John Marrs – The Passengers. Du entscheidest über Leben und Tod. SF-Roman

Gekapert und gekidnapped

Acht Menschen werden in ihren selbstfahrenden Autos entführt und auf einen tödlichen Kollisionskurs geschickt. Wenn es den Behörden nicht gelingt, die Fahrzeuge anzuhalten, wird eines nach dem anderen explodieren. Doch damit nicht genug: Der Täter streamt die Höllenfahrt seiner Passagiere live im Internet und fordert die Zuschauer auf, abzustimmen: Wer hat es verdient zu überleben? Und wer muss sterben?

Der Autor

Der britische Autor John Marrs arbeitete über 20 Jahre lang für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, u.a für den „Guardian online“. Mit dem Roman „The One“ gelang ihm in England der Durchbruch. Eine Verfilmung durch Netflix ist in Vorbereitung. Marrs lebt und arbeitet in London.

Handlung

Die nahe Zukunft in einer Gegend nördlich von London. Acht passgiere besteigen ihre autonomen Fahrzeuge. Seit die Regierung die Klasse-5-Autos eingeführt hat, die sich selbst steuern, ist die gesamte Infrastruktur der Straßen auf die Selbstfahrautos umgestellt worden. Für die acht Passagiere ändert sich jedoch alles in dem Moment, als ein Hacker das Kommando über ihr jeweiliges Auto übernimmt und ihnen ankündigt, dass sie in 150 Minuten sterben werden. Alle bis auf einen. Widerstand ist zwecklos. Die Türen lassen sich nicht mehr öffnen, die Kommunikation mit der Außenwelt ist unterbrochen bzw. völlig vom Hacker kontrolliert.

Doch wer von den acht Entführten soll überleben? Wer ist es wert, nicht von der Ladung Sprengstoff, die sich im Kofferraum befindet, zerfetzt zu werden? Diese Frage stellt der Hacker zwei Instanzen. Die erste die breite Internetöffentlichkeit, die in den sozialen Netzwerken zu Wort kommt. Als durch mehrere Explosionen klar wird, dass der Hacker Ernst macht, tauchen binnen kürzester Zeit Abstimmungsforen mit Ranglisten auf.

Tödliche Entlarvung

Aufgrund der nun folgenden Ereignisse und Enthüllungen ändert sich jedoch die Rangfolge fortwährend. Aus der werdenden Mutter wird plötzlich ein männermordender Vamp, aus der Promi-Schauspielerin ein pädophiles Monster, aus der Asylsuchenden ein Sozialschamrotzer, und wieso kann diese pakistanische Mutter von fünf Kindern eigentlich nach acht Jahren immer noch kein Wort Englisch verstehen? Dass die entführte Polizistin davonkommen muss, ist eigentlich unstrittig, bis zu jenem Moment, als der Hacker sie als Erpresserin outet.

Libby Dixon

Die zweite Instanz, die über Tod und leben der Entführten abzustimmen hat, ist die Unfalluntersuchungskommission der Regierung. Diese ultrageheime Kommission verpflichtet Zivilisten wie Libby Dixon, an einem geheimen, stetig wechselnden Ort zu tagen. Libby, eine psychiatrische Krankenschwester, hasst diese Zusammenkünfte, denn der Vertreter der Regierung enthält den anderen Mitgliedern Informationen vor und drängt sie zu Entscheidungen, die ihm genehm sind, meist gegen das Unfallopfer. Aber nicht heute und nicht mit Libby: Sie hat mit eigenen Augen einen Autounfall gesehen und weiß, dass autonome Fahrzeuge unangemessen reagieren können. Und seit ihr Bruder Nicky sich umgebracht hat, fühlt sie eine schwere Schuld auf sich lasten. Als Jack, der Regierungsvertreter, vom Hacker als Steuerhinterzieher und Betrüger entlarvt wird, kennt ihre Empörung keine Grenzen mehr.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich unter den acht Entführten auch ein Mann befindet, von dem sie seit Wochen träumt und den sie bislang vergeblich in allen Netzen gesucht hat: Jude Harrison, mit dem sie vier fabelhafte Stunden in einem Pub verbracht hatte, befindet sich zwar unter den Entführten, doch das Ende ist ihm egal: Dies sollte sowieso sein letzter Tag im Leben werden…

Mein Eindruck

Die Kommission muss über Leben und Tod entscheiden, aber das stimmt gar nicht. Die Social Media hereinkommenden Abstimmungsraten und Hashtags spielen ebenfalls eine Rolle, wie Libby konsterniert erleben muss. Während also Claire Arden, bei der gerade die Wehen eingesetzt haben, per Kommissionsentscheid leben soll, entscheiden die Millionen User da draußen anders: Sie wollen, dass Libby ihren Jude bekommt. Als ob das nicht völlig schwachsinnig wäre, kommentiert Jack Larsson, der in dieser schwarzen Komödie den Advocatus diaboli spielt.

Der Hacker zieht sich durch Schweigen aus der Affäre, was nicht gerade hilfreich ist. Libby kommen erhebliche Zweifel an den Versprechen und der Ehrenhaftigkeit des Hackers. Gibt es ihn überhaupt? Warum ist Jude Harrisons Auto leert, als man es endlich öffnet? Libby und der Leser erhalten ihre Antworten erst sechs Monate später, als „Jude Harrison“ sie zu einem Stelldichein mit Tücken einlädt.

Prominentes Opfer

Zu diesem Zeitpunkt ist Libby bereits weltberühmt. Sie kann keinen Schritt mehr tun, ohne angestarrt zu werden. Wildfremde Leute packen sie und machen mit ihr ungefragt ein Selfie. Ein verkappter Blogger zeichnet per Handy ihre Unterhaltung mit ihrer Mutter auf und stellt sie ungefragt ins Netz. Ihre Haustür hat fünf Schlösser und ringsum sind die Nachbarhäuser von Journalisten bewohnt, die jede ihrer Bewegungen belauern. Promi-Status? Nein, danke!

Libby, die Hauptfigur, ist mittlerweile Pressesprecherin des Aktionsbündnisses „Transparenz in der Künstlichen Intelligenz“. Damit beschäftigt sie sich mit dem Hauptthema der traumatischen Erfahrungen jenes verhängnisvollen Dienstags: Wie konnte die KI an Bord der Autonomen Autos so leicht gehackt werden, wenn doch die Regierung, die die Einführung der Autonomen Autos– laut Jack Larsson – massiv gefördert hatte, doch deren hundertprozentige Sicherheit garantierte? Und jenes grausige Unfall auf der Monroe Street von Birmingham, dessen Zeugin Libby wurde: Wie konnte die KI an Bord des Unfallverursachers zulassen, dass drei Menschenleben vor Ort für das Leben des Passagiers geopfert wurden?

KI und Ethik

Das ist eine der heikelsten ethischen Fragen überhaupt, die mit der Einführung der KI einhergeht, ganz egal, in welchem Lebensbereich. Darf es eine Rolle spielen, wenn jemand drei Monate mit der Miete im Rückstand (Achtung: schlechte Bonität) oder vielleicht vorbestraft (schlechter Leumund) ist? Unter massivem Druck rückt Jack Larsson endlich mit der Wahrheit heraus: Ja, das spielt eine Rolle. Und wie es aussieht, gibt es eine ganze Hierarchie derer, welche für die Gesellschaft „wertvoller“ sind als andere. Er sieht sich natürlich gerne unter den Wertvollsten, ganz ungeachtet seiner Hinterziehung von Steuern.

Drama und Spannung

Wie in einem klassischen Drama baut der Autor die emotionale Spannung, der sich die Hauptfigur Libby Dixon ausgesetzt sieht, immer weiter auf, bis es zu einer Krise kommen muss, als die gekaperten Autors ihren – vermeintlich tödlichen – Kollisionspunkt erreichen. Es ist ein Countdown, was immer gut wirkt, und doch bleibt noch viel Platz für Überraschungen. Mehr darf nicht verraten werden.

Weibliche Leser kommen vor allem dann auf ihre Kosten, wenn der Passagier weiblich ist. Das liegt auf der Hand. Der Autor dreht die Schraube in zwei Durchgängen an: Erstens erleiden die weiblichen Passagiere ein oberflächliches Verdikt, als sie auf den ersten Blick schuldig oder unschuldig erscheinen, ganz wie der Hacker es enthüllt. Doch es gibt einen zweiten Durchgang, und den erlebt der Leser quasi hautnah mit. Jetzt verkehrt sich die wahrgenommene oder eingeflüsterte Wahrheit in ihr Gegenteil. Am Ende verzeihen wir sogar dem Bigamisten.

Das Publikum ist nicht so gnädig, weder in den Netzen noch draußen auf der Straße. Autos der Gekidnappten fliegen nicht nur, wie angedroht, in die Luft, sie werden auch von Gaffern mit Molotow-Cocktails in Brand gesetzt. Es ist gerade so, als würden die Leute verrücktspielen, und zwar in ihrem eigenen bekloppten Rollenspiel, wundert sich Libby. Die religiös eingestellte Dame in der Kommission stimmt ihr zu – und zitiert die Bibel, was Bigamisten angeht. Da war doch ein gewisser Lamech – und so weiter.

Ausblick

Am Abend des Dienstag ist noch nicht das Ende des Dramas gekommen. Für Libby kommt das dicke Ende nach sechs Monaten. Drücken wir ihr die Daumen, als sie vom Hacker „eingeladen“ wird, ihn zu treffen – unter dem Decknamen „Jude Harrison“…

Die Übersetzung

Die Übersetzung ist flüssig zu lesen und befindet sich kognitiv auf dem neuesten Stand der Technik hinsichtlich Telekommunikation und Informationstechnik (Software usw.), Hacking und v.a. DNS-Matching. Letzteres ist ein Verweis auf das erste Buch des Autors, das bei Heyne erschien: „The One“.

S. 377: „in eine Ecke[s] des Raumes…“: Das S ist überflüssig.

Unterm Strich

Ich habe den Roman in wenigen Wochen, mit einer langen Pause, gelesen. Die lange Pause ergab sich aufgrund eines Durchhängers der Spannung im zweiten Drittel. In dieser Durststrecke müssen die Mitglieder der Kommission über die übriggebliebenen titelgebenden Passagiere abstimmen. Hopp oder top? Die vorletzte Kandidatin ist Police Constable Heidi Cole, eine der beiden Frauen, mit denen Sam Cole verheiratet war. Eigentlich wäre es interessant zu erfahren, was wirklich in Heidi Cole vor sich geht und warum sie ihren bigamistischen Mann erpresst hat. Hat sie ihn wirklich dafür verdammt? Das darf hier nicht verraten werden. Wie auch immer: Libbys Schwarm Jude Harrison soll der letzte in der Reihe sein. Die Abfolge ist also extrem vorhersehbar und somit langweilig.

Aber ich blieb hartnäckig, und es hat sich gelohnt. Der Autor geizt nicht mit Überraschungen: Warum Jude Harrisons Auto leer, zum Kuckuck? Existiert Jude überhaupt? Zwei Nachspiele sechs Monate und zwei Jahre später drehen die Spannungsschraube ordentlich hoch und stellen alle Annahmen über das, was wohl wirklich geschehen ist, auf den Kopf. Soviel sei verraten: Es gibt mindestens zwei weitere Tote. Man sieht: Es lohnt sich, konsequent weiterzulesen.

Taschenbuch: 496 Seiten
Originaltitel: The passengers
Aus dem Englischen von Felix Mayer
ISBN-13: 9783453320727

www.heyne.de

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