Pamela Sargent (Hg.) – Women of Wonder. The Classic Years. Science Fiction by Women from the 1940s to the 1970s

Classic SF: Repräsentative Mischung aus Klassikern und Newcomern

Diese Anthologie mit Erzählungen von weiblichen SF-Autoren deckt die Jahre zwischen 1944 und 1978 ab. Sie ist die erste einer ganzen Reihe solcher Anthologien, die Sargent veröffentlichte. Die Autorinnen sind meist aus der Oberliga des SF-Genres, insbesondere unter den frühen Autorinnen: Leigh Brackett, C.L. Moore, Kate Wilhelm, James Tiptree jr. (= Alice B. Sheldon), Ursula K. Le Guin, Marion Zimmer Bradley und viele mehr.

Die Herausgeberin

Pamela Sargent (* 20. März 1948 in Ithaca (City, New York) ist eine US-amerikanische Feministin, Science-Fiction-Schriftstellerin und Herausgeberin. Pamela Sargent wurde in Ithaca geboren und wuchs als Atheistin auf. Sie besuchte die State University of New York in Binghamton, die sie mit dem Masterabschluss in Philosophie beendete. Momentan lebt sie in Albany, New York.

Sie schrieb eine Buchreihe über Terraforming auf der Venus, die mit Kim Stanley Robinsons Mars-Trilogie verglichen wird, allerdings veröffentlichte Sargent ihre Bücher vorher. In ihrem Werk beschäftigt sie sich auch mit Alternativwelt-Geschichten und vielen anderen Themen der Science-Fiction-Literatur.

Als Herausgeberin verlegte sie in erster Linie Anthologien von Frauen, um die Rolle der weiblichen Autoren in der Geschichte der Science Fiction zu festigen, und veröffentlichte unter anderen Judith Merril, Marion Zimmer Bradley, Kate Wilhelm und Ursula K. Le Guin.

• 1993: Nebula Award und Locus Award für die Kurzgeschichte „Danny fliegt zum Mars“
• 2000: Service to SFWA Award als Herausgeberin der Nebula-Anthologien zusammen mit George Zebrowski
• 2012: Pilgrim Award für das Lebenswerk

Bibliografie

Die Serien sind nach dem Erscheinungsjahr des ersten Teils geordnet.

Earthminds/Watchstar-Trilogie

• 1 Watchstar (1980)
• 2 Eye of the Comet (1984)
• 3 Homesmind (1984)

Seed-Trilogie

• 1 Earthseed (1983)
• 2 Farseed (2007)
• 3 Seed Seeker (2010)

Venus-Trilogie

• 1 Venus of Dreams (1986)
• 2 Venus of Shadows (1988)
• 3 Child of Venus (2001)

Einzelromane

• Cloned Lives (1976)
o Deutsch: Die Bio-Bombe. Übersetzt von Tony Westermayr. Goldmann-Science-fiction #23337, 1980, ISBN 3-442-23337-2. Auch in: Frankensteins neue Kinder : Künstliche Geschöpfe einer neuen Wissenschaft. Goldmann #23502, 1987, ISBN 3-442-23502-2.
• The Sudden Star (1979, auch als The White Death)
• The Alien Upstairs (1983)
• The Shore of Women (1986)
o Deutsch: Das Ufer der Frauen. Übersetzt von Irene Bonhorst. Heyne-Science-fiction & Fantasy #5060, 1993, ISBN 3-453-06632-4.
• Alien Child (1988)
• Ruler of the sky (1991, historischer Roman)
o Deutsch: Dschingis Khan : Herrscher des Himmels. Übersetzt von Birgit Oberg. Schneekluth, München 1997, ISBN 3-7951-1560-4. Auch als Bastei-Lübbe-Taschenbuch #12879, 1998, ISBN 3-404-12879-6 und Knaur-Taschenbuch, 2007, ISBN 978-3-426-63526-1.
• A Fury Scorned (1996, Star Trek: The Next Generation, Tie-in mit George Zebrowski)
o Deutsch: Verhöhnter Zorn. Übersetzt von Uwe Anton. Heyne-Science-fiction & Fantasy #5756, 2000, ISBN 3-453-16189-0.
• Heart of the Sun (1997, Star Trek: The Original Series, Tie-in mit George Zebrowski)
• Climb the Wind (1998)
• Across the Universe (1999, Star Trek: The Original Series, Tie-in mit George Zebrowski)
• Garth of Izar (2003, Star Trek: The Original Series, Tie-in mit George Zebrowski)
• Season of the Cats (2015)

Sammlungen

• Starshadows (1977)
• The Golden Space (1982)
• The Best of Pamela Sargent (1987)
• The Mountain Cage and Other Stories (2002)
• Behind the Eyes of Dreamers and Other Short Novels (2002)
• Eye of Flame: Fantasies (2003)
• Thumbprints (2004)
• Dream of Venus and Other Science Fiction Stories (2012)
• Puss in D.C. and Other Stories (2015)

Die Erzählungen

1) C. L. Moore: No Woman Born (1944)

Deirdre ist das Opfer eines Theaterbrandes geworden. Davor war sie eine berühmte und bewunderte, auch geliebte Sängerin, Tänzerin und Schauspielerin gewesen. Doch beim Brand verbrannte nur ihr Körper, nicht aber ihr Gehirn. Ihr Freund und Agent John Harris betritt jetzt erstmals die Büros von Professor Maltzer, der für dieses Gehirn einen künstlichen Körper geschaffen hat. Beklommen fragt sich John, was er vorfinden wird – ein Monstrum, oder gar eine Karikatur der einstigen Diva?

Nichts von beidem: Deirdre steckt jetzt in einem goldenen, von einem Kettenhemd verhüllten Metallkörper, den der Professor so geschmeidig und gelenkig gestaltet hat, dass sich die katzenhafte Bewegungsweise Deirdres darin unverkennbar zeigt. Doch der behelmte Kopf, der Kopf – hat kein Gesicht. Nur ein silbern schimmerndes Oval erhebt sich auf dem goldenen Hals, bedeckt von einem Helm, und wo das Gesicht sein sollte, erblickt John nur Glas. Sie wirkt wie ein mittelalterlicher, etwas elfisch anmutender Ritter auf ihn. Er betrachtet sie voller Zweifel, bis er endlich ihre Stimme hört – und ihren Gesang. Beides ist original Deidre. Und auch ihr Lachen ist noch gleich. Nur ein leiser metallischer Nachhall stört den positiven Gesamteindruck.

Aber werden die Menschen, das Publikum sie ebenso akzeptieren wie er? John, so überlegt sie, wird von ihrem Geist und den Gefühlen, die diese Begegnung auslöst, fasziniert, Prof. Maltzer fast nur von ihrem Körper, den er ja selbst schuf. Für was werden sich die Menschen entscheiden? Sie will schon an diesem Abend bei einem Auftritt in einer Fernsehshow herausfinden, ob sich ein Jahr Mühen und Anpassung gelohnt haben – oder ob alles vergebens war.

Aber warum, fragt sich John entsetzt, verfällt Professor Maltzer auf die Idee, sie abschalten zu wollen?

Mein Eindruck

Dies ist laut Greenberg nicht die erste Geschichte über einen Kyborg, die je geschrieben wurde. Vielleicht könnte man ja auch schon die künstliche Maria aus Fritz Langs „Metropolis“ (1928) als kybernetischen Organismus ansehen. Robotergeschichten gab es jedenfalls schon bevor Asimov seinen positronischen Robbie (in der Story „Ein seltsamer Spielgefährte“) und den „Zweihundert-Jahre-Mann“ erfand.

Maltzer spielt die Rolle des Dr. Frankenstein fast bis zum Ende durch. Er hadert mit der Kreatur, die er geschaffen hat. Aber nicht etwa, weil er sie hasst, sondern weil er sie liebt und um sie fürchtet. Was werden die Menschen da draußen, sobald die erste Faszination am Neuen verflogen ist, ihr alles antun? Sie ist das gefürchtete Andere, mag auch noch so menschlich auftreten. Und wenn sie sich nicht wehren kann, so wird man sie demütigen, wie es die Art des Pöbels von jeher gewesen ist. Und dann wird man sie kreuzigen.

Doch Deirdre beruhigt ihren Schöpfer. Er mag zwar auf eine gewisse Weise ein Dr. Frankenstein sein, aber ihr Gehirn ist original Natur, wenn es auch nicht danach aussieht. Und es macht sie sterblich. Deirdre demonstriert den beiden verblüfften Zuschauern, über welche Fähigkeiten sie verfügt. Sie ist ein Übermensch, ja, aber sie ist auch einsam. Denn es gibt niemanden, der so ist wie sie, auf der ganzen Welt nicht. So wie ihr mythisches Vorbild, die legendär schöne Prinzessin Deirdre aus Irland, ist auch diesmal niemand so wie sie: weder so schön noch so vielseitig. Und nicht geboren, sondern geschaffen.

Und was John Harris schon die ganze Zeit argwöhnte, kündigt sich bereits an. Er hört es in dem metallischen Wispern ihrer Stimme. Die Maschine beginnt ihren menschlichen Gast zu formen…

Wie man sieht, bildet „Nie wurde eine solche Frau geboren“ quasi die Antithese zu der Terminator-Saga, die voller Action ist. In Moores Erzählung geht es vielmehr um Kunst, Menschlichkeit vs. Künstlichkeit, Schöpfung und Verantwortung, aber auch die Möglichkeit, Neues zu wagen – mit allen Risiken. Es ist eine sehr menschliche Geschichte, voller psychologischer Einsichten, die für ihre Zeit und ihr Medium erstaunlich wirken, und überraschend modern. Darum wird diese Geschicht bis heute immer wieder in Anthologien der Klassiker aufgenommen.

2) Judith Merril: That Only A Mother (1948)

Das Jahr 1953 ist ein Kriegsjahr, und Maggies Mann Hank tut als Soldat in irgendeinem Bunker Dienst. Daher bringt sie ihr Baby ohne ihn zur Welt. Kurz nur hat sie sich Sorgen wegen der Radioaktivität der gegend gemacht, die sie und Hank vor ein paar Monaten durchfuhren, aber es wird schon schiefgehen. Und Henrietta, ihre Tochter, ist wirklich perfekt.

Dass Henrietta mit mit zehn Monaten schon vollständige Sätze wie eine Vierjährige bilden kann, findet Maggie entzückend, denn so ist sie nicht mehr so allein. Und die Kleine singt wie ein Engel. Endlich, nach 18 Monaten Abwesenheit, kommt auch Hank nach Hause, fast schon ein Fremder. Die sprechende Tochter versetzt auch ihn in gute Laune, doch schaut er sich ihren Körper etwas genauer an…

Mein Eindruck

Die kurze Erzählung lässt den Leser geschockt zurück. Nicht nur, weil das Baby weder Arme noch Beine hat, sondern auch weil seine Mutter dies für völlig normal hält – oder in einer Art wahnsinniger Verdrängung ausgeblendet hat. Sowohl die Mutation als auch der Wahnsinn sind eine Folge des Atomkriegs – und diese Story ist eine der eindringlichsten und meistabgedruckten zu diesem Thema, insbesondere deshalb, weil sie als eine wenigen die weibliche Perspektive berücksichtigt.

3) Katherine MacLean: Contagion (1950)

Die Besatzung des Sternenschiffs „Explorer“ ist auf einem grünen Planeten gelandet, der einladend aussieht. Vier von ihnen sind Mediziner, darunter June Hall, die von Max Barton geliebt wird. Beim ersten Ausflug stoßen sie auf einen Menschen, der sich als Pat Mead vorstellt, aber nur mit einer Steinklinge bewaffnet ist. Der rothaarige Krieger spricht Englisch, stammt aus der Stadt Alexandria und nennt seine Welt Minos. Eine Seuche namens „Schmelzkrankheit“ habe alle Kolonisten außer den Meads dahingerafft, keine Versorgungsschiffe seien gekommen.

June und ihre Kollegen bestehen darauf, dass Pat zuerst alle Seuchentests durchlaufen muss, bevor er an Bord der „Explorer“ darf. Er besteht alle. Unterdessen informiert ein Luftaufklärer die Bewohner von Alexandria über Pat Meads Verbleib. Unterdessen fragt sich June zunehmend, wie die Meads all die Jahre überleben konnten. Sie ist die einzige unter den Neuankömmlingen, die so rote Haare hat wie Pat Mead, so dass er sie für eine Angehörige seiner Sippe gehalten hat. Die anderen Besatzungsmitglieder sind für ihn eben „andersartig“.

Dieser Tarzan der Neuzeit wird zwar getestet, aber deren Ergebnisse wartet das medizinische Personal nicht ab, bevor es ihm die Erlaubnis erteilt, an Bord gehen zu dürfen. Ein schwerer Fehler, wie sich binnen 24 Stunden zeigt: Alle 47 Männer an Bord sind krank, weil sie die „Schmelzkrankheit“ haben (der Sauerstofftransport in den roten Blutkörperchen wird unterbunden), aber die Frauen sind putzmunter. June Hall muss mit ansehen, wie ihr Freund Max Stark dahinsiecht. In letzter Sekunde kommt ihm die rettende Idee: Weil die Leukozyten sich über die roten Blutkörperchen hermachen, ist dies eine Form von Leukämie – Blutkrebs. Dagegen hilft nur eine Tiefentherapie in einem Lebenserhaltungssystem. Zum Glück gibt es davon ausreichend viele an Bord.

Doch als June den Behälters, in dem Max geheilt worden ist, erlebt die den Schreck ihres Lebens: Max sieht nun aus wie Pat Mead! Genau wie 46 weitere Männer. Doch nicht genug des Horrors: Vor der Luftschleuse begehren acht weitere Pat Meads Einlass – und seine Schwester Patricia…

Mein Eindruck

Die Frauen müssen sich entscheiden: Weil alle ihre geliebten Männer verwandelt worden sind, um auf Minos überleben zu können – wo es nur Pat-Mead-Kopien gibt – müssen sie wählen: Unangepasst können sie nicht bleiben, weil die Umwelt sie umbringen würde. Und die Männer können nicht zur Erde zurück. Doch was passiert, wenn Patricia Mead an Bord gelassen wird? June Hall trifft die Wahl für die Frauen. Sie lässt die fremde Frau an Bord, damit alle Frauen von ihr verwandelt werden – und somit bei ihren Lieben bleiben können. Für alle an Bord der „Explorer“ gibt es kein Zurück mehr…

Die beeindruckende Story weiß durch den kühlen Erzählstil und das tiefe medizinische Fachwissen zu überzeugen. McLean hat mehrere solche wissenschaftlichen Geschichten veröffentlicht. Sie übertreibt den romantischen Aspekt der „feindlichen Übernahme“ durch die Minos-Aliens nicht, lässt aber das emotionale Dilemma, in das die Frauen gestürzt werden, voll zur Geltung kommen. Ob fremde Zellen wirklich in der Lage sein können, eine Transformation menschlicher Zellen herbeizuführen, ist nach meinem Kenntnisstand höchst unwahrscheinlich. Aber was weiß ich schon?

4) Leigh Brackett: The Woman From Altair (1951)

David McQuarrie wird von seinem Erkundungslug zu den Plejaden zurückerwartet. Alles Volk hat sich am Raumhafen versammelt. Darunter ist auch seine Familie: Rafe, unser Chronist, seine Schwester Bet, seine Verlobte, eine gewisse Miss Lewisham (eine Schönheit ohne Geld) und Davids frühere Schulfreundin Marthe Walter, eine Reporterin. Doch was ist das!? David entsteigt seinem Raumschiff nicht alleine: David stellt die Frau an seiner Seite als vom Altair kommend vor: Ihr Name ist Ahrian und sie ist meine Frau.“ Die Kleine trägt ein halbdurchsichtiges Negligé, eine violettfarbene hochgesteckte Frisur, weist hoch gezogene Augenbrauen, lilafarbene Augen und ein Juwel auf der Stirn auf. Auf Rafe wirkt sie wie eine kleine Fee. Bet und die Miss Lewisham, die sich auf David gestürzt hatte, weichen vor ihr zurück, ganz im Gegensatz zu den Kameras der Weltmedien: Die Kameras schieben sich in ihre Nähe, die Reporter zücken ihre Mikrofone.

Die Familie fährt zum ausgedehnten Anwesen, das sie seit zwei Jahrhunderten beherbergt. Die abendliche Feier ist natürlich dem Brautpaar gewidmet und Ahrian gibt ein paar traurige Lieder ihrer Heimat auf einem Saiteninstrument zum Besten. Sie bittet David um ein Zimmer für sich selbst, so dass sie dort ihrem Hobby nachgehen kann: der Anfertigung von Ketten und Ringen aus edlen Steinen. Wenige Wochen später verschenkt sie eine Halskette an Bet und je einen Ring an David und Rafe.

E dauert nicht lange, bis die erste Katastrophe eintritt. Der Hund Buck, ein treuer Geselle, scheint verrückt geworden zu sein: Er will Bet umbringen, doch die hat sich auf einen der alten Apfelbäume im Garten geflüchtet. Rafe muss Buck leider totschlagen. Bet ist völlig mit den Nerven fertig, und ihre vielen Kratzer müssen verarztet werden.

Die nächste Katastrophe lässt nicht lange auf sich warten. Rafe ist gerade beim Liebemachen mit Marthe, als der Alarm ertönt. Zuerst denkt er, die Ställe stünden in Flammen. Als sie dorthin eilen, sehen sie die uralte Stute über der reglosen Bett stehen, zitternd und nervös. Bett ist offensichtlich tot. Aber warum? Die alte Stute gibt keine Ruhe, und es bleibt Rafe, ihrem Besitzer, überlassen, sie zu erschießen. David würde am liebsten alle Pferde erschießen, doch sie gehören nicht ihm, sondern Rafe.

Noch am Tag von Bets Bestattung beginnen die Träume, berichtet Rafe. Sie erfüllen ihn mit Schuldgefühlen, weilt er kein Raumfahrer sein wollte wie alle seine männlichen Vorfahren. Und sie erfüllen mit einer Furcht vor der Leere des Alls. Aber sie senden ihm auch Bilder von Ahrians Planeten, der Altair umkreist. Woher können diese Bilder nur kommen, fragt er Marthe. Die hegt einen schlimmen Verdacht gegen Ahrian, doch um Gewissheit zu haben, müssen sie Griffith, den ersten Navigator, befragen. Dort erfahren sie nicht nur, dass alle geträumten Bilder von Altair II zutreffend sind, sondern auch, dass die Zeitgenossen Ahrians allesamt Telepathen sind. Und dass David vor seiner „Ehe“ mit der Telepathin Ahrian ein schlimmes Verbrechen begangen hat…

Mein Eindruck

Das Verhängnis lässt nicht lange auf sich warten, denn natürlich handelt es sich um eine wirkungsvolle Rachegeschichte. Der Schluss der packenden Tragödie darf hier nicht verraten werden, aber die Lektüre in ihrem klassischen Pulp Fiction Stil lohnt sich auf jeden Fall. Stellenweise erinnerte mich Ahrian, die hexenhafte Fee, an gewisse Frauenfiguren von Edgar Allan Poe: Zweifellos ist der Untergang des Hauses McQuarrie nahe! Aber auch den Generationengeschichten von Robert A. Heinlein würde diese Geschichte Ehre machen.

Wenn man bedenkt, dass die Autorin das Drehbuch für den Blockbuster „Das Imperium schlägt zurück“ verfasste, ist es eine Schande, dass im ganze Heyne-Verlagsprogramm nur ein einziges Mal auftauchte, in Asimovs Anthologie auf das Jahr 1944. Im Pabel-Programm ist sie mit „Das lange Morgen“ verewigt, in einer gekürzten Fassung. Erst beim Carcosa-Verlag wird sie jüngst endlich gewürdigt, wie es sich gehört.

5) Margaret St. Clair: Short in the Chest (1954)

Major Sonya Briggs hat ein heikles, um nicht zu sagen schlüpfriges Problem. Er herrscht der kalte Krieg, und die fünf Teilstreitkräfte Navy, Air, Infanterie, Heer und Marineinfanterie liegen im Clinch miteinander, um sich jeweils hervorzutun und die andere auszustechen. Um diese Spannung abzubauen, sollen jeweils ein Mann – ein sogenannter „Watson“ und eine Frau, also sie selbst, miteinander vögeln. Nachdem sie einander eine entsprechende Droge verabreicht haben. Nun, sie Sonya Briggs, gehört zu den Marines, die allen anderen Waffengattungen verachten. Der letzte Sex mit dem „Watson“ von Air verlief nicht nur unbefriedigend, sie bekamen sogar handfesten Streit.

Sonya vertraut sich dem psychotherapeutischen Roboter an, einem „Huxley“, damit er ihr einen hilfreichen Rat gibt. Sie hat nämlich inzwischen ein Verbrechen begangen, indem sie einen anderen „Watson“ gestohlen hat. Mit dem hatte sie viel besseren Pflichtsex, berichtet sie. Der Huxley zögert mit seiner Antwort, denn sein elektromechanisches Herz in der Brust leidet unter den elektronischen Impulsen, die Sonyas Hörgerät sendet. Deshalb sei ihm sein destruktiver Rat verziehen: Sonya dürfe jeden „Watson“ von Air mit ihrer versteckten Strahlenpistole töten. Das würde allen zeigen, dass mit Marines wie ihr nicht zu spaßen sei…

Mein Eindruck

Der Titel „Short in the Chest” scheint sich zunächst auf mangelnden Brustumfang seitens Sonya zu beziehen, tatsächlich aber ist seine Bedeutung viel konkreter: Ein „short“ alias „short circuit“ ist ein Kurzschluss. Das soll den etwas gewöhnungsbedürftigen Rat des Psychotherapie-Roboters erklären.

Was die – sehr gebildete und sprachlich innovative – Autorin bereits 1954 andeutet, ist, dass eine Frau das recht haben sollte, einen Mann, der ihr zugewiesen wird, abzulehnen und sich einen Mann zu suchen, der ihr mehr zusagt. Fürwahr ein kühner Gedanke zu einer Zeit, da in den meisten westlich-christlichen Ländern die Scheidung noch illegal war. (Sie ist es für den Vatikan immer noch, wenn ein geschiedener Ehepartner sich wünscht, erneut zu heiraten.)

Neben der ziemlich schlüpfrigen Thematik des befohlenen Sex bricht die Story also eine Lanze für die Wahl einer Frau zwischen mehreren Männern. Dabei fällt kaum ins Gewicht, dass Major Sonya Briggs für die Schweinezucht bei den Marines zuständig ist und ein Problem hat, das angeblich diese Windbeutel von „Air“ lösen können.

6) Zenna Henderson: The Anything Box (1956)

Der Lehrerin, unserer Chronistin, fällt Sue-Lynn erstmals auf, als das sonst so aufgeweckte und kluge Mädchen verträumt auf seinen Tisch schaut. Dabei hat es seine Hände in einer Stellung, als hielte es etwas fest, der die Form eines Kästchens besitzen könnte. Der Schüler Davie beschwert sich, dass Sue-Lynn bloß vor sich hin starre. Wenig später stößt er sie im Schulhof, dass sie sich das Knie aufschürft. Jetzt hat die Lehrerin Anlass zur Sorge. Doch den Rat, den ihr Alpha, die lauteste Lehrerkollegin, gibt, ist inakzeptabel: die Anwendung von Gewalt.

Deshalb redet sie mit dem Mädchen. Im Laufe der Zeit bekommt sie von Sue-Lynn das unsichtbare Kästchen gezeigt, das Davie die „Anything Box“ genannt hat. Die Lehrerin hat eine Traumvision von einer schönen Landschaft, in der sie unbeschwert auf einen Mann zugeht, den sie liebt. Doch das Bild bricht unvermittelt ab. Nun sehnt sie sich ebenso nach der Anything Box wie das Mädchen. Davie verpetzt Sue-Lynn: Ihr Vater sei im Gefängnis gelandet. Leider entspricht das der Wahrheit. Sue-Lynns Mutter ist das schnurzpiepegal; von ihr aus könne eine Lehrerin das „nichtsnutzige“ Mädchen windelweich hauen, damit es gehorche.

Als das unsichtbare Kästchen unauffindbar ist, wird Sue-Lynn sehr traurig, dann sucht sie fieberhaft danach. Die Lehrerin findet das Kästchen in einer sehr tiefen Schublade ihres Schreibtisches und übergibt es Sue-Lynn. Die Schülerin ist so glücklich, dass sie ihrer Lehrerin verspricht, sie dürfe jederzeit in das Kästchen hineinschauen. Da weiß die Lehrerin, was das Kästchen zeigt: Jeden Herzenswunsch, den die Betrachterin hegt. Und sie selbst sehnt sich nach Liebe.

Mein Eindruck

Auf sehr einfühlsame Weise erzählt die Autorin, die schon viel über „besondere“ Kinder geschrieben hat, von einem besonderen Mädchen, das ein unsichtbares Zauberkästchen besitzt. Sie lässt ihre Lehrerin an den Freuden teilhaben, nämlich den Herzenswünschen. Aber darf man einen Herzenswunsch einfach anderen anvertrauen? Nein, deshalb ist das Kästchen ja unsichtbar. Dass auch die Lehrerin das Kästchen „sehen“ kann, ist ein erheblicher Fortschritt: Sie „sieht“ jetzt mit dem Herzen.

Ihr genaues Gegenteil stellt Alpha dar, die strenge Lehrerin, die auf Gewalt als Erziehungsmethode setzt. Davie ist bloß eifersüchtig auf das „doofe“ Mädchen und findet es minderwertig. Er stößt Su-Lynn im Unterricht einfach mal an – und die kippt einfach bewusstlos vom Stuhl. Das Träumen ist eben auch ein Risiko.

7) Marion Zimmer Bradley: Death Between the Stars (1956)

Helen Vargas, unsere Chronistin, will als einzige Frau an Bord nach Terra fliegen, denn in der Prokyon-Region braut sich ein Krieg zusammen. Ihr Wunsch bringt den Kapitän der „Vesta“ in die Bredouille, wo doch sonst alle anderen an Bord des Frachters männlich sind – bis auf einen: Der ist ein Alien aus dem Deneb-System, ein Theradiner namens Haalvordhen. Zu dem steckt er nun die lästige Frau. Wenn sie nach Terra will, muss sie auf Samarra, der Theradin-Welt, umsteigen.

Entfernt erinnert die Gestalt des Theradiners an einen Menschen, doch entscheidende Körperteile wie etwa die Arme und Hände sind weich. Weil ihm ein Kehlkopf fehlt, wispert er mit seinen „Lippen“. Sein Galaktisch ist rudimentär, aber verständlich. Er befleißigt sich der höflichen Etikette, und Helen mag ihn, selbst wenn es sie sonst vor Aliens ekelt, und dieser Theradiner ist auch noch Telepath. Und er will nach Hause, um dort der Sitte gemäß zu sterben.

Da kommt der Alarm, dass der Start kurz bevorsteht. Beide müssen sich schnellstens in das entsprechende Geschirr spannen, doch Haalvordhen kennt sich damit nicht aus und erleidet große Schmerzen, als der Start erfolgt. Die Beschleunigung verrät uns Helen zwar nicht, aber sie dürfte der in einem Düsenjäger entsprechen, der in die Kurve geht (siehe „Top Gun“): mindestens zwei bis drei Ge.

Hinterher geht es allen richtig mies, aber Haalvordhen braucht dringend ein bestimmtes Medikament, um seinen Blutkreislauf in Gang zu halten. Ein Matrose, der nach ihnen schaut, lässt seine Verachtung durchblicken und überlässt sie sich selbst. Procalamin – da ist es in der Bordapotheke auf der Toilette. Obwohl sie weder autorisiert noch dafür ausgebildet ist, verabreicht Helen ihrem Kabinengenossen den Wirkstoff, was bei Schwerelosigkeit ein Kunststück ist. Tatsächlich gelingt ihr der nötige Piks durch die dicke Alienhaut nur, indem sie sich an ihn klammert. Dabei stülpt ihr der Kontakt fast den Magen um. Ausgerechnet jetzt erblickt sie der Matrose in einer verfänglichen Umklammerung mit dem Theradiner.

Dieser erholt sich wieder und zeigt sich sehr dankbar. Weil Haalvordhen ahnt, dass sein vorzeitiger Tod nahe ist, hinterlässt er in Helens Unterbewusstsein ein wertvolles Geschenk. Als sie auf Samarra ankommt, sucht sie das Hauptquartier der Theradiner auf dem internationalen Raumflughafen auf. Sie erinnert sich an die korrekten Passwörter, sehr zum Erstaunen der Einheimischen, und gelangt so zu einem Verantwortlichen, der sie als das anerkennt, wozu Haalvordhen sie gemacht hat: seine Alleinerbin…

Mein Eindruck

Die Ähnlichkeit mit einem Geschlechtsakt, einer rechtlich bindenden Vereinigung (Heirat) und einer Erhöhung des Status durch Erbschaft sind unverkennbar. Auch wenn der Plot schwer nach Romanze klingt, so wird der Prozess, den Helen Vargas durchlaufen muss, für sie sehr anstrengend. Nicht so sehr in körperlicher Hinsicht wegen der fehlenden Schwerkraft, sondern weil sie mit ihren eigenen Gefühlen zu kämpfen hat. Der freie Fall dient quasi als Metapher für ihre emotionale Erfahrung.

Die Palette ihrer Gefühle reicht von Abscheu über Ekel bis zum Eindruck, verseucht worden zu sein („contamination“), und zwar nicht nur in körperlicher, sondern auch in seelischer Hinsicht. Selbst ein so scheinbar simpler Vorgang wie der, eine Spritze zu verabreichen, zwingt Helen zu intimstem Hautkontakt mit dem Fremdwesen Haalvordhen. Die Analogie zu Sex ist offensichtlich, und für genau das hält es auch der Matrose. Danach erlebt Helen einen emotionalen Zusammenbruch. Jetzt ist sie es, die sich erholen muss. Und als Lohn erhält sie eine Alleinerbschaft auf einer fremden Welt. Jetzt ist sie der Alien, und alle Theradiner müssen sich an sie gewöhnen.

8) Anne McCaffrey: The Ship Who Sang (1961)

Das Mädchen ist eine Missgeburt, aber sein Gehirn scheint intakt zu sein und berechtigt zu begrenzten Hoffnungen. Man nennt sie Helva und schließt sie an verschiedene sensorische Geräte an, so dass sie wenigstens die fünf Sinne entwickeln kann. Sie wird in einer Gruppe aufgezogen, die das gleiche Handicap aufweist. Ihre Bestimmung besteht darin, ein Raumschiff zu fliegen.

Das bevorzugte Schiff soll der Erkundung dienen, denn Helva, da körperlos, ist vergleichsweise anspruchslos und kann theoretisch viele Jahre durchhalten. Geplant ist allerdings ein männlicher, mobiler Kopilot. Als Helva einer Gruppe von Skeptikern vorgeführt wird, wird ihr melodiöses Summen und Singen bemerkt, das sie problemlos durch ihren künstlichen Kehlkopf realisieren kann. Weil ihr Singen gut ankommt, bildet sich Helva selbst anhand der besten Vorbilder zu einer vielseitigen Sängerin aus.

Bei einer feuchtfröhlichen Kabinenparty mit den Kandidaten kann sie ihre ausgebildete Stimme unter Beweis stellen. Wow, sie könnte eine ganze Oper ganz allein singen! Aber Janner ist der einzige, der Helva direkt anspricht und sich für sie interessiert. Also wählt sie ihn. Er hat wie sie seine Eltern verloren und spricht nicht gerne darüber.

Ein Schiff, das singt? Lachhaft! Jennan muss sich regelmäßig in Hafenkneipen für Helva schlagen, um ihre Ehre zu verteidigen. Unmerklich verliebt sie sich in ihn. Als sie die Kolonisten der Planeten von Leviticus retten müssen, wird der Zentralstern instabil und droht in einer Supernova zu explodieren. Die Nonnen eines Klosters zögern zu lange und stellen sich in der Luftschleuse derart dämlich an, dass Jennan, nur durch einen Raumanzug vor der Hitze und der Strahlung der Nova, geschützt, sein Leben verliert. Helva ist untröstlich. Doch es gibt Wege, die Trauer zu überwinden…

Mein Eindruck

Es ist diese Trauer, die die Autorin aus dem Tod ihres Vaters bezog, der 1954 an Tuberkulose starb, ein hochdekorierter Kriegsveteran (wie sie in ihrer Einleitung schreibt). Und es ist die Trauer des Verlustes, die auch Jennan kennengelernt hat. Auf der Grundlage ihrer Erfahrung konnte die Autorin einen emotional absolut überzeugenden Text schreiben, der keinen Leser unberührt lässt. Als Cyborg-Geschichte funktioniert die später zum Roman ausgebaute Erzählung ebenfalls.

9) Sonya Dorman Hess: When I Was Miss Dow (1966)

Auf einer Welt, auf der die Menschen einen Raumhafen und eine Forschungsstation errichtet haben, existieren die Einheimischen zunächst als formlose, geschlechtslose Zellstrukturen. Sie lassen sich aber nach einem vorgegebenen Muster formen, so dass sie wie Menschen aussehen, entweder wie eine Frau oder ein Mann. Den Befehl dazu gibt der Vorsteher. Er weist die Erzählerin an, sich zu Martha Dow zu formen und für die Einheimischen Geld zu verdienen, damit sie sich eine Droge der Menschen kaufen können. Er zwingt sie sogar, eine zweite Gehirnhälfte zu entwickeln, genau wie eine echte Menschenfrau, und sich alles Wissen über Menschenfrauen anzueignen.

Ihr Onkel ist ein enger Freund des Vorstehers und übt Druck auf „Martha“ aus, Geld zu verdienen. Zu diesem Zweck lässt sich „Martha“ als Sekretärin von Dr. Arnold Proctor einstellen, einem Arzt und Forscher, der besonders Röntgentechnik einsetzt. Nach einer Weile wächst sie ihm so ans Herz, dass er sie zur Frau nimmt. Und das Unvorhergesehene geschieht: Sie verliebt sich in ihn, statt sich wie ihre Geschlechtsgenossinnen auf dem Raumhafen zu prostituieren.

Natürlich hat die Sache einen Haken. Als Proctor erfährt, dass die Hälfte aller „Frauen“ auf der Station wahrscheinlich nicht menschlich sind, hegt er einen Verdacht gegen Martha, auch sie könnte keine Frau sein. Obwohl sie sich nichts anmerken lässt, erleidet er einen Herzinfarkt und stirbt. Was tun? Sie fragt den Vorsteher und ihren Onkel. Sie verschweigt allerdings, dass sie glaubt, sie sei bereits so sehr Menschenfrau in Körper und Identität, dass sie gar nicht mehr zu ihrem form- und geschlechtslosen Urzustand zurückkehren könne…

Mein Eindruck

Was macht eine Frau zu einer Frau, fragt die Autorin in dieser vielfach anthologisierten Geschichte. Wenn man von einer form- und geschlechtslosen Vorstufe ausginge, könnte man dann ein Wesen schaffen, das als Menschenfrau durchgeht – in den Augen eines Mannes?

Das Experiment der Aliens gelingt, zeitigt aber unerwartete Folgen für „Martha“. Sie ist zwar im Körper einer Menschenfrau, doch nicht in Seele und Geist. Diese werden erst durch das Zusammensein mit Arnold Proctor generiert und entwickelt. Deshalb hat „Martha“ beim Tod ihres geliebten „Arnie“ furchtbare Angst, sie könnte verschwinden und zu existieren aufhören!

Dass dies eine ganz reale Angst mit philosophischer Begründung ist, zeigt bereits die berühmte Frage von Bischof Berkeley: „Verursacht ein Baum, der im Wald zu Boden fällt, einen Laut, wenn niemand da ist, um ihn zu hören?“ Ich will nicht verraten, wie die Geschichte für „Martha Dow“ ausgeht, aber am Beginn der feministischen Bewegung Mitte der 60er, Anfang der 70er Jahre war die Frage à la Grönemeyer: „Wann ist ne Frau ne Frau?“ von grundlegender Bedeutung in vielen Diskussionen: Ist Frausein a priori nicht nur biologisch, sondern auch gesellschaftlich bedingt? Oder könnte man eine Frau, wenn sich die gesellschaftlichen Vorbedingungen ändern, im Prinzip auch wie einen Mann aufwachsen lassen? Diese „gender politics“ spielen noch heute an vielen geisteswissenschaftlichen Fakultäten von Universitäten in aller Welt eine Rolle.

10) Kit Reed: The Food Farm (1966)

Nelly liebt Jonny Fango, den wunderbaren Sänger. Sie hört ihn immer, wenn sie mit ihrem Radio eingestöpselt ist, wie alle anderen. Sie lebt in einer Kultur der Abhängigen. Doch Nellys Abhängigkeit betrifft nicht nur Jonny Fangos Gesang, sondern auch das Essen. Während sie gewachsen ist, haben ihre Mutter und ihr Vater sie in eine Hütte verbannt, doch dort lebt sie nur am Tage. In der Nacht geht sie auf Raubzug, bricht in die Bäckerei ein und bettelt Fremde an, die ob ihrer monströsen Gestalt das Weite suchen. Am Tag ernährt sie sich vom Erbeuteten.

Doch alle guten Dinge müssen enden. Eines Tages kommen die Häscher und betäuben sie mit einem Pfeil. Sie erwacht in einem Zimmer mit der ebenso voluminösen Ramona. Doch Essen gibt es hier nur einmal am Tag, und Jonny Fange ebenso nur einmal. Es ist entsetzlich. Schon nach wenigen Wochen verliert Nelly ihre Idealfigur und magert ab. Doch als Jonny Fango auf ein Konzert zu besuch kommt, hofft sie, ihn sehen zu können. Doch die Vorsteherin, ein mageres Weib ohne Gnade, weist Nelly zurück. Als Ramona vom Konzert zurückkehrt, schwärmt sie von Jonny Fango und dass er von allen Bildern der „Patientinnen“ nur ein einziges ausgewählt habe: Es zeigt Nelly in ihrem glorreichen Urzustand. Doch weil es den nicht mehr gibt, ist Jonny traurig und gibt keine Konzerte mehr.

Diese Situation ist unerträglich. Nelly tut sich mit den anderen „Patientinnen“ zusammen und stürmt das Proviantlager. Sie endet im Kühlraum, wo sie eingefangen wird. Ein zweiter Ausbruch hat ein anderes Ziel: Jonny Fangos Hotelzimmer. Mit List und Tücke gelangt Nelly dorthin. Doch ein Blick auf das alte Foto sagt Jonny, dass sie nicht mehr seine Idealfigur erreichen kann. Weinend geht sie zurück zur Food Farm und übernimmt den ganzen Laden. Sie macht es sich zur Lebensaufgabe, dass alle Frauen, die sie kriegen kann, bis zum Idealzustand gemästet werden. Auch Mutter. Und Vater…

Mein Eindruck

Dies ist eine Liebesgeschichte, und wie alle Romanzen endet sie tragisch, Doch für wen, das hängt vom Standpunkt des Betrachters ab. Zunächst scheint Nelly mit ihrer Liebe zu Jonny Fango zu scheitern, weil der einzige Maßstab, den er gelten lässt, ihr voluminöses früheres Äußeres darstellt. Die Autorin stellt dieses Schönheitsideal zur Diskussion: Ist es allein seligmachend, wie so mancher Zeitgenosse und auch alle Mädchen anno 1966 glauben. Twiggy ist die magersüchtige Version von Nelly, aber es gibt in den 1960er Jahren auch schon kurvenreiche Mädchen wie Raquel Welch oder Brigitte Bardot.

Mit Nelly, der Dicken, die nun auch alle anderen Mädchen mästet, treibt die Autorin das Körperideal auf die Spitze. Alle sollen dick und rund werden, genau wie sie! Nur so können sie dem Ideal gehorchen, das Jonny Fango vorgegeben hat. In der irrigen Annahme, nur Umfang sei schön, beginnt sich Nelly auch an ihren Eltern zu rächen. Elterliche Autorität muss sich dem Ideal unterordnen. Die Abwärtsspirale des Fanatismus hat begonnen.

Der Leser folgt der satirischen Geschichte der Ich-Erzählerin und deren Wahnsinn mit zunehmenden Staunen und Bangen.

11) Pamela Zoline: The Heat Death of the Universe (1967)

Sarah Boyle lebt als Hausfrau und Mutter einer nicht genannten Kinderschar irgendwo im schönen Kalifornien. Nacheinander werden ihren diversen häuslichen Aktivitäten aufgezählt. Nachdem die größeren Kinder gefrühstückt haben und zur Schule sind, erledigt Sarah den Haushalt, putzt, reinigt, staubsaugt etc. Dann kauft sie im Supermarkt drei Einkäufswägen voll Zeug ein. Denn heute nachmittag ist Kindergeburtstag.

Am Nachmittag kommt ihre Schwiermutter Mrs. David Boyle herüber und erzählt, ihre Nachbarin habe Krebs und gehe vor die Hunde. Sarah denkt an den Weltuntergang durch Eis, Wasser und Atomkrieg. Sarah denkt an Licht, Liebe und Entropie, den Wärmetod des Universums. Dann ist Kindergeburtstag.

Nach dem Kindergeburtstag findet sie die Schildkröte tot im Becken und ein Würstchen in einem Blumentopf. Die Schwiegermutter ist fort. Sarah beginnt zu weinen. Dann wirft sie Dinge in ihrer Küche kaputt. Sie weint, sie wirft. Die Eier fliegen ganz langsam, langsam, langsam durch die sanft kühle Luft…

Mein Eindruck

Diese bekannte Erzählung ist nach Ansicht vieler Fachleute die beste und auch bezeichnendste Story, die die New Wave hervorgebracht hat. Pamela Zoline stammt aus den USA, arbeitete aber in London. Sie packte Naturphilosophie ebenso in ihre Story, wie literarisches Stilbewusstsein – und natürlich die komplette kalifornische Heimwelt.

Obwohl die Story keine Handlung aufweist und systematisch alle Dinge, die Sarah Boyle ist und erlebt, innen und außen beschreibt, endet die Geschichte doch in einem Zusammenbruch. Der Grund dafür ist der Widerspruch zwischen menschlicher Lebendigkeit und den äußerlichen Mechanik der zwänge. Sie degradieren Sarah zu einem Ding, einem Roboter, der alle Aufgaben gewissenhaft erledigt.

Doch das Programm gewissenhaft auszuführen, ist keine Garantie für Glück. Heimtückischer Krebs kann der „Lohn“ sein und alles Sein und Tun absurd machen. Das Universum entwickelt sich hin zu seinem Wärmetod, in dem alle Energie und Ordnung entwichen ist und alle Dinge gleich wenig Wärme aufweisen. Dieser Nullpunkt der Dinge kommt Sarah unausweichlich vor – und sie reagiert mit einem Gewaltausbruch, der weiteres Chaos schafft. Was sie in ihren letzten Sekunden erlebt, ist der Stillstand des Universums, der Wahrnehmung, vielleicht des Seins. Die Feder dieser Puppe ist abgelaufen.

Entropie war eine beliebte Metapher der New-Wave-Autoren (und von Thomas Pynchon) und bedeutete jedem etwas anderes. Einig sind sie sich in einem Punkt: Depressiver und kälter als bei maximaler Entropie kann das Universum (sofern es ein geschlossenes System ist) nicht mehr werden.

12) Josephine Saxton: The Power of Time (1971)

Eine Story, die auf zwei Zeitebenen abläuft. In der Gegenwart gewinnt eine Ehefrau, die Sekretärin des Klubs der Putzwütigen, eine Reise nach New York City. Sie bewundert die Stadt und macht die Bekanntschaft ihres Führers, der ein Indianer vom Stamm der Mohawk ist. Die Mohawk sind bekannt dafür, dass sie schwindelfrei sind und am Bau der meisten Wolkenkratzer mitgearbeitet haben. Als die Liebe zu ihm keine Erfüllung finden kann, sublimiert sie ihr Liebesbedürfnis, indem sie ihre Liebe auf die Stadt überträgt.

Fünfhundert Jahre später macht ihre Nachfahrin einen schönen Deal mit dem Stammesoberhaupt der Mohawks: Manhattan soll von seiner Insel nach Ostengland, genauer: nach Nottingham, verlegt werden. Platz genug gibt es ebenso wie genügend Geld. Nach dem Großen Exodus sind nur noch 15 Millionen Menschen auf der alten Erde übrig. Häuptling Flying Spider schlägt ein, und beide leiten alles in die Wege. Nach sechs Wochen und einem Tag ist es vollbracht: Manhattan steht in Ostengland. Doch dann gibt es eine unvorhergesehene Reaktion von seiten Mutter Erdes…

Mein Eindruck

In dieser Geschichte geht es um Macht, die diesmal aber von einer Frau ausgeübt wird. Und sie setzt alles daran, das urbane Juwel, das ihre Vorfahrin so liebte, nach Hause zu holen, dorthin, woher die Vorfahren der Erbauer kamen: nach England. Die Autorin spielt mit ihrer Story direkt auf John Brunners Story „Die sehr Reichen“ an, in der ebenfalls eine Frau versucht, einen unmöglichen Traum zu verwirklichen.

13) Chelsea Quinn Yarbro: False Dawn (1972)

Nach einer Pandemie mitsamt Ökokatastrophe versuchen die letzten Menschen im nordkalifornischen Sacramento zu überleben. Manche von ihnen sind jedoch wie das Mädchen Thea mutiert und wissen, dass sie besonders hart gejagt werden. Von denen, die sich für „normal“ halten und als „Piraten“ bezeichnen. Die Polizei ist zu ihnen übergelaufen. Thea nimmt sich vor beiden Gruppen in Acht – und vor den ewig hungrigen Hunden, die Menschen angreifen, die sich nicht wehren. Sie packt ihre selbstgebastelte Armbrust fester, als sie in die vom verseuchten Fluss aufbricht, um zu einer versteckten Kolonie in der Sierra zu gelangen.

Leichter gesagt als getan. Am Fluss belauscht sie nachts – sie verfügt über ungewöhnlich gute Sehkraft und eine Nickhaut – Piraten auf der Jagd. Sie kommen den giftigen Wasserspinnen in die Quere. Bei der verbalen Auseinandersetzung erfährt sie, dass ein gewisser Cox den Mutantenfreund Evan Montague vertrieben und essen Platz eingenommen habe. Die Stadt Chico ist seitdem nicht mehr für „Muties“ sicher.

In den Vorbergen erspäht sie einen unversehrten Getreidesilo. Doch der wird von einem einarmigen Mann bewohnt, der hier seit drei Tagen Zuflucht gesucht hat. Er nennt sich Seth Pearson, doch auf seiner Halsmarke steht David Rossi. Statt ihn auf der Stelle zu erschießen, gibt sie ihm Penicillin, damit sein Armstumpf heilt. Zusammen schaffen sie es bis zum Waldrand, doch dort erwischen sie ihre Verfolger: ein Pirat und ein Cop. Beide sind sofort scharf auf Thea und entwaffnen sie.

Weitergeht’s bis zu einer verlassenen Sommerhütte. In sie einzubrechen ist leicht, und es gibt sogar Vorräte in Dosen, wie man sie vor der Katastrophe kannte. Doch der Pirat will endlich eine Gelegenheit, Thea zu vergewaltigen, und sperrt sie erst einmal in der Nebenkammer ein, dem einzigen Schlafplatz. Hier schläft Thea erschöpft ein. Der Pirat weckt sie unsanft und schafft es, sie zu fesseln und zu vergewaltigen. Zu spät entdeckt er ihre Nickhaut, wie sie nur die verhassten „Muties“ haben. Bevor er sie töten kann, dringt Rossi in die Kammer ein und tötet den Piraten. Er gibt sich nun als Evan Montague zu erkennen.

Da er auch den Cop losgeworden ist, können sie nun endlich packen und in die Berge aufbrechen. Dort wartet Gold Lake auf sie, doch der Weg ist weit und voller Gefahren.

Mein Eindruck

Dies ist eindeutig der Start eines großartigen Romans, der eine mitreißende Thriller-Handlung aufweist. Statt des atomaren Holocausts spielen eine Pandemie und eine ökologische Katastrophe eine ursächliche Rolle in der tiefgreifenden Veränderung des Landes und seiner menschlichen bzw. tierischen Bewohnern. Die Bäume verfaulen selbst in der Höhenluft, da sich die Gifte vom Fluss aus überallhin ausbreiten. Wer je Sacramento und die wunderschönen Sierras gesehen hat, dem blutet das Herz.

Nicht so Thea, der entschlossenen, einfallsreichen Heldin dieser Story. Sie versucht, sich in die Berge durchzuschlagen, wo sie eine Art Refugium oder Utopia erhofft. Doch so falsch das Versprechen der Dämmerung ist, so trügerisch ist die Hoffnung. Thea tut sich mit dem Mutantenfreund Evan Montague zusammen, doch sie fallen den Banditen in die Hände. Die Autorin scheut sich nicht, blutige Details von Theas Vergewaltigung zu schildern – die ich mir hier verkneifen werde. Die Leserin sollte jedenfalls auf alles gefasst sein.

Dies ist zweifelsohne einer der packendsten und lesbarsten Beiträge dieser Auswahl. Die New Wave ist definitiv vorüber.

14) Joanna Russ: Nobody’s Home (1972)

Jannina ist Teil des international verstreuten Komarov-Clans, dessen 18 Mitglieder sie verwaltet. Die Komarovs sind im weltweiten Jet Set und bedienen sich der überall verfügbaren Materietransmitter. Heute ist Familienwiedervereinigung im Himalaja-Hauptquartier angesagt – oder Party; Jannina hat’s vergessen. Einer nach dem anderen trudelt in der Vorkammer an, wo der Transmitter steht. Nur Leslie Smith kennt sie nicht; die muss sich selbst vorstellen, ein interessantes Frauenzimmer. Im Pool, wo die Party weitergeht, nennt sich Leslie „dumm“. Das empört Jannina.

Sie lässt sich ein Dossier über Leslies Leben liefern. Leslie war viele Male verheiratet, mal mit einem Partner, mal mit zweien, egal welches Geschlecht. Doch schon in der Highschool sagte ihr kein Unterricht zu, und ihre psychologische „Umerziehung“ schlug fehl. Jannina erkennt, was mit Leslie los ist: Sie ist nicht dumm, sondern einfach normal, allerdings auf dem Niveau von vor 70 Jahren. Sie ist lediglich konservativ, wodurch sie die neue Beliebigkeit und Freiheit als verstörend empfindet.

In den Armen ihrer älteren „Schwester“ erleidet Jannina einen Nervenzusammenbruch und weint sich aus. Was stimmt bloß nicht mit ihr?

Mein Eindruck

Die Literaturprofessorin Joanna Russ ist eine harte, scharfzüngige Kritikerin des modernen Lebens und dessen, was die männlichen SF-Autoren für die Frauen der Zukunft bereithalten: nämlich eine Fortsetzung der 1950er Jahre. Der Originaltitel deutet mit seinem Wortspiel an, worum es ihr gehen könnte. „Nobody’s Home“ bedeutet sowohl „Niemandes Heim“ als auch „Niemand ist daheim“.

Leslie Smith, wie sie derzeit heißt, ist ein Anachronismus in der schönen neuen Welt, die Jannina und ihre 18 Familienmitglieder bewohnen. Einkommen ist kein Problem, denn alle arbeiten für die Steuer; und auch Gesellschaft kann jeder jederzeit haben oder arrangieren. Nur Leslie will das, was unsere Generation noch kennt: die Kernfamilie. Die ist für Jannina längst Geschichte. Rollen wie Mom und Dad sind an adoptierte Leute delegiert: Old Al ist „Dad“ und „Ann ist „Mom“. Auch sämtliche Kinder sind adoptiert, denn offenbar wird dies vom Recht erleichtert. Nur Ilse hat ein eigenes Kind, niemand sonst. Jannina lebt also in einer privilegierten Schicht. Blöd nur, dass ausgerechnet Leslie sich darin fremd fühlt.

Das „Heim“ wird einmal ironisch als „Eispalast“ bezeichnet, nicht (nur?) weil es im Himalaya liegt, sondern auch weil Jannina hier quasi die Schneekönigin ist. Alle anderen Kinder sind wie in Hans Christian Andersens Märchen hierhergelockt worden. Der Zweck: Damit Jannina nie mehr allein ist? Dass sie den Anschein erwecken kann, eine Familie zu besitzen? Es erfordert alle Intelligenz des Lesers, um des Rätsels Lösung durch mehrmaliges Lesen zu lösen.

15) Kate Wilhelm: The Funeral (1972)

Frauen haben nach einer verheerenden Pandemie eine Diktatur der Erziehung errichtet. Männer gibt es zwar noch, doch auf die Novizinnen in diesem totalitären System wirken sie wie Wesen von einem anderen Stern: Es herrscht strenge Geschlechtertrennung im neuen Staat, dem alle Bürger gehören. Alle Bürger sind nach Berufswahl oder -einung in Klassen aufgeteilt. Die oberste Klasse sind die Lehrer. Sie sorgen für die Indoktrination.

Carla hat wie alle anderen Mädchen in diesen klosterartigen Schulen keinen Familiennamen, sondern nur eine Identifikationsnummer, die auf ihrem Armband steht, wie es alle tragen müssen (und das wahrscheinlich ein Lausch-Mikro eingebaut hat). Mit ihren 14 Jahren steht sie vor einer Art Kastenwahl. Sie wäre zwar gerne eine Lady, die sich für einen Gentleman eigne bringt sie stotternd hervor, doch die Lehrerin Madam Trudeau ist diesbezüglich anderer Ansicht und unterzieht Carla einer Art Gehirnwäsche, was „Ladys“ angeht. Carlas Berufswunsch ist nun „Lehrerin“. Ihr zerbrechlicher Körper ist offensichtlich nicht für die Aufgaben einer „Frau“ geeignet, die Nachwuchs hervorzubringen hat.

Hundertzwanzig Jahre alt ist die Oberste Lehrerin Westall geworden. Mindestens. Und nun ist sie geschminkt wie eine Mumie in der Halle der Schule aufgebahrt, so dass alle an dieser grotesken Mumie vorbeidefilieren können. Carla weigert sich insgeheim zu glauben, dass diese Frau, die sie ihr ganzes Leben als Führerin gekannt hat, tot ist. „Das ist nur eine zurechtgemachte Puppe“, denkt sie bei der Aufbahrung und dem Defilee.

Madam Trudeau weist Carla an, von nun an bis zur nächsten Berufswahl, also für ein Jahr, in ihren eigenen Gemächern zu wohnen, als Lehrling. Zum ersten erhält Carla von Tussaud ein Notizheft aus echtem Papier und einen Stift mit echtem schwarzem Graphit anstelle eines Bildschirms mit einem Eingabestift. Sie soll die Lehren Westalls aufschreiben, an die sie sich erinnern kann. Stattdessen erinnert sie sich, was ihre Mutter zuletzt gesagt hat: „Versteck dich in der Höhle!“

Während der Vorbereitungen auf die Bestattung von Madam Westfall verkündet Madam Trudeau, dass sie den Auftrag habe, die Biografie von Madam Westall zu verfassen, doch es gebe eine Lücke in ihrer Kindheit und Jugend, denn die Führerin hatte nach der Pandemie durch Erschöpfung und Auszehrung ihre Erinnerungen verloren. Diese Lücke soll aus den Erinnerungen der Schülerinnen gefüllt werden. In der ganzen Umgegend von Westfalls Elternhaus lässt sie nach diese mysteriösen „Höhle“ fahnden, von der Carla geschrieben hat. Bislang ist die Suche ergebnislos verlaufen.

Die Bestattung soll in der Nähe von Westfalls Elternhaus stattfinden, doch auf dem Friedhof vernimmt Carla zu ihrem Erstaunen wildes Geschrei. Niemand ist zu sehen. Noch am selben Tag entdeckt Carla jenes geheime Versteck in dem altes, das zwischen den zweiten und dritten Stockwerk eingebaut wurde. Hier findet sie eine Schachtel mit den gesuchten Tagebüchern Westfalls. Doch hier kann sie auch Madam Trudeau belauschen. Sie beginnt zu verstehen, worauf die neue Ordnung gegründet ist: auf Hass.

Am nächsten Tag soll sie die erst zehn Jahre alte Lisa bestrafen, nur weil es Madam so gefällt. Statt der befohlenen Stockhiebe verabreicht Carla nur neun. Prompt wird sie von einer Mitschülerin verraten. Um der Bestrafung zu entgehen, kennt Carla für sich und Lisa jedoch ein Versteck…

Mein Eindruck

Mühelos entwirft die Autorin eine Gesellschaft, die auf Hass und Unterdrückung aufbaut. Rigoros sind Klassen und Geschlechtertrennung errichtet worden, um eine Entfremdung selbst zwischen Individuen zu erzeugen. Daher ist Verrat auf allen Ebenen möglich. An einer Stelle taucht der mutmaßliche biologische Vater von Carla auf, doch dieser tierhafte Kerl darf nicht Hand an sie legen, denn seine Tochter gehört Madam Trudeau.

Die „Höhle“, die Carla in Westfalls Elternhaus entdeckt, ist logischerweise die gleiche „Höhle“, von der ihre Mutter gesprochen hat: Denn wahrscheinlich ist Westfall Carlas Mutter. Die grauen Haare von Carlas „Vater“ machen dies altersmäßig plausibel. Aber durfte Westfalls überhaupt Kinder bekommen, wundert sich der Leser, und war demzufolge nicht nur eine „Lehrerin“, sondern auch eine „Frau“ mit der Lizenz, Kinder zu produzieren? Das würde Westfalls eigene Regeln verstoßen.

Daher ist es sehr ironisch, dass am Schluss Westfalls Tochter Carla im gleichen Versteck Zuflucht sucht und dort ihr Ende findet. Sie ist nicht allein, sondern neben ihrem Schützling Lisa. Sie ist zwar ohne Wasser und Essen, wie ihre Mutter, aber wenigstens frei. Vor allem frei von Hass. Der Kreis der Ereignisse hat sich geschlossen. Aber das erkennt nur derjenige Leser, der über die Ereignisse und Informationen in der Story nachdenkt. Auch Hemingway hat ja nur das Notwendigste erzählt.

Hinweise:

Zartbesaitete Gemüter seien vor der intensiven Spanking-Szene gewarnt. Dabei fließt auch ein wenig Blut.

Wer von Kate Wilhelm weitere Geschichten über solche abgeschlossenen, isolierten Gemeinschaften sucht, wird in ihrem preisgekrönten Roman „Hier sangen früher Vögel“ fündig. Siehe dazu meine Besprechung.

16) Vonda N. McIntyre: Of Miss, and Grass, and Sand (1973)

In ferner Zukunft, einige Jahre nach einem atomaren Holocaust, leben die Menschen in Stämmen in der Wüste oder zusammengedrängt in den Ruinen der Städte. Ärzte wandern von ihrem Zentrum aus, um zu helfen.

Die junge Heilpraktikantin Schlange kuriert mit Hilfe von manipuliertem Schlangengift Verletzte und Todkranke, oft erfolgreich, machmal kommt sie auch zu spät. Sie kämpft gegen Fremdenangst und Ignoranz, dabei wird ihre Traumschlange getötet, mit der sie die Patienten beruhigt. Doch die Heiler können die Traumschlangen, die von fremden Welten stammen, nicht selbst züchten, sondern müssen sie in der alten Stadt kaufen. Dort jedoch wird Schlange abgewiesen.

Mein Eindruck

Das Buch ist nicht nur eine gelungene Synthese aus Science Fiction- und Fantasy-Elementen, sondern zugleich eine einfühlsame Studie einer jungen Frau, die im wesentlichen auf sich allein gestellt das Leben in einer lebensfeindlich gewordenen Welt meistert. Die Autorin macht weder den Fehler, eine problemlose Idylle zu schildern, noch zeigt sie die Heilerin als besser funktionerenden Mann. Vielmehr wird hier eine im Grunde realistische Geschichte im Fantasy-Gewand erzählt, und die Heldin bewältigt ihre Schweirigkeiten aus sich selbst heraus, durch Einsatz ihrer besonderen Fähigkeiten als Frau, als Mensch.

Zu der Zeit seiner Entstehung Anfang der siebziger Jahre dürfte die Schilderung von Ehegemeinschaften aus drei Mitglieder und von Dörfern, in der Familien aufgrund von Adoption zustandekommen, für einiges Aufsehen gesorgt haben. Auch die Themen Kindesmißbrauch und Vergewaltigung dürften hier zum ersten Mal in der SF aufgetaucht sein. Die hier abgedruckte Basis-Story des späteren Romans fehlt daher in kaum einer feministischen SF-Anthologie.

17) James Tiptree, jr.: The Women Men Don’t See (1973)

Don Fenton aus St. Louis reist nach Mexiko auf die Halbinsel Yucatan, um dort zu angeln. Aber die Maschine, die er bei Estéban, einem reinrassigen Maya, gebucht hatte, ist defekt und er muss diejenige nehmen, die schon zwei amerikanische Frauen gebucht haben. Er hat die beiden, eine Miss und Mrs. Parsons aus Bethesda, Maryland, schon auf dem Flug bemerkt, allerdings nur als verschwommenen Fleck. Ihm fällt auf, dass sie ihn nicht mal ansehen, als sie ihm gestatten, mit ihnen zu fliegen.

Das Wetter ist schlecht, der Zustand des Fliegers noch schlechter, aber Estéban schafft es, eine fantastische Bruchlandung in den Mangrovensümpfen an der Küste hinzulegen. Während alle anderen unverletzt sind, scheint er sich eine Rippe gebrochen zu haben. Die zwei Frauen geraten weder in Panik noch bejammern sie ihr Schicksal. Mrs. Parsons eindeutig die Mutterhenne der beiden, behauptet, sie sei bei den Pfadfinderinnen gewesen. Erklärt das ihren kühlen Kopf, fragt sich Don.

Am nächsten Tag brechen Don und Mrs. Parsons auf, um Hilfe zu holen. Sie stoßen auf Süßwasser, an dem sie sich laben, und erbeuten Fische, die sie roh verzehren. Aber Mrs Parsons weiß Don auf Abstand zu halten. Eine Bibliothekarin, die sich für Maya-Ruinen interessiert, aber trotzdem fortwährend nach etwas Ausschau hält. Das kommt Don mehr als spanisch vor. Ruth, wie sie sich nennt, schmettert alle Fragen gekonnt und höflich ab. Ihre Tochter mag sich ja vielleicht von Estéban schwängern lassen, doch sie hat andere Pläne…

Sie sind nicht allein in der Mangrovenwildnis, muss der inzwischen am Knie verletzte Don feststellen. Eines Abends taucht ein Boot auf, das mit drei menschenähnlichen Aliens besetzt ist. Sie greifen mit zwei Meter langen Armen nach Mrs Parsons – denn sie hat etwas, was sie zurückhaben wollen. Im Austausch für dieses Objekt verlangt Ruth Parsons eine Mitfluggelegenheit auf dem Raumschiff der Aliens. Don Fenton verliert fast den Verstand und sein Bein, doch es gelingt ihm nicht, Ruth Parsons und ihre Tochter von der Abreise zu einem anderen Stern abzuhalten…

Mein Eindruck

In dieser berühmten Novelle sind ein paar üble Tiefschläge für das Ego der Männerwelt versteckt. Ruth und Althea Parsons haben zwar nichts gegen Männer, wohl aber gegen deren absolute Herrschaft über Frauen. Sie haben sich in Nischen wie dem National Institute of Health (NIH) eingerichtet, wo eine Freundin sie deckt. Sie vermehren sich dadurch, dass sie Männern deren Samen abluchsen, indem sie sich schwängern lassen, ohne den Vätern Bescheid zu geben.

Natürlich sind die beiden Parsons keine Bibliothekarinnen, sondern mehr eine Art Agentinnen im Außendienst – darüber wie die CIA-Mitarbeiterin Alice Sheldon bestens Bescheid. Während sie meist in unscheinbaren Abteilungen der Bürokratie unsichtbar sind (darauf bezieht sich der Titel der Erzählung), arbeiten die Parsons zuweilen an der Front: so wie jetzt.

Sie wollen lieberwoanders sein, als noch länger auf einer von Männern dominierten „Welt-Maschine“ ein rechtloses Dasein fristen, sagt Ruth in einem sehr bedeutenden Monolog. Dieses Woanders-sein wird Don bald klar: mit den Aliens mitfliegen. Ein weiterer Tiefschlag für sein männliches Ego.

Die Story ist gespickt mit sexuellen Anspielungen und Bildern, doch es findet kein Sex statt. Die Männer, für die Don steht, haben nämlich ausgespielt: Sein geschwollenes Bein ist wie eine riesige Erektion, aber völlig nutzlos. Die deutsche Übersetzung unterdrückt anstößige Formulierungen wie „taking a pee“ („ein Geschäft verrichten“), aber wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, bekommt viel von der sarkastischen Bissigkeit mit, die die Autorin in den Text gelegt hat.

18) Eleanor Arnason: The Warlord of Saturn’s Moons (1974)

Unsere Chronistin nennt sich nicht ohne gewissen Stolz eine alte Jungfer, zwar gerade mal 36 Jahre alt, aber mit grauen Haaren versehen. Kein Wunder angesichts der verschmutzten Umwelt draußen vor den Fenstern. Das Radio bringt ständig neue Mordnachrichten aus Detroit (vermutlich ihrer Heimatstadt), aber noch nichts Neues vom Dritten Weltkrieg. Sie macht sich einen Assam-Tee und steckt sich eine Zigarre an. Nun kann’s weitergehen mit ihrem Roman: die Abenteuer ihrer (bis dato namenslosen) Heldin im Kampf gegen den Kriegsherrn der Saturnmonde.

Sie muss einen Mikrofilmpunkt nach Titan City bringen. Als störend, aber auch motivierend erweist sich die Beziehung der Heldin zu Raumagent 409. Er ist zwar namenlos, was seinen grauen, farblosen Augen entspricht, aber wacker – und ein Witwer vom Mars. Nin erwischen ihn die Schergen des Kriegsherrn, zumindest fast. Kann er durchhalten? Die Heldin ruft Janos von der Titan-Polizei zu Hilfe. Wird sie rechtzeitig eintreffen? Unterdessen erreicht die Heldin die Zentrale von Titan City, doch dort erlebt sie eine böse Überraschung…

Unsere Autorin fällt nichts ein, also nimmt sie erst einmal Bad. Das Radio hat sie abgestellt. Da, ein Einfall, während die Wanne erst halbvoll ist, dann rasch zurück zur Wanne, in letzter Sekunde, bevor diese überlauft. Danach nochmal eine Tasse Tee und eine Zigarre, vielleicht schafft sie heute noch die Fertigstellung der Geschichte und rettet ihre Heldin. Doch auch die Rettung des Helden 409 erweist sich als mühsam: Er steht unter Drogen…

Mein Eindruck

Statt ihre giftige und mörderische Umgebung positiv zu beeinflussen, lässt die Autorin ihre Phantasie spielen, indem sie ihre Stellvertreterin, die Heldin, Agentenabenteuer erleben lässt. Der Mann 409 hat eine ausgefeiltere Vita als die Heldin oder gar die Autorin. Geht es in Wahrheit um ihn, fragt sich die Autorin bang. Da sie selbst eine „alte Jungfer“ ist, verfügt sie über keinen Mann in ihrem Leben. Welche Gründe es für ihr Alleinleben gibt, verschweigt sie uns. Vielleicht zieht sie die Isolation der giftigen Umwelt vor, als Sicherheitsmaßnahme.

Was ich nicht verstanden habe, ist die Rolle der „Earther“ in der Fiktion. Der Marsssiedler 409 soll seine Familie durch irdische Saboteure verloren haben und will dafür an der Erde wohl Vergeltung üben: ein Earther?

19) Ursula K. Le Guin: The Day Before the Revolution (1974, In Memoriam Paul Goodman 1911-1972)

Die Revolution der Anarchisten dauert immer noch an, doch sie begann an einem Tag vor einem Vierteljahrhundert, als Odo Laia ihren Freund Taviri Asieo suchte, der gerade auf einem Platz gegen Steuern wetterte. 1400 Anhänger Taviris und Odos wurden damals eingesperrt und viele starben im Gefängnis. Doch heute ist Odo wieder frei, hat mit ihrem in der Zelle geschriebenen politischen Schriften die Revolution ausgelöst. Sie ist eine alte Frau von 72 Jahren und nach einem Schlaganfall behindert, aber immer noch aktiv.

Ihr Sekretär Noi schreibt jetzt die Briefe an die Rebellen in abtrünnigen Provinz des Staates Thu. Er und viele weitere Anhänger verehren Odo Laia für das, was sie erreicht hat. Aber sie bemitleidet sich ob dieses gebrechlichen Körpers, in dem sie sich nun eingesperrt vorkommt, und bricht zu einem Spaziergang auf die Straße auf. Sie kommt bald ins Schnaufen. Wer bin ich jetzt, fragt sie sich. Eine Anhängerin findet sie, bringt sie zurück. Im Haus, der ihrer Bewegung als Hauptquartier dient, freut man sich auf den Generalstreik: Morgen beginnt die Revolution! Doch ohne sie, entscheidet Odo müde…

Mein Eindruck

Keine Autorinnenanthologie wäre vollständig ohne eine Story von Ursula K. Le Guin. Die Autorin ist ein hochdekorierte Wissenschaftlerin, Tochter eines Anthropologen, und hat sich intensiv mit der Idee der Anarchie und den Theoretikern des Anarchismus beschäftigt. Daraus destillierte sie den bahnbrechenden Roman „Planet der Habenichtse“ und die vorliegende Erzählung.

Wenig passiert, doch etwas geht zu Ende und etwas anderes beginnt. Auch das ist notwendiger Teil einer Revolution. Odo erinnerte mich an Mahatma Gandhi, der ja auch den Prozess der Umwälzung in Gang setzte, erst in Südafrika, dann in Indien, das von den Briten beherrscht wurde. Als 1947 die Unabhängigkeit ausgerufen wurde, ging dieser Wandel fast spurlos an ihm vorüber, obwohl er ihn in Gang gesetzt hatte.

Die Story ist ein Porträt des Revolutionärs als alter Mensch, der dem Wandel unterworfen ist wie alles andere auch. Doch statt des Triumphes angesichts der bevorstehenden Erreichung des Ziels zieht sich der Revolutionär müde zurück: sollen andere den Stab übernehmen.

20) Lisa Tuttle: The Family Monkey (1977)

Billy Peacock hat es um das Jahr 1900 aus Tennessee ins östliche Texas verschlagen. In Nacogdoches findet er Arbeit und Logis beim strengen Vater von Florrie, seinem Schwarm. Er will sie gerade anbaggern, als ein Lichtblitz vom Himmel in den nahen Wald fällt. Florrie saust sofort los, doch es wird bereits dunkel. Als sie an der Lichtung des Friedhofs ankommen, wo das Objekt vom Himmel gefallen ist, kehrt sie deshalb um, um eine Laterne zu holen. In deren Licht entdecken sie im Wrack der Metallkapsel ein kleine Lebewesen mit graugrüner Haut. Sie nehmen es mit nach Hause in Gästehaus, damit Paps nicht sagen kann, sie hätten es vor ihm versteckt, und nennen es spontan „Pete“.

Das wie ein alter Mann mit loser Haut aussehende Lebewesen ist harmlos, hat aber Schwierigkeiten, sich an die Eigenarten der Erdbewohner anzupassen. So kennt es etwa Schlaf nicht, und erst recht keine Träume. Durch seine Empathie bekommt es aus den Träumen der in der Umgebung lebenden Menschen allerlei mit, und das ist nicht immer schön. Nur der Schlaf kann es davon erlösen.

Emily ist die Schwester von Florrie, und sie fürchtet bei ihrer Rückkehr aus New York City als einziges ihren strengen Vater, der rein gar nichts von ihren künstlerischen Ambitionen hält. Mit 33 Jahren schon eine alte Jungfer und obendrein noch ledig, bliebe ihr eigentlich nur zu tun übrig, seinen Haushalt zu führen, meint Vater. Alles, bloß das nicht, klagt Emily innerlich, und findet Zuflucht bei Florrie, die inzwischen zwei Kinder hat, das dritte ist unterwegs. Die quartiert sie im Gästezimmer ein, dann zeigt sie Emily ihren Mitbewohner Pete. Der lebt im Nebenhäuschen für Brautleute.

Mit Pete hat Emily eine willkommene erotische Erfahrung voller Zärtlichkeit, denn danach sehnt sich ihr ganzes Sein. Für Pete ist es daher sehr leicht, empathischen Zugang zu ihr zu finden. In einer zweiten Phase versucht er, ihr die Urangst vor dem Vater zu nehmen, und es kommt zu einem dramatischen Zwischenfall, bei sich ihr Vater um ein Haar selbst tötet.

Die Generationen ziehen ins Land, doch Pete altert nicht. Florries Enkelin Jody hat die Telepathie und das Traumwandern von Pete beigebracht bekommen. Ihr Können wird auf eine harte Probe gestellt, als weitere Aliens landen, um Pete wieder mit „nach Hause“ zu holen. Jody und Pete stehen vor einer schweren Wahl: Wenn er mit seinen Artgenossen heimkehrt, soll sie dann wie ein einsames Monster, das er zuvor war, zurückbleiben – oder darf sie mit ihm gehen?

Mein Eindruck

Die psychologischen Vorgänge werden mit größter Intensität, Einfühlsamkeit und Sorgfalt geschildert. Nur so kann der Leser nachvollziehen, wie es Emily gelingt per telepathischer Fernsteuerung gelingt, ihren Vater zu verletzen. Jody versucht diese Manipulation ebenfalls, doch sie wird von Petes Artgenossen unterbrochen. Denen fällt es natürlich leicht, Telepathie anderer zu handhaben, denn sie kennen kaum etwas anderes.

Worauf es der Autorin unterm Strich ankommt, ist die Aussage, dass es stets Verluste geben wird, wenn Menschen auf Aliens treffen und es einen echten Austausch dabei gibt. Jody würde ihre Gabe der Telepathie natürlich als Gewinn bezeichnen, aber der Verlust ihres einzigen Kommunikationspartners trifft sie hart. Würde es Pete nicht genauso gehen? Aber nein, denn er ist jetzt endlich, nach all den Jahren der Einsamkeit und der Entbehrungen, wieder unter seinesgleichen. Selbst wenn sie seinen Kontakt zu den Erdlingen suspekt und unappetitlich finden.

Alles in allem hatte ich mir jedoch von dieser preisgekrönten Novelle, die in zahlreichen Anthologien zu finden ist, mehr versprochen. Die Autorin hält den Wirkungskreis des Dramas zwischen Pete und den Frauen – nur sie nehmen Kontakt auf – sehr eng an den Figuren, so dass keinerlei nationale oder globale Wirkungen geschildert werden. Das ist gut fürs Drama, besonders im Abschnitt „Emily“, aber nicht für die Spannung. Und von Action kann keine Rede sein.

21) Joan D. Vinge: View from a Height (1978)

Emmylou Stewart ist seit 20 Jahren unterwegs im Weltraum, begleitet nur von ihrem Ara-Papagei Ozymandias alias Ozzy. Sie fliegt ihr einsames Sternenobservatorium zum Nordpol des Sonnensystems und darüber hinaus, nur alle zwölf Tage unterbrochen von einer Antwort, die Harry Weems, ihr NASA-Betreuer, ihr schickt. Sechs Lichttage ist sie schon von Zuhause entfernt, und sie hat Heimweh.

Manchmal kriegt Emmylou auch einen Wutanfall. So etwa jetzt, als Harry ihr mitteilt, dass es für ihren Zustand endlich eine Heilmethode gebe. Ihr „Zustand“ ist der des völligen Fehlens einer Immunabwehr. Schon von klein auf musste sie in einer durchsichtige Blase leben, und nicht mal Daddy und Mami durften sie richtig in den Arm nehmen. Später ging das dann auch nicht mit ihrem Freund Jeffrey, der Astronaut werden wollte. Die Astronauten, ging Emmylou auf, waren genauso wie sie: eingehüllt in eine Blase. Dort draußen im Weltraum konnte sie wie die anderen sein, und alle waren gleich.

Die NASA schmeißt eine Feier zu Ehren der Überquerung der 1000-AE-Linie. 1000 AE oder Astronomische Einheiten entsprechen 150 Milliarden Kilometern – oder eben sechs Lichttagen. Emmylou, der Sturkopf, feiert nicht, sondern bringt ihre fliegende Arche auf Vordermann, repariert das aus Unachtsamkeit geschrottete Teleskop und dergleichen. Auf zur 2000-AE-Marke!

Mein Eindruck

SF und Anthropologie treffen hier einander mal wieder, denn schließlich ist die mit vielen Preisen ausgezeichnete Autorin Joan D. Vinge (die offenbar immer noch den Nachnamen ihres ERSTEN Mannes trägt) von Haus aus Anthropologin. Sie zeigt in ihrrer vielfach abgedruckten Erzählung mit viel Einfühlungsvermögen, wie auch eine Frau die Grenze des Lebensraums der Menschheit nach draußen verschieben kann – etwas, was bis dato das Vorrecht von rechten Kerlen gewesen war.

Die Autorin muss eine Antwort auf die Frage finden, welche Art von Frau eine solche Reise ohne Wiederkehr antreten könnte. Die Antwort ist einfach: eine Frau, die schon immer abgesondert in einer keimfreien Blase gelebt hat. Sie kann sich von einem Ort lösen, an dem sie immer eine Fremde gewesen wäre, nur um einen Ort zu erkunden, an dem sie die erste ist. Ihr Blickpunkt wandelt sich vom Individuellen zum Universellen. Sie hat das Privileg, das Sonnensystem, ja, das Universum allgemein aus einer Höhe zu erblicken, die unverstellt von Wolken und Streulichtern ist. Es ist ein Weg zur Erkenntnis und Transzendenz.

Unterm Strich

Die Geschichten sind teils spannend, meist engagiert, vielfach anrührend, aber in ihrer Zusammenstellung sehr vielfältig. Für den Zeitraum zwischen 1944 und 1978 ist die Auswahl durchaus repräsentativ. Sie umfasst etliche mittlerweile klassische Autorinnen wie etwa Ursula K. Le Guin oder Kate Wilhelm. Aber sie enthält auch einige Neuheiten von Außenseiterinnen, die man in deutschsprachigen Anthologien vergeblich sucht – oder sie mühsam in den Anthologie der unterschiedlichsten Verlage suchen muss, etwa bei Septime (Tiptree) oder Luchterhand (Sonya Dorman Hess und andere). Eleanor Arnason scheint es nie bis zu uns geschafft zu haben, und sie hat nicht mal eine deutsche Wikipedia-Seite. Da ist noch viel Luft nach oben.

Sehr willkommene Anhänge sind die Biografien der Autorinnen, die hier vertreten sind, und die Bibliografie „Recommended Reading“. In dieser Bibliografie kann der Leser noch viele Entdeckungen machen, denn so manche Autorin wurde hierzulande noch nie veröffentlicht. Nicht zu vergessen, dass die Herausgeber eine beachtenswerte und kenntnisreiche Einführung beigefügt hat, in der sie mal eben kurz die Geschichte der weiblichen SF nachvollzieht. Das gab es viele Tiefen, aber letztendlich immer mehr Höhen. Eine spannende Lektüre nicht nur für Insider und Fans.

Über die Titelillustration darf man schmunzeln, aber die beiden Damen auf dem Cover, die hier weiblichen Attribute zeigen dürfen, tragen immerhin schon technische Geräte in Händen: eine Taschenlampe und einen Komminikator, wie es aussieht.

Taschenbuch: 440 Seiten
ISBN-13: 9780156000314

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