Jeschke, Wolfgang / Mamczak, Sascha (Hrsg.) – Science Fiction Jahr 2003, Das

850 Seiten offeriert das „Das Science Fiction Jahr 2003“, ein wahrhaft dicker Wälzer, zusammengestellt von Wolfgang Jeschke und Sascha Mamczak. Dominiert wird der Band vom alles umspannenden Thema „Religion“, dem sich auf mehr als 250 Seiten gewidmet wird. Aufgrund der Fülle des gebotenen Materials picke ich das heraus, was für mich in erster Linie augenfällig war. Das bedeutet aber keineswegs, dass der übrige Teil des Buches nicht der Rede wert oder schlecht war.

„Möge die Macht mit dir sein!“ betitelt sich das einleitende Essay von Linus Hauser. Quer durch die Science-Fiction-Literatur stapft er, dabei zahlreiche Sidesteps in Technik und Fortschritt machend und Hinweise gebend auf pseudoreligiöse Heilsbringer, die insbesondere ihr Bestes, aber nicht das unsrige im Auge haben. L. Ron Hubbard und „Scientology“ dürfen in diesem Zusammenhang selbstverständlich nicht fehlen, auch wenn ich den Eindruck gewonnen habe, dass es in den vergangenen Jahren etwas stiller um diese äußerst suspekte Gemeinschaft (sehr vorsichtig umschrieben …) geworden ist. Und ob mich das beruhigen mag, bezweifele ich sehr.

Meine Zustimmung erhält natürlich, dass unter dem Aspekt „Technikglaube und Führerglaube“ scheinbar ehrenwerte Herren wie Wernher von Braun, wenn auch in wenigen Worten, aber dem Rahmen doch angemessen, vom Podest gehoben werden, auf dem sie noch zu meiner Jugendzeit unbehelligt thronen durften. In den 70ern dem Konstrukteur der Saturn-Raketen an die Karre fahren – ein Unding, Sakrileg vielleicht sogar, war er doch „Unser Mann fürs All“. Untaten dürfen nicht vergessen werden, und selbst wenn sie nur in knapper Form festgehalten werden, gehören sie gerade zur Thematik „Technikglaube“ und dessen unheilvollen Auswirkungen.

Wie sehr L. Ron Hubbard wenigstens als beispielhafter Epigone einer religiösen Fehlleitung dienen kann, beweist Thomas Körbel im bezeichnenden Artikel „Ich bin der Auserwählte!“ Er setzt sich mit den „schöpferischen Mythologien der Science-Fiction“ auseinander. Sehr gut, dass auch höchst frische Genreentwicklungen wie „Matrix“ Eingang in einen solchen Text finden, denn ein Jahrbuch hat besonders auf die Tagesaktualität nicht nur Rücksicht zu nehmen, sondern muss sie auch in den Kontext einbeziehen.

Robert Hector ist gleich mit zwei längeren Beiträgen (neben seinen Rezensionen) vertreten: „Mad Max, Leibowitz & Co.“ nimmt alternative Endzeit-Visionen ins Visier, zu Anfang recht rüde alles über einen Kamm scherend durch die bloße Aneinanderreihung von Schlagworten wie „nuklearer Holocaust, globale Erwärmung, Terroranschläge …“, verbunden mit der Frage „Was steht der Menschheit bevor?“ Na ja, wenn ich derartig eingestimmt werde, bleibt mir als Leser nur die Kugel. Doch nach dieser populistischen Einleitung beschäftigt sich Herr Hector mit „Maddrax“, „Mad Max“ oder „Leibowitz“, erzählt von eben den dort stattfindenden Katastrophen, um dann den Kreis mit „Zurück in die Wirklichkeit: Globale Katastrophen in naher Zukunft?“ zu schließen.

Ach, hat er diese nicht schon längst aufgelistet, Aids zählt er dazu, geklonte Menschen – viel ärger mag es nicht mehr kommen (wo er doch eine „gewisse Lust am Untergang“ verspüren will)? Doch, es geht noch schlimmer: „Kampf der Kulturen“ (der einseitige Absatz endet mit „Es kocht in dieser Welt – die große Explosion lässt nicht mehr lange auf sich warten“ – das lässt sich nicht von der Hand weisen, doch ob ein paar warnend-mahnende Worte des Autors irgendeine Art von tragender Bedeutung haben werden?), „Biologische Waffen“, „Treibhauseffekt“, „Angriff aus dem All“ … Leider der phrasenhafteste Artikel des gesamten Buches.

Peter M. Gaschler hat sich die Filmszene 2002 & beyond vorgenommen. Oldies wie „Alphaville“ oder „The Andromeda Strain“ stehen dort neben Neufilmen wie „Die Monster AG“ – liest sich alles gut recherchiert. Und keiner wundere sich, wenn ein Film mit Titel „Der Untergang des Römischen Reiches“ aus dem Jahre 1963 Einlass in das Science-Fiction-Jahrbuch erhielt, die Grenzen zwischen den Subgenres Fantasy und Science-Fiction werden im Jahrbuch durchaus fließend gehalten. Meist verschwimmen sie sogar, wie wir in der Rubrik „Computer“ erlesen, wo eindeutige Fantasy-Titel namens „Neverwinter Nights“ oder „The Art of Magic“ die Rollenspiel-Abteilung dominieren.

Doch eigentlich mag ich mich mit dieser Rubrik am wenigsten anfreunden. Woran das liegt? An der Schnelllebigkeit des Spielemarktes. Das besprochene Spiel „Serious Sam 2“ beispielsweise erschien Anfang 2002, heute ist es längst wieder überholt worden von der technischen Entwicklung. Etwas in dieser Art kann nur eine punktuelle Betrachtung sein, ein ausschnittweiser Rückblick, der nicht Fisch noch Fleisch ist. Viel mehr noch, als dies bei Film und Literatur der Fall ist, leben die PC- und Konsolenspiele vom schnellen Umschlag speziell der „Software“. Und deshalb besänftigt mich der Bücherteil ein wenig – mit dem bitteren Beigeschmack, dass ihm nur zwei magere Seiten mehr als dem Spielepart zugebilligt wurden!

Ans Herz gewachsen, sehr übertrieben formuliert, ist mir Hermann Urbanek durch seine unermüdliche Fleißarbeit, die ihren Ausfluss in „Die deutsche SF-Szene 2001/2002“ erhält. Wofür eine Mitgliedschaft im |Science Fiction Club Deutschland| alleine lohnt, bereitet er für das Jahrbuch in kondensierter Form noch einmal auf. Kein Mensch außer ihm mag überprüfen, ob auch nur ein einziger Titel ihm nicht irgendwie unter die Augen gekommen ist (und sei es bloß durch die reine Namensnennung), weswegen ich einfach davon ausgehe, dass die Auflistung so weit wie irgend möglich komplett ist. (Nicht unterschlagen darf ich, dass er gleich noch die amerikanische und die britische Szene mit anhängt, aber da kann er einfach nicht „komplett“ sein, oder doch?) Bei all der Mühe sollte bedacht werden, dass es sich um keine kritische Betrachtung handelt, und so sind Hermann Urbaneks Bemerkungen wie „zu den besonderen Höhepunkten der letzten Monate zählten die MIDGARD-Romane ‚Lechvelian‘ von Ralph Sander …“ zu ignorieren. Für mich sind das beschönigende Verzierungen, die dem Wert der Arbeit letztlich aber keinen Abbruch leisten können.

Nicht eingegangen bin ich auf Beiträge von Brian W. Aldiss (wie immer sehr gut lesbar; diesmal eine Rede anlässlich eines Literaturkongresses), Interviews mit William Gibson oder Marcus Hammerschmitt, Betrachtungen zu Philip K. Dicks Spätwerk (nein, nicht von Uwe Anton). Und vieles mehr.

Das Vorwort zum Jahrbuch 1986 von Wolfgang Jeschke hat leider auch heute noch Bestand: „Ich muss der Tatsache Rechnung tragen, dass nur ein Bruchteil der Science-Fiction-Leser an Hintergrundinformationen, Autoreninterviews und Berichten aus der Szene interessiert ist.“ Heute klingt das so: „Dass sich dieser Markt wandelt, ist unbestritten; dass es insbesondere im Wandel einer kritischen Betrachtung bedarf – sei es im HEYNE SF-Jahr oder anderswo – hoffentlich auch.“ Das Jahrbuch war immer (wie auch sein Vorgänger „Das Science Fiction Magazin“ bei |Heyne|) ein aus Verlegersicht eher unrentables Geschäft, wie Wolfgang Jeschke Mitte der 80er Jahre bereits kundtat. Daran hat sich offenbar, so lässt es sich den Worten entnehmen, nichts geändert.

Das ist sehr bedauerlich, denn eine Gratwanderung zwischen dem kaufmännischen „Es rechnet sich nicht“ und der Notwendigkeit, ein derart fundiertes Sekundärwerk zu publizieren, wird eines Tages ein trauriges Ende nach sich ziehen.

Deshalb: Trotz des hohen Preis, verglichen mit den üblichen Romanwerken, gehört ein Periodikum wie „Das Science Fiction Jahr“ in den Bücherschrank. Die Beiträge sind nicht allesamt widerspruchslos zu goutieren, aber genau das zeichnet ein derartiges Buch aus: Ansätze bieten zum eigenen Nachdenken, Grundlage sein für Diskussionen, sich Beschäftigen mit der Literatur, die man mag, dem phantastischen Film, in den man gerne „abtaucht“.

„Das Science Fiction Jahr 2003“ lege ich jedem Interessierten sehr nahe ans Herz.

_Karl-Georg Müller_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de/ veröffentlicht.|

Kay, Guy Gavriel – Löwen von Al-Rassan, Die

Einst herrschte Frieden auf der Halbinsel Esperana, dann kam das Wüstenvolk der Ashariten von Süden über das Meer und errichtete das mächtige Reich Al-Rassan, dessen Herrscher die den Sonnengott Jad anbetenden Bewohner immer weiter nach Norden zurückdrängten. Als eines Tages der letzte Kalif von Al-Rassan ermordet wird, gerät ganz Esperana in Aufruhr, und zwischen den verschiedenen Volksgruppen entbrennt der Kampf um die Vorherrschaft.

In dieser turbulenten Zeit treffen drei herausragende Persönlichkeiten in der zu einem Schmelztiegel der Kulturen gewordenen Stadt Ragosa zusammen:

Der Dichter und Mörder des letzten Kalifen, der smarte und charmante Asharit Ammar Ibn Khairan, wird den ehrenhaftesten Streiter Jads, Hauptmann Rodrigo Belmonte, und der außergewöhnlichen Heilerin Jehane Bet Ishak vom Volk der Kindath begegnen. Zwischen Ammar und Jehane entwickelt sich eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, während der bei den Ashariten verfemte Kalifenmörder Freundschaft mit dem verbannten Söldnerhauptmann Rodrigo schließt. Über den guten Beziehungen der drei liegt jedoch ein Schatten:

Die jadditischen Völker des Nordens blasen zum heiligen Krieg gegen das zersplitterte Al-Rassan, während vom Süden die Muwardis aus den asharitischen Stammlanden über das Meer setzen, um die in ihren Augen moralisch verdorbenen Gläubigen Al-Rassans zurück auf den Weg Ashars zu führen.

Die letzten Tage Al-Rassans sind gekommen – eine einzigartige, multikulturelle Gesellschaft steht vor ihrem unvermeidbaren Ende. Werden in dieser Lage Glauben und Ehre über Freundschaft und Toleranz siegen? Oder werden Rodrigo Belmonte und Ammar Ibn Khairan, die „Löwen von Al-Rassan“, sich auf dem Schlachtfeld als Feinde gegenüberstehen?

_Der Autor: Guy Gavriel Kay_

„Die Löwen von Al-Rassan“ ist der sechste Roman des 1954 in Weyburn (Kanada) geborenen Guy Gavriel Kay. Als Autor ist er bekannt für seine sprachliche Exzellenz – als Beispiel sei nur genannt: Er half Christopher Tolkien beim Lektorat des „Silmarillion“.

Kay ist alles andere als ein Vielschreiber – Klasse statt Masse. Deshalb nimmt sich die Zahl seiner bisher erschienenen Romane eher bescheiden aus:

„Die Fionavar-Trilogie“ (1984-86)
(dt. „Silbermantel“ , „Das wandernde Feuer“, „Kind des Schattens“)

„Tigana“ (1990)
(dt. „Der Fluch“ und „Der Hofnarr“)

„Ein Lied für Arbonne“ (1992)
„Die Löwen von Al-Rassan“ (1995)

[„Der Sarantium-Zyklus“ 242 (2000)
Die US-Ausgabe besteht aus den zwei Bänden „Sailing to Sarantium“ und „Lord of Emperors“, die deutsche Ausgabe aus vier Büchern: [„Das Komplott“, 242 „Das Mosaik“, „Der Neunte Wagenlenker“ und „Herr aller Herrscher“.

Der Gedichtband „Beyond this Dark House“ (2003) und das Wikingerepos „The Last Light of the Sun“ (2004) wurden noch nicht übersetzt. Die Erscheinungsdaten sind jeweils die der amerikanischen Erstausgabe.

_Willkommen zur Reconquista!_

Al-Rassan ist nichts anderes als Al-Andalus, das maurische Reich auf der iberischen Halbinsel. Somit ist Esperana schlicht und ergreifend das Spanien einer stürmischen Zeit: Die Reconquista, die Vertreibung der Mauren durch die christlichen Könige Leons, Navarras und Kastiliens, nimmt in Kays Werk gerade ihren Anfang.

Ähnlich der Geschichte sind zahlreiche der Figuren Kays lose an tatsächliche historische Persönlichkeiten angelehnt. So ist Rodrigo Belmonte eindeutig als Rodrigo Diaz de Vivar, bekannter als der legendäre Volksheld „El Cid“, zu erkennen. Aber auch für Ammar Ibn Khairan gibt es eine Entsprechung (Muhammad Ibn Ammar), ebenso für den jüdischen Kanzler Mazur Ben Avren des ragosischen Herrschers. Einzig die charakterstarke jüdische Heilerin Jehane ist von den Hauptfiguren ohne historisches Pendant.

Dabei hält sich der Roman nicht sklavisch eng an die tatsächliche Geschichte; so werden die Legenden um El Cid stark eingeschränkt, Eheprobleme wie in der durch Sophia Loren und Charlton Heston bekannt gewordenen gleichnamigen Hollywood-Verfilmung, oder die bekannte Episode mit dem tot aufs Pferd gebundenen El Cid, dessen bloßer Anblick die Mauren in Flucht schlägt, findet man hier nicht.

Stattdessen wird die einzigartige Mischkultur dieser Zeit eingefangen – ein Zauber wie aus 1001 Nacht. Neben den glänzend präsentierten drei Freunden, die auf Irrwegen immer wieder zueinander finden, treffen religiöse Eiferer beider Religionen aufeinander, schleichen Assassinen sich durch die nächtlichen Städte, lauert Belmonte mit seinen Söldnern den eigenen Landsleuten auf, während die schöne Konkubine Zabira Könige verführt und ihre Söhne gerne als Thronfolger Cartadas sehen würde …

Überraschende Wendungen zeichnen die Geschichte aus, während das drohende Ende stets klar wie ein Damoklesschwert über den beiden Löwen und Jehane schwebt. Der Kampf zwischen Jadditen und Ashariten steht unmittelbar bevor, und die Kindath drohen zwischen beiden Seiten zermalmt zu werden.

Kay spielt mit dem Leser, oft lässt er ihn in den Glauben, eine bestimmte Person wäre soeben gestorben … um wenige Seiten später den darob entsetzen Leser zu verblüffen und ein neues Opfer zu präsentieren.

Wird Ibn Khairan wie sein historisches Vorbild im Kerker enden? Wird Rodrigo Belmonte die Murawids vertreiben, so wie es El Cid getan hat? Was wird aus den Kindath und Jehane?

_Ein märchenhaft schönes Plädoyer für Völkerverständigung und Toleranz_

Eine exotische, faszinierende Welt, in die man gerne eintaucht. Verbunden mit der Erkenntnis, wie schädlich Intoleranz und Fanatismus sein können. An den christlichen Kreuzzügen und den ebenfalls fundamentalistisch-engstirnigen Almoraviden geht Al-Rassan, das Paradies dreier Völker, zugrunde.

Jehane repräsentiert das Wissen und die hohe Kunst der jüdischen Heiler, Ammar den Witz und die Kultur der Mauren, Rodrigo die Ehrenhaftigkeit des Rittertums. Hier wird natürlich romantisiert: El Cid war ein Condottiere, dem der eigene Vorteil näher war als das seiner Landsleute oder gar das Gottes, seine Ehrenhaftigkeit darf man bezweifeln, er war wohl keinen Deut besser als die anderen Söldnerführer, aber eben der erfolgreichste – und wurde zur Legende. Muhammad Ibn Ammar ist etwas näher an der Historie geschildert, allerdings darf man bezweifeln, dass er tatsächlich ein so verwegenes, liebenswertes und charmantes Schlitzohr war.

Die Schuld am Untergang Al-Rassans tragen seine Bürger selbst: So hat Ammar selbst mit seinen Morden einen entscheidenen Beitrag zum Untergang des zerstrittenen Al-Rassan geleistet. Die Jadditen / Christen verfolgen wie so oft in der Geschichte die Juden organisiert, was unter den Kalifen Al-Rassans zwar auch keine Seltenheit war, aber in weit geringerem Maße. Es ist verbürgt, das Granada einen jüdischen Kanzler hatte. Man kann wohl nicht Jahrhunderte zusammenleben, ohne eine gewisse Toleranz und Einsicht zu entwickeln.

Diese Perle Ashars wird jedoch zerstört, und der Leser trauert um das schöne Al-Rassan. Nicht verraten möchte ich, wie dieser Konflikt zwischen den beiden „Löwen“ der jeweiligen Religionen, Ammar und Rodrigo, enden wird.

Die zahlreichen strahlenden Haupt- und Nebenfiguren stehlen sich ein wenig gegenseitig die Schau, meine Hauptkritikpunkt an diesem Buch. Das wird allerdings aufgewogen durch Kays hohe Erzählkunst:

|“Guy Gavriel Kay could write about a peasant going to pick up a pail of water and you’d probably hang on every word.“|

Diesem Satz kann ich nur zustimmen: Kay könnte über einen Bauern schreiben, der mit einem Eimer Wasser schöpft, man würde ihm dennoch an den Lippen kleben. Diese hohe Erzählkunst droht natürlich in der Übersetzung verlorenzugehen. Hier kann ich jedoch Entwarnung geben: Kein einziger Setzfehler, keinerlei Wortdreher, eine tadellose Übersetzung. Die mir vorliegende deutsche Erstausgabe von 1996 ist ein hochwertig gebundenes Buch mit einem wunderschönen und vor allem passenden Titelbild, das die drei Helden des Buches detailgetreu eingefangen hat. Eine Taschenbuchfassung erschien zwei Jahre später ebenfalls.

_Fazit_

Das Buch ist ein Zauber aus 1001 Nacht, eine wunderschöne Chronik des unvermeidlichen Endes Al-Rassans. Man muss nicht historisch bewandert sein und alle historischen Figuren kennen, um der Faszination und Exotik des idealisierten Al-Rassans zu erliegen und einige Lehren daraus zu ziehen. Besser miteinander als gegeneinander, trefflich dargestellt in diesem Buch.

Die hochwertige Präsentation des Hardcovers, das sogar ein Lesebändchen hat, macht das Buch zu einer eindeutigen Empfehlung. Einzig der Overkill an strahlenden Helden und Heldinnen kann gelegentlich ein wenig die Begeisterung dämpfen.

Homepage des Autors:

Welcome

Rodrigo Belmonte alias „El Cid“, Rodrigo Diaz de Vivar:
http://de.wikipedia.org/wiki/El__Cid

Ammar Ibn Khairan alias Muhammad Ibn Ammar:
http://de.wikipedia.org/wiki/Ibn__Ammar

Die Reconquista:
http://de.wikipedia.org/wiki/Reconquista

Asimov, Isaac – Meine Freunde, die Roboter

Isaac Asimov ist heute einer der bekanntesten SF-Autoren überhaupt. Einen großen Teil seines Ruhmes verdankt er sicherlich seinen Robotergeschichten, vor allem jenen, die in den 50er Jahren erschienen und in denen er die drei Robotergesetze formulierte.

Asimov, Professor für Biochemie und Autor vieler populärwissenschaftlicher Bücher, war zweifellos eine herausragende Figur der us-amerikanischen SF der vierziger und fünfziger Jahre, wobei er sich allerdings weniger durch stilistische Brillanz oder eingängige Charakterstudien auszeichnete, sondern durch naturwissenschaftliches Wissen und gute Ideen. Nicht umsonst wandte er sich wie kein zweiter Geschichten zu, in deren Mittelpunkt Roboter standen, ersparte ihm dies doch jedwede Introspektion und Charakterisierung, ein Bereich, den Asimov nicht beherrschte und niemals beherrschen sollte (so bleiben fast rundweg alle Protagonisten Asimovs blass und farblos).

Von Asimovs hervorragenden Ideen profitieren jedoch viele der hier veröffentlichen Kurzgeschichten, die auch heute noch immer gut lesbar sind. Leider suggeriert die vorliegende Ausgabe, dass es sich hier um gesammelte Kurzgeschichten zum Thema Roboter handelt. Dem ist jedoch nicht so, denn die vorliegende Ausgabe ist lediglich die Zusammenfassung dreier Kurzgeschichtensammlungen des Autors, die dereinst bereits als einzelne Taschenbücher im |Heyne|-Verlag (06/3217, 06/3066 und 06/3621 in den Jahren 1966, 1970 und 1976) erschienen waren (wobei „Ich, der Robot“ bereits 1952 in der legendären vierbändigen Reihe des |Rauch|-Verlags erschien, der ersten SF-Reihe überhaupt auf deutschem Boden). Die drei Storysammlungen erschienen 1982 erstmals gesammelt als Band 20 der |Heyne Bibliothek der Science-Fiction-Literatur|.

Lediglich die erste Kurzgeschichtensammlung enthält nur Robotergeschichten, darunter das berühmte „Liar!“, wo ein Roboter die Menschen beschwindelt, um ihnen nicht die ungeschminkte Wahrheit sagen zu müssen und sie damit zu verletzen.

Die folgenden beiden Storysammlungen enthalten nur teilweise Robotergeschichten, wobei deutlich wird, dass Asimov vor allem in den 50er Jahren ein Schriftsteller mit Ideen und Verve war, der seine Leser begeistern und mitziehen konnte. Vor allem die letzte Einheit aus den 70er Jahren zeigt dann jedoch deutlich, dass Asimov nicht mehr auf der Höhe der Zeit war.

Asimov hatte sich in den 60er Jahren eine lange Schaffenspause in der SF gegönnt, die wohl damit zusammenhing, dass ihm die Ideen ausgingen. Zudem bahnte sich Ende der 60er eine literarische Revolution in der SF an. Die |New Wave| kam auf und stellte das Genre mit der Forderung, den |Inner Space| zu erforschen, auf den Kopf. Diese Entwicklung wollte und vor allem konnte Asimov nicht mitmachen, fehlten ihm hierzu doch die literarischen und stilistischen Möglichkeiten. Erst im Jahre 1972, als die |New Wave| abzuebben begann, kehrte Asimov in die SF zurück. Sein Roman „The Gods themselves“ (dt. „Lunatico oder die nächste Welt“) wurde zwar von seinen Fans gefeiert, machte aber deutlich, dass Asimovs beste Tage vorbei waren.

Auch wenn Asimovs Popularität bis heute vor allem unter den Fans ungebrochen ist, so muss doch angemerkt werden, dass unter literarischen Aspekten die Werke des Amerikaners keine Meilensteine sind. Vor allem die späteren Werke sind kaum das Lesen wert, oder zumindest nur für seine Fans. Dies gilt auch für die in diesem Buch veröffentlichten Kurzgeschichten aus den 70er Jahren.

Was bleibt, sind Asimovs ältere Werke, als der Autor noch nicht den Ehrgeiz hatte, alle seine Erzählungen und Romane auf Teufel komm raus miteinander zu verknüpfen, wie er dies später tat. So sind auch Asimovs Geschichten aus den 40er und 50er Jahren heute noch meist sehr lesenswert und bestechen durch ihre Ideen, egal ob sie von Robotern handeln oder nicht.

_Gunther Barnewald_ © 2002
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung unseres Partnermagazins [Buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de/ veröffentlicht.|

Aldous Huxley – Schöne neue Welt

„Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit“, so der Wahlspruch in Huxleys schöner neuer Welt. Dahinter verbirgt sich eine Gesellschaft, die, in ein strenges Kastenwesen unterteilt, ihren Lebenssinn im staatlich gesteuerten Konsum findet. Horden von in Khaki gekleideten Delta-Klonen – Bokanowskygruppen – finden ihr Glück beim Zentrifugalbrummball, Alphas amüsieren sich in Fühlkinos oder mit Vibrovakuumapparaten, Betas spielen Hindernisgolf. Alle zusammen werden sie schon pränatal in Brutflaschen auf ihre zukünftige Rolle im Gesellschaftsleben vorbereitet. Das Bokanowskyverfahren kennt als Hauptstütze der Gesellschaft keine Mutter und keinen Vater. Epsilon-minus-Halbkretins erhalten bis zu ihrer „Entkorkung“ Chlor, Ätznatron, Blei und Teer zugesetzt, um ihrer Aufgabe als zukünftige Chemiearbeiter gerecht zu werden und diese Arbeit zudem physiologisch zu lieben. Nach der Entkorkung schließt sich die Normung an. In Schlafschulen werden die einzelnen Klone mit jeweils für ihre Kaste spezifischen Schlafschulweisheiten konditioniert. Die Furcht vor dem Tod wird abgenormt, es gibt keine alten Menschen, keine Bücher, keine Ängste, keine Liebe, keine Krankheiten, keine Armut, weder Religion noch Kunst, nur Spiel und Spaß. Soma, eine synthetische Droge, erstickt jeglichen trotz Normung aufkeimenden Kummer, revolutionäre und damit gesellschaftsschädliche Gefühle und tötet jeden Ansatz individuellen Denkens. Regiert wird diese Gesellschaft von zehn Weltaufsichtsräten. Ihnen obliegen die Zensur, die Reglementierung und Bestrafung bei Abweichungen von der Norm. Der Kollektivismus wird durch extrem modern anmutende Motivationstrainings gepflegt.

Sigmund Marx, ein sowohl physiognomisch als auch psychologisch von der Norm abweichender Feigling, bringt aus einer Reservation den „Wilden“ Michel in seine Welt mit. Natürlich geboren, ohne Normung aufgewachsen, ist Michel ein Exot. Die neue Welt ist ihm unverständlich und je mehr er davon sieht, desto mehr fühlt er sich abgestoßen. Eine unglückliche Liebe bringt sein labiles Wesen an den Rand des Wahnsinns. In einer Diskussion mit dem Weltaufsichtsrat Mustafa Mannesmann muss Michel erkennen, dass seine revolutionären Gedanken nicht nur bei der Herrscherriege, sondern auch in der Bevölkerung auf Unverständnis stoßen müssen, dass seine Kritik an diesem Gesellschaftssystem zwar berechtigt sein mag, aber nichts ändern wird, und dass es für ihn in dieser Gesellschaft keinen Platz geben wird. Da ihm auch der Rückweg in seine alte Welt verwehrt ist, bleibt ihm nur noch der Freitod.

Im Gegensatz zu Orwells „1984“, oft in einem Atemzug mit Huxleys Werk genannt, fühlen sich Huxleys Menschen nicht unterdrückt. Sie sind glücklich mit dem, was sie sind und was sie tun. Die Vorstellung, etwas könne sich daran ändern, bereitet ihnen Unbehagen und deshalb ist Huxleys Welt wesentlich glaubhafter. Orwell bedient sich in der Geschichte, Huxley (1894 – 1963) ist innovativ. Ein totalitäres Regime, wie von Orwell beschrieben, hat, und das lehrt die Geschichte, langfristig keinen Bestand. Huxleys Welt ist dauerhaft, ein stabiles System mit Klonierung und „neo-pawlowscher“ Normung als Basis für Beständigkeit, Einheitlichkeit und Gemeinschaftlichkeit, mit Konsum als Selbstzweck und Soma als staatlich verordnetes, magisches, nachwirkungs- und nebenwirkungsfreies Antidepressivum.
„Schöne neue Welt“, in den Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts als Utopie begonnen, entwickelt sich mittlerweile zu einer beißenden Gesellschaftssatire, da die Ähnlichkeiten unserer Gegenwart zu Huxleys Welt immer frappanter werden. Huxleys Roman zählt sicher zu den besten SF-Werken, die bisher geschrieben worden sind.

Mehr über A. Huxley bei |wikipedia|: http://de.wikipedia.org/wiki/Aldous__Huxley

_Jim Melzig_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de/ veröffentlicht.|

|Unsere hauseigene Rezension von Michael Matzer findet ihr in aller Ausführlichkeit [an dieser Stelle. 2462 |

S. S. Van Dine – Der Mordfall Terrier

Ein als Selbstmord aufwändig getarnter erster Mord in einem hermetisch verschlossenen Raum, ein niedergeschlagener Hund, an falscher Stelle auftauchende Mordwerkzeuge: viel Grübelarbeit für Philo Vance … – Ein Meisterwerk des klassischen Kriminalromans, das unerschrocken ein schon damals zum Klischee gewordenes Element – den perfekten Mord – aufgreift und meisterlich entwickelt.
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Baudelaire, Charles / Huysmans, Joris-Karl / Mirbeau, Octave – Blumen des Bösen, Die / Tief unten / Der Garten der Qualen

Es gibt Klassiker der unheimlichen Literatur, welche heute nur noch selten ihren Weg zu den Lesern finden, da die Autoren zumeist vergessen sind und nur noch Kenner der Phantastik aus literaturhistorischem Interesse heraus versuchen, antiquarische Exemplare zu ergattern. Löblicherweise erscheinen nun im |area|-Verlag einige dieser Werke im edlen Hardcover zu moderaten Preisen.

Im vorliegenden Band sind drei Werke vereint, welche bislang – bis auf eine Ausnahme – selten lieferbar waren. Es sind dies die Gedichtsammlung „Die Blumen des Bösen“ von Charles Baudelaire, „Tief unten“ von Joris-Karl Huysmans und „Der Garten der Qualen“ von Octave Mirbeau.

_Charles-Pierre Baudelaire_ (1821 – 1867) ist den Phantastik-Kennern als Poe-Übersetzer bekannt. Baudelaire hat die Poe-Rezeption in Frankreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angestoßen und damit auch für die Verbreitung der Poe’schen Werke in Deutschland viel Gutes getan, nachdem E. A. Poe einige Zeit zu Unrecht vergessen war. Seine eigenen Werke stecken – wie bei Poe – voller rätselhafter, verschrobener Charaktere und behandeln die Themen Tod, Verwesung, Gewalt. Dies ist auch in der viel gelobten Gedichtsammlung „Die Blumen des Bösen“ („Les Fleurs du mal“, 1857) der Fall. In nahezu hundert Gedichten beschwört Baudelaire eine Welt voller Wahnsinn und Zerfall, und das in einer poetischen Sprache, die voller betörender Bilder ist. Diese Sammlung gilt zu Recht als ein Meilenstein in seinem Werk und ist schwer zu übersetzen. Die Ausgabe des |area|-Verlages wurde von Terese Robinson übersetzt, welche mit großer Akribie daran ging, den Rhythmus des französischen Originals und seine Bildsprache auch im Deutschen beizubehalten. Das Ergebnis ist gelungen.

„Tief unten“ („Là-bas“, 1891) von _Joris-Karl Huysmans_ (1848 – 1907) ist ein Roman, der das Thema Satanismus in aller Breite und Ausführlichkeit schildert. Die Hauptfigur des Romans ist Durtal, ein Schriftsteller, der als ein Dandy des |Fin de Siècle| geschildert wird. Er recherchiert für eine Biographie über Gilles de Rais, besser bekannt als „Blaubart“. Gilles de Rais hatte sich der Legende nach ganz dem Satanismus verschrieben und versuchte die Gunst des Teufels zu erringen, in dem er u. a. Kinder auf grausamste Weise ermordete. Durtal ist auf dunkle Art fasziniert von seinen Ergebnissen und nimmt an Schwarzen Messen teil. Doch davon ist er angewidert und wendet sich ab, um wieder die Einsamkeit eines Dandys zu leben.
Das Werk ist eine Mischung aus Essay und Roman und zeigt vor allem den historischen Satanismus des |Fin de Siècle| als eine Sinnsuche in einer für die damaligen Künstler als sinnlos empfundenen Welt.

_Octave Mirbeau_s „Der Garten der Qualen“ wendet sich dem Thema Sadismus zu. In China erlebt ein französischer Exilant, wie Gefangene in einem Straflager, das einem Garten nachempfunden ist, zu Tode gequält werden. Die Methoden sind dabei dermaßen perfide, dass sich ein Clive Barker hiervon inspirieren lassen und diese nicht extremer schildern könnte. In bester Tradition eines Marquis de Sade schildert Mirbeau (1848-1917) die Qualen als Mittel zum sexuellen Genuss der Betrachterin, einer schottischen Adeligen. Am Ende jedoch überwältigt auch sie das Gesehene und sie fällt in eine Ohnmacht, wobei klar ist, dass die Adelige wieder und immer wieder zu Besuch in den „Garten der Qualen“ gehen wird. Dieser Roman diente Kafka als Vorlage für „In der Strafkolonie“.

Alle drei Werke sind wahre Klassiker der unheimlichen Literatur und jedem empfohlen, der sie noch nicht kennt. „Der Garten der Qualen“ ist normalerweise besonders schwer zu erhalten, demnach sollte man nicht zögern zuzugreifen, vor allem, da der Preis für ein Hardcover wirklich günstig ist.

_Markus K. Korb _
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de/ veröffentlicht.|

Steve Alten – Höllenschlund

Ein urzeitlicher Riesenhai geht auf Menschenfang, während ein besessener Wissenschaftler sich an seine Flossen heftet, um ihn auszuschalten … – Schier unfassbar in seiner Mischung aus schlecht inszenierter Action und einschlägigen Uralt-Klischees, schlägt dieser Schmalspur-Thriller durch seine holzschnitthafte Figurenzeichnungen dem Fass (bzw. den Lesern) endgültig die Krone (oder die Flosse) ins Gesicht.
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Interview mit Thomas Thiemeyer

|Thomas Thiemeyer überraschte mich mit seinem abenteuerlichen Romandebüt [„Medusa“ 482 sehr angenehm. Der sympathische Autor kam gerade von der an diesem Wochenende gelaufenen Elster-Convention zurück und unterhielt sich mit mir über sein Buch, die nächsten Projekte, die Convention und metallischen Musikgeschmack.|

_Andreas Jur:_
Hallo Thomas, ich grüße dich! Gratulation zunächst zu deinem gelungenen Erstlingswerk! War eine nette Überraschung, als Droemer/Knaur mir das lecker Büchlein auf gut Glück in den Briefkasten befördern ließ, sonst wäre mir die „Medusa“ wohl tatsächlich glatt entgangen. Wie sieht die Resonanz der Pressekollegen und seitens der Leserschaft bislang aus?

_Thomas Thiemeyer:_
Überraschend positiv. Zwar hat sich niemand die Mühe gemacht, so ins Detail zu gehen wie ihr bei Buchwurm.info, aber die einhellige Meinung scheint zu sein, dass alle es für einen spannenden, gut zu lesenden Abenteuerroman halten. Und mehr wollte „Medusa“ nie sein.

_Andreas Jur:_
Hast du schon Rückmeldung bezüglich der Verkaufszahlen von „Medusa“?

_Thomas Thiemeyer:_
Leider nein, denn es ist nicht leicht, an solche Zahlen zu kommen. Die Redakteure wissen sie oft selbst nicht. So habe ich erst kürzlich erfahren, dass das Buch mit einer Auflage von 12.000 Stück an den Start gegangen ist, also eine beachtliche Zahl für ein Hardcover. Was den Reinverkauf in die Buchhandlungen betrifft, so habe ich von Vertreterseite nur Gutes gehört, aber das bedeutet noch lange nicht, dass der Abverkauf an den Endkunden ebenso flott läuft. Hier spielt der Faktor Glück noch eine große Rolle.

_Andreas Jur:_
Der Verlag hat offenbar große Erwartungen in deinen ersten großen Roman gesteckt. Solides Hardcover, aufwendige Umschlaggestaltung mit Prägedruck, Innenabdruck einer Karte, breite Pressebeschickung mit Vorabexemplaren … Hast du dergleichen erwarten können?

_Thomas Thiemeyer:_
Überhaupt nicht. Ich wäre ja schon froh gewesen, wenn ein Verlag die „Medusa“ als Taschenbuch herausgebracht hätte. In einer Zeit, in der es von tausend eingesandten Manuskripten nur eines es schafft, als Buch gedruckt zu werden, muss man mit allem zufrieden sein. Anfangs sah es auch recht düster aus. 2003 schickte ich das fertige Manuskript an meinen Agenten Bastian Schlück, der es postwendend an |Bastei Lübbe| weiterreichte, die das Buch optioniert hatten. Nach kurzer Zeit flatterte jedoch eine Absage herein, die mir ziemlich zu schaffen machte und deren Argumentation ich bis heute nicht ganz nachvollziehen kann. Aber sei’s drum, Geschmäcker sind eben verschieden. Kurze Zeit später war die Buchmesse in London und auf einmal ging alles sehr schnell. Sowohl |Goldmann| (|Blanvalet|) als auch |Droemer/Knaur| interessierten sich dafür. Für einen Autoren und seinen Agenten natürlich eine Traumsituation. Den Zuschlag bekam |Knaur|, denn er lockte mit einem Hardcoververtrag mit anschließender Herausgabe als Taschenbuch. Im Nachhinein betrachtet hat mir Stefan Bauer von |Bastei| mit seiner Absage also einen riesigen Gefallen getan.

_Andreas Jur:_
Wie zufrieden ist denn dein neuer Verlag mit dem bisherigen Erfolg?

_Thomas Thiemeyer:_
Von Erfolg kann noch keine Rede sein. Alles, was ich bisher zu hören bekommen habe, der Reinverkauf, die guten Rezis, die Lesermeinungen, all das sind Vorschusslorbeeren. Die Tendenz sieht zwar gut aus, aber das letzte Wörtchen wird an der Kasse des Buchhändlers gesprochen. Ich bleibe da bis zuletzt sehr kritisch.

_Andreas Jur:_
Und dann wird trotz des großen Glücksfaktors (der bei einem noch unbekannten Autorennamen ja immer ein Problem in dieser Masse von Neuveröffentlichungen ist) die „Medusa“ wie erwähnt gleich als Hardcover geadelt und eine Taschenbuchausgabe soll es später auch noch geben. Wittert man von so viel unerwarteter Beachtung die Luft des Größenwahns oder hält sich der Blutdruckpegel in Grenzen?

_Thomas Thiemeyer:_
Durch meine Bilder bin ich es gewohnt, in der Öffentlichkeit zu stehen und sowohl Lob als auch Kritik einzustecken, und das schon seit fünfzehn Jahren. Ich glaube, das hat mir geholfen, mit dieser Situation umzugehen. Bisher stehe ich noch mit beiden Beinen fest auf der Erde. Das kann sich natürlich schlagartig ändern, wenn Steven Spielberg anruft …

_Andreas Jur:_
Ich habe gelesen, dass du zuvor schon im Kinder- und Jugendbuchbereich tätig warst. Um welche Themen ging es da?

_Thomas Thiemeyer:_
Im Kinder- und Jugendbuchbereich habe ich vorwiegend als Illustrator gearbeitet. Dabei habe ich Bücher zum Thema Saurier, Indianer, Ritter, Urmenschen und Naturphänomene gemalt. Geschrieben hätte ich gerne schon früher, aber da waren die Verlage sehr konservativ. Sie haben sich sicher gedacht, „wer malen kann, kann nicht auch noch schreiben“. Diese „Schuster bleib bei deinen Leisten“-Mentalität ist leider sehr weit verbreitet. Daher musste ich schon in die Erwachsenenliteratur wechseln, um schreibtechnisch Fuß zu fassen. Ein Kinderbuch habe ich aber dann doch geschrieben, ein kleines Buch über zwei Kinder, die auf dem Mars ein Abenteuer erleben, aber das Angebot kam, nachdem ich die „Medusa“ schon fertig geschrieben hatte.

_Andreas Jur:_
Dass die Kombination Illustrator/Autor durchaus geschmackvolle Früchte tragen kann, sieht man ja auch beispielsweise bei deinem Kollegen Michael Marrak. Hauptsächlich hast du dir also bislang als Illustrator und Maler einen Namen gemacht, deine Bilder schmücken allerhand Buchveröffentlichungen und es sind auch einige preisgekrönte darunter. Welche Preise gab es denn bislang und wofür jeweils?

_Thomas Thiemeyer:_
1989 „Das große Buch der Saurier“: Nominierung für den |Deutschen Jugendbuchpreis|.
1999 „Auf zwei Planeten“: |Kurd-Lasswitz-Preis| für beste Umschlagillustration.
2001 „Quest“: |Kurd-Lasswitz-Preis| für beste Umschlagillustration und Innenillustration.
2002 „Jupiter“: |Kurd-Lasswitz-Preis| für beste Umschlagillustration.
2003 „Der Asteroidenkrieg“: |Kurd-Lasswitz-Preis| für beste Umschlagillustration.

_Andreas Jur:_
Ich bin in der Tat beeindruckt und bis auf das Saurierbuch sind mir die Werke sogar bekannt – große Namen. Auf welche Weise malst du denn am liebsten? Welchen Stellenwert hat der Computer? Und wie ist die schöpferische Balance zwischen Auftragsarbeiten und innerem Impuls dabei?

_Thomas Thiemeyer:_
Am liebsten male ich groß, fett und in Öl. Minimum 100cm x 70cm, zum Aufhängen und mit einem schönen Holzrahmen drumherum. Als Buchillustration ist so etwas natürlich viel zu aufwendig und technisch schwer zu reproduzieren. Buchillustrationen fallen naturgemäß kleiner aus und werden auf biegsamen Malkarton angefertigt, für die spätere Repro auf einem Trommelscanner. Trotzdem arbeite ich |so| immer noch viel lieber als am Computer, denn das Malerlebnis, der Umgang mit dem bockigen, widerspenstigen Material ist eine Herausforderung, die riesig Spaß macht. Computerillus fertige ich eigentlich nur noch an, wenn’s schnell gehen muss, oder wenn das Motiv so aufwendig ist (Stichwort Massenszenen oder komplizierte Architektur), dass es nicht anders geht.

_Andreas Jur:_
Knaur ist vermutlich dankbar dafür, dass du dein Buchcover selbst gestaltet hast. Das bot sich ja geradezu an. Wie kam der Sprung vom Illustrator zum Buchautor zustande? Über die Kontakte, die du durch deine bilderstürmende Verlagsarbeit geknüpft hast? Kaffeekränzchen mit den Kollegen Eschbach und Co.?

_Thomas Thiemeyer:_
Andreas Eschbach, Rainer Wekwerth und Michael Marrak, mit denen ich gut befreundet bin, haben mir zwar mit ihren Tipps, Anregungen und (teilweise harschen) Kritiken sehr geholfen, aber den Sprung in die Verlagslandschaft konnten sie mir nicht abnehmen. Den muss jeder selbst machen. Letztendlich zählt nur die Qualität. Eine große Hilfe ist es aber, wenn man einen guten Agenten hat. Und mit Bastian Schlück habe ich einen der besten.

_Andreas Jur:_
Woher kamen die Inspirationen für die Orts- und Themenwahl für „Medusa“? Liegt dir Afrika sehr am Herzen? Die kulturellen Einblicke, die du uns im Roman gibst, klingen nach mehr als bloßer Recherche und auch nach echtem Respekt für Land und Leute.

_Thomas Thiemeyer:_
Seit meinem Besuch bei den entlegenen Saurierfundstätten von Tendaguru im Süden Tanzanias bin ich total auf Afrika geeicht. Alles an diesem Kontinent fasziniert mich, das Land, die Menschen, die Tiere und natürlich diese uralte, geheimnisumwitterte Aura, die über allem liegt (Stichwort: Wiege der Menschheit usw.). Auch mein zweiter Roman, der, wenn es die Götter so wollen, im Herbst nächsten Jahres erscheinen wird, spielt wieder in Afrika. Dann allerdings an einem noch gefährlicheren Ort. Nämlich im Kongo, dem sogenannten „Grab der weißen Mannes“.

_Andreas Jur:_
Siehst du dein Buch eher als Abenteuerroman oder mehr als der Mystery-Thriller, unter dem das Werk in erster Linie firmiert?

_Thomas Thiemeyer:_
Schwerpunkt ist eindeutig Abenteuer und wissenschaftliche Glaubwürdigkeit. Der Mystery-Aspekt ist für mich das Sahnehäubchen. Ein nicht zu unterschätzender Faktor, der das Buch über die Erklärbarkeit unserer nüchternen, technisierten Welt hinaushebt. Worum es mir geht, ist, dem Leser zu zeigen, dass es viele Dinge auf unserem Planeten gibt, die wir nicht verstehen und vielleicht nie verstehen werden. Und das es sich lohnt, einen offenen Blick zu behalten.

_Andreas Jur:_
Eine gute Botschaft, und die Mischung von Abenteuer/Wissenschaft/Mystery ist dir ja ebenfalls stimmig gelungen. Wo wir eben bei der Recherche waren: Hattest du da für „Medusa“ viel zu tun? Wer hat geholfen? Und wie viel Planung und Marktkalkül steckte hinter dem „Medusa“-Projekt? Gerade als deutscher Autor im phantastisch angehauchten Bereich ist es ja arg schwer, den Fuß überhaupt in die Tür zu bekommen.

_Thomas Thiemeyer:_
Da ich selbst nie in Algerien oder im Niger war, musste ich natürlich viel recherchieren. Alle beschriebenen Orte existieren tatsächlich und man kann sie besuchen, auch wenn ich das aus Gründen der Sicherheit keiner Leserin und keinem Leser empfehlen möchte. Man denke nur an die entführten Sahara-Touristen. Ich halte eine gute Recherche für unabdingbar, um dem Leser das Gefühl zu geben, es könnte sich wirklich alles so zugetragen haben wie in dem Buch beschrieben. Das wäre dann aber auch schon so ziemlich das einzige, was ich mit dem Begriff „Kalkül“ beschreiben würde. Alles andere ist bei mir pure Lust an solchen Geschichten. Ich glaube auch nicht, dass man einen kommerziellen Erfolg auf dem Reißbrett planen kann. Dafür gibt es zu viele Beispiele, bei denen das grandios in die Hose gegangen ist. Natürlich ist es nicht leicht, einen Fuß in die Tür zu bekommen, besonders in diesen schwierigen Zeiten. Was mir aber sicher geholfen hat, ist die Tatsache, dass diese Art der Literatur bisher nur von Engländern und Amerikanern verfasst wurde und dass diese erstens sehr teuer im Einkauf sind und zweitens häufig zu unglaubwürdig und übertrieben action-lastig sind.

_Andreas Jur:_
Einen Teil der Detailarbeit hat dir vermutlich dein früheres Studium abgenommen, dessen Grundwissen du bei deiner Themenwahl ja sehr sinnvoll einsetzen konntest. Erzähl doch mal, was und wo du genau gelernt bzw. studiert hast.

_Thomas Thiemeyer:_
Ich habe insgesamt acht Semester an der Geologisch/Geographischen Fakultät der Universität zu Köln studiert und gearbeitet. Und obwohl ich mich letztendlich entschieden habe, eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen, ist dies eine Zeit, die, im Nachhinein betrachtet, für meine Arbeit als Schriftsteller von großer Wichtigkeit ist.

_Andreas Jur:_
Wie ist deine Arbeitsplanung beim Schreiben? Hast du einen festgelegten Tagesablauf? Wie sieht der Alltag bei Familie Thiemeyer aus?

_Thomas Thiemeyer:_
Früh morgens aufstehen (meistens so um kurz nach sechs), mit meiner Frau Kaffee im Bett trinken, die Kinder wecken, anziehen, abfrühstücken und in die Schule schicken, mich von meiner Frau verabschieden, die als Leiterin für Lektorat und Herstellung in einem Stuttgarter Verlag arbeitet, die plötzliche Ruhe genießen, dreimal mit den Fingern knacken und mich dann an die Arbeit machen. Je nachdem, was gerade ansteht an den Zeichentisch oder an den Schreibcomputer.

_Andreas Jur:_
Einer deiner Protagonisten hat den Decknamen „Chris Carter“ – Bist du Akte-X-Fan?

_Thomas Thiemeyer:_
Ehrlich gesagt ist das ein blanker Zufall. Bis auf den Kinofilm habe ich nie eine Folge von Akte-X gesehen und hättest du die Parallele nicht entdeckt, wäre sie mir nie aufgefallen. Aber was soll’s? Akte-X passt doch ganz gut, oder?

_Andreas Jur:_
Ziemlich gut sogar, daher ja meine erste Vermutung. Manche Dinge sind scheinbar schon so zufällig, dass man kaum an Zufall glauben kann. Bei allem Mystery-Gehalt bleibt deine Geschichte allerdings weitgehend auf dem Teppich der Wissenschaften und überlässt einige phantastischere Überlegungen durch Andeutungen mehr der Phantasie des Lesers. Bist du mehr Träumer oder Realist?

_Thomas Thiemeyer:_
Oh je, was soll ich dazu sagen? Beides vermutlich, und zwar immer der Situation entsprechend. Wenn ich meine Steuererklärung machen muss, bin ich wahrscheinlich eher der Realist, und im Bett … aber das geht euch nun wirklich nichts an.

_Andreas Jur:_
Schade aber auch, unsittliche Details steigern die Leserzahl enorm.
Stichwort Kinofilm: Ich hatte die Bildhaftigkeit deines Romans recht lebhaft vor Augen. Sind Filme eine Inspirationsquelle für dich?

_Thomas Thiemeyer:_
Ich vermute, dass die viel erwähnte Bildhaftigkeit eher von meiner Tätigkeit als Illustrator herrührt, aber ich muss gestehen, dass ich auch ein großer Filmfan bin. Noch mehr, seit ich mir einen 16:9-Fernseher mit DVD-Player angeschafft habe. Für’s Kino bleibt mir oft wenig Zeit und außerdem liebe ich es, die Filme im Original zu sehen. Dank verschiedener Tonspuren jetzt kein Problem mehr. Und was das Genre angeht: Horror, SF, Thriller, Fantasy, Komödie, querbeet. Nur gut müssen die Filme sein. Also einen Schrott wie „Die Passion Christi“ schaue ich mir nicht an. Im Moment freue ich mich auf „The Village“ von M. Night Shyamalan.

_Andreas Jur:_
Darauf bin ich auch gespannt, hatte noch nicht die Gelegenheit, ihn mir anzusehen.
Wie sieht es bei deiner künstlerischen Vielseitigkeit mit der Musik aus? Ich habe mir sagen lassen, dass du dich für die hart rockenden Klänge erwärmen kannst. Was hörst du denn so? Lässt du dich während des Schreibens von Musik als Hintergrundlandschaft treiben?

_Thomas Thiemeyer:_
Also beim Schreiben lausche ich ausschließlich dem Klackern meiner Tastatur. Alles andere würde mich nur ablenken oder beeinflussen. Aber in den Pausen oder am Abend darf’s auch mal richtig krachen. Richtung: straight und rockig mit einem Hauch von Punk. The Cult, Creed, Thin Lizzy, Warrior Soul, Social Distortion, AC/DC, Metallica, so diese Mischung. Ich stehe aber auch auf Klassik, Soundtracks und Bombastisches à la Vangelis, nicht zu vergessen Peter Gabriel und Kate Bush.

_Andreas Jur:_
Na, damit kann sich meine CD-Sammlung auch gut anfreunden. Ein Musikfreund ganz nach meinem Geschmack. Was hältst du denn vom aktuellen |Metallica|-Album „St. Anger“? Das hat in Metallerkreisen ziemlich die Gemüter erhitzt. Und kennst du die neuere Coverversion von |Within Temptation| zu Kate Bushs ‚Running up that Hill‘? Ich scheine bei uns einer der wenigen zu sein, die die neue Fassung für gelungen und nicht für Blasphemie halten.

_Thomas Thiemeyer:_
Ich muss gestehen, dass ich die trockene, beinharte Art von „St. Anger“ durchaus mag. Da ich von Zeit zu Zeit auch mit der Punkszene flirte, habe ich sowieso etwas übrig für diesen völlig abgespeckten „Garagensound“. Ich halte es nach der „Ohrwurm“- und „Bombastsound“-Phase der vier Vorgänger für ein absolut erfrischendes Album.
Das Remake von ‚Running up that Hill‘ habe ich zwar noch nicht gehört, bin aber sicher, dass ich den Gedanken daran schon als Blasphemie empfinde.

_Andreas Jur:_
Hör dir die Version einfach mal bei Gelegenheit an; ist zwar kein Klassikerersatz, aber doch gelungen.
Wirst du mit „Medusa“ auf Lesereise sein?

_Thomas Thiemeyer:_
Unbedingt, so mich die Buchhändler denn einladen. Aber damit ist wohl erst zu Beginn des nächsten Jahres zu rechnen. Den Anfang machte allerdings meine Premieren-Lesung samt Signieraktion am 18.09.2004 auf der |Elster|-Con in Leipzig.

_Andreas Jur:_
Die |Elster|-Convention ist ja seit heute vorüber. Wie war’s dort für dich – als Besucher wie auch in beruflicher Sache? Wie ist es, auf SciFi-Giganten wie Orson Scott Card oder John Clute zu treffen (falls sie dir dort über den Weg gelaufen sein sollten)?

_Thomas Thiemeyer:_
Eigentlich habe ich mich weniger auf John Clute und Orson Scott Card (mit dem ich 2000 auf dem „Utopia“-Festival schon das Vergnügen hatte und der von meinen Bildern ganz begeistert war) gefreut, sondern auf Kai Meyer. Obwohl er schon lange „im Geschäft“ ist, bin ich ihm noch nie persöhnlich begegnet. Wie sich jetzt herausgestellt hat, ein großes Versäumnis, denn er ist ein rundum sympathischer, lockerer Typ, mit dem ich viele Interessen teile und dem, trotz seines Erfolges, der Ruhm noch nicht zu Kopfe gestiegen ist. So sollte es immer sein!
Ansonsten habe ich auf der |Elster|-Con meine Feuertaufe bestanden. Meine erste Lesung vor Publikum! Ich habe den Eindruck, dass alle sich gut unterhalten gefühlt haben. Es gab kein Geraschel, niemand verließ den Saal und der Beifall hallt mir jetzt noch in den Ohren. Ein rundum schönes Erlebnis!

_Andreas Jur:_
Was können wir also in nächster Zeit noch von dir erwarten? Und was entsteht unter dem Arbeitstitel „Pacifica“?

_Thomas Thiemeyer:_
Wie schon erwähnt, steht als nächstes ein zweiter Afrika-Roman an, in dem es um die Jagd nach einem legendenumwobenen und hochgefährlichen Lebewesen geht, und der bereits fix und fertig beim Verlag liegt. Und dann ist da noch der Roman, an dem ich gerade schreibe, über den ich aber noch nichts verraten möchte.
„Pacifica“ ist eine Geschichte über eine riesige Wasserstadt, die ich vor Jahren geschrieben habe und bei der ich mir nicht sicher bin, ob sie jemals Buchluft schnuppern wird. Erstens, weil es reinrassige Science-Fiction ist, die sich ja bekanntermaßen schlecht verkauft und zweitens, weil sie meinen eigenen Anforderungen nicht mehr genügt. Ich müsste also viel umschreiben und ob sich das momentan lohnt, wage ich zu bezweifeln. Aber immerhin hat mich die Story zu einem Bild inspiriert, das von der Jury des |Spectrum|-Jahrbuchs (der Bibel für jeden Fantasy-Illustrator) für den Abdruck ausgewählt wurde: http://www.thiemeyer.de/Spectrum.html. Hier schließt sich der Kreis also wieder.

_Andreas Jur:_
Vielleicht wird ja doch noch etwas daraus, die Science-Fiction ist derzeit wieder in einem erfreulichen Auftrieb. Ich bedanke mich jedenfalls für das Gespräch und wünsche dir viel Erfolg für die Zukunft, Thomas. Wir sprechen uns dann wohl im nächsten Herbst wieder, hoffe ich.

Bruce Alexander – Wer die Wahrheit kennt

Das geschieht:

London 1772: Die Reichen & Mächtigen zittern, denn eine Rotte ruchloser Räuber erdreistet sich, sie in ihren feudalen Stadtsitzen zu überfallen und auszurauben. Die Bande ist gut organisiert, geht professionell und schwer bewaffnet zu Werke und schreckt vor Gewalt nicht zurück. Wütende VIPs, verängstigte Bedienstete und leere Schmuckschatullen bleiben zurück, wenn die Schurken das Feld räumen – und dieses Mal eine Leiche: Im Haus von Lord Lilley of Perth haben die Schurken einen Hausdiener erschossen, der ihnen in die Quere kam.

Der Fall geht an Sir John Fielding, Richter am Gericht in der Bow Street und Chef der Bow Street Runners, der ersten regulären Polizeitruppe der Stadt. Obwohl er sein Augenlicht verloren hat, ist Fielding ein begnadeter Kriminalist, der sich höchst fortschrittlicher Methoden bedient. An den Tatorten führt er gern selbst die ersten Verhöre und lässt sich bei der Indiziensicherung von Jeremy Proctor, seinem jungen Assistenten und Leibwächter, zur Hand gehen.

Viel hat das Personal in Lord Lilleys Haus nicht zur Lösung des Falls beizutragen. Allen ist allerdings aufgefallen, dass die Räuber von schwarzer Hautfarbe waren – eine bemerkenswerte Tatsache in einer Zeit, da den Farbigen in der englischen Gesellschaft höchstens die Rolle unterwürfiger und exotischer Diener vorbehalten ist. Hier gehen offensichtlich nicht vom britischen Herrenvolk beeindruckte und deshalb doppelt gefährliche Männer ihrem verbrecherischen Metier nach.

Schwarze Männer attackieren weiße Herren! Das sorgt für Aufregung in London, was vielen unglückseligen Dienern aus Afrika oder aus den amerikanischen Kolonien unerfreuliche Aufmerksamkeit beschert. Aber ist etwa genau das die Absicht der Räuber? Sind die Verbrecher wirklich farbig, oder geben sie dies der Ablenkung wegen nur vor? Diese Fragen stellt sich Richter Fielding, nachdem ein Attentat auf ihn verübt wurde, das ihn allerdings nicht von weiteren Ermittlungen abhält. Dies missfällt seinen Kontrahenten – mit den zu erwartenden lebensbedrohlichen Folgen …

Die Angst des Herrn vor seinem Sklaven

Dass sich pöbelhaftes Diebespack am Eigentum der von GOTT dem HERRN begünstigten Oberschicht vergreift, ist schon ein starkes Stück, das allein in diesem Jahr 1772 die Schuldigen unverzüglich an den Galgen bringen würde. Aber dass hinter den Überfällen womöglich farbige Menschen zweiter Klasse stehen, gibt den Ereignissen eine ganz andere Dimension: Schwarze Männer sind zum Gehorchen und Arbeiten unter der weisen Führung weißer Herren auf dieser Welt! Ein Verstoß gegen diese Regel ist geradezu eine Todsünde. Vor allem rüttelt es an politischen und gesellschaftlichen Grundfesten und kann daher keinesfalls geduldet werden.

Ohnehin wirft die Anwesenheit schwarzen Mitbürger in England ein diffiziles juristisches Problem auf: Kluge und der Gerechtigkeit verpflichtete Männer stellen die Frage, wieso es möglich sein kann, dass die Sklaverei auf der Insel selbst verboten ist, während in den Kolonien, die denselben Gesetzen unterstehen wie das Mutterland, Menschen ge- und verkauft werden können. Jene, die davon profitieren, sind selbstverständlich nicht an einer Änderung des status quo interessiert und gern bereit, gegen gefühlsduselige = geschäftsschädliche Philanthropen vorzugehen.

So kämpft Sir John Fielding in seinem aktuellen Abenteuer gleich gegen zwei Feinde. Die Entlarvung der Räuber verursacht ihm dabei nicht halb so viel Kopfweh wie die „Hängt-sie-vorsichtshalber-alle-auf!”-Stimmung, die sich in London breitzumachen beginnt. Viele unschuldige schwarze Menschen geraten in Gefahr. Auf Fürsprecher können sie kaum hoffen, auf Schutz noch weniger.

Die Angst des Bürgers vor seiner Polizei

Denn wir befinden uns hier in einer Zeit, und einer Stadt, in der es geradezu eine Beleidigung ist, „Polizist“ genannt zu werden. Der typische „Bow Street Runner“ klärt ein Verbrechen höchstens, wenn es unter seinen Augen geschieht, und selbst dann in der Regel unter Einsatz seines Knüppels. „Deduktion“ ist ein Fremdwort, eine Ermittlung anhand von Indizien gilt beinahe als Zauberei. Das Mittelalter ist dem London von 1772 immer noch näher als die Moderne. Seit dem Großen Brand von 1666 ist schon wieder ein Jahrhundert verstrichen, das nicht dem Fortschritt der desolaten Gesellschaftsordnung gewidmet wurde. Es gibt kein soziales Netz, das Gesetz basiert eher auf Rache als auf Gerechtigkeit und ist ganz sicher auf jenem Auge blind, das sich auf die Unterprivilegierten richtet.

Sind dem Leser solche Fakten bewusst, gewinnt die an sich wenig originelle Handlung eigenen Qualitäten. Andere Zeiten, andere Sitten: Bruce Alexander führt es uns plastisch vor Augen, weil er es selbstverständlich in seine Geschichte eingehen lässt. Ein bisschen didaktisch geht er dabei manchmal vor, aber anschließend hat man begriffen, was London in ein Pulverfass verwandelt.

Sehr erfreulich ist Alexanders Verzicht auf jene offensive Entrüstung – „Nein, wie ungerecht!“ -, wie sie z. B. Anne Perry zum Stilmittel erhebt bzw. missbraucht. Man kann und darf die Menschen einer vergangenen Epoche nur bedingt nach den moralischen Standards der Gegenwart beurteilen; sie wussten es bis zu einem gewissen Grad tatsächlich nicht besser.

Geschichte ohne genaue Zielrichtung

Schade nur, dass die vielversprechenden Elemente dieses Romans sich nur mühsam zu einer schlüssigen Handlung fügen wollen. Über mehr als vierhundert Seiten erstreckt sie sich, doch der Leser fragt sich bald nach dem Grund, denn die meiste Zeit beschreibt der Verfasser, wie Jung Jeremy von Ort zu Ort läuft, um des Richters kryptischen Anweisungen Folge zu leisten.

Es geht kaum voran mit der Kriminalgeschichte, die durch historische Anekdoten und behagliche Beschreibungen des städtischen Alltags keinesfalls ersetzt werden kann. Die Kriminalistik ist ein mühsames Geschäft voller Sackgassen und Irrtümer. Fatal ist nur, dass man Autor Alexander nicht abnimmt, dass er genau diese Mühsal darstellen wollte.

Stattdessen scheint er selbst nicht recht zu wissen, was er eigentlich erzählen möchte. So schindet er Zeit und füllt viele Seiten mit unnötigem und nicht einmal interessantem Geplänkel. Statisch mäandert die Handlung bis zum angestrengt wirkenden Finale umher. Man liest manchmal gespannt, aber man fiebert niemals mit. Ohnehin legt Alexander keine Indizien, sondern eher Fußangeln aus, sodass man schon allzu früh weiß, wohin der Hase laufen wird. Überraschungen bleiben erwartungsgemäß aus.

Der Mann vor Sherlock Holmes

John Fielding ist eine historische Gestalt. Ob er im Winter des Jahres 1721 schon blind geboren wurde oder sein Augenlicht erst später verlor, weiß man nicht. Fest steht, dass Fielding in der historischen Kriminologie eine prominente Stellung einnimmt, auch wenn er heute meist im Schatten seines als Schriftsteller berühmter gewordenen Halbbruders Henry – sein „Tom Jones“ ist ein unsterblicher Klassiker des Schelmen- und Gesellschaftsromans – steht.

John begann seine Laufbahn als Assistent des Bruders Henry begann ab 1748 als Friedensrichter und später als Ratsherr damit, der kaum strukturierten Ordnungsmacht seiner Heimatstadt eine solide Basis und Durchsetzungskraft zu verschaffen. Ab 1750 schufen die Brüder gemeinsam die erste echte Polizeiorganisation: die Bow Street Runners. Während es bisher nur Stadtwächter gegeben hatte, schickten die Fieldings die Runners auf die Straße – daher der Name. Sie ‚erfanden‘ den Steckbrief, führten – für die damalige Kopf-ab-Mentalität sensationell – eine Kronzeugenregelung für überführte Verbrecher ein und machten sich für eine Liberalisierung der Gesetze für jugendliche Straftäter stark. Als Henry Fielding 1754 starb, rückte John an seine Stelle und setzte das begonnene Werk trotz seiner Behinderung mit Erfolg fort. 1761 wurde er geadelt; zwanzig Jahre später starb er. Unter seinem Spitznamen „The Blind Beak“ war er längst zu einer legendären Gestalt geworden.

Bruce Alexander macht aus ihm eine Art Sherlock Holmes, setzt seiner ansonsten möglicherweise gar zu offensichtlichen Genialität aber eine Grenze, indem er ihn mit einem Gebrechen schlägt. Das ermöglicht ihm die Einführung einer zweiten Hauptfigur. Jeremy Proctor ist Fieldings Watson, der in Vertretung des Lesers die dummen Fragen stellt, um seinen Herrn in besseres Licht zu setzen. Zudem ist Jeremy jung, neugierig und beweglich, was es Alexander ermöglicht, ihn wie eine Schachfigur durch London springen zu lassen.

Dünnblütige Figuren vor saftiger Kulisse

Jeremy ist ein Kind seiner wenig mitleidvollen Zeit – eine Waise, die das Glück hatte, Sir Johns Aufmerksamkeit zu erregen. Der ist nun Vaterfigur und Lehrer in Personalunion. Die Fielding-Romane schildern auch Jeremys Weg zum erwachsenen, gut ausgebildeten Ermittler.

Dem heutigen Leser dürfte Jeremy als Person flach erscheinen. Er ist stets ein wenig zu eifrig und zu ‚vernünftig‘, um für sich einzunehmen. Damit reiht er sich in das Feld der übrigen Figuren ein. Bruce Alexander ist sicher kein begnadeter Schriftsteller. Er erzählt Geschichten ‚aus zweiter Hand‘. Diese wimmeln von beschränkten & dünkelhaften Adligen, dümmlichen & kichernden Zofen, steifen & hochnäsigen Butlern und was der wandelnden Klischees mehr ist.

Niemand wirkt lebensecht, alle scheinen sie Rollen zu spielen – oftmals im Halbschlaf. Als Leser nimmt man an ihrem Schicksal keinen echten Anteil. Auch der an sich interessante Konflikt um die Menschenrechte der ‚schwarzen‘ Engländer kommt nie über das Niveau politisch korrekter Zustimmungsbekundungen hinaus. Die Vergangenheit ist für Alexander nur exotische Folie für eine Story, die ohne diesen Bonus reichlich mager daherkäme.

Autor

Bruce Alexander Cook wurde am 7. April 1932 in Chicago, US-Staat Illinois, geboren. Sein Interesse an der Schriftstellerei blieb zunächst akademisch: Bruce studierte Literatur. Seinen Wehrdienst leistete Cook als Übersetzer ab; er wurde u. a. in Deutschland eingesetzt.

Nach der Rückkehr ins Zivilleben und inzwischen verheiratet, begann Cook Anfang der 1960er frei- und hauptberuflich für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften zu schreiben. 1971 veröffentlichte er das Sachbuch „The Beat Generation“. Es folgten weitere Sachbücher und Biografien und 1978 „Sex Life“, ein erster Roman. Unter dem Pseudonym Bruce Cook erschienen vier Romane um den südkalifornischen Privatdetektiv Antonio „Chico“ Cervantes.

Erst die örtlich und zeitlich denkbar weit von seiner Heimatstadt Los Angeles entfernt angesiedelten Historienkrimis um den (realen) Richter und frühen Kriminologen Sir John Fielding brachten Alexander 1994 den endgültigen Durchbruch. Er setzte die Reihe bis zu seinem Tod am 9. November 2003 in Hollywood fort. Sie umfasste zehn Bände; ein elfter wurde postum von seiner Witwe und dem Autor John Shannon beendet.

Taschenbuch: 412 Seiten
Originaltitel: The Color of Death (New York : G. P. Putnams Sons 2000)
Übersetzung: Andreas Jäger
http://www.randomhouse.de/btb

Der Autor vergibt: (2.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (10 Stimmen, Durchschnitt: 1,50 von 5)

Fiktion & Wahrheit

_von Mathias Bröckers_

Nach zwei Büchern über die Verschwörungstheorien des 11. September werde ich in der Presse und bei Diskussionsveranstaltungen oft als „Verschwörungstheoretiker“ vorgestellt. Eigentlich ist gegen die Bezeichnung nichts einzuwenden. Dennoch beginne ich meine Beiträge, wie unlängst bei einer Diskussion mit einem Redakteur des |SPIEGEL| an der Uni Göttingen, gern mit der Richtigstellung einer Verwechslung: Ich befasse mich zwar mit Verschwörungen und Verschwörungstheorien, vertrete selbst aber keine Theorie des 11.9.; im Unterschied zu den Kollegen beim |SPIEGEL| und in den großen Medien, die seit dem 11.9. eine Geschichte wiederholen, für die bis heute keine gerichtstauglichen Beweise vorliegen: die Legende der Alleintäterschaft von Osama Bin Laden und den 19 Hijackern – eine lupenreine Verschwörungstheorie.

Noch einmal kurz zur Begriffsbestimmung: Verschwörungen sind das Selbstverständlichste der Welt: A und B verabreden sich hinter dem Rücken von C, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Das geschieht im Wirtschaftsleben genauso wie in der Natur, ist in der Politik ebenso an der Tagesordnung wie am Arbeitsplatz – sowie, vor allem, im Liebesleben. Die am meisten gehegte Verschwörungstheorie überhaupt ist wahrscheinlich der Verdacht, dass der Liebespartner heimlich noch ein anderes Verhältnis haben könnte. Verschwörungstheorien sind also Annahmen über mögliche Verschwörungen, die auf Indizien, Verdachtsmomenten, Hinweisen – oder auch purer Einbildung – beruhen; wird die Theorie durch einen definitiven Beweis erhärtet – der Partner wird beim Seitensprung ertappt, oder Dokumente über illegale Polit-Machenschaften geraten an die Öffentlichkeit –, fliegt die Verschwörung auf und ist beendet. Oft aber ist solch ein definitiver Beweis nicht zu erbringen und so fristen Verschwörungen bisweilen ein ebenso langes Leben wie Verschwörungstheorien.

Für die Vorhersage, dass den Verschwörungstheorien des 11.9. solche Langlebigkeit blühen wird, bedarf es keiner großen Prophezeiungsgabe. Nach drei Jahren und der angeblich größten Polizeifahndung aller Zeiten wissen wir kaum mehr als nach drei Tagen: dass 19 Araber im Auftrag Osamas mit Teppichmessern vier Flugzeuge kaperten, das |World Trade Center| zum Einsturz brachten und fast 3.000 Menschen ermordeten. Die erst nach 15 Monaten und auf Druck der Opferfamilien eingesetzte 9/11-Untersuchungskommission hörte zwar viele Zeugen und wälzte tausende von Dokumenten – brachte zu den Hintermännern, der Finanzierung und dem genauen Ablauf der Tat aber nichts wirklich Neues ans Licht. Von Augenzeugen, die aus erster Hand hätten berichten können – etwa aus der Zeit, die die Hijacker in Florida verbracht hatten –, wurde kein einziger auch nur gehört. Ein Vorwurf, den sich die zehn vom Präsidenten bestimmten Mitglieder der Kommission gelassen anhören können, bestand doch ihr offizieller Auftrag gar nicht in der Aufklärung der Anschläge – sondern in Empfehlungen, wie sie künftig zu verhindern seien. Da sich die Prävention künftiger Terrorattacken ohne Aufklärung vergangener Anschläge aber nicht so recht planen lässt, forderte die Kommission auch Beweismittel über den 11.9. an – wie Flugschreiber-Daten, Aufzeichnungen des Funkverkehrs, Protokolle der Luftabwehr und weiteres –, die jedoch unter Berufung auf die „nationale Sicherheit“ nur auszugsweise oder überhaupt nicht freigegeben wurden. Die von Bush’s Vize Dick Cheney handverlesene Kommission, deren Mitglieder sich alle durch enge Verbindungen zur Öl-, Militär,- oder Geheimdienst-Branche auszeichnen, nahm diese Blockaden klaglos hin; das einzige halbwegs unabhängige Kommissionsmitglied, das sich über die Verhinderung der Ermittlungen lautstark beklagte – Senator Max Cleeland – wurde umgehend ausgetauscht. Nachdem der Bericht dann fertig gestellt war, stellte der Kommissionsleiter Thomas Kean fest, dass „alle wichtigen Beweismittel“ zur Verfügung gestanden hätten.

Wie wichtig die Aufklärung dieses Massenmords von der Regierung eingestuft wurde, lässt sich schon an dem Budget der Kommission ermessen – es betrug ursprünglich 3 Millionen Dollar und wurde nach Protesten auf 15 Mio. $ erhöht. Zum Vergleich: Für die Aufklärung von Clintons „Monicagate“ wurde seinerzeit fast fünfmal soviel ausgegeben: 70 Mio. $.

Warum weigerte sich das Weiße Haus hartnäckig, die Anschläge überhaupt von einer Regierungskommission untersuchen zu lassen und agierte, nachdem öffentlicher Druck eine Untersuchung unvermeidlich gemacht hatte, ganz so, als ob ihr an der Nicht-Aufklärung des Verbrechens mehr gelegen sei als an seiner Aufdeckung? Diese Frage führt uns mitten in das Feld, auf dem die Verschwörungstheorien des 11.9. blühen – und eine erste Antwort könnten die Vorbereitungen der Irak-Invasion liefern.

Verteidigungsminister Rumsfeld und sein Vize Wolfowitz haben mittlerweile mehrfach bekannt, dass die konkreten Planungen zum Irakkrieg direkt nach den Anschlägen auf WTC und Pentagon begannen. An jenem Tag, an dem das FBI die Liste der verdächtigen 19 Hijacker veröffentlichte, von den 15 aus Saudi-Arabien stammten. Zweifel an ihrer Identität tauchen zwar auf, werden aber nur oberflächlich bereinigt, weitergehend untersucht wird nichts, Täter und Hintermänner bleiben nebulös – aber die „Spin-Doktoren“ übernehmen nun die propagandistische Verarbeitung. Mit Erfolg: Achtzehn Monate später, kurz vor dem Einmarsch in Irak, ergeben Umfragen in den USA, dass 60 Prozent der Bevölkerung die Hijacker für Iraker halten – und den Marsch auf Bagdad für eine gerechte Bestrafungsaktion. Die Nicht-Aufklärung des wahren Hintergrunds der Täter und ihre Fortexistenz als phantomhafter Wechselbalg namens „Al Quaida“ hat sich für die US-Regierung also als sehr nützlich erwiesen. Gerade konkret genug, um geographisch („Araber“) und ideologisch („Islamisten“) ein Feindbild abzugeben, aber auch so diffus, dass es mit ein paar Drehungen an der Spin-Schraube flexibel einsetzbar bleibt.

Nur die Nicht-Aufklärung der Katastrophe, die Nicht-Ermittlung der konkreten Planer und Hintermänner ermöglichte ihre optimale Ausbeutung für propagandistische Zwecke – und mit dem Abschlussbericht der 9/11-Kommission ist die Legende von „Osama und den 19 Hijackern“ als Alleintätern – und die von „Pleiten, Pech und Pannen“ von Geheimdiensten, Luftüberwachung und Polizei – zur offiziellen Geschichtsschreibung geworden.

Wie dabei alle widersprüchlichen, nicht ins Bild eines Überraschungsangriffs islamistischer Fanatiker passenden Nachrichten verschwanden, zeigt beispielhaft die Berichterstattung über die letzten Tage des verdächtigen „Terrorchefs“ Mohammed Atta. Am 16. September 2001 berichteten zahlreiche Medien – von der „Washington Post“ bis zum Lokalblatt „Charleston Post & Courier“ – detailliert und unter Berufung auf den Barkeeper Tony Amos, dass Atta in „Shukkums Restaurant“ in Hollywood/Florida zwei Abende vor dem Attentat gezecht hatte: Nach drei Stunden hatte er fünf „Stolichnaya“-Wodka intus und sein Kumpan Al-Shehhi ebenso viele „Captain Morgan“-Rum; und es kam wegen der Bezahlung der Rechnung zu einer lautstarken Auseinandersetzung, bei der sich Atta als Pilot der „American Airlines“ ausgab. Elf Tage später liest sich die Geschichte dieses Trinkgelages schon ganz anders. Im Bericht der „Los Angeles Times“ sind die Alkoholika verschwunden: „Am selben Abend (7. Sept.), unten an der Küste Floridas, gingen Atta und Al-Shehi in Shuckums Sports Bar in Hollywood, zusammen mit einem noch unidentifizierten dritten Mann. Der Betreiber, Tony Amos, sagt, dass Atta ruhig für sich saß, Preiselbeersaft trank und Videogames spielte und Al-Shehi mit dem anderen Gast Mix-Drinks konsumierte und diskutierte …“

Der Barkeeper ist nur einer von vielen Augenzeugen, die auf das Desinteresse der 9/11-Kommission stießen – auch keine der Aussagen von Nachbarn, Vermietern oder Taxifahrern aus dem Rentnerstädtchen Venice, die mit Atta persönlich zu tun hatten, wurde bei den Ermittlungen berücksichtigt. Schon gar nicht Attas Freundin Amanda Keller, die sechs Wochen mit ihm ein Appartment geteilt hatte. Der Investigativ-Journalist Daniel Hopsicker, der seit dem 11.9. in Florida recherchiert, hat mit vielen dieser Augenzeugen gesprochen, und sein Report („Welcome to Terrorland“, Frankfurt 2004) macht klar, warum sie für die „Aufklärung“ unerwünscht sind: Ihre Aussagen decken sich nicht mit dem Bild des islamistischen Fundamentalisten, das FBI und Medien von „Terrorchef“ Atta gezeichnet haben. Neben dem Konsum von Alkohol belegen diese Zeugen weitere gänzlich unislamische Vorlieben Attas, wie Striptease-Bars, Schweinekottelets oder Kokain – kurz: Atta verhielt sich nicht wie ein vernagelter Islamist, sondern eher wie ein weltläufiger Agent. Als wir seinen ehemaligen Arbeitgeber in Hamburg, bei dem Atta während seines Studiums einen Job als Planzeichner hatte, zwei Jahre nach den Anschlägen zu diesen Fakten befragen, schüttelt er den Kopf: „Das ist nicht der Mohamed, den wir kennen. Wissen Sie, diese Geschichte ist mittlerweile so verrückt, ich könnte mir vorstellen, dass er jeden Moment hier hereinspaziert kommt, weil sich alles als Missverständnis aufgeklärt hat.“ Die Arbeit der 9-11-Kommission hat nicht dazu beigetragen, die Unklarheiten zu beseitigen, im Gegenteil bekundet Hopsicker, der die letzten öffentlichen Hearings in Washington verfolgte: „Wir waren platt, als die Präsentation offensichtlich den bereits veröffentlichten und von den großen Medien berichteten Fakten über die letzten Tage Mohammed Attas widersprach. Es war falsch und es war so offensichtlich falsch, dass man sich fragen musste, was hier eigentlich vorgeht.“

Denn Atta war nicht nur am 7. September in dieser Bar in Florida – auch am 9. September, als er laut Untersuchungskommission auf dem Weg von Baltimore nach Boston gewesen sein soll, hielt er sich noch an der Goldküste Floridas auf. Dieses Mal in Pompano Beach, wo er bei „Warrick Rent a Car“ mit Marwan Al Shehhi einen Mietwagen zurückgab, wie eine Kopie des Mietvertrags beweist. Der offizielle 9/11-Report jedoch behauptet:
„Am 7. September flog er von Fort Lauderdale nach Baltimore, … Am 9. September flog er von Baltimore nach Boston. Dort trafen zu diesem Zeitpunkt Marwan al Shehhi und sein Team für Flug 175 ein. Atta wurde mit Al Shehhi in seinem Hotel gesehen.“

Wenn Atta am 7. September stundenlang in einer Bar in Florida zubrachte und am 9. September dort auch noch ein Mietauto zurückgab – wie kann er gleichzeitig am 7. im Flugzeug nach Baltimore und am 9. auf dem Weg nach Boston sein? Wenn wir davon ausgehen, dass der wahabitische Wodkaliebhaber Atta nicht über die Gabe der Bilokation verfügt, bleibt eigentlich nur die Möglichkeit eines Doppelgängers, wie wir sie anhand weiterer Widersprüchlichkeiten von Zeugenaussagen über den „Terrorchef“ in unserem letzten Buch „Fakten, Fälschungen und die unterdrückten Beweise des 11.9.“ erörtert haben. Jene „zwei Attas“, von denen der eine als verkniffener fundamentalistischer Islamist posiert, der nie einer Frau die Hand reichen würde – und der andere mit dem Strip-Girl Amanda Keller zusammenlebte, Wodka trank und gern Schweinskoteletts aß … Während Atta 1 sich auf Selbstmordmission befindet und als Beweis für seinen Fanatismus sein Testament am Flughafen hinterlässt, eröffnet Atta 2 am 25. August 2001 laut „Boston Globe“ ein „Frequent Flyer“-Konto zum Meilensammeln …

Die Merkwürdigkeiten sind offensichtlich. Wie aber kommt es, dass nach drei Jahren, der angeblich größten FBI-Fahndung aller Zeiten und 20 Monaten Untersuchung durch diverse Regierungskommissionen, diese Widersprüche und Ungereimtheiten nicht aufgeklärt sind? Fragen wie diese sind keine Kleinigkeiten, schließlich handelt es sich hier um den vermeintlichen Haupttäter eines Massenmords; und die wenigen Journalisten, die sie stellen, sind weder böswillig noch verrückt. Sie stellen nur die Fragen, die jeder Ermittler, jeder Kriminalist und natürlich jeder Untersuchungsauschuss stellen müsste, dem es wirklich um Aufklärung des Falles geht. Doch darum geht es der US-Regierung und ihren Kommissionen ganz offensichtlich nicht.

Stephen Brill beschreibt in seinem Report „After: The Rebuilding and Defending of America“ (New York 2003, S. 37) folgende denkwürdige Szene am 12. September 2001:

Als FBI-Chef Robert Mueller Bush versicherte, alles werde getan, um die an den Anschlägen Beteiligten zur Strecke zu bringen, bürstete Bush ihn ab: »Unsere Prioritäten haben sich geändert«, sagte er. »Wir müssen uns darauf konzentrieren, den nächsten Angriff zu verhindern, statt uns darüber Sorgen zu machen, wer diesen verursacht hat.«

Am 12. September also – die Trümmer der Twin Towers rauchten noch – wurde der Beschluss gefasst, die Fahndung nach den Tätern und Hintermännern des Massenmords einzustellen, weil sich die „Prioritäten“ geändert hatten – in Richtung Irak. Der Nachrichtensender CBS meldete im April 2002:

|»Wie CBS erfahren hat, sagte Verteidigungsminister Rumsfeld am 11. September, kaum fünf Stunden nach dem Einschlag der Maschine ins Pentagon, seinen Mitarbeitern, die Pläne für einen Angriff auf Irak hervorzuholen, auch wenn es keinen Beweis für eine Verbindung Saddam Husseins mit den Anschlägen gibt.«|
http://www.cbsnews.com/stories/2002/09/04/september11/main520830.shtml

Dieser Intention wurde vom ersten Tag an also alles untergeordnet – die Terroranschläge wurden nicht aufgeklärt, sondern für die Propagandazwecke dienstbar gemacht.

Vize-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz bekundete nach der Tat:

|»Diese Operation war zu ausgeklügelt und zu kompliziert, als dass sie von einer Terroristengruppe allein hätte durchgeführt werden können …«|,

– und hier geben wir ihm völlig Recht. Die Lüge, die Wolfowitz dieser wahren Feststellung dann hinzufügte:

|»… ohne einen staatlichen Geldgeber. Der Irak musste ihnen geholfen haben«| (Zit. n. Clarke, Richard A.: Against all Enemies, S. 30)

– diese Lüge aber ist mittlerweile als solche entlarvt. Es bleibt also nur noch die Kleinigkeit zu klären, wer diese staatlichen Planer, Hintermänner und Geldgeber waren.

Das letzte Beispiel zeigt, wie Mythen – in diesem Fall die Verschwörungstheorie einer Verwicklung des Irak in die Taten des 11.9. – geschaffen und konstruiert werden. Ein rationaler, einleuchtender Kern – dass die Luftverteidigung einer Supermilitärmacht nicht allein von einem Dutzend Studenten mit Teppich-Messern zwei Stunden lang ausgeschaltet werden kann, scheint logisch – dieser logische Kern wird mit einer von Fakten völlig ungedeckten Behauptung – „der Irak steckt dahinter!“ – zusammengepackt – und fertig ist Verschwörungs-Legende. Um zum Mythos zu werden – laut Definition (|Encyclopaedia Britannica|) „eine Geschichte, die durch viele Nacherzählungen zur akzeptierten Tradition einer Gesellschaft wird“ – bedarf es jetzt nur noch der vielfältigen, dauerhaften Nacherzählung und im Medienzeitalter ist bekanntlich nichts leichter als das. Die multimediale Wiederholungsschleife der Nacherzählung hat nicht nur den in der PR-Branche „Penetration“ genannten Effekt der massenhaften Verbreitung und Memorierung in der Bevölkerung, sie sorgt auch für ein weiteres Charakteristikum des Mythos, nämlich seine Urheberlosigkeit. Der Ursprung, der Autor, der Erfinder der Geschichte werden im Zuge der permanenten Nacherzählung verwischt und der allgemeinen Überlieferung zugeschrieben. Praktischerweise ist dann später – wenn sich die Unwahrheit des Mythos herausstellen sollte – auch niemand konkret verantwortlich und haftbar zu machen.

Fakten sind sozusagen der natürliche Gegner von Mythen – wo alle Unklarheiten mit eindeutigen Tatsachen dokumentiert sind, ist kein Platz mehr für die nebulöse Unschärfe des Mythos. Um nützliche Mythen aufrecht zu erhalten, müssen Fakten deshalb ferngehalten oder manipuliert werden. Eine Paradebeispiel dafür lieferten die „aufgesexten“ Dossiers, mit denen Englands Premier Blair uralte Erkenntnisse über den Irak zur akuten 45-Minuten-Bedrohung durch ABC-Waffen hochstilisierte – die von den UN-Inspektoren ermittelten aktuellen Tatsachen einer weitgehend abgewrackten irakischen Armee mussten dafür ausgeblendet werden.

Bevor US-Soldaten nach dem Einmarsch in Bagdad die Saddam-Statue stürzten, schmückten sie diese mit einem |Stars & Stripes|-Banner – es war die Fahne, die am 11.9. über dem Pentagon geweht hat. Der symbolische Akt, mit dem die GIs demonstrierten, in welchem Glauben man sie in den Irak geschickt hatte, zeigt einmal mehr, wie Mythen instrumentalisiert und inszeniert werden. Und wie wichtig es in diesem Zusammenhang war, die Täter des 11.9. nicht zu ermitteln, sondern im Status des mythisch Nebulösen zu belassen. Diese Operation ist den „Spin Doktoren“, den PR-, Propaganda- und Stimmungsmachern des Weißen Hauses, hervorragend gelungen – unter dem Namen „Al Quaida“ wurde ein Allzweckteufel und Universaldämon geschaffen, der zwar nicht konkret fassbar, aber als potenzielle Bedrohung überall einsetzbar ist.

Dass es keine terroristische Organisation dieses Namens gibt, dass „ana raicha al quaida“ im umgangssprachlichen Arabisch „Ich muss mal aufs Klo“ bedeutet – und höchstens eine Komikertruppe so einen Namen wählen würde –, dass ihr vermeintlicher Chef Osama Bin Laden in mehreren Interviews nach den Anschlägen jede Beteiligung daran zurückwies, dass es sich bei den geständigen Kronzeugen und angeblichen Masterminds des 11.9. – Binalshib & Khalid Scheich Mohamed – um zwei Phantome handelt, die kein Richter, kein Staatsanwalt und keine Untersuchungskommission je befragen konnte oder zu Gesicht bekam; dass die 9/11-Kommission nach knapp drei Jahren bekennen muss, die Finanzierung (sprich: die Planer & Hintermänner der Terroristen) sei weiterhin „unklar“… – all dies zeigt – und es ließen sich noch mindestens zwei Dutzend weitere Anomalien und Merkwürdigkeiten aufführen –, dass die Ergebnisse der angeblich größten Fahndung aller Zeiten nahezu gleich Null sind. Und die Legende der Alleintäterschaft von Osama & der Wilden Neunzehn tatsächlich nichts anderes ist als ein Mythos.

Nicht mehr habe ich in der Kolumne bei „telepolis“ und in den Büchern immer wieder behauptet – aber auch nicht weniger – und wurde vermutlich eben deshalb so vom Zorn der Großmedien getroffen, die ihrem Publikum – zwischen der Werbung – eben diesen Mythos bis heute als Realität verkaufen. Allen voran der |SPIEGEL|, der letzte Woche „Die dunkle Welt der Folter“ auf dem Titel hatte und es an Entrüstung nicht fehlen ließ, war sich vor einem Jahr nicht zu schade, aufgrund von Aussagen, die wahrscheinlich unter Folter erpresst wurden, einen reißerischen Aufmacher zu produzieren: „Das Geständnis“. Darin wurde behauptet, zu den offenen Fragen und der Vorgeschichte des Verbrechens des 11.9 könnte nun „ein genaues Bild“ gezeichnet werden. Dass es sich dabei um alles andere als um ein genaues Bild, sondern um eine unüberprüfbare Legende handelte, wurde bei den Gerichtsverhandlungen gegen die Hamburger Wohngenossen Mohamed Attas in Hamburg deutlich. Dass bis heute niemand für die Verbrechen verurteilt wurde, hat einen einfachen Grund: Es gibt keine Beweise.

Richard Clarke schreibt in seinem Buch „Against all Enemies“:

|“Verschwörungstheoretiker hängen gleichzeitig zwei einander widersprechenden Überzeugungen an. A) dass die US-Regierung so inkompetent ist, dass sie Erklärungen übersieht, die von Theoretikern enthüllt werden können, und b) dass die US-Regierung ein großes, saftiges Geheimnis für sich behalten kann. Die erste Überzeugung hat eine gewisse Berechtigung. Die zweite Vorstellung ist reine Fantasie.“|

Hätte der einstige „Antiterrorzar“ der Vereinigten Staaten mit Letzterem Recht, könnten Staaten so gut wie gar nichts geheim halten, was natürlich Unsinn ist. Als Mann vom Fach weiß Clarke natürlich auch genau, dass er hier Unsinn redet, aber eben solchen, der seinen Zweck erfüllt: nämlich „Verschwörungstheorien“ als „Phantasie“ erscheinen zu lassen. Als gäbe es keine verdeckten Operationen, als hätte eine US-Regierung noch nie zu solchen „black ops“ gegriffen, um ihre Interessen im In- und Ausland durchzusetzen, als hätten Ereignisse wie die „Schweinebucht“, „Watergate“ oder „Iran-Contra“ nie stattgefunden. Das „Manhattan Project“ – die Entwicklung der Atombombe in den 40er Jahren – blieb zum Beispiel ebenso über Jahre „top secret“, wie die Entwicklung des „Stealth“-Bombers in den 80ern – beides Großprojekte, an den Hunderte von Mitarbeitern beteiligt waren. Es gibt also sehr wohl klandestine Operationen – „saftige Geheimnisse“ in Clarkes Worten – die erfolgreich geheim gehalten werden können.

Dass Richard Clarke als einziger leitender Beamter der Bush-Regierung die Courage hatte, sich bei der Bevölkerung für sein Versagen zu entschuldigen, zeichnet ihn aus; angesichts der Augenwischerei, mit der er uns hier die Unmöglichkeit geheimer Regierungspolitik präsentiert, verstärken sich freilich die Bedenken, dass auch sein „mea culpa“ vor dem 9/11-Untersuchungsausschuss eine wohlkalkulierte Inszenierung im Rahmen ihrer „Operation Whitewash“ war. Zumal Clarke einige wichtige Bausteine für die „Pleiten, Pech und Pannen“-Theorie lieferte, allen voran das schöne Bonmot des FBI, als es ihm die Namen der „Hijacker“ mitteilte: „Die CIA hat vergessen, uns von ihnen zu erzählen“. So was kommt natürlich vor, genauso wie Klatsch und Tratsch im Weißen Haus – Gedächtnisaussetzer, menschliche Schwächen, Behördenschlamperei, „not connecting the dots“ – aber Verschwörungen, die gibt es nicht … Es gibt nur „Verschwörungstheorien“ und die sind reine Phantasie …

Zum Parteitag der Republikaner in New York vergangene Woche wurde eine repräsentative Umfrage über den 11.9. unter den Bewohnern von New York City durchgeführt. Danach ist die Hälfte der Bürger von New York, 49,3 Prozent,(Zogby Poll) mittlerweile der Meinung, dass die Regierung von den Anschlägen vorher informiert war und sie aus Opportunitätsgründen geschehen ließ. Ähnliche Umfrageergebnisse sorgten vor einem Jahr in Deutschland für große Aufregung – sie wurden mit dem „Anti-Amerikanismus“ erklärt und einer handvoll Autoren – darunter Andreas v. Bülow, Gerhard Wisniewski und mir – in die Schuhe geschoben, die die Vorurteile der Bevölkerung mit verantwortungslosen Verschwörungstheorien fütterten. Dass dies völliger Humbug ist, zeigt das aktuelle Meinungsbild der direkt Betroffenen aus New York, denen man schwerlich Anti-Amerikanismus vorwerfen kann. Und auch nicht, dass sie von einem Dutzend skeptischer Websites und Alternativblätter manipuliert worden sind. Nein – diese Ergebnisse zeigen schlicht und einfach, dass die offizielle Version unglaubwürdig ist – und die dafür vorgebrachten Beweise in keiner Weise überzeugend. Die Schlüsse, die daraus zu ziehen wären, sind ebenso schlicht und einfach: Weitere Ermittlungen sind notwendig, sei es in Form von Gerichtsverfahren – eine Witwe des 11.9. , Ellen Mariani, hat die US-Regierung wegen Mitwisserschaft und Vertuschung des Verbrechens verklagt –, sei es in Form wirklich unabhängiger Untersuchungskommissionen oder eines internationalen Tribunals.

Zum Abschluss will ich die meines Erachtens wichtigsten Punkte und Themenfelder nennen, die weiterer Ermittlungen bedürfen:

Die wirkliche Identität der 19 Hijacker, die nach wie vor ungeklärt ist – die Original-Passagierlisten der vier Todesflüge, die die Namen der jeweiligen Entführer enthalten müssten, sind bis heute unveröffentlicht.

Die Zeugen in Venice, wo sie sich monatelang aufhielten und zahlreiche Kontakte unterhielten. Atta traf sich regelmäßig mit einer Gruppe deutscher „brothers“, wie er sie nannte, lebte sechs Wochen mit einem Dessous-Modell zusammen und legte auch ansonsten ziemlich unislamisches Verhalten an den Tag.

Das Umfeld der Flugschulen in Venice, Florida, wo die Hijacker trainierten. Sie weisen alle Anzeichen von CIA-Tarnfirmen auf – und gehörten nicht dem Holländer Rudi Dekkers, sondern einem dubiosen Finanzier, Wally Hilliard. In derselben Woche, in der sich Atta bei Hufman Aviation anmeldete, wurde eine seiner Maschinen mit 40 Pfund Heroin an Bord beschlagnahmt.

Die Hintergründe, warum die Fahndung nach den verdächtigen Flugschülern durch die FBI-Zentrale blockiert wurde und die z. T. seit Jahren wegen Terrorverdachts auf verschiedenen „watch lists“ stehenden Flugschüler sich in den USA so frei bewegen konnten.

Die Aussagen der ehemaligen FBI-Übersetzerin Sibel Edmonds, die nach dem 11.9. auf Abhörprotokolle aus den Wochen davor stieß, aus denen sich ein Zusammenhang der Anschläge mit einer groß angelegten Waffen-, Drogenschmuggel und Geldwäsche-Operation ergab. Ihr wurde von Justizminister Ashcroft ein Aussageverbot erteilt, mit der Begründung, dass die „nationale Sicherheit“ und die „Interessen eine befreundeten Nation“ davon betroffen seien.

Die Vorwarnungen, die dazu führten, dass prominente Politiker wie Justizminister Ashroft oder auch San Franciscos Bürgermeister Willie Brown vor und am 11.9. keine Linienmaschinen mehr benutzten.

Die „wargames“, die am Morgen des 11.9. stattfanden und bei denen die Entführung von Zivilflugzeugen simuliert wurden. Nur eines dieser Manöver taucht im Abschlussbericht der Kommission einmal in einer Fußnote auf. Auch in den Monaten zuvor waren ähnliche Manöver durchgeführt worden, unter anderem das Szenario einer ins Pentagon einschlagenden Maschine.

Der Zusammenhang dieser Wargames mit dem völligen Ausbleiben der Luftabwehr am Morgen des 11.9. – sowie mit der Aussage von Condy Rice, dass man sich Flugzeuge als Bomben einfach nicht vorstellen konnte.

Die Nichterreichbarkeit von Verteidigungsminister Rumsfeld, der nach den Einschlägen in New York laut Abschlussbericht fast eine Stunde lang im Pentagon unauffindbar war – sowie die des obersten Militärs Richard Myers, der im Kongressgebäude über seine Beförderung sprach und erst nach dem Crash der vierten Maschine auftauchte.

Die Untersuchung der gesamten technischen Ungereimtheiten – von den zahlreichen Handyanrufen aus großer Flughöhe, die sendetechnisch nur schwer möglich sind, über die Pulverisierung des gesamten riesigen Boeing-Jets im Pentagon, bei dem dann zwar keine größeren Flugzeugteile, aber angeblich noch alle Passagiere identifizierbar waren, bis hin zu dem gegenüber den Twin Towers liegenden Hochhaus „WTC 7“, das völlig unerklärlich und ohne „Feindeinwirkung“ am Nachmittag des 11. 9. zusammenstürzte.

Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen – ich will es bei diesen offenen Fragen bewenden lassen. Sie zeigen deutlich genug, dass von einer Aufklärung der Verbrechen des 11. 9. bis heute nicht die Rede sein kann, ja, nicht einmal von einer ordentlichen polizeilichen Ermittlung. Die Gründe für diese Nicht-Ermittlung haben wir oben genannt: Am 12. 9. hatte die US-Regierung ihre „Prioritäten“ geändert, am Vorabend soll Bush notiert haben „wir haben heute das Pearl Harbor des 21. Jahrhunderts erlebt“. Von dem Pearl Harbor des letzten Jahrhunderts wissen wir mittlerweile, nachdem die Archive die 50 Jahre lang geheim gehaltenen Unterlagen u. a. über den decodierten japanischen Funkverkehr freigegeben haben, dass die US-Regierung damals über den bevorstehenden Angriff genau informiert war, ihn aber geschehen ließ, um die kriegsunwillige Bevölkerung zum Kriegseintritt zu motivieren. In der historischen Rückschau können wir für diesen schmutzigen Trick gerade als Deutsche nur dankbar sein; ohne Roosevelts Opfer von knapp 3.000 Landsleuten in Pearl Harbor wäre die Befreiung Deutschlands vom Faschismus nicht gelungen. Werden die Historiker der Zukunft – wenn in 50 oder 70 oder 100 Jahren alle unter dem Zauberwort „national security“ verbannten Dokumente eine Aufklärung des Verbrechens ermöglich – dem „Kriegspräsidenten“ Bush ein ähnliches Zeugnis ausstellen?

Ich fürchte nein – auch wenn er mit den Osamas und Saddams stets neue Hitlers als Weltbedrohung aus dem Hut zaubert, und vielleicht demnächst noch ein besonders fettes Kaninchen, termingerecht zur Wiederwahl. Der Mythos, dass 9/11 aus einer afghanischen Höhle organisiert und als Überraschungsangriff ausgeführt wurde – dass also der Schrecken von überall und potenziell jedem droht – ist unabdingbar für die Strategie präventiver imperialer Kriege – und so lange diese in Washington das Maß aller Dinge ist, fürchte ich, werden wir mit der Fiktion, dem Mythos, der Verschwörungstheorie von Osama und der Wilden Neunzehn leben müssen.

[Mathias Bröckers]http://www.broeckers.com
|Vortrag an der Evangelischen Akademie, Bonn-Bad Godesberg, am 7. September 2004|

Mathias Bröckers ist u. a. Autor von „Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9.“ sowie „Fakten, Fälschungen und die unterdrückten Beweise des 11.9.“ (zusammen mit Andreas Hauß & Daniel Hopsicker), erschienen bei |zweitausendeins|. Er veröffentlichte zudem zahlreiche Artikel im kritischen Magazin |[Telepolis.]http://www.heise.de/tp |
Siehe auch unsere [Rezension 103 zu „Fakten, Fälschungen und die unterdrückten Beweise des 11.9.“

Giebel, Marion – Kaiser Julian Apostata. Die Wiederkehr der alten Götter

In diesem Buch wird eine der schillernsten Figuren der Spätantike durch die bewährte Hand der Altphilologin Marion Giebel zu neuem Leben erweckt. Julian, der Abtrünnige – diesen Namen hatte ihm schon die frühe Kirche angehängt und damit die Richtung für die Bewertung des Kaisers bis in die neuere Zeit vorgegeben. Denn Julian war der letzte „echte“ Römer – oder, wie man genauer sagen müsste, der letzte Römer von geschichtlicher Bedeutung, der sich dem griechischen Hellenentum und dem Heidentum vollständig verpflichtet fühlte. Aus dem konstantinischen Kaiserhaus stammend, wich er vom Weg seines berühmten Onkels Konstantin, genannt „der Große“, ab, der das Christentum zur Staatsreligion des römischen Reiches erhoben hatte. Für die zwei Jahre der Regierung Julians aber bestimmten ein letztes Mal die heidnischen, altrömischen, neuplatonischen und den Mysterienkulten eigenen Lehren das religiöse und politische Leben des Imperiums. Frau Giebel spricht im Untertitel ihres Buches von der „Wiederkehr der alten Götter“.

Marion Giebel ist vor allem mit ihrer Einführung in die spätantiken Mysterienkulte in Griechenland, Rom und Ägypten („Das Geheimnis der Mysterien“) bekannt geworden. Auch in der |rororo|-Monographien-Reihe sind einige Bände von ihr zu Personen der Antike wie Augustus oder Sappho erschienen. Bei |Patmos/Artemis & Winkler| liegen neben der erwähnten Einführung ihre Studien über „Reisen in der Antike“ und „Tiere in der Antike“ vor. Zudem hat sie viele antike Texte mit Kommentar herausgegeben, z. B. zum Orakel von Delphi und eben auch Julians Selbstpersiflage „Der Barthasser“.

Sie ist zweifellos eine spannende Erzählerin, die sich sehr um Plastizität und einen geradezu minutiösen Verlauf ihrer Abhandlungen bemüht. Kaiser Julian wird in ihrem Buch von den verschiedensten Blickwinkeln aus betrachtet: Sie untersucht genauso die Wurzeln seines Verhaltens in seinen Kindheitserlebnissen wie seine Begegnungen mit der griechischen Tradition und den Weisheitslehrern, analysiert seine Leistungen als Feldherr und Religionserneuerer, schildert seine Bemühungen um die Philantrophie, d. h. Menschenliebe, und stellt die Frage nach den Umständen seines Todes. Um dieses umfassende Bild legt sich als schmückender Rahmen eine tiefe Sympathie für die Gestalt Julians, die in dieser Form einmalig in der modernen Forschungsliteratur dasteht. Erfreulicherweise werden dann auch einige der erfundenen christlichen Horrorgeschichten über Julian einem kritischen Blick unterworfen, die oftmals in der Geschichtsschreibung noch unbesehen übernommen wurden.

Schauplatz des Buches ist das 4. Jahrhundert n. Chr. Gleich zu Beginn wird die zentrale Fragestellung des Buches ins Blickfeld gerückt: |“Ist der Übergang vom heidnischen zum christlichen Rom zwangsläufig und mehr oder weniger reibungslos abgelaufen? (…) Julian Apostata ist der Repräsentant des spätantiken Heidentums; er machte sich zum Anwalt der vielen, die an ihrem althergebrachten, für sie durchaus noch lebendigen Götterglauben festhalten wollten. Er nannte die religiöse Tradition ‚Hellenismus‘, weil sie nicht aufs Theologische beschränkt war. Sie umfasste vielmehr die gesamte vom Griechentum geprägte Bildung und Kultur, auch die ethischen und staatspolitischen Vorstellungen, die sein Herrscherbild bestimmten.“| (S. 8) Gerade von Julian aber besitzen wir erstaunlich viele Selbstzeugnisse, die es uns möglich machen, die Gedanken des Kaisers ganz direkt kennen zu lernen. Fest steht, dass sich Julian in der Tradition der griechischen Padeia, also der tugendhaften Lebensführung und Erziehung, sah und sich – insbesondere auf seinem Feldzug in Gallien – den Philosophenkaiser Marc Aurel zum Vorbild nahm.

Das asketische Bild vermittelte der Kaiser auch ganz äußerlich durch das für einen römischen Herrscher befremdliche Auftreten mit struppigem Philosophenbart und dem öffentlich zur Schau gestellten vertraulichen Umgang mit seinen Weisheitslehrern. Während er im Feldlager weilte, schlief er nur wenig, las bzw. schrieb dagegen sehr viel und verzichtete auf dem Kaiser zustehende Bequemlichkeiten. So teilte er beispielsweise die karge Kost seiner Soldaten. Obwohl er nach außen hin noch als Christ auftrat, betete er nach dem Zeugnis des Geschichtsschreibers und Soldaten Ammian jede Nacht zu Merkur, da dieser die schnellen Bewegungen des Geistes hervorruft. In Julians Briefen erwähnte der Kaiser seine besondere Dankbarkeit für den alles überschauenden Sonnengott Helios, der ihn vor einer Krankheit errettete. Gerade dem Sonnengott fühlte sich Julian besonders verpflichtet. In dem stark auf Treue und Loyalität eingeschworenen Mysterienkult des Mithras, der als |sol invictus|, „Unbesiegte Sonne“, verehrt wurde, ließ er sich schon in seiner Jugend einweihen. Immer ging es Julian um eine direkte Erfahrung der Götter und höherer Wirklichkeiten, der er mit seiner auf das Innere konzentrierten Lebensführung entsprechen wollte. Mithras ist auch Mittler und Helfer der Seele nach dem Tode, die er zu den Sternen hinaufführt, und damit ein Garant für Unsterblichkeit. Auf einem Elfenbeintäfelchen existiert die Darstellung einer solchen Entrückung des Kaisers.

Das Buch ist hervorragend komponiert, so dass der historische Stoff in eine plausible transparente Form gegossen wird. Die Autorin schildert anfangs die von Verwandtenmord und Misstrauen geprägte Atmosphäre des konstantinischen Hauses. Auch Julians Vater wurde mit vermutlich ausdrücklicher Billigung von Julians Vetter Constantius umgebracht. Zusammen mit seinem Bruder brachte man ihn nach Nikomedien in die Isolation. Die dortige Einsamkeit begünstigte seine Vorliebe für Bücher und seine spätere Trennung vom Christentum. Dabei spielte natürlich auch die Erfahrung mit den von Blut triefenden Händen gerade der christlichen Herrscher wie Constantius eine große Rolle, zu denen Julian im gewalttätigen Gott des Alten Testaments eine frappante Parallele fand. Im Weiteren werden Julians Begegnung mit den Werken Homers und der Welt der neuplatonischen Philosophie geschildert. Nachdem er Nikomedien verlassen durfte, reiste er nach Griechenland, um die Rhetorenschulen zu besuchen, sich der philosophischen Lebensführung zu widmen und über den Magier bzw. Theurgen Maximus seine ersten Initiationserfahrungen zu machen.

Schließlich berief ihn sein Vetter als mitregierenden, aber ihm unterstellten Caesar nach Gallien, um diese Provinz vor den Einfällen der Germanen zu schützen. Aufgrund der zwiespältigen Haltung Constantius‘ und der hohen Achtung, derer er sich bald im Heer erfreute, hoben ihn seine Soldaten schließlich nach alten Brauch auf den Schild und erklärten ihn zum Augustus, was eine Gleichstellung mit Constantius bedeutete. Da die Bemühungen Julians um einen Kompromiss scheiterten, musste er ungewollt gegen den bisherigen Imperator in den Krieg ziehen. Julian siegte und beherrschte von 361 – 363 n. Chr. das römische Reich. Der Sieg bestärkte sein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein. Die Götter hatten ihn also erwählt, um die unterdrückte heidnische Religion in neuem Glanze erstehen zu lassen.

Marion Giebel zeigt, wie er sich auf dem Thron bewährte. Der Einfluss seines standfesten und idealistischen Charakters, der wirklich um die Wohlfahrt des Reiches bemüht war, überwiegt die natürlich genauso vorhandenen Schwächen und Fehler des Kaisers. Religionspolitik und die Bekämpfung der Korruption gehörten zu den wichtigsten Programmpunkten Julians. Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen reagierten in sehr unterschiedlicher Weise auf seine Maßnahmen, wobei der Kaiser bemüht war, sie alle friedlich zu integrieren – auch die Christen. Hier überschritt er, wie im so genannten Schuledikt, manchmal schon die Grenze zur Intoleranz – angestachelt allerdings durch die Zerstörung heidnischer Heiligtümer, für die christliche Fanatiker verantwortlich zeichneten. Die Autorin stellt am Schluss die Frage, wie wohl die abendländische Geschichte verlaufen wäre, wenn Julian nicht auf dem Perserfeldzug durch die Spitze einer Reiterlanze aus unbekannter Hand getötet worden wäre.

Was haben Julian und seine Zeit uns heute noch zu sagen? Einmal zeigt sein Leben, dass das in vielen Köpfen immer noch verankerte einseitige Geschichtsbild von den repressiven Herrschern und den widerständigen, moralisch im Recht stehenden Unterdrückten schlichter Unsinn ist. Bei Julian stellt sich die Situation geradezu umgekehrt dar. Auf der einen Seite steht der Kaiser, der seine philosophischen Ideale leben will und sich um die Festigung und Verbesserung der politischen Zustände unter möglicher Berücksichtigung aller Interessen bemüht und auf der anderen Seite christliche Fanatiker mit ihrer Hetze und verwöhnte Bürger (wie die von Antiochia), die an ihren ungerechten Privilegien und Praktiken um jeden Preis festhalten wollen. Julians Staatsbild, seine „Utopie“, basierte nicht auf privaten Hirngespinsten oder Vorlieben, sondern konnte sich auf die lange römische Tradition berufen, die von vielen Menschen seiner Zeit noch mitgetragen wurde. Marion Giebel meint, dass selbst, wenn solche Menschen scheitern, die Weltgeschichte ohne die von ihnen ausgehenden Impulse um einiges ärmer wäre.

Die römische Geschichte bleibt im Übrigen auf jeden Fall immer interessant für uns, weil die hier stattfindende Uminterpretation griechischer Begriffe und Denkformen das abendländische Denken bis zum heutigen Tage geprägt hat. Julian bezog sich ja auf den Hellenismus. Im vorliegenden Buch fällt beispielsweise auf, dass der überwiegende Teil der Modelle in der modernen Esoterikszene vollständig dem Neuplatonismus verpflichtet ist.

Zum Schluss will ich noch die schöne Gestaltung des Buches erwähnen. Im Text selbst bleibt es zwar bei Schwarz-Weiß-Fotos, aber der Schutzumschlag ist sehr ansprechend strukturiert und mit dem farbigen Ausschnitt eines Gemäldes aus dem 19. Jahrhundert versehen, das Julian an einem Tisch sitzend mit Sphinx darstellt. Die geschichtliche „Sphinx“ Julian aber wird für den Leser dieses Buches einiges mehr an Umriss und Bedeutung gewonnen haben.

http://www.patmos.de
[Wikipedia]http://de.wikipedia.org/wiki/Julian__Apostata

Stephen King – Der Sturm des Jahrhunderts

Das geschieht:

Das Leben ist entbehrungsreich und hart auf der kleinen Insel Little Tall Island, gelegen vor der Küste des US-Staates Maine. Seit jeher bildet der Fischfang die Lebensader der 200-Seelen-Gemeinde, doch reich ist niemand dadurch geworden. Man kennt seine Nachbarn und kommt miteinander aus, und es gibt wenige Geheimnisse, die tatsächlich geheim bleiben könnten.

Ausgerechnet dieses kleine Dorf am Ende der Welt wird vom Teufel heimgesucht; vielleicht nicht vom Gottseibeiuns persönlich, aber von einem seiner Dämonen. Wie man es aus diversen Märchen kennt, ist dieser Dämon – er trägt hier den Namen Andre Linoge und tritt nicht unerwartet in der Gestalt eines Fischers auf – darauf aus, Unheil und Unfrieden unter den Menschen zu säen, sie ins Verderben zu locken und sich ihrer Seelen zu bemächtigen.

Der Blick auf seinen Stock mit dem Wolfskopf-Knauf weckt das Böse in seinen Opfern. Dann genügt eine sachte Anregung Linoges – der außerdem Gedanken lesen kann -, und schon fallen die verblendeten, aufgehetzten Einwohner von Little Tall Island übereinander her. Sollten Linoges Anregungen einmal nicht auf fruchtbaren Boden fallen, scheut er nicht davor zurück, seinem Gegenüber mit dem Stock den Schädel zu spalten.

Böse Geister treten häufig unter Blitz und Donner auf. Linoge bedient sich wenig einfallsreich aber effektvoll der typischen Winterwitterung dieser Küstenregion: Während er sein tödliches Netz um Little Tall Island spinnt, braut sich der heftigste Schneesturm des Jahrhunderts zusammen. Er wird die Insel auf Wochen von ihrer Umwelt abschneiden – Zeit genug für Linoge, die kleine Gemeinde buchstäblich in die Hölle auf Erden zu verwandeln. Systematisch treibt er die Menschen ihrem Untergang entgegen. Schließlich lässt der Dämon die Maske fallen und stellt den Menschen von Little Tall Island ein Ultimatum: Er fordert ein Opfer, damit er die Stadt verlässt, ohne sie endgültig zu zerstören – und es muss ein Kind sein, das mit ihm geht …

Resteverwertung fürs Fernsehen

Böser Dämon sucht idyllische Kleinstadt heim, bringt die heile Welt zum Einsturz und mästet sich an dem Unheil, das er über die Menschen bringt: Kommt einem diese Geschichte nicht bekannt vor? Kein Wunder, denn schließlich hat Stephen King sie schon einmal (1991) erzählt: „Needful Thing“ (dt. „In einer kleinen Stadt“) hieß sie damals. Die Parallelen sind mehr als auffällig. Man könnte meinen, jener Teufel in Menschengestalt, der 1989 Little Tall Island unter dem Namen Andre Linoge terrorisierte, ist zwei Jahre später auf die Erde zurückgekehrt, um Kings literarische Lieblingsstadt Castle Rock als Leland Gaunt heimzusuchen.

Zwar bedient sich King gern bei eigenen, früheren (und besseren) Werken, aber dies ist dennoch ein starkes Stück. Ist ihm dies selbst aufgefallen, und wählte er deshalb den Weg, den „Sturm des Jahrhunderts“ nicht als ‚richtigen‘ Roman, sondern als Drehbuch niederzuschreiben? Wortgewaltig beschwört der gewandte Autor in seinem Vorwort zum vorliegenden Buch den Moment herauf, als ihn der Blitz der Erkenntnis durchzuckte: Der „Sturm“ ist eine Geschichte, die nur auf dem Bildschirm erzählt werden kann! Das musman ihm glauben – oder lässt es bleiben. Unter dem Strich überwiegen wohl die Argumente für die zweite Entscheidung.

Der „Sturm“ beruht also auf einer bereits bekannten und durchgespielten Idee. Auch die Tarnung als Drehbuch kann die Ähnlichkeiten nicht verschleiern. Wohlweislich hat King es vermieden, seine Geschichte in Romanform zu gießen. Man kann ihn durchaus bewundern für seinen Einfallsreichtum, mit dem er sich unermüdlich bemüht, neue Wege zur Vermarktung seiner Werke zu finden. Man kann ihn aber mit einfach dreist nennen und ihm unterstellen, einen alten Hut zu recyceln.

Unterhaltung als Routine-Job

Um es anders auszudrücken: King hat einen Idee für einen (Fernseh-) Film gehabt, ein Original-Drehbuch dafür geschrieben und dieses anschließend ohne zusätzliche Arbeit als Buch in den Handel gebracht. Er kommt damit durch, denn er ist Stephen King, der sich einmal selbst rühmte, auch eine Liste von Telefonnummern in einen Bestseller verwandeln zu können. Erfolg korrumpiert also wirklich, denn eine dürftige Ansammlung von Regieanweisungen und Dialogen ist definitiv kein Werk, das eine Veröffentlichung verdient hätte!

Werfen wir einen Blick auf die Geschichte. Das ist im Wortsinn möglich, denn der Film bzw. die TV-Mini-Serie zum Drehbuch existiert ja seit 1999: „Stephen King‘s Storm of the Century“. Ignorieren wir zunächst, dass ihn ein konturloser Regie-Routinier (Craig R. Baxley) mit ebensolchen Darstellern (Timothy Daly, Deborah Farentino, Colm Feore u. a. – US-amerikanische TV-Gesichter, die man vergessen hat, sobald sie vom Bildschirm verschwunden sind) in Szene gesetzt hat. Autor King war im Einklang mit dem ausstrahlenden Sender zufrieden mit dem Ergebnis. Ausdrücklich bescheinigte er dem Regisseur, seine Vorlage originalgetreu umgesetzt zu haben. Eine doppeldeutige Äußerung, die den scharfen Blick auf „Storm of the Century“, den TV-Film, geradezu herausfordert.

Dieses Urteil fällt doppelt hart aus: „Der Sturm“ als TV-Movie ist eine vierstündige, lähmend langweilige Angelegenheit, dessen sorgfältige aber einfallslose Inszenierung und einige gute Tricks nicht für die gewaltigen Längen und Löcher entschädigt, die diese Geschichte aufweist und die nun erbarmungslos offengelegt werden. Verantwortlich ist dafür in erster Linie Autor Stephen King, denn er hatte, wie er im bereits erwähnten Vorwort stolz erklärt, weitgehend die Kontrolle über die Verfilmung.

Kein Akt gelungener Selbsteinschätzung

So herausragend er als Schriftsteller in der Regel ist: Der Drehbuchautor Stephen King kann mit dem Romancier nicht mithalten. Das machte er vor dem „Sturm“ bereits mit der TV-Neuverfilmung von „The Shining“ deutlich. King hatte es missfallen, wie Stanley Kubrick 1980 mit der Vorlage umgesprungen war. Die Mini-Serie „The Shining“, bei der endlich er das Sagen hatte, legte 1997 allerdings auf peinliche Weise offen, wie genial Kubrick wirklich war. Sein „Shining“ wird ein Klassiker des (phantastischen) Films bleiben, wenn Kings ehrgeiziges Opus längst zu einer Fußnote geworden ist.

King wäre besser beraten gewesen, eine ganz andere Geschichte verfilmen zu lassen. Er hatte schon einmal das Böse über eine Insel vor der Küste von Maine hereinbrechen lassen: „Home Delivery“ (1989, dt. „Hausentbindung“), erschien u. a. 1993 in der King-Kollektion „Nightmare & Dreamscapes“ (dt. „Albträume“). Sie blieb weitgehend unbekannt; King selbst betrachtete sie als Auftragsarbeit, mit der er dem von ihm verehrten Regisseur George A. Romero seine Reverenz erweisen wollte.

„Hausentbindung“ beschreibt die furchterregende Geschichte einer kleinen Insel („Deer Isle“ geheißen), die von mordlüsternen Zombies belagert wird – eine düstere, mit groben Effekten nicht sparende aber höllisch spannende und mit den typischen King-Momenten überzeugender Menschlichkeit in Zeiten höchster Not veredelte Schauermär.

Das Medium als Hindernis

Für das Fernsehen wäre „Hausgeburt“ freilich kaum zu verwirklichen gewesen. Die vergnüglichsten Momente hat „Der Sturm des Jahrhunderts“, wenn King im Vorwort seine Erfahrungen mit den gestrengen hauseigenen Zensoren des TV-Networks ABC schildert. Die beschämend bigott-prüde Geisteshaltung, welche die nur scheinbar so weltoffenen US-Amerikaner an den Tag legen, wird selten so deutlich offenbart wie durch diese Institution, die ihre oft (und zu Recht) verfluchte deutsche ‚Schwestern‘, die „Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft“ (FSK) und ihre Ableger, wie Speerspitzen der sozialen Avantgarde aussehen lassen.

Es bleibt das eindeutige Fazit: „Der Sturm des Jahrhunderts“ ist ein überflüssiges Buch, wenn man es denn als solches überhaupt bezeichnen möchte. Von Interesse ist es höchstens für einige Film-Historiker, die sich indes darüber beklagen dürften, dass es weitaus wichtigere Werke gibt, die auf diese Weise gewürdigt werden sollten.

Andererseits tauchte der „Sturm“ sogar in den deutschen Bestseller-Listen auf und hielt sich dort einige Zeit. Ein Mirakel, oder verkauft sich tatsächlich alles wie Schnittbrot, wenn nur der Name King darauf steht? Oder ist eine Lesergeneration herangewachsen, welche – ‚geschult‘ – durch ständige Werbepausen im TV, das Videoclip-Gewitter der Musiksender oder das Internet – die Widernatürlichkeit eines ‚Drehbuch-Romans‘ längst nicht mehr stört?

Autor

Normalerweise lasse ich an dieser Stelle ein Autorenporträt folgen. Wenn ich ein Werk von Stephen King vorstelle, pflege ich dies zu unterlassen, wie man auch keine Eulen nach Athen trägt. Der überaus beliebte Schriftsteller ist im Internet umfassend vertreten. Nur zwei Websites – die eine aus den USA, die andere aus Deutschland – seien stellvertretend genannt: www.stephenking.com und www.stephen-king.de bieten aktuelle Informationen, viel Background und zahlreiche Links.

Taschenbuch: 506 Seiten
Originaltitel: The Storm of the Century (New York : Pocket Books 1999)
Übersetzung: Peter Robert
http://www.randomhouse.de/heyne

Der Autor vergibt: (1.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (9 Stimmen, Durchschnitt: 1,33 von 5)

Tad Williams – Der Blumenkrieg

Theo ist dreißig Jahre alt, zieht aber immer noch mit seiner Band und deren – noch fast jugendlichen – Mitgliedern durch die Gegend. Seine Freundin Cat erleidet eines Nachts – während Theo auf einer seiner berühmten Proben ist – eine Fehlgeburt und beschließt nach dem Verlust ihres gemeinsamen Kindes, sich von Theo zu trennen. Dieser zieht schweren Herzens zu seiner Mutter – doch er weiß nicht, dass diese an Krebs leidet. Etwa sechs Monate später stirbt sie. Theos Leben befindet sich nun endgültig am Tiefpunkt. Er zieht sich in die Berge zurück und beginnt damit, ein einsames, doch friedliches Leben zu führen. Im Nachlass seines Großonkels Eamonn Dowd findet er eine Art Tagebüchlein. Interessiert beginnt er zu lesen – und was er da liest, wird mehr und mehr zur Beschreibung einer fantastischen Welt. Dennoch behauptet Eamonn Dowd in einem Brief, den er einst an Theos Mutter schickte, alles in dem Buch Beschriebene sei wahr.

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Peter Lerangis – Sleepy Hollow

Ein Polizeiermittler wird 1799 in die US-Provinz geschickt, weil dort angeblich ein Gespenst angesehene Bürger köpft. Vor Ort stellt der junge Mann fest, dass es tatsächlich tödlich umgeht. Er deckt eine alte Verschwörung auf, verliebt sich und stellt sich dem Spuk … – Die klassische Novelle aus dem frühen 19. Jh. – enthalten in diesem Band – wird anlässlich der Verfilmung von 1999 neu erzählt und um neue Handlungselemente ergänzt. Während der Film gekonnt ironisch Aberglaube und Aufklärung miteinander ringen lässt, fasst die Romanfassung solide, aber uninspiriert in Worte, was auf Leinwand oder Bildschirm mehr Vergnügen bereitet. Peter Lerangis – Sleepy Hollow weiterlesen

Sienkiewicz, Henryk – Kreuzritter, Die

|“Krzyzacy“| – Die Kreuzritter

Bei diesem Titel mag man leicht an die Kreuzzüge in das Heilige Land denken, doch der Roman „Die Kreuzritter“ von Henryk Sienkiewicz bezieht sich auf die Ritter des Deutschen Ordens, deren brutales Vorgehen und die zur Schau gestellte Arroganz und Selbstherrlichkeit bei der Bekehrung von Heiden und vermeintlichen Heiden einen bleibenden Eindruck in der polnischen Volksseele hinterlassen haben. Das Wort |“Krzyzacy“| ist zu einer Verwünschung geworden.

Das Buch erzählt die Geschichte des polnischen Ritters Zbyszko und seines Oheims Macko, die in den Jahren 1386 (nach der Vereinigung Polens und Litauens unter Großfürst Jagiello) bis zur Schlacht von Grünwald / Tannenberg 1410 (die entscheidende Niederlage des Deutschen Ordens) nicht nur ihr heruntergekommenes Gut Bogdaniec auf Vordermann bringen, sondern nach vielen Kämpfen gegen den Orden auch ihr privates Liebesglück finden.

_Der Autor_

Henryk Sienkiewicz (5. Mai 1846 – 15. November 1916) wurde in der polnischen Provinz Podlachien in Wola Okrzejska geboren und stammte aus bescheidenen Verhältnissen. Er ging in Warschau zur Schule und studierte dort Literatur und Geschichte. Später arbeitete er als Hauslehrer und Journalist. Seine journalistische Tätigkeit führte ihn 1876 für zwei Jahre nach Kalifornien, im Anschluss kehrte er nach Europa zurück, bereiste Galizien und verweilte mehrere Monate in Paris. In den Jahren 1884 bis 1886 schrieb er eine historische Trilogie („Mit Feuer und Schwert“, „Die Sintflut“, „Herr Wolodyjowski“), die den Leser in das Polen des 17. Jahrhunderts führte und Kriege gegen Kosaken, Schweden und Türken schilderte. Diese Bücher wurden unter großem Druck geschrieben, denn er litt unter Geldmangel, die teuren Kuren seiner an Tuberkulose erkrankten Frau Maria, die er 1881 geheiratet hatte, hätte er sonst nicht finanzieren können. Sie starb dennoch 1885.

Nach einer Afrikareise 1891 erschien im selben Stile 1900 „Die Kreuzritter“. Polen existierte zu dieser Zeit nicht als souveräner Staat, 1815 wurde es im Wiener Kongress zwischen Preußen, Österreich und Rußland quasi gedrittelt, erst der 1. Weltkrieg ermöglichte die Gründung eines neuen, vereinten polnischen Staates. Wie bereits seine erste Trilogie ist dieser Roman stark nationalistisch angehaucht, erinnert an die glorreiche Vergangenheit und große polnische Siege, und muss als Produkt der Umstände und der Zeit, in der er geschrieben wurde, angesehen werden.

1895 schrieb Henryk Sienkiewicz seinen bekanntesten Roman, „Quo Vadis“, für den er 1905 „auf Grund seiner großartigen Verdienste als epischer Schriftsteller“ den Literaturnobelpreis erhielt. Der Roman wurde 1951 durch die gleichnamige Verfilmung mit Sir Peter Ustinov in der Rolle des Nero bis in unsere Zeit bekannt erhalten. Sienkiewicz starb 1916 im schweizerischen Vevey, seine Literatur ist heute fester Bestandteil des Unterrichts in polnischen Schulen.

_Historischer Roman oder patriotisches Heldenepos?_

Der Roman „Krzyzacy“ ist dreigeteilt. Der erste Teil beschreibt die damalige Situation Polens, das ein gigantischer und blühender Flächenstaat war, der größte Europas. Dies führte zwangsläufig zum Konflikt mit dem Deutschen Orden, der sehr weltliche Interessen in dieser Region hatte. Der Orden hatte in den Jahrzehnten zuvor durch politisch bedeutsame Großmeister wie Hermann von Salza die Gunst des Papstes und des deutschen Kaisers gewonnen, die ihnen mit den goldenen Bullen von Rieti und Rimini garantierten, dass nach der Unterwerfung und Missionierung des Baltikums und der Pruzzen (Preußen) das eroberte Land an den Orden falle. Der polnische Herzog Konrad I. von Masowien rief 1226 die Kreuzritter zur Unterstützung seiner Kreuzzüge gegen die Heiden in das Land – und man bekam sie in der Folge nicht mehr los, der Ordensstaat entstand auf dem Gebiet Ostpreußens, ein Gebilde, das man als den ersten weltlich orientierten, fundamentalistischen Gottesstaat der Christenheit bezeichnen könnte.

Die Arroganz und Selbstherrlichkeit der Kreuzritter, die über Jahrzehnte bei der einheimischen Bevölkerung zunehmend unbeliebt wurden, findet ihren Ausdruck auch in diesem Buch. So kommt es zu einer Streitigkeit mit einem Gesandten des Ordens, der beim König Zbyszkos Tod einfordert, das Recht auf seiner Seite, aber hinterhältig, ehrlos und intrigant, ohne jegliche Spur der Ritterehre, die unserem Helden so viel bedeutet. Zbyszko wird durch seine angebetete Danusia gerettet, eine Tochter des Jurand von Spychow, den erbarmungslosesten Streiter wider den Deutschen Orden.

Viele der damaligen Bräuche des Rittertums zeigt Sienkiewicz in diesem Teil, er charakterisiert auch die Hauptfiguren: Den schönen, starken, ehrenhaften, aber leider nicht mit „hoher Denkkraft“ gesegneten Zbyszko, und seinen Oheim Macko, der diesen Mangel mehr als kompensiert. Dieser ist verzweifelt über Zbyszko, der sich einer Minderjährigen angelobt hat, deren Vater Jurand ihm gar nicht ihre Hand geben will. Ist doch die schöne Jagienka mehr als bereit, ihn zu nehmen – mitsamt einer Mitgift, die Bogdaniec sanieren könnte. Doch der arg einfältige Zbyszko pocht auf seine Ritterehre und Treue zu seiner unerreichbaren Braut, Macko verzweifelt …

|“Höre, Bursche! Um deinen Kopf ist es mir leid, aber nicht um deinen Verstand, denn du bist so dumm wie ein Schaf!“|

Im zweiten Teil kommt es zur Katastrophe: Die Kreuzritter rauben Danusia, um Jurand zu erpressen und ihn an weiteren Raubzügen zu hindern. Zbyszko macht sich auf zur Rettung seiner Herrin, die schwer enttäuschte Jagienka schickt ihm dennoch zu seiner Unterstützung den bärenstarken Böhmen Hlawa als Knappen. Hier zeichnet sich der weitere Tenor des Buches ab. Der historische Charakter tritt hinter sehr subjektive Beschreibungen der Akteure zurück. So werden nahezu alle Kreuzritter ähnlich charakterisiert: Stark, arrogant, selbstherrlich. Alle polnischen Ritter dagegen als klug, besonnen und noch kampfkräftiger.

|“Welch merkwürdige Natur doch ein solcher Kreuzritter besitzt! (…) Sobald es ihm schlecht geht, ist er so sanft wie ein Franziskaner. Demütig wie ein Lamm, süß wie Honig, zeigt er sich einem jeden gegenüber, als der nachsichtigste, beste Mensch erscheint er. Kaum ist er sich jedoch seiner Macht bewußt, tritt er aufs hochmütigste auf, erweist er sich als erbarmungslos, so daß man glauben könnte, der Herr Jesus habe ihm einen Kieselstein, statt eines Herzens verliehen. (…) Starr und unbeugsam sind die Kreuzritter! Haltet eure Faust über sie, sonst ergeht es auch schlimm!“|

Die Charakterisierung des Ordens und seines Wirkens sind sicher nicht falsch, aber einseitig und bewusst überspitzt, Schwarzweißmalerei par excellence. Was leider die Charaktere so berechenbar macht, dass die Geschichte darunter leidet.

Der dritte Teil beginnt nach der Rettung Danusias und gibt der Dreiecksbeziehung Zbyzsko, Jagienka und Danusia eine neue Wendung, ist aber weitgehend handlungsarm – die Ruhe vor dem Sturm, der das Finale einläutet:

Die Schlacht bei Tannenberg zwischen Jagiello und Ordensmeister Ulrich von Jungingen, die sich gemäß gängiger Praxis schon rein von Habitus, Gestik, Mimik und den ihnen in den Mund gelegten Worten als klar definierter Held und Feind darstellen. Die eigentliche Schlacht verläuft eher enttäuschend. Heldentum rückt an die Stelle von Taktik und Strategie, schwerwiegende taktische Fehler der Kreuzritter werden nicht erwähnt, die größte Schlacht dieser Zeit wird zu einer Abrechnung, bei der das Eingreifen der polnischen Ritter der Allianz aus Litauern und zahlreichen anderen kleineren Völkern, teils Heiden, zum Sieg über die verhassten Deutschen und ihre Verbündeten verhilft. Das letzte Kapitel erzählt davon, dass Zbyszko noch lange genug lebte, um die endgültige Vertreibung des Ordens aus der Marienburg mitzuerleben.

_Durchaus gelungen, trotz dumpfen Pathos_

Das Buch hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Sienkiewicz hat nicht umsonst einen Literaturnobelpreis gewonnen, mich persönlich stört jedoch bei „Die Kreuzritter“, dass die angenehm präsentierten historischen Begebenheiten mit Beginn des zweiten Teils deutlich durch eine fast reine Romanhandlung mit historischem Hintergrund ersetzt werden, die zwar mit sympathischen Heldenfiguren aufwarten kann und blendend erzählt ist, aber durch die simplifizierte Verdammung der Kreuzritter und üble Nationalismen ein wenig vergällt wird. Hier wird der Roman sehr episch, hierfür hat Sienkiewicz ein Talent, wie der Nobelpreis beweist, aber in diesem Kontext wirkt das alles schon eher pathetisch. Der dritte Teil ist handlungsarm und sehr langweilig, der vermeintliche Höhepunkt bei Tannenberg trieft nur so vor Heldenpathos, vernachlässigt eine spannende Erzählung und war für mich eine herbe Enttäuschung.

Keineswegs enttäuschend ist hingegen die Qualität des Hardcovers an sich: Übersetzung und Lektorat sind hervorragend. Die Fußnoten des Übersetzerduos Ettlinger weisen oft auf tatsächliche historische Fakten hin oder geben hilfreiche Erklärungen, das altmodische Deutsch ist sehr gut lesbar, ohne seinen Charakter zu verlieren: So rufen die Recken gerne „Juchhei“, neigen Jungfrauen ihre „Köpfchen“, zweifelt Macko an der „Denkkraft“ seines Bruders. Die 672 Seiten sind von hoher Papier- und Druckqualität, der Einband ist ohne Schutzumschlag mit einem Bild der Schlacht bunt bedruckt versehen. Leider knirscht er ein wenig, was auf mich den Eindruck einer nicht ganz vertrauenserweckenden Bindung macht. Dem gegenüber steht der mit 7,95 EUR wirklich sensationell günstige Preis für ein Hardcover. Derselbe Preis wird vom |area|-Verlag auch für das noch umfangreichere „Ein Kampf um Rom“ von Felix Dahn veranschlagt, sowie für alle weiteren Bände der historischen Reihe, die ein einheitliches Coverdesign aufweisen.

Trotz genannter Schwächen gefiel mir der Roman gut. Wer mehr über „klassische“ Kreuzzüge lesen möchte, sollte jedoch lieber zu dem insgesamt besseren „Der Kreuzritter – Das Tagebuch des Roger von Lunel“ von Stephen J. Rivelle greifen. Schade, ein wenig mehr der gelungenen Historie und viel weniger Seifenoper hätten dem Roman gut getan, der dann trotz des im Kontext der Entstehung verständlichen Nationalismus eine eindeutige Empfehlung, nicht zuletzt wegen des sehr guten Preis-Leistungs-Verhältnisses, hätte sein können.

Der Deutsche Orden
http://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher__Orden

Henryk Sienkiewicz
http://de.wikipedia.org/wiki/Henryk__Sienkiewicz

Tom Standage – Die Akte Neptun. Die abenteuerliche Geschichte der Entdeckung des 8. Planeten

Die Suche nach dem profitablen Gral

Am 13. März 1781 entdeckt der Musiklehrer (!) und Hobby-Astronom Friedrich Wilhelm Herschel in seinem selbst gebauten Teleskop am nächtlichen Sternenhimmel über England ein mysteriöses Objekt, das er zunächst als Kometen identifiziert. Wenig später stellt sich heraus, dass ihm ein neuer Planet vor die (selbst geschliffene) Linse geraten ist: Uranus, die Nummer 7 im heimischen Sonnensystem, ist entdeckt.

Ruhm und Ehre prasseln auf Herschel nieder, dazu kommt ein schönes Gehalt, das ihm sein König, selbst ein Anhänger der Himmelskunde, zahlt. Herschel steigt zum Hofastronomen auf und macht sein Hobby zum Beruf. Kein Wunder, dass der wissenschaftliche Nachwuchs Europas neidvoll auf ihn blickt – und auf eine Idee kommt: Wo sich sieben Planeten drehen, gibt es weiter draußen im All womöglich noch mehr! Tom Standage – Die Akte Neptun. Die abenteuerliche Geschichte der Entdeckung des 8. Planeten weiterlesen

Lovecraft, H. P. / Carter, Lin / Howard, Robert E. / Smith, D. R. / Aster, Christian von – Cthulhu-Mythos, Der

Im Jahr 2002 begann |LPL records| mit der Hörbuchreihe „H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens“. Der hier vorliegende erste Teil, „Der Cthulhu-Mythos“, wurde mit dem |Deutschen Phantastik-Preis 2003| als _Bestes Hörbuch/Hörspiel des Jahres 2002_ ausgezeichnet.

_Lovecrafts Werk und Vermächtnis_

Howard Phillips Lovecraft war zu Lebzeiten leider kein ernst zu nehmender schriftstellerischer Ruhm vergönnt, auch wenn die Gründung der Zeitschrift |Weird Tales| im Jahre 1923 ihm einen einigermaßen beständigen Absatzmarkt eröffnete. Posthum hat sein Lebenswerk, der |Cthulhu-Mythos|, jedoch eine recht anschauliche, weltweite Leserschaft gefunden. Dass wir heute überhaupt in den Genuss seiner Werke – leider nur etwa 40 Kurzgeschichten und 12 längere Erzählungen – kommen, verdanken wir zum Einen der |United Amateur Press Association|, der er im Jahre 1914 beitrat, als auch seiner Entdeckung des Schriftstellers |Lord Dunsany| (mit vollem Namen Edward John Moreton Drax Plunkett) im Jahr 1919. Der rege Austausch gegenseitiger Kritik und Ermunterungen unter den Mitgliedern der UAPA ermöglichte es ihm, sich der schlimmsten archaischen Züge und Unbeholfenheiten seines Stils zu entledigen. Aus der Mitte dieser eingeschworenen Gemeinschaft kam dann auch die Bitte, er möge doch mit dem Schreiben unheimlicher Geschichten fortfahren, worauf er 1917 eine Geschichte über den Meeresgott „Dagon“ verfasste, die auch in diesem Hörbuch vertreten ist. Die Werke Lord Dunsanys verliehen seiner Schriftstellerei gewaltigen Auftrieb und animierten ihn, ein künstliches Pantheon mit einer eigenen Mythenwelt zu erschaffen – den |Cthulhu-Mythos|.

|“That is not dead which can eternal lie, yet with strange aeons even death may die.“| – „Das ist nicht tot, was ewig liegt, denn in fremder Zeit wird selbst der Tod besiegt.“ war Lovecrafts Bitte an die Nachwelt, seine Kreaturen nicht sterben zu lassen, derer sich nicht nur seine Freunde annahmen. Bis heute finden sich immer wieder Autoren bereit, den Mythos zu bereichern und am Leben zu erhalten. Wie Mosaiksteinchen zusammengesetzt, weisen diese Geschichten unseren Blick zu den nahezu unerforschten Gebieten des menschlichen Geistes – dem Wahnsinn und den Nachtmahren, in denen das Grauen leibhaftig wird.

_Die Vorlage_

Frank Festa (|Festa|-Verlag) nahm sich des Lebens H. P. Lovecrafts und seiner Werke an und veröffentlichte u. a. „Der Cthulhu-Mythos“, eine zweibändige Sammlung ausgewählter Erzählungen von Lovecraft und anderen Meistern des Schreckens, die sich um den kosmischen Mythos der |Großen Alten| drehen – Cthulhus dämonische Brut, die zu einer Zeit von den Sternen in unsere Welt drang, da die Sonne noch jung war und die Erde noch kein eigenes Leben beherbergte. In dem vorliegenden Hörbuch sind sechs dieser Geschichten enthalten.

_Die Erzählungen_

|“Der Ruf des Cthulhu“ – H. P. Lovecraft (1928)|
Übersetzt von Andreas Diesel

Den Auftakt übernimmt das zentrale Werk Lovecrafts: die Geschichte um einen uralten Schrecken, der seit Aeonen – tot und doch nicht tot – auf dem Grund des Meeres lauert, um einst wieder aufzusteigen und erneut seine (unsere) Welt zu beherrschen. |“Ph’nglui mglw’nafh Cthulhu R’lyeh wgah’nagl fhtagn“| – „In seinem Haus in R’lyeh wartet träumend der tote Cthulhu“.

Als der Großneffe des verstorbenen George Gammel Angell – emeritierter Professor für semitische Sprachen an der |Brown University| von Providence – dessen Hinterlassenschaft sichtet, stößt er auf eine verschlossene Schatulle, deren Inhalt den Anfang einer Kette grausiger Erkenntnisse bildet. Er entdeckt ein abscheuliches Basrelief, das einen gebeugten humanoiden Körper mit oktopodem Kopf und Drachenflügeln darstellt. Die uralten Schriftzeichen, die sich unter dieser Abbildung befinden, stehen jedoch im Widerspruch zu dem recht geringen Alter dieser Scheußlichkeit. Weiterhin beinhaltet die Schachtel ein in seines Großonkels Handschrift verfasstes Manuskript, das in peinlich genauen Buchstaben mit |Cthulhu-Kult| überschrieben ist. Neugierig ob des scheinbar verwirrten Geisteszustandes des alten Mannes, beginnt er mit seinen Nachforschungen und fördert einen Kult zutage, dessen Anhänger im Verborgenen auf die Auferstehung ihres träumenden Gottes warten. Doch was er dann in Folge seiner weiteren Ermittlungen in Erfahrung bringt, lässt ihm schier das Blut in den Adern gefrieren …

|“Der Schwarze Stein“ – Robert E. Howard (1931)|
Übersetzt von Eduard Lukschandl

_Robert Ervin Howard_s (* 22. Januar 1906, + 11. Juni 1936) bekannteste Schöpfung ist wohl |Conan, der Barbar|, doch auch die Geschichten um |Kull von Atlantis| oder |Solomon Kane| stammen aus seiner Feder.
Seine eigene psychische Labilität spiegelt sich in seinen latent depressiven Helden durchaus wider. Leider nahm sich der langjährige Brieffreund H. P. Lovecrafts im Alter von 30 Jahren – nach dem Ableben seiner Mutter – selbst das Leben. Lovecrafts Einfluss auf Robert E. Howards Werke, wie auch die enge Freundschaft, die beide verband, spiegeln sich zum Beispiel in dem gelungenen Versuch der folgenden Horrorgeschichte wider, die ganz klar in den |Cthulhu-Mythos| gehört.

Ein schwarzer Monolith bildet den Kern dieser Geschichte. Nachdem der Erzähler in mehreren Quellen auf die schrecklichen Legenden gestoßen ist, die sich seit altersher um den schwarzen Felsen ranken, reist er selbst nach Ungarn, um das Quentchen Wahrheit zu ergründen, das in jeder Legende verborgen ist. Er bringt zwar Interessantes über Land und Leute in Erfahrung, doch über den schwarzen Stein mag niemand so recht reden. Als die Mittsommernacht – welche häufig in diesen Legenden Erwähnung findet – bevorsteht, begibt er sich zu der Berglichtung, in deren Mitte der schwarze Monolith aufragt. Der Albtraum, dessen er in dieser Nacht gewahr wird, bringt ihn an den Rand des Wahnsinns …

|“Die Glocke im Turm“ – H. P. Lovecraft & Lin Carter (1989)|
Übersetzt von Ralph Sander

_Lin Carter_ (mit vollem Namen Linwood Vrooman Carter) wurde am 09. Juni 1930 in St. Petersburg, Florida, geboren und verstarb am 07. Februar 1988 in Montclair, New Jersey. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit nahm er sich einiger zu Unrecht vergessener oder unbekannter Juwelen der Fantasy an, bereitete sie liebevoll auf und gab sie in der |Adult Fantasy|-Reihe (erschienen bei |Ballentine Books|) neu heraus.
Zusätzlich zu seinen eigenen Serien, die in allen Bereichen der Phantastik beheimatet sind, arbeitete er in den sechziger Jahren – zusammen mit |L. Sprague de Camp| – vor allem an der |Conan|-Reihe und nahm sich Robert E. Howards |Kull|-Fragmenten an. Sein Werk umfasst über 50 Bücher wie auch Biographien und Sekundärliterarisches aus der Phantastik (z. B. |LOVECRAFT: A Look Behind The Cthulhu Mythos|).
Er nahm sich – wie auch einige andere – ebenso der Fragmente und Notizen aus Lovecrafts Hinterlassenschaft an und suchte diese in einer posthumen Gemeinschaftsarbeit im Stil H. P. Lovecrafts zu vollenden. Eines dieser Werke ist die folgende Erzählung – wenn ich auch anmerken muss, dass Carter zumeist nicht an die düstere Atmosphäre und den hintergründigen Schrecken des |Einsiedlers aus Providence| heranreicht.

Nachdem er endlich das |“Necronomicon“| – das verbotene Buch des Abdul Al Hazred – in einer staubigen kleinen Buchhandlung erstanden hat, muss Williams leider feststellen, dass er mit der Übersetzung des altertümlichen Lateins seine Sorgen hat. Kurzerhand eilt er über den Flur, um mit Hilfe des Nachbarn – eines zurückgezogen lebenden, alten Sonderlings – die Geheimnisse seines neuen Besitzes zu ergründen. Lord Northam ist dem Wahnsinn nahe, als der junge Williams ihm das |“Necronomicon“| präsentiert und rät dem jungen Besucher dringend vom Studium dieses unheiligen Buches ab. Auf dessen Drängen hin erzählt der Alte dann aber doch von seinen eigenen Erfahrungen mit dem Buch und berichtet auch von den Schrecken, die ihn seither heimsuchen …

|“Warum Abdul Al Hazred dem Wahnsinn verfiel“ – D. R. Smith (1950)|
Übersetzt von Alexander Amberg

Das |“Necronomicon“| des wahnsinnigen Arabers Abdul Al Hazred, der im 7. Jahrhundert n. Chr. lebte, ist so sehr in die Horror- und Fantasyliteratur eingegangen wie kein anderes Buch. Lovecraft verweist in seinen Geschichten selbst darauf und nimmt es als Beleg für Beschwörungsformeln und Rituale.
Den Quellen zufolge soll |Al Hazred| um 700 in Sanaa im Jemen geboren worden sein. Nach einer langen Reise durch die innerarabische Wüste ließ er sich in Damaskus nieder und schrieb sein Buch |“Kitab Al’Azif“ (Vom Heulen der Wüstendämonen)|, welches später als das „Necronomicon“ bekannt wurde. Dieses Buch enthält Informationen über die Älteren Wesen – z. B. die |Großen Alten| – und ihre Zivilisation zur Zeit der Entstehung der Erde. Es ist voller verschlüsselter Andeutungen und Doppeldeutigkeiten, zwischen denen geschickt verschiedene magische Anweisungen verborgen sind. Der Legende zufolge wurde |Al Hazred| kurze Zeit nach Vollendung des Buches im Jahre 738 auf einer Straße in Damaskus von einem unsichtbaren Ungeheuer verschlungen.
Tatsächlich handelt es sich bei dem „Necronomicon“ um ein Werk aus der Feder H. P. Lovecrafts selbst. In seinen Erzählungen verweist er immer wieder auf unterschiedliche Bücher, um den Geschichten eine glaubwürdige Note zu verleihen. Manche dieser Bücher existieren wirklich, andere finden in Legenden Erwähnung und einige – wie eben auch das |Necronomicon| – wurden von ihm selbst erdacht.

_D. R. Smith_ (nicht zu verwechseln mit Clark Ashton Smith) – über den ich leider nichts in Erfahrung bringen konnte – erzählt hier vom römischen Feldherrn Marcus Antonius, der sich mit seinen Soldaten in den Alpen verirrt. Der Geschichte zufolge sind diese Geschehnisse im letzten Kapitel des „Necronomicon“ niedergeschrieben.
In einem Bergtal entdeckt die kleine Armee neben einem Bach den Eingang zu einer finsteren Höhle, aus der der Pesthauch des Todes hervorströmt. Neugierig begibt sich Marcus Antonius in die Höhle, um ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen – kurz darauf ertönt Kampflärm aus der dunklen Öffnung …

|“Dagon“ – H. P. Lovecraft (1917)|
Übersetzt von Andreas Diesel

In seiner autobiographischen Schrift „Einige Anmerkungen zu einer Null“ (aus dem Jahr 1933) äußert sich H. P. Lovecraft über unheimliche Literatur: |“Ich bin der Ansicht, daß die unheimliche Literatur ein ernst zu nehmendes Genre darstellt, das der besten literarischen Künstler wert ist, obwohl sie zumeist ein ziemlich eng begrenztes Gebiet ist, das nur einen kleinen Ausschnitt der unendlich vielfältigen Gemütsverfassungen des Menschen spiegelt. Gespenstergeschichten sollen realistisch und stimmungsvoll sein – sie sollen ihre Abweichung von der Natur auf die eine ausgewählte übernatürliche Bahn beschränken und nie aus dem Auge verlieren, daß Szenenschilderung, Stimmung und Naturerscheinung bei der Vermittlung des zu Vermittelnden weit wesentlicher sind als Charaktere und Handlung. Die ‚Wucht‘ einer wahrhaft unheimlichen Geschichte ist einfach die Aufhebung oder Überschreitung eines unumstößlichen kosmischen Gesetzes – eine phantasievolle Flucht aus der erdrückenden Wirklichkeit. Denn Naturerscheinungen, nicht aber Personen sind ihre logischen ‚Helden‘. Das Grauen sollte originell sein – der Rückgriff auf alltägliche Mythen und Legenden mindert nur seine Wirkung.“|
Getreu diesem Credo schrieb Lovecraft sechzehn Jahre zuvor eine Geschichte, die wohl als die erste des |Cthulhu-Mythos| gelten muss.

|“Ich schreibe dies unter beträchtlicher geistiger Anspannung, (…) Wenn Du diese hastig hingekritzelten Seiten gelesen hast, magst Du zwar erahnen, aber nie gänzlich begreifen, warum ich das Vergessen oder den Tod suche.“| Dann schildert der Erzähler, was er als junger Seemann im ersten Weltkrieg erfahren musste. Er war der Gefangenschaft auf einem deutschen Kriegsschiff entkommen und irrte in einem kleinen Rettungsboot über den Pazifik. Als er eines Morgens erwachte, fand er sich mitsamt seinem Boot auf einem Eiland wieder – von den brausenden Wogen des Meeres war jedoch nichts mehr zu sehen oder zu hören. Die Ebene war von einem schwarzen, fauligen Morast überzogen, in den der junge Mann halb eingesunken war. Er verbrachte den Tag und die folgende Nacht in seinem Boot und bemerkte, dass die Hitze der Sonne den Boden so weit ausgetrocknet hatte, dass er sich auf eine Erkundungstour über dieses unheilvolle Eiland begeben konnte. Die Schrecken, die ihm nach einem mehrtägigen Weg über diese ungastliche Insel begegneten, trieben ihn in den Wahnsinn …

|“Ein Portrait Torquemadas“ – Christian von Aster (2002)|

Der deutsche Schriftsteller _[Christian von Aster]http://www.vonaster.de _betätigt sich in vielen Bereichen der Literatur. Zudem bereicherte er in der Vergangenheit einige Anthologien mit seinen Werken, darunter |“Yamasai – des Fürchterlichen fürchterlichstes Kind“| in „Die Saat des Cthulhu“ und |“Ein Portrait Torquemadas“| in „Der Cthulhu-Mythos 1973 – 2002“.
Von Asters Geschichte versetzt den |Cthulhu|-Mythos in die Gegenwart und bereichert ihn um einige zeitgenössische Verschwörungstheorien. Seine Erzählung erreichte bei einem |Cthulhu|-Schreibwettbewerb den ersten Platz.

Der Dominikanermönch Cajetanus sitzt am Krankenbett des Kunsthistorikers Felix Ney und blättert in dessen Aufzeichnungen. Dem Vatikan, in dessen Auftrag Cajetanus unterwegs ist, liegt nichts ferner, als dass diese Schriften an die Öffentlichkeit gelangen. Ney war offensichtlich bereits dem Wahnsinn verfallen, als er in der münchener Pinakothek ein Bild des florentinischen Malers Delcandini zerstörte.
Während der Dominikanermönch die Unterlagen durchsieht, kommt er einer Verschwörung auf die Spur, die seinen Glauben in den Grundfesten erschüttert …

_Über die Hörbuchproduktion_

Nachdem die Buchreihe „H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens“ (erschienen im |Festa|-Verlag) geradezu Kultstatus erlangt hat, war es abzusehen, dass die Werke des |Großmeisters der Angst| und die seiner getreuen Nachfolger als Ohrenschmaus mit Gänsehautgarantie aufbereitet werden. Für die gelungene Umsetzung zeichnen sich neben Lars Peter Lueg, dem Produzenten und Verlagsleiter von |LPL records|, die Regisseure Sven Hasper (die deutsche Stimme von Michael J. Fox und Christian Slater) und Oliver Rohrbeck (bekannt als |Justus Jonas| von den „drei ???“) verantwortlich. Die beiden waren u. a. auch für die deutsche Fassung der Filme „Sleepy Hollow“ und „The Game“ zuständig.

Frank Festa legte bereits bei seiner Buchreihe großen Wert darauf, die ungekürzte Fassung der Erzählungen in neuer Übersetzung zu veröffentlichen, wovon nun auch die Hörbücher der gleichnamigen Reihe profitieren.

Die Rolle des Erzählers übernimmt kein Geringerer als Joachim Kerzel – einer der besten Sprecher Deutschlands. Auf unnachahmliche Weise gelingt es ihm, die grauenerregende Atmosphäre der Geschichten einzufangen und dem geneigten Hörer einen eisigen Schauer über den Rücken laufen zu lassen. Das Grauen und der Wahnsinn nehmen beinahe eine leibhaftige Gestalt an.
Der Schauspieler Joachim Kerzel (* 1941 in Oberschlesien) ist heute überwiegend als Synchronsprecher und -regisseur tätig. Neben Jack Nicholson lieh er sein Stimme u. a. auch Robert DeNiro und Sir Anthony Hopkins. Die zahlreichen Bestseller-Lesungen und die Rolle des Erzählers in diversen Hörspielen und Hörbüchern brachten ihm einen rapide wachsenden Hörerkreis ein. Seine leidenschaftliche Arbeit an den Projekten ist Garant für eine |Gänsehaut für die Ohren|.

Durch dieses Hörbuch geleitet uns David Nathan, der mit einer ironisch distanzierten Stimme Howard Phillips Lovecraft seinem Grab entsteigen und wieder zum Leben erwachen lässt. Zwischen den einzelnen Erzählungen weiß er einige interessante Details über Lovecrafts Leben und die Geschichten zu berichten. Die Texte stammen allesamt aus der Feder von Lovecraft-Verleger Frank Festa und fügen sich mit den Geschichten nahtlos zu einem Ganzen zusammen.
David Nathan (* 1971) arbeitet als Regisseur und Synchronsprecher. Er ist u. a. die Synchronstimme von Johnny Depp und |Spike| (aus der TV-Serie „Buffy“), doch auch aus Werbung und Computerspielen ist seine Stimme nicht mehr wegzudenken.

Die Einleitung spricht Franziska Pigulla, die deutsche Stimme von Gillian Anderson (aus „Akte X“).

Für die passende musikalische Untermalung sorgt Andy Matern (|Sonic Piracy|). Die eigens für dieses Hörbuch komponierte Musik besticht durch ihre düstere Atmosphäre und lässt die abendlichen Schatten zu den ungeahnten Schrecken heranwachsen, die sich nachts in unseren Albträumen erheben.

Zu guter Letzt beinhaltet die letzte CD auch noch eine vierzehnminütige Hörprobe aus dem zweiten Hörbuch dieser Reihe, „Der Schatten über Innsmouth“, die dem geneigten Hörer Lust auf mehr macht.

|Umfang: 275 Minuten auf 4 CDs|

_Abschlussbetrachtungen_

Den absoluten Tiefpunkt bildet sicherlich die Geschichte von D. R. Smith. Der Versuch, das Pantheon der |Großen Alten| bis ins Kleinste aufzuschlüsseln, wie auch die Frechheit zu behaupten, dass ein Mensch den Kampf mit einem von ihnen unbeschadet überstehen könnte, überzeugen genauso wenig wie die Art der Erzählung selbst. Meines Erachtens hätte diese Unflätigkeit auch gerne in der Versenkung verschwinden können – aber es ist ja glücklicherweise die kürzeste Erzählung.

Die Geschichten von Lin Carter, Robert E. Howard und Christian von Aster passen nicht nur inhaltlich in den |Cthulhu-Mythos|, sie beinhalten auch eine ähnlich düstere Atmosphäre und wurden sicherlich äußerst gut gewählt.
Lin Carters Vollendung dieses Fragments verkörpert durchaus den Geist von H. P. Lovecrafts Horrorgeschichten. Man könnte fast meinen, die beiden hätten zusammen an diesem Werk gearbeitet – aber eben nur fast.
Robert E. Howard nimmt sich – ähnlich wie Lovecraft – viel Zeit, um in die Begebenheiten einzuführen. Er beruft sich auf Quellen und Legenden, die er näher erläutert und glaubhaft vermittelt, bevor sein Erzähler eigene Erfahrungen macht, die ihn schier in den Wahnsinn treiben. „Der Schwarze Stein“ ist eine sehr gelungene und atmosphärische Geschichte, die Lovecraft sicher gefallen hat.
Christian von Asters Geschichte hat mir – sieht man einmal von den beiden Geschichten |des Meisters| ab – allerdings am besten gefallen, wenn auch am Schluss der unausweichliche Wahnsinn, dem Lovecrafts Erzähler zumeist sehr nahe sind, fehlt. Dennoch vermittelt die Geschichte in makelloser Form einige andere Aspekte von Lovecrafts Geschichten – den Fatalismus und die Erkenntnis, dass es kein Entkommen gibt. Dass von Aster sich in seiner Geschichte durchaus bei anderen großen Autoren bedient (ich sehe da z. B. einige Aspekte aus „Der Club Dumas“ von Arturo Perez-Reverte), stört dabei überhaupt nicht.

Mit „Der Cthulhu-Mythos“ war der Startschuss zu einer äußerst gelungenen und durch Wissen um den Autor angereicherten Hörbuchreihe gegeben. Es folgten [„Der Schatten über Innsmouth“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=424 sowie „Das Ding auf der Schwelle & Ratten im Gemäuer“. Leider ist Lovecrafts Lebenswerk nicht gerade umfangreich, doch es bietet noch genügend Erzählungen, um diese Reihe weiterzuführen. Vielen Dank an die Verantwortlichen!

Pete Sansom – Cortex

Das geschieht:

Das „Cortex-Projekt“ ist das wissenschaftliche Flaggschiff der mächtigen Datenfabriken Mid-west Technologies (USA) und Tsunami (Japan). Sie entwickeln ein künstliches neurales Netzwerk. Es soll nach dem Vorbild des menschlichen Gehirns arbeiten und in der Lage sein, gigantische Datenmengen in winzigen Zeitspannen zu verarbeiten.

Das digitalisierte Abbild eines ‚Musterhirns‘ wird in zweihundert über den ganzen Erdball verstreuten Labors studiert und entschlüsselt. Unter denen, die diese komplizierte Arbeit leisten, ist im englischen Oxford der junge Neurophysiologe Ben Blumenthal. Er entdeckt eines Tages einen versteckten Sektor des Hirnscans mit Manipulationen, die er nicht erklären kann. Pete Sansom – Cortex weiterlesen

Alastair Reynolds – Die Arche

Das Weltall bietet dem Leben gute Chancen, sich zu entwickeln. Dass sie nicht nur eine statistische Laune der Natur sind, bemerken die Menschen bald, nachdem sie das Sonnensystem verlassen haben. Nur sind all die anderen Zivilisationen ausgestorben.

In der Frühzeit der Galaxis tobte ein gewaltiger Krieg unter den in den interstellaren Raum vorgestoßenen Zivilisationen, der Morgenkrieg, an dessen Ende die Unterdrücker, fast intelligente Maschinenwesen, ihre Aufseherrolle übernahmen. Sie sollten sicherstellen, dass sich intelligentes Leben nicht zu hoch entwickelt – notfalls mit Gewalt.

Alastair Reynolds – Die Arche weiterlesen

John A. Keel – The Mothman Prophecies: Tödliche Visionen

1967 treibt im US-Staat Virginia der womöglich aus dem Weltall stammende „Mottenmann“ sein Unwesen, kündigt kryptisch großes Übel an und bringt seinen Verfolgern großes Unglück … – Ein Klassiker für verschwörungssüchtige Esoteriker, Spökenkieker & Spinner, ansonsten ein Machwerk nie vertiefter Andeutungen, dreister Behauptungen und sich selbst ‚beweisender‘ Ringschlüsse, das entweder langweilt, als Trash amüsiert oder ungut verdeutlicht, mit wie vielen Idioten man diesen Planeten teilt. John A. Keel – The Mothman Prophecies: Tödliche Visionen weiterlesen