwandeln. Er sah nicht, was er hätte sehen müssen. Sein Fehler musste teuer bezahlt werden. In finsteren Stunden dachte Wallander, dass sein Versagen zum Tod eines Menschen beigetragen hatte. Und es hätte dazu führen können, dass eine andere Katastrophe tatsächlich eingetreten wäre.“|

Der Spannungsbogen ist wieder nahezu perfekt gelungen, die letzten 350 Seiten habe ich praktisch an einem Stück gelesen, weil ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte. Mankell bräuchte meiner Meinung nach gar keine Cliffhanger, um seine Leser bei Laune zu halten, seine Geschichten wären auch ohne sie spannender als die meisten anderen Kriminalfälle. Interessant ist bei der „Brandmauer“ darüber hinaus, dass scheinbar gar nicht zusammenhängende Fälle doch miteinander verwoben sind. Mal gibt es neue Erkenntnisse zum einen Fall, dann wieder welche zum anderen Fall, doch erfährt man bis kurz vor Schluss nicht die wahren Zusammenhänge und ist dadurch ständig am Miträtseln. Sehr verwirrend war auch, dass Wallander zwischendurch ab und an Spuren verfolgt, die logisch klingen und Wallanders berühmter Intuition entspringen, die aber dennoch in eine falsche Richtung weisen. Als Leser kann man also nie sicher sein, ob man sich auf der richtigen Spur befindet. Mankell spielt gerne mit den Informationen über die Täter und ihre Motive, so ist der Leser oftmals der Kriminalpolizei einen Schritt voraus. An einer Stelle erfahren wir einige Kleinigkeiten über den Drahtzieher hinter den Morden und lernen einen Komplizen kennen. Wallander dagegen ist ahnungslos und weiß nicht, wem er trauen kann und wem nicht. Das führt dazu, dass man Wallander in sein Verderben rennen sieht und immer weiter hoffen muss, dass er noch rechtzeitig bemerken wird, wer die Komplizen des Drahtziehers sind.

_Faszination Wallander_
Wieder einmal steht Kurt Wallander im Mittelpunkt des Geschehens. Mankell legt stets viel Wert auf die Charakterzeichnung seines nicht-perfekten Krimihelden. In diesem Fall hadert Wallander mit sich und seiner Einsamkeit. Am liebsten würde er ausbrechen aus seinem Alltag und seine Arbeit hinschmeißen, wie es auch andere seiner Bekannten getan haben. Zudem fühlt er sich einsam, da ihm die Frau an seiner Seite fehlt. Als Linda ihm dann eine Kontaktanzeige vorschlägt, ist Wallander zunächst skeptisch, gibt dann aber schweren Herzens doch eine auf. Ein wenig Bergauf geht es mit seiner Gesundheit, denn Wallander hat etwas abgenommen und mit dem Rauchen aufgehört. Gewann man in anderen Fällen noch den Eindruck, dass Wallander auch ein kleines Problem mit dem Alkohol hat, scheint er dieses inzwischen in den Griff bekommen zu haben. In jedem Wallanderkrimi kommen neue Mosaiksteinchen hinzu, die das Bild unseres Krimihelden immer weiter vervollständigen, sodass dieses im Laufe der Reihe immer detaillierter wird. Dadurch wächst einem Wallander richtig ans Herz, man leidet mit ihm mit, wenn er sich einmal mehr einsam und verlassen fühlt oder er es wieder nicht schafft, seine Wäsche zu waschen (dieses Mal bringt er das allerdings einmal zustande!). Wallander wird einem zunehmend sympathischer, je mehr man über ihn liest, zumindest ging das mir so und auch allen, mit denen ich bisher darüber gesprochen habe.

Mankell schafft es sogar im Laufe der gesamten Krimireihe, auch seine anderen Figuren immer weiter auszubauen, so werden darüber hinaus Wallanders Kollegen besser vorgestellt, besonders über Martinsson wird man in der „Brandmauer“ einige interessante Dinge erfahren. Ann-Britt Höglund erlebt in diesem Roman ähnlich wie Wallander zuvor persönliche Schicksalsschläge und wird immer mehr zu seiner Lieblingskollegin.

Neben der ausführlichen Charakterzeichnung der handelnden Personen ist eine weitere Besonderheit der Mankell-Krimis die meist enthaltene „Botschaft fürs Leben“; so wird auch hier wieder ein Problem behandelt, das die heutige Gesellschaft kritisieren soll. In seinem Nachwort schreibt Mankell dann auch, dass er sich vorstellen könne, dass dies durchaus so geschehen könnte, wie er es für seinen Krimi erfunden hat. Im Mittelpunkt stehen dieses Mal nicht politische Missstände, sondern die Verwundbarkeit der heutigen Gesellschaft. Was man darunter genau zu verstehen hat, wird ausführlich im Buch beschrieben, würde hier aber zu viel verraten. Ich persönlich fand die Idee nicht schlecht, dieses Problem aufzugreifen, auch wenn „Die Brandmauer“ dadurch vielleicht nicht ganz das Gewicht erhält wie zum Beispiel „Die weiße Löwin“. Am Ende war ich dann doch ein ganz klein wenig enttäuscht, dass nicht mehr hinter den Ereignissen steckte, aber das ist natürlich Geschmackssache.

Obwohl in jedem der Wallander-Krimis ein neuer Fall aufgeklärt werden muss, ist es doch wichtig, dass man die Bücher in chronologischer Reihenfolge liest, denn Mankell spielt in allen seinen Büchern auf bereits vergangene Ereignisse an. Dieses Mal geht er sogar ein Stück weiter und deutet diese nicht nur an, sondern beschreibt recht ausführlich den Täter aus „Die falsche Fährte“. Unfreiwillig werden dem Leser neben dem Mörder auch einige seiner Opfer und sein Motiv verraten, hier verrät Mankell so viel wie nie zuvor über einen vergangenen Krimi.

_Was am Ende übrig bleibt_
Insgesamt ist Henning Mankell mit der „Brandmauer“ ein mehr als solider Krimi gelungen, der spannender ist als die Romane seiner skandinavischen Kollegen, allerdings nicht ganz heranreichen kann an „Die weiße Löwin“ oder auch „Mittsommermord“, dennoch ist der Fall wieder hochspannend und brisant. Das Buch unterhält gut und man kann es praktisch kaum noch aus der Hand legen, wenn man erst einmal damit angefangen hat.

Deutsche Wallanderseite: http://www.wallander-web.de/

Weis, René – Welt ist des Teufels, Die. Die Geschichte der letzten Katharer 1290 – 1329

Über die Katharer, eine gnostische Bewegung, und deren gnadenlose Ausrottung durch die christliche Kirche wurde viel geschrieben, veröffentlicht und spekuliert. Konsens dabei ist, dass die Katharer (die „Reinen“) in ihrer Glaubensvorstellung tatsächlich nicht denjenigen gnostischen Strömungen zuzuordnen sind, welche Sexualität als Mittel zur Erleuchtung benutzten. Die Katharer sahen die materielle Welt als sündhaftes Werk des Teufels und versuchten, die Seelen aus dem Kreislauf der Wiedergeburt zu befreien. Im Extremfall wählten sie die |Endura|, den heiligen Märtyrerweg des Verhungerns durch vollkommene Entsagung. Sexualität fand offiziell bei den Katharern nicht statt.

Dennoch wurden den Katharern aber von der Inquisition die perversesten Sexualdelikte zum Vorwurf gemacht. Der Autor untersuchte jahrelang alle Berichte der Inquisition, besuchte die heutigen Stätten und versuchte, Historisches zu rekonstruieren. Herausgekommen ist eine detaillierte Beschreibung einzelner verfolgter Familien; ganze Dorfgeschichten mit den Verhältnissen der Bewohner untereinander werden akribisch vorgelegt. Anhand der Aufzählung dieser Quellen stellt das Buch wirklich keine leichte, sondern vielmehr eine sehr anstrengende Lektüre dar. Aber wer sich die Mühe macht, sich durch den Text zu kämpfen, erhält einen wirklichen Einblick in die Gepflogenheiten der Katharer.

Und Sexualität lässt sich nun mal gesellschaftlich nicht unterdrücken. Da der Geschlechtsverkehr nach katharischer Lehre unter Eheleuten noch sündhafter sei als mit Fremden wurde tatsächlich gebuhlt, was nur geht. Gerade die katharischen Priester nutzten ihre Autorität und Macht dafür aus, viele Frauen aus den Dörfern als Konkubinen zu haben. Die Arten der sexuellen Begegnungen werden offen in allen Details vorgelegt; wie und auf welche Weise der Geschlechtsverkehr stattfand, welche oralen Praktiken betrieben wurden und so weiter und so fort. Alle sexuellen Verhältnisse werden mit Namen, Zeit und Ort rekonstruiert. Eine historische Sittengeschichte der Kultur der Katharer zwischen religiösem Ideal und sozialer Wirklichkeit, wie sie zuvor noch nicht vorgelegt wurde.

Die Entscheidung des |Lübbe|-Verlages, solch ein anstrengendes Buch zu publizieren, ist mutig, aber aufgrund des gegenwärtigen Interesses an vielleicht „sensationellen“ Neuigkeiten über die Geheimnisse der Katharer findet das Werk sicherlich auch seine Käufer.

Mehr Informationen unter http://de.wikipedia.org/wiki/Katharer.

John S. Marr – Die achte Posaune

Das geschieht:

Zwei Jahre ist es her, dass die Welt (= die Vereinigten Staaten von Amerika) vom irren Reagenzglas-Psychopathen und Bio-Terroristen Theodore Graham Kameron heimgesucht wurde. Die zehn Plagen des Alten Testaments hatte der geniale, unter akutem religiösen Wahnsinn leidende Naturwissenschaftler in seinem Labor heraufbeschworen: dies sehr erfolgreich und mit für seine zahlreichen Opfer unerfreulichen Folgen.

Auf die Schliche gekommen war dem selbst ernannten Engel des Bösen damals Jack Bryce, Spezialist für Infektionskrankheiten. Noch heute leidet er unter den Folgen der Hetzjagd, die ihn das große Finale nur arg ramponiert überleben ließ. Schlimmer: Kameron konnte entkommen. Für die Behörden gilt er als tot, aber Bryce weiß es bald besser. Wie nahe ihm sein Feind ist, ahnt er nicht: Im US-Südstaat Virginia hat Bryce eine Stelle als Universitätsdozent angenommen. Der Zufall (bzw. die von Hollywood geprägte Dramaturgie des modernen Bestseller-Thrillers) hat ihn dorthin verschlagen, wo der Kameron-Clan – dessen Angehörige schon immer verhaltensauffällig waren – seit 150 Jahren Übles treibt.

Theodore wandelt auf den Spuren seiner Vorfahren. Wieder plant er die Welt für allerlei sündhaftes Tun zu strafen. Dieses Mal wählt er eine besonders widerliche Methode: Er malträtiert seine Opfer mit Würmern, Zecken oder Blutegeln, die er zusätzlich mit exotischen Krankheitskeimen auflädt. Im Inneren eines menschlichen Körpers entwickelt sich diese Höllenbrut prächtig, um dann am Tage X hungrig über die Organe ihres Wirtes herzufallen. Das garantiert ein eindrucksvolles Sterben, wie u. a. Shmuel Berger bestätigen kann (Kotztüten bereithalten!), dessen Studienfreund und Zimmergenosse just auf diese Weise zu Tode kam. Shmuel hatte damals geholfen, dem entfesselten Kameron das Handwerk zu legen. Mit im Bunde waren Vicky Wade, Fernsehreporterin, und FBI-Agent Scott Hubbard, die Kameron ebenfalls nicht vergessen hat.

Doch zunächst gilt es die übliche Alltagsarbeit eines gemeingefährlichen Irren zu verrichten. Kameron kontaminiert diverse Pechvögel mit seinen Parasiten, um jene Angst und jenen Schrecken zu säen, nach dem er süchtig ist. Lange dauert es nicht, bis Jack Bryce aufmerksam wird. Glücklicherweise hat er an seinem neuen Wirkungsort einige Verbündete gefunden, die mit den alten Mitstreitern dafür sorgen werden, dass die Posaune des achten Engels vorläufig noch im Schrank bleibt …

Mikro-Wesen säen Makro-Schrecken

Doch bis es soweit ist, gibt es wieder tüchtig Action und Krawall, in die sich dieses Mal mehr als ein ordentliches Quäntchen Splatter mischt. Recht unappetitlich fällt Kamerons zweite Attacke auf die sündige Menschheit aus. Was bleibt einem hart arbeitenden Unterhaltungs-Schriftsteller schon übrig, um auf dem umkämpften Markt des Medizin-Thrillers die leidige Konkurrenz auszustechen? Ekel mit der groben Kelle ist immer gut fürs Geschäft; die Leser lieben ihn, und die Tugendbolde schäumen, was für gern gesehene Gratis-Werbung sorgt.

Natürlich ist „Die achte Posaune“ ein Reißbrett-Roman von der ersten bis zur letzten Zeile. Hier wurde rein gar nichts dem Zufall überlassen. Nur bewährte Thriller-Elemente fanden Verwendung in einem mechanisch geplotteten Werk, das seinen Verfasser an die Spitze der Bestseller-Listen tragen sollte. Das hat recht gut geklappt. So schlecht klingt diese „Posaune“ außerdem nicht. Wenn man Überraschungen hasst und Remmidemmi liebt, kommt man auf seine Kosten.

Noch besser: Die Handlung entwickelt sich geradezu surreal, scheut nie vor dem völlig Absurden zurück und streift sogar den blanken Horror. Theodore Kameron entpuppt sich als letzter Vertreter einer wahrlich verdammten Sippe von Lumpen, Irren, Kannibalen und Serienkillern, die seit Jahrhunderten erst im alten Europa und dann in der Neuen Welt ihr Unwesen treiben. Das ist einfach hirnrissig, wird aber hinreißend erzählt.

Vollgas nach Stotter-Start

Dies sorgt für echte Verblüffung: John Marr gehört zu den seltenen Autoren, die denkbar ungeschickt starten, um sich dann zu echten Geschichtenerzählern zu mausern. „Die achte Posaune“ ist auch mit einer zweiten Eigenschaft etwas Seltenes: der zweite Teil einer Story, die den ersten deutlich übertrifft. Absurd ist dieses Garn zweifellos, aber eben auch vergnüglich und spannend, und wenn der erfahrene Thriller-Leser auch stets im Bilde ist, so geschieht doch ständig etwas, das die Aufmerksamkeit fesseln kann.

Liegt es daran, dass Marr das zweite Bryce/Kameron-Spektakel im Alleingang entfesselt? John Baldwin, Co-Autor von „The Eleventh Plague“ (1998; dt. „Die elfte Plage“) genoss derweil die Freuden der Vaterschaft, wie wir dem Nachwort entnehmen. Eine weitere Fortsetzung wäre möglich, denn der böse Hannibal Frankenstein entkommt schon wieder seinen Häschern!

Das lässt den Leser nicht leise aufstöhnen, sondern kann sogar Erwartungen wecken. Mit „Teddy“ Kameron ist Marr ein wirklich schaurig-schillernder Bösewicht gelungen. Heimlich, still und leise führt er seinen bizarren Ein-Mann-Krieg gegen den Rest der Welt und legt dabei einen ausgeprägten Sinn für schräge Einfälle an den Tag.

Medizinschrank als Gruselkabinett

Sind die beschriebenen Schrecken realistisch? Das bleibt Nebensache. Sie lesen sich jedenfalls spannend. Sein außerordentliches Hintergrundwissen bringt Marr, ein studierter Mediziner und Seuchenspezialist, der viele Jahre das Gesundheitsamt der Stadt New York leitete, dieses Mal deutlich souveräner als noch in „Die elfte Plage“ ins Spiel bzw. in den Dienst seiner Geschichte. Todesviren ziehen in Literatur und Film immer, und Marr weiß, wovon und wie man schreibt.

Leserherz (bzw. -hirn), was willst Du mehr? Manchmal wünscht man sich, Marr in seinem Enthusiasmus bremsen zu können, denn der Kampf gegen den biologischen Terror, der ganz real und auch ohne Dr. Kamerons Nachhilfe über die Menschheit kommen kann, ist dem Verfasser ein echtes Anliegen. Mehrfach unterbricht er seine Geschichte mit ausführlichen Referaten über Seuchen, die per Schiff oder Flugzeug in Windeseile um den Globus reisen, sich mit harmlosen einheimischen Krankheiten mischen und sich in das Unsägliche verwandeln könnten. Stört das den Fluss der Geschichte? Ganz erheblich, obwohl der Leser gern zugibt, dass solche Hintergrundinformationen das furchtsame Schütteln noch steigern!

Dass Marr seine Leser zwar ernst nimmt, um die ironischen Aspekte seiner Schauermär aber sehr wohl weiß, demonstriert er u. a. mit der Figur des Dwight Fry, den die Faszination in den Bann des dämonischen Dr. Kameron zwingt. Der Horrorfan erkennt die Anspielung: Dwight Frye (1899-1943) war der Schauspieler, der im Filmklassiker „Frankenstein“ (1931) die Rolle des „Fritz“ spielt, seinem Herrn hündisch ergeben ist und seinen Teil dazu beiträgt, Frankensteins Monster über die Welt zu bringen. Marrs Fry entspringt darüber hinaus dem legendären Schocker „Freaks“ (1931), den Regisseur Tod Browning mit tatsächlich körperbehinderten Männern und Frauen besetzte, die sich normalerweise ihren Lebensunterhalt als Jahrmarkts-Monstrositäten verdienten. Unter ihnen, die gequält und betrogen werden, bis sie sich gegen ihre Peiniger erheben: Johnny Eck, ein junger Mann ohne Unterleib!

Drama ohne Finale

Für den dümmlichen deutschen Titel, der wieder einmal platt das Alte Testament bemüht, um geradezu apokalyptische Dramatik zu suggerieren, dürfen wir den Verfasser nicht verantwortlich machen. Dem war „Wormwood“, also „Wermut“ eingefallen, aus dem u. a. der berüchtigte, halluzinogene und süchtig machende Absinth hergestellt wurde.

Teddy ist überaus einfallsreich, und der Wahnsinn liegt bei den Kamerons offensichtlich in den Genen. Hinter den Kulissen der Weltgeschichte waren sie schon immer für allerlei Schauerlichkeiten verantwortlich. Möglicherweise ist Theodore nur die Spitze des Eisbergs: Es gibt da einen finsteren, alten, komplexen Plan, der von Jack Bryce und seinen wackeren Gefährten bisher nur in Ansätzen enthüllt wurde. Die wiederum flüchtige Kameron selbst plant jedenfalls noch Großes für die Zukunft.

Wir sind durchaus gespannt. Auf eine Fortsetzung dürfen wir aber offenbar nicht mehr hoffen. John S. Marr, der so schwungvoll vom Arzt zum Unterhaltungsschriftsteller wurde, hat nach „Die achte Posaune“ keinen weiteren Roman geschrieben, sondern kehrte zur ‚reinen‘ Medizin zurück.

Taschenbuch: 477 Seiten
Originaltitel: Wormwood (New York : Frog City Ltd. 2000)
Übersetzung: Axel Merz
http://www.luebbe.de

Der Autor vergibt: (3.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (9 Stimmen, Durchschnitt: 1,22 von 5)

Lincoln Child – Das Patent

Das geschieht:

„Utopia“, der größte und modernste Freizeitpark der Welt, ist eine Schöpfung des unlängst verstorbenen Zauberkünstlers und Visionärs Eric Nightingale. In der Wüste des US-Staats Nevada erhebt sich die gigantische Kuppel, unter der vier virtuelle Welten perfekter Illusionen täglich bis zu 70.000 Besucher anlocken. Doch es gibt Ärger im bisher so einträglichen Paradies: Die Roboter, die vor und hinter den Kulissen aktiv sind, zeigen seit einiger Zeit Fehlfunktionen. Gerade hat eine fehlgeleitete Reparaturmaschine eine katastrophale Achterbahn-Entgleisung provoziert. Funktioniert etwa „Metanet“, das neurale Netz zur zentral Steuerung, nicht mehr richtig? Oder probt es womöglich den Aufstand? Dazu könnte es fähig sein, wurde es doch von seinem Schöpfer als lernfähige künstliche Intelligenz entworfen.

Sarah Boatwright, die ehrgeizige Geschäftsführerin von „Utopia“, ruft Dr. Andrew Warne nach Nevada. Der kommt gern, denn mit seiner Karriere steht es schlecht. Auch lockt ihn die Anwesenheit Boatwrights, mit der ihn einst ein Verhältnis verband. Der Wissenschaftler ahnt nicht, dass die Fehlfunktionen auf das Konto einer Bande entschlossener Industriespione gehen. Unter der Leitung des charismatischen aber völlig skrupellosen „John Doe“ haben sie das „Metanet“ infiltriert. Nun schlagen sie zu, postieren Heckenschützen, legen Zeitbomben, nehmen die gesamten Besucher als Geiseln, um die Herausgabe des revolutionären Patents zu erzwingen, auf dem die Attraktionen von „Utopia“ basieren. Die Technik ließe sich von findigen Schurkenstaaten in eine Waffe verwandeln, die der Weltpolizei USA schwer zu schaffen machen könnte. Lincoln Child – Das Patent weiterlesen

Robert Jordan – Suche nach dem Auge der Welt, Die (Das Rad der Zeit 1 – Das Original)

Seit Jahren ärgere ich mich immer wieder, dass die Regale in den Buchläden mit lauter „Rad der Zeit“-Romanen verstopft sind (Inzwischen ist Band 28 herausgekommen plus ein Band mit der Vorgeschichte!). Einmal habe ich ein Remittenden-Exemplar gekauft und versucht, den Geist der Endlos-Serie zu schnuppern, der sie zu einem Bestseller gemacht hat. Entnervt habe ich das Buch nach 50 Seiten weggelegt, erschlagen von nichts sagenden Namen, Titeln, Orten und kursiv gedruckten Bezeichnungen. Viel Handlung gab es auch nicht, nur ewiges Herumgereite und tiefsinnige Gespräche über unverständliche magische und geschichtliche Zusammenhänge.

Robert Jordan – Suche nach dem Auge der Welt, Die (Das Rad der Zeit 1 – Das Original) weiterlesen

Tolkien, J. R. R. – Silmarillion, Das

Er ist wohl der berühmteste Autor von Fantasy-Literatur, der bislang auf unserem kleinen Planeten zu wandeln geruhte und uns die Meisterwerke rund um Mittelerde hinterlassen hat. Kein anderer Autor hat dieses Genre so beeinflusst wie John Ronald Reuel Tolkien und selbst Harry-Potter-Schöpferin Joanne K. Rowling hat sich – wie schon so viele andere vor ihr – ganz mächtig für ihren Zauberlehrling beim Altmeister und Gebieter über Orks, Trolle und Drachen bedient.

Die Krefelder Metaller BLIND GUARDIAN haben in ihren Alben immer wieder Tolkien-Themen angepackt und sogar so etwa, wie den kompletten Soundtrack zu eben diesem Buch geliefert: |“Nightfall in Middle Earth“|. Doch gerade durch die kaum zu toppende Verfilmung der „Herr der Ringe“-Trilogie von Peter Jackson ist sein Lebens-Werk wieder verstärkt ins Bewusstsein gerückt.

Doch heute soll es um die Anfänge der Mittelerde gehen, nicht um den erst viel später stattfindenden Ringkrieg, der im HdR seinen Höhepunkt findet. Nein, heute kümmern wir uns um das, was davor geschah und zwar nicht unmittelbar davor, als Bilbo den |Einen Ring| in „Der Hobbit“ findet, sondern noch einige tausend Jahre vorher, als die Elben zunächst noch nicht und später als junges Volk durch die Gestade Mittelerdes wandelten und die ersten Menschen erst langsam auftauchten.

All diese Geschichten finden sich in „Das Silmarillion“, welches Tolkiens Sohn Christopher erst nach dem Tod JRRs zusammenstellte und veröffentlichte. Es geht hierbei um die ersten beiden Zeitalter des legendären Elbenreichs Valinor und der Blütezeit des Menschengeschlechts des Landes Númenór, welches von Sauron später verraten und zerschmettert wird, was im „Dritten Zeitalter“ zu den Begebenheiten führen, die wir als HdR-Trilogie kennen …

_Die Umstände der Veröffentlichung_

Sicher kommt man in einer solchen Rezension nicht umhin, ein paar Worte zum Autor zu verlieren, jedoch halte ich das so knapp wie nur irgend möglich, denn die genaue Biographie Tolkiens kann man in vielerlei Quellen nachlesen, daher hier nur ein paar allgemeine Infos zum besseren Verständnis. Es soll ja tatsächlich Menschen geben, die weder von Tolkien noch von seinen Werken jemals was gehört haben. Unvorstellbar, aber wahr.

Anfang der 20er Jahre begann Tolkien als junger Mann in den Wirren des ersten Weltkriegs, sich Geschichten rund um das fiktive Reich Mittelerde auszudenken, als Sprachgenie (später ein angesehener Professor für Sprachwissenschaften), erfand er sogar eine eigene Sprache für das Reich Mittelerde samt eigener Grammatik, Runenschrift usw. Bei der einen Sprache blieb es jedoch nicht, so sprechen die alten Lichtelben beispielsweise anders als die ebenso alten Grauelben und das „heutige“ (zur Zeit der HdR-Geschichte) Elbenvolk parliert in „Quenya“, einer Mischsprache, aber das nur am Rande.

Tolkien bediente sich für „seine“ Mittelerde in vielerlei Mythologien und so mancher Leser seiner Geschichten wird sich an die Bibel, Homers Atlantis-Sage oder an die skandinavisch-keltische Sagenwelt erinnert fühlen, was von ihm auch durchaus beabsichtigt ist. Das alles diente dem Zweck, seinen Protagonisten einen Stammbaum und einen ordentlich ausgearbeiteten Background zu verpassen, gerade so, als wären seine Storys und Figuren geschichtlich real und nicht erfunden.

Tolkien schrieb generell nie zeitlich zusammenhängend an einem einzelnen Buch, mit einer Ausnahme: |“Der Hobbit“|. Dieser war von vornherein als komplettes Kinderbuch geplant, doch JRR hat schon währenddessen immer wieder Hintergrundmaterial für Mittelerde ersonnen und quasi aus der Luft geschrieben, ganz so wie es ihm in den Kram passte. Was die wenigsten wissen: Der Herr der Ringe ist nicht „in einem Rutsch“ geschrieben worden, sondern stellt ein Konglomerat aus Einzelteilen dar, welches Tolkien nach dem Erfolg vom „Hobbit“ zusammenfügte und noch mal überarbeitete, damit es in sich schlüssig ist.

Was das mit dem „Silmarillion“ zu tun hat? Ganz einfach: Das Silmarillion als solches ist auch kein „Roman“, wie er nun vorliegt, sondern in Wahrheit eine Sammlung von Loseblättern und Kapiteln, die sich JRR zwischendurch und über mehrere Jahrzehnte immer mal wieder als Gedächtnisstütze angefertigt hat, ohne je daraus ein eigenes Buch machen zu wollen, denn einen Teil der Sagen und Personen daraus findet man auch im HdR in Form von Liedern und Anspielungen wieder.

Erst nach JRRs Tod hat sein Sohn Christopher diese Notizen und unvollendeten Kapitel in Buchform gebracht und veröffentlicht. Von ihm stammen auch die meisten Karten und Zeichnungen zum Lebenswerk seines Vaters. Christopher Tolkien hat also lediglich zusammengesetzt, was zusammengehört, und dieses Material in eine chronologische Reihenfolge gebracht, ohne dabei den Inhalt anzutasten. Herausgekommen ist dabei das, was einige heute spöttisch (aber gleichwohl ehrfurchtsvoll) als „Das Telefonbuch der Elben“ titulieren.

_Die Entstehung einer Welt – Zum Inhalt_

Die ersten Kapitel des Silmarillion lesen sich wie ein kruder Mischmasch aus der Bibel und diversen Göttersagen, es geht hier um die Entstehung des Himmelsreiches auf Erden, genauso wie in der Genesis (1. Buch Mose), nur das Jachwe/Jehova hier „Illúvatar“ heißt und noch so einige Göttervertreter hat, die wiederum verschiedenen Aufgabengebiete auf der neu erschaffenen „Mittelerde“ inne haben, ähnlich wie die Götter, die man allgemeinhin aus der ägyptischen, römischen oder griechischen Mythologie kennt.

So findet sich dort ein Anubis nicht unähnlicher Gott namens „Manwe“, der das Totenreich unter seiner Führung hat, das zudem ein wenig an die Ruhmeshalle der nordischen Walhalla erinnert, da gibt’s den Meeresgott, den Gott des (Süß-)Wassers „Ulmo“, der besonders später mit den Grauelben gut Freund ist usw. Diese Vertreter Illúvatars nennen sich Valar und leben auf Mittelerde im Lande Valinor (der Insel der Unsterblichen). Um Mittelerde zu bevölkern, schafft Illúvatar weitere Völker, zunächst die unsterblichen Lichtelben auf Valinor und auf dem Hauptkontinent (dem späteren Mittelerde, wie wir es kennen) auch die Rasse der sterblichen Menschen.

Doch auf Valinor herrscht nicht lange eitel Sonnenschein, denn ein Valar namens Melkor will ganz gerne alles Lebendige vernichten, was Illúvatar geschaffen hat, da er neidisch darauf ist, dass er nicht der Hauptvertreter des Gottes wurde, sondern ein anderer. Valinor ist jedoch nicht die einzige Landmasse, sondern es gibt dort noch etliche andere Inseln und den uns „heute“ bekannten Kontinent von Mittelerde, der zu dieser Zeit vor der großen Katastrophe noch eine etwas andere Form hat, jedoch schon früh von Elben (und etwas später auch von Zwergen und Menschen), aber anfangs noch dünn besiedelt ist.

So kommt es, wie es kommen muss: Durch Lug und Trug werden die beiden „Lebensbäume“ auf Valinor von Melkor vernichtet. Noch bevor er auf den Hauptkontinent verbannt wird, erschafft Feanor, ein Mächtiger unter den Lichtelben, die drei „Silmaril“, Gemmen (Edelsteine mit magischen Kräften), die das ewige Licht und die Kraft der zerstörten Lebensbäume in sich tragen. Feanor ist so stolz darauf, dieses Licht eingefangen zu haben, bevor es auf ewig schwinden konnte, dass er eifersüchtig darauf Acht gibt, dass niemand außer ihm und seiner Sippe Hand an diese Preziosen legen darf. Fatal, wie sich später herausstellt …

Melkor wird also von Valinor verbannt, doch stiehlt er vorher die drei Silmaril von Valinor und nimmt sie mit in seine dunkle Festung Angband, wo er in seinem Exil und nun unter dem Namen „Morgoth“ nur darauf wartet wieder zuzuschlagen. Dort in Angband schafft er aus ehemaligen Elben auch das Volk der sinistren Orks, paktiert mit Drachen und setzt seinen später so berühmten Statthalter Sauron ein. Nicht nur an den Küsten des Hauptkontinents haben sich nämlich schon recht früh abenteuerlustige und seefahrende Elben angesiedelt, zwar außerhalb von Valinor, doch immer in freundschaftlichem Kontakt stehend zu ihrem „Heimatland“.

Auf der Insel der Unsterblichen hingegen schwört Feanor einen schicksalhaften Schwur, der auch tausende Jahre später noch seine Nachkommen binden und ins Verderben treiben soll: Er und seine sieben Söhne wollen nicht eher ruhen, bis die Silmaril aus Morgoth Klauen (bzw. seiner Krone) wieder in deren Händen sind … sprachs, packte seine gesamte Sippschaft auf Schiffe und segelte aus Valinor weg, hin zum Hauptkontinent ins freiwillige Exil, um Melkor / Morgoth dort ordentlich die Hölle heiß zu machen, solange es auch dauern möge. Ein Kampf, der über Zeitalter hinweg toben sollte und bei dem so ziemlich alle Rassen einbezogen werden.

Zu erwähnen wäre da noch, dass natürlich irgendwann zwischendrin die Menschen und die Naugrîm (Die Zwerge) in Mittelerde auftauchen, teils zur Freude, teils zum Leid der Elben, von denen es zudem verschiedene Stämme mit verschiedenen Ansichten und Verhaltensweisen gibt und die sich untereinander auch häufiger bekriegen. So tummeln sich dort in Mittelerde Lichtelben (Noldor), Grauelben (Sirdar), See-Elben (Teleri) und auch die Dunkelelben, nebst einigen anderen Völkern mit ihren Splittergruppen. Allianzen und ganze Reiche werden geschmiedet, um dann irgendwann wieder zu vergehen.

Für Kenner des Herrn der Ringe / Hobbit: Wir erfahren zudem, woher Celeborn, Galadriel und Elrond stammen und was es mit dem legendären Pärchen Beren (Mensch) und Luthíen (Elbin) auf sich hat, dem ersten Mischehepaar der alten Welt, dem noch so einige folgen sollen und von denen beispielsweise Aragorn und auch Elrond bzw. seine Tochter Arwen abstammen. Ja ja, wer nur den Film kennt und gedacht hat, Meister Elrond wäre ein reiner Elb, der sieht sich getäuscht. Er ist zur Hälfte Mensch. Desweiteren bedeutet das, dass Aragorn und Arwen später eine klitzekleine Form des Inzestes betreiben – schließlich gehen beide auf ein und dieselbe Geburtslinie zurück, wenn auch nur entfernt.

Natürlich erfahren wir auch etwas über Sauron, den Gestaltwandlungszauberer und Stiefelputzer von Morgoth, erst später mutiert er zum bekannten Ober-Bösewicht, zu dieser Zeit jedoch ist er noch längst nicht so mächtig. Aber immerhin mächtig genug, um ordentlich Ärger zu machen im Namen seines dunklen Herrn von Angband, bis dieser niedergeworfen werden kann. Dabei möchte ich es einstweilen bewenden lassen, denn ich denke, bis hierher war es schon verwirrend genug, gibt aber einen guten Vorgeschmack darauf, was euch beim Lesen so erwartet.

_Meinung_

Puh! Starker Tobak, weil uns das Buch eine verwirrende Anzahl von Orts-, Personen- und Götternamen um die Ohren haut, die es gilt, erst mal zu verdauen und zu verinnerlichen. Die ersten Kapitel lesen sich ungefähr so zäh, wie sich eine alte Schuhsohle kauen lässt. Das liegt zum einen am rohen Sammelsuriumcharakter des Werkes, zum anderen an der Vielfalt unterschiedlicher Namen für ein und dieselbe Sache, daran muss man sich erst einmal gewöhnen.

Mit fortschreitender Seitenzahl hat man den Bogen aber so langsam raus und auch die Geschichte ist längst nicht mehr so trocken, da jetzt verstärkt Personen und Figuren auftauchen, mit denen der beschlagene HdR-Fan auch was anfangen kann. Zudem kommen nach der trägen Entstehungsgeschichte Mittelerdes nun endlich auch mal ein paar handfeste Schlachten vor, sei es Elb gegen Elb oder alle gegen Morgoth und seine Schergen. Orks, Drachen, Balrogs und auch die Urmutter der Spinne Kankra („Ungoliant“) geben sich scharenweise ein Stelldichein – es wird gemetzelt, gehauen, gestochen, geklaut und betrogen.

Interessant finde ich die Tatsache, dass die Elben keine so weiße Weste haben, wie sie diese im Hobbit oder beim HdR zur Schau tragen. Auch unter ihnen gibt’s Zwietracht und Kampf innerhalb und außerhalb der Sippen. Bis man jedoch richtig in die Story reingefunden hat, muss man sich ganz schön durchbeißen, denn es gibt zu der Namensverwirrung auch noch einige logische Inkonsistenzen, doch schließlich hat Christopher Tolkien die Finger von dem Material gelassen und so kriegen wir die unangepassten Kapitel JRRs so ziemlich in der Urfassung zu lesen, wodurch natürlich an einigen Stellen der Schliff fehlt.

Die Erzählgeschwindigkeit wechselt auch des Öfteren mittendrin, mal sind die Begebenheiten sehr ausführlich geschildert, dann wiederum geht’s Hopplahopp mit Zeit und Ortssprüngen woanders hin zu einer weiteren Nebenhandlung … Notizen eben, die ursprünglich nicht für unsere Augen gedacht waren und auf die sich wohl nur der verblichene JRR einen genaueren Reim machen könnte. Wer nur die Filme kennt und/oder sich mit dem Gedanken trägt, den Herrn der Ringe als Buch zu lesen, dem rate ich, die letzten Seiten auszulassen, weil dort dessen Ende quasi vorweggenommen wird, ein weiteres Zeichen dafür, dass große Teile der Geschichten und des reichhaltigen Backgrounds aus den Notizen, aus denen ja „Das Silmarillion“ eigentlich besteht, von Tolkien seinerzeit bereits mehr oder weniger subtil im HdR eingebaut wurden.

Damit der geneigte Leser nicht vollkommen verwirrt mit Fragezeichen über dem Kopf aus dem Buch entlassen wird, befinden sich am Ende noch ein paar vereinfachte Stammbäume, Hinweise zur Aussprache und Bedeutungen von Silben in der Elbensprache und die obligatorischen Landkarten Cristopher Tolkiens. An manchen Stellen springen einen die Inkonsistenzen regelrecht an, und man rätselt, was sich JRR dabei gedacht haben mag, wenn er zuvor detaillierte Handlungsstränge einfach nicht weiterführte und ins Leere laufen ließ. Wir können das heute nicht mehr nachvollziehen, da er ja nicht mehr unter uns weilt, und auch sein Sohn war nicht in der Lage oder willens, irgendetwas anderes zu machen als das Silmarillion zusammenzustellen – Geändert hat er an seines Vaters Manuskripten nach eigenem Bekunden im Vorwort nichts. Immerhin wissen wir, dass es JRR wichtig gewesen sein muss, denn er fand es wert, es aufzuschreiben.

_Fazit_

Für Tolkien- und „Herr der Ringe“-Fans ein absolutes Must-Read, wobei diese sich aber gleich von der Illusion frei machen sollten, dass es sich dabei um leichte Kost handelt. Das Teil ist sperrig, verwirrend und zuweilen dröge – selbst Meinereiner, der sehr viel liest, musste an einigen Stellen absetzen, einige Passagen nochmal lesen oder in den Appendices nachschlagen, weil da irgendwas nicht ganz hinhaute mit der Kontinuität. Damit muss man wohl leben, interessant ist der Aufstieg und Fall Mittelerdes und seiner Königreiche der Elben & Menschen allemal. Ich würde vorschlagen, die vermeintlichen „Nachfolgewerke“ (den „Hobbit“ und die „Herr der Ringe“-Trilogie) in diesem besonderen Fall |vorher| zu lesen, für Neueinsteiger in die Welt von Mittelerde ist „Das Silmarillion“ nicht geeignet. Die Bezeichnung „Bibel Mittelerdes“ oder salopper: „Das Telefonbuch der Elben“ trägt es zu Recht.

_Buchdaten:_
Originaltitel: „The Silmaril“
Autor: John Ronald Reuel Tolkien
(zusammengestellt von Christopher Tolkien)
Ersterscheinung: 1977 (2001 / |Klett-Cotta|-Verlag)*
Neuübersetzung: Wolfgang Krege
ISBN: 3-608-93245-3
Format: Hardcover oder broschiert erhältlich / um 390 Seiten*
Zusatzfeautures: Kartenmaterial (herausnehmbar)

*) Der von mir rezensierte 2002er Schmuckband (Leinen-Hardcover mit aufwendig gestaltetem Schutzumschlag und Lesebändchen) stammt als Lizenzausgabe vom |Club Bertelsmann|. Der Inhalt sowie sonstige Ausstattung (gesondertes Kartenmaterial Mittelerdes von Christopher Tolkien) ist mit der Original-Ausgabe von |Klett-Cotta| identisch.

Douglas Adams – Per Anhalter ins All

|In vielen der etwas lässigeren Zivilisationen am äußersten Ostrand der Galaxis hat der Reiseführer „Per Anhalter durch Galaxis“ die große „Encyclopaedia Galactica“ als Standard-Nachschlagewerk für alle Kenntnisse und Weisheiten inzwischen längst abgelöst. Denn obwohl er viele Lücken hat und viele Dinge enthält, die sehr zweifelhaft oder zumindest wahnsinnig ungenau sind, ist er dem älteren und viel langatmigeren Werk in zweierlei Hinsicht überlegen.
Erstens ist er ein bisschen billiger und zweitens stehen auf seinem Umschlag in großen, freundlichen Buchstaben die Worte KEINE PANIK.|

Aus: „Per Anhalter durch die Galaxis“

„Per Anhalter durch die Galaxis“ ist über den Status eines reinen Kultbuches längst hinaus: Man darf sagen, dass es längst ebenso sehr Eingang in die westliche Kultur gefunden hat wie Mickey Mouse, Batman oder die Simpsons – der Anhalter gehört für jeden Reisenden (und wer wäre das nicht?) längst zur Allgemeinbildung. In diesem Sinne will ich gar nicht lange mit einer (ohnehin bestens bekannten) Inhaltsangabe langweilen, sondern lieber einen Blick auf die skurrilen Personen werfen, die das Universum bevölkern.

Da wäre natürlich zunächst Arthur Dent zu erwähnen, einer der letzten Nachkommen jener vom Affen abstammenden Spezies, die den Planeten Erde bevölkerten und deren simples Gemüt man leicht daran erkennt, dass sie Digitaluhren noch immer für eine ganz tolle Sache halten. Zu Beginn der Erzählung teilen sich Arthurs Haus und dann auch sein Planet das gleiche Schicksal: Beide müssen einer Umgehungsstraße weichen. Die eine ist von der Stadtverwaltung geplant und liegt als Konzept im Klo des Kellers einer Behörde aus, die andere ist von der Rasse der Vogonen vorgesehen und war auf einem unserer Nachbarsterne zu begutachten. Arthur wie auch die Menschheit im Allgemeinen hätten also jede Chance gehabt, gegen das Bauvorhaben zu protestieren, nur haben es leider beide versäumt, ihre Ansprüche gelten zu machen und so muss man sich eben von Haus und Heimat trennen.
Natürlich ist die Sprengung der Erde ein Ereignis, dem man sich nur schwer entziehen kann, aber Arthur Dent hat Glück im Unglück, denn kurz bevor der Planet Erde in seine Bestandteile aufgelöst wird, trifft er auf …

… Ford Prefect. Ford ist zwar dem Äußeren nach ein Mensch, stammt aber tatsächlich von einem fernen Stern aus dem Beteigeuze-System. Sein Name resultiert aus schlampiger Recherche – er dachte, er wäre auf der Erde unauffällig. Er ist so eine Art freischaffender Journalist und schreibt Artikel für den „Anhalter“. Unglücklicherweise ist er vor einigen Jahren in dem abgelegenen Spiralarm gestrandet, der bis vor kurzem auch das Sonnensystem und die Erde enthielt und kommt nun nicht mehr weg. Immerhin gab ihm das genug Zeit, einen neuen und verbesserten Artikel über den seltsamen Planeten zu verfassen, auf dem er da gestrandet war. Der alte Eintrag „harmlos“ war der reichen Kultur und der Geschichte des Planeten und seiner ganzen Bedeutung nicht mehr so richtig würdig und so konnte er im Laufe der Jahre auf „weitgehend harmlos“ erweitert werden.

Ford ist um drei Ecken mit dem Präsidenten des Universums verwandt und ein erfahrener Reisender und Anhalter, weswegen er auch nie ohne Handtuch an Bord eines fremden Raumschiffes gehen würde. Mit den Vogonen hat er sich und Arthur Dent leider relativ ungemütliche Zeitgenossen als Gastgeber gesucht. Nicht nur, dass diese sie durch die Luftschleusen einfach ins Vakuum hinausbefördern wollen, sie geben auch vorher einige Kostproben ihrer berüchtigten Dichtkunst ab. Da der Tod in der Kälte des leeren Alls jederzeit der vogonischen Dichtkunst vorzuziehen ist, finden sich die beiden Freunde schnell auf der falschen Seite der Schleuse wieder, doch da geschieht das Unwahrscheinlichste, was hätte passieren können … Die „Herz aus Gold“ nimmt sie im selben Moment auf!

Das ist selbstverständlich so unwahrscheinlich, dass es quasi gar nicht vorkommt, aber das Raumschiff „Herz aus Gold“ hat einen Unwahrscheinlichkeitsdrive, der auf der Theorie der Instochastik basiert. Mit Hilfe der Instochastik können ein Raumschiffantrieb konstruiert werden, die Wahrscheinlichkeit berechnet, dass sich eine Rakete in einen Wal verwandelt oder – und daran sieht man wirklich, um welche Potenzen es bei der Unwahrscheinlichkeitstheorie geht – Fehler in einer Restaurant-Rechnung gefunden werden!

Die „Herz aus Gold“, das modernste Schiff der Galaxis, wurde jedenfalls soeben von Zaphod Beeblebrox entführt. Dieser ist ein Egomane vom Herrn, Präsident der Galaxis, Abenteurer und Ex-Hippi. Als Präsident obliegt es seiner Pflicht, von den wahren Machtverhältnissen im Universum abzulenken und daher gilt er als einer der erfolgreichsten Männer, die dieses würdevolle Amt je innehatten. Er hat übrigens einen zweiten Kopf und einen zusätzlichen Arm. Trotz der körperlichen Unterschiede ist er mit Ford Prefect verwandt.

Ebenfalls an Bord der „Herz aus Gold“ befinden sich Tricia McMillan, genannt Trillian, eine lose Bekannte von Arthur Dent, die ihn mal auf einer Party hat abblitzen lassen und lieber mit Zaphod davongebraust ist (weswegen sie die Zerstörung der Erde auch überlebt hat) und der Roboter Marvin, der über ein Gehirn mit einer absolut fantastischen Rechenleistung verfügt und zudem mit einem echten menschlichen Persönlichkeitsprofil ausgestattet ist – er ist also ständig depressiv.

Zusammen mit diesen – nennen wir sie doch in Ermangelung eines besseren Begriffs „Leute“ – mit diesen Leuten also durchstreift Arthur Dent das Universum, erlebt Abenteuer, bekommt tiefere Einblicke in den Sinn des Lebens und muss dazu nicht einmal einen Pangalaktischen Donnergurgler trinken – eine Kreation von Zaphod, die sich anfühlt, als würde einem mit einem in Zitronenscheiben gehüllten Goldbarren das Gehirn rausgeprügelt werden …

Der Kreis schließt sich: Als Radiohörspiel hat das Kultbuch „Per Anhalter durch die Galaxis“ seinen Siegeszug begonnen und nun ist es dort auch wieder angekommen: Dazwischen liegen alle bekannten Formen der medialen Umsetzung eines Stoffes, sowie der Eingang des Werkes – oder doch zumindest einiger seiner Teile – in die westliche Kultur: „Per Anhalter durch die Galaxis“ gehört längst zum Kanon einer Literatur jenseits Marcel Reich-Ranickis.

Jeder Mensch, der auf die eine oder andere Art und Weise an Büchern interessiert ist, wird früher oder später auf dieses brillante Werk stoßen und nun hat |Der Hörverlag| eine Möglichkeit gefunden, es auch allen Lesemuffeln zugänglich zu machen.

Das Hörspiel ist erfolgreich bemüht, die abstruse Atmosphäre des Buches einzufangen und dabei jener legendären, beinahe mystisch verklärten BBC-Produktion nachzueifern, die nun auch schon demnächst ein Vierteljahrhundert alt ist. Dies gelingt souverän und die Gründe heißen Dieter Borsche, Klaus Löwitsch und Bernhard Minetti. Als Stimmen der Hauptdarsteller hauchen sie den Textzeilen des großen Douglas Adams Leben ein, sind so verrückt und überdreht, so seltsam und philosophisch, so gleichgültig und engagiert, wie die Helden der einzig bekannten fünfbändigen Trilogie. Es wäre jedoch unfair, nur diese Sprecher lobend zu erwähnen, denn auch und gerade die Nebenrollen sind liebevoll und mit viel Feingefühl besetzt, man denke nur an die Rede der Frau vor der Demonstration gegen die Errichtung der Schnellstraße durch Arthurs Haus – eine staunenswerte Leistung, die mich ungläubig und sprachlos vor den Boxen kauern ließ: Gerade in diesen Zwischentönen bzw. Zwischensequenzen brilliert die Hörbuchfassung ungemein.

Leider ist mir nicht bekannt, ob die textliche Vorlage des Hörspiels die der Originalfassung des „Anhalters“ ist, aus dem ja erst später ein Buch wurde, oder ob es sich um ein eigenes „Drehbuch“ handelt, aber so oder so sind die Kürzungen, die vorgenommen wurden, eine Reduzierung auf das Maximum. Schnell und witzig kommt die Geschichte nun daher, ohne jedoch auf den Tiefgang der Romanvorlage zu verzichten.

Die optische Gestaltung des Covers dürfte ganz im Geiste der ersten Erscheinungen des berühmten Buches sein, meine Uralt-Taschenbücher sehen jedenfalls so ähnlich aus … Löblich zu erwähnen ist auch die Trackunterteilung, die so angelegt ist, dass ein schnelles Wiederfinden einer bestimmten Szene oder die Wiederaufnahme nach Unterbrechung des Hörgenusses kein Problem darstellt.

Ein Ersatz zur Lektüre des „Anhalters“ ist das Hörbuch nicht – aber den kann und wird es sowieso nicht geben. Vielmehr bietet die Produktion von |Der Hörverlag| eine willkommene Möglichkeit, in die unendlichen Weiten des Douglasschen Kosmos einzutauchen, selbst, wenn das Buch nicht zur Hand ist. Somit kann es Kennern wie Neulingen nur wärmstens empfohlen werden – macht’s gut und danke für den Fisch.

_Marcel Dykiert_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de veröffentlicht.|

Miéville, China – Perdido Street Station

„Perdido Street Station“ gewann im Jahre 2003 den Kurd-Laßwitz-Preis als bestes fremdsprachiges Werk der Phantastik. Die Übersetzerin Eva Bauche-Eppers gewann passenderweise den Preis für die beste Übersetzung.

Grund genug für ein wirklich fantastisch günstiges Sonderangebot von |amazon.de|: Exklusiv bei |amazon| erscheint eine einbändige Sonderausgabe des zuvor für den deutschen Markt in zwei Bände („Die Falter“ und „Der Weber“) aufgeteilten Originals. Das gebundene Buch besticht nicht nur durch seine hochwertige Bindung und gefällige Präsentation, man spart auch ungefähr sechs €uro gegenüber dem Erwerb der beiden Paperbacks.

„Phantastik“ ist wohl noch die treffendste Beschreibung für den wilden Mix aus Fantasy, Science-Fiction und innovativen eigenen Gedanken, den der Autor China Miéville mit „Perdido Street Station“ abliefert:

New Crobuzon ist ein gigantischer Moloch, eine Stadt, in der Menschen, fremdartige Rassen, mechanische Konstrukte, Mutanten, Arbeiter, Sklaven, Huren, Magier, Wissenschaftler und Scharlatane leben. Sowie zahlreiche gescheiterte Existenzen, wie der wegen eines Verbrechens mit der Entfernung seiner Flügel bestrafte Garuda Yagharek. Er sucht die Hilfe des arg verzettelten Genies Isaac Dan dar Grimnebulin – für viel Gold soll dieser ihm helfen, seine ursprünglichen Flügel wiederherzustellen.

Dieses einfache Anliegen ist der Auslöser für eine große Katastrophe: Isaac untersucht verschiedene Flugwesen, von fliegenden Eidechsen über normale Vögel bis hin zu Insekten. Eines seiner Sorgenkinder ist eine exotische, bunt schillerende Raupe, die sein Interesse geweckt hat: Sie frisst nichts, bis auf … Dreamshit, die angesagteste Droge von ganz New Crobuzon!

Die kleine Raupe wächst zu gewaltiger Größe und verpuppt sich. Als Isaac wieder nach Hause kommt, findet er einen seiner besten Freunde halbtot als lallenden Idioten wieder. Das erste Opfer des „Falters“, der ausgebrochen ist, ihn ausgesaugt hat, und nun mit seinen besonderen Fähigkeiten Angst und Schrecken in der Stadt verbreitet!

Sicher kein harmloses, kleines Insekt, wie man meinen könnte … Der Falter befreit seine Artgenossen, die von dem Gangsterboss „Vielgestalt“ zu kommerziellen Zwecken missbraucht werden. Ironischerweise arbeitet Isaacs Freundin Lin, eine Khepri, gerade an einer Plastik des eitlen Vielgestalt … Dieser wird wütend auf Isaac, den er fälschlich als Rivalen auf dem Drogenmarkt ansieht, und nimmt Lin als Geisel.

Die Lage spitzt sich zu: Auch die Regierung ist in Machenschaften mit den tödlichen Faltern und der Unterwelt verwickelt. Bürgermeister Rudgutter weiß keine anderen Rat mehr, als den „Weber“, eine gigantische transplanare, absolut fremdartige Riesenspinne, um Hilfe zu bitten. Doch auch andere Gruppen nehmen den Kampf gegen die Falter auf, während der von allen Seiten gehetzte Isaac mit seinen Freunden Zuflucht im Zentralbahnhof, der namensgebenden „Perdido Street Station“, sucht.

_Der Autor_

Der 1972 geborene China Miéville ist, um Missverständnissen vorzubeugen, ein Mann. Den Namen erhielt er von seinen Hippie-Eltern, es handelt sich hierbei um kein Pseudonym – was bei einem solch prägnanten Namen wohl überflüssig wäre.

Der politisch stark links orientierte, bekennende Sozialist Miéville hat eine bildhafte Phantasie, die sich auch in seiner wortreichen Sprache und seinem gewaltigen Ideenreichtum niederschlägt. Seine politische Einstellung erschließt sich dagegen nicht aus seinen Romanen, nur eine deutlich anti-autoritäre Haltung ist unverkennbar. Derzeit promoviert China an der |London School of Economics| in „Philosophy of International Law“, an der er auch seinen Master-Titel in sozialer Anthropologie mit Auszeichnung erworben hat. Bereits sein erster Roman, „König Ratte“, wurde für zahlreiche Auszeichnungen nominiert.

Bis heute erschienen desweiteren „Perdido Street Station“ (Deutsch: „Die Falter“, „Der Weber“), „The Scar“ („Die Narbe“ , [„Leviathan“) 612 und „Iron Council“ (Deutsch in Kürze, der Titel wird vermutlich „Moloch“ und der Roman diesmal nicht aufgeteilt sein). Alle diese voneinander völlig unabhängig lesbaren Romane spielen in der fantastischen Welt Bas-Lag.

_Ein Kaleidoskop der Ideen_

Bunt und exotisch ist die Welt Bas-Lag. New Crobuzon besitzt eine exotische Atmosphäre, die begeistert. Exotische Lebensweisen und Bewohner gibt es zuhauf, wobei besonders auffällt: keine Elfen, keine Orks, keine bekannten fantasytypischen Rassen. Der ganz normale Mensch ist vielmehr der Exot. So ist Isaacs Freundin Lin eine Khepri: Ein Wesen mit menschlichen Körper, aber mit einem insektoiden Käferkopf. Im wahrsten Sinne des Wortes ein „flotter Käfer“. Die Unterhaltung des ungleichen Paares erfolgt über Gesten und schriftlich. Diese Beziehung könnte Isaac seine Stellung an der Universität kosten, auch Lin ist bei den Khepri als Skandalfigur bekannt. Darum sind sie stets bemüht, ihre Liebschaft geheimzuhalten.

Dann gibt es noch Yagharek, den Garuda – ein an den mythischen indonesischen Vogel erinnerndes Vogelwesen. Er tritt in das Leben der beiden und löst die verhängnisvolle Kette von Ereignissen aus, die New Crobuzon an den Rand des Verderbens bringt.

Dies unterscheidet „Perdido Street Station“ von vielen anderen Büchern: Die Geschichte entsteht aus einer natürlich anmutenden Verkettung von Ereignissen und verbindet zahllose interessante Einzelschicksale miteinander. Keine Prophezeiung, Legende oder ein klar definiertes Ziel treibt die Handlung voran. Vielmehr ergibt sie sich aus dem puren Zufall, dem sozialen Chaos New Crobuzons.

So ist man anfangs ein wenig im Unklaren, worum es überhaupt geht. Bis der Falter schlüpft, dauert es eine ganze Weile, während der man sich an die zahllosen exotischen Rassen New Crobuzons, wie die an Kakteen erinnernden Kaktusmenschen oder die von der Regierung als Strafe für Verbrechen in eine Art dampfgetriebene Cyborgs oder in absurde Kreaturen umgewandelten „Remades“, gewöhnen kann.

Dabei liegt Miévilles Stärke in seinen Ideen, seine Welt ist wirklich innovativ und einzigartig in ihrer Vielfalt, die sie lebendig macht. Seine anti-autoritäre Einstellung zeigt sich in der negativen Darstellung der Regierung New Crobuzons: Sie ist eng mit der Unterwelt verbandelt und an der Katastrophe mitschuldig. Bevor man sich an den „Weber“ wendet, ersucht der Bürgermeister erst einmal Hilfe vom Botschafter der Hölle in New Crobuzon, der direkt unter seinem Amtssitz residiert – deutlicher geht es wohl kaum, Mr. Miéville …

Seine bildhafte Sprache ist oft wunderschön, leider kann sie auch oft in Verbindung mit der erst spät einsetzenden Handlung bremsend und störend wirken. So wirft Miéville oft mit Wörtern wie „elyktrisch“ oder „chymisch“ herum, wo es ganz klar um elektrische oder chemische Zusammenhänge geht. Alchemie würde den Gebrauch des letzten Wortes eher rechtfertigen. Genauso ist der Ausdruck „numinoser Arachnide“ genauso faszinierend wie auch irritierend und schlichtweg unverständlich.

Hierzu eine kleine Leseprobe von Miévilles Stil:

|“Das Wissen, dass sie den Auftrag an Land gezogen hatte, das große Los, den Haupttreffer, die künstlerische Herausforderung, von der alle träumten, das Lebenswerk, trennte sie von ihren Freunden. Und ihr furchteinflößender Klient machte die Isolation perfekt. Lin fühlte sich, als wäre sie plötzlich, unvermittelt aus der maliziösen, verspielten, lebhaften, prätentiösen, selbstbezogenen Enklave von Salacus Fields in eine gänzlich andere Welt gestoßen worden.“|

Mitunter kann ein derartiges Adjektivbombardement das Lesen unnötig erschweren, was meiner Faszination leider ein wenig Abbruch tat.

Der Übersetzerin Eva Bauche-Eppers kann man das kaum zum Vorwurf machen – sie hat ihre Aufgabe wirklich hervorragend gelöst und den sehr eigenen Stil Miévilles vortrefflich ins Deutsche übertragen. Frau Bauche-Eppers übersetzte übrigens auch die Romane der ebenfalls für ihre sprachliche Finesse bekannten Autorin Robin Hobb [(„Der Adept des Assassinen“). 229

Im Gegensatz zu ihrer Stärke, überzeugenden und beeindruckend charakterisierten Figuren, wie ihren bekanntesten Helden Fitz, sind Miévilles Charaktere etwas blass, sie leben vielmehr von der Exotik ihrer Umwelt und der Handlung. Wirklich starke Sympathieträger oder Schurken sucht man vergeblich, sie ordnen sich der Vielfalt der Charaktere und Handlungsstränge unter.

_Fazit: Innovation pur_

Den Kurd-Laßwitz-Preis hat sich der Roman wirklich verdient: Neue Ideen braucht das Land – und da ist dieser Roman einfach einsame Spitze.

Die Art der Erzählung ist eine große Stärke, alles wirkt natürlich entstanden, aus einfachen Dingen entwickelt sich zufällig ein großes Abenteuer, in dem zahllose interessante Charaktere und ihre Schicksale miteinander verbunden werden. Ein gewisses Horror-Element ist auch vorhanden, die Falter wüten wirklich schrecklich in New Crobuzon.

Die Sprache kann faszinieren, aber sie ist auch anstrengend zu lesen und oft einfach zu ausladend und sonderbar, was das Lesen mitunter erschwerte und mich zu Pausen nötigte. Die Art der Handlungsentwicklung ist innovativ und interessant, aber leider dauert es ziemlich lange, bis ein Faden erkennbar wird, in Verbindung mit den bremsenden Eigenheiten der Sprache die einzige wirkliche Schwäche dieses Romans.

Alles in allem kann ich „Perdido Street Station“ nur empfehlen – und die wirklich günstige und hochwertige einbändige Sonderausgabe von Amazon ganz besonders. Das schöne Titelbild ist hier der einzige Kritikpunkt: Der Hintergrund zeigt ganz klar New Crobuzon – die Frau auf dem Cover taucht dagegen im Roman niemals auf, sie sieht keiner Person auch nur ähnlich. Ein reiner Eyecatcher für bei Amazon browsende Kunden.

Wer weiß, vielleicht bringt Amazon ja auch eine einbändige Sonderausgabe des zweiten Buches in Bas-Lag, [„The Scar“, 591 heraus? Eines ist gewiss: Preis und Leistung stimmen hier – ein absoluter Geschenktipp für Leseratten und Buchwürmer, die offen für neue Ideen sind.

Homepage des Autors:
http://www.chinamieville.co.uk/

Fanseite im Stil der |New Crobuzoner|-Untergrundzeitung:
http://runagate-rampant.netfirms.com/