Deutschstunde mit Paul Celan
Von Norbert Sternmut
Um den 20. April 1970 stieg Paul Celan von einer Brücke hinab in die Seine und ertrank unbemerkt, obwohl er ein guter Schwimmer war. Am 01. Mai stieß ein Fischer auf die Leiche, rund zehn Kilometer flussabwärts. Auf Celans Schreibtisch entdeckte man eine Hölderlinbiographie, aufgeschlagen an einer unterstrichenen Stelle…
„Manchmal wird dieser Genius dunkel und versinkt in den bitteren Brunnen seines Herzens.“
Im Herbst 1976 innerhalb der Technischen Oberschule (TO) in Stuttgart war ich gerade auf dem Weg, mein Abitur nach einer Ausbildung zu machen. An der TO ging es naturgemäß eher um technisch-naturwissenschaftliche Inhalte mit zentralem Schwerpunkt auf den Fächern Mathematik, Physik, Chemie. Fächer wie der Deutschunterricht fanden sowohl im Lehrplan als auch im Allgemeinen bei den Schülern wenig Beachtung.
Aber es gab ihn, den Deutschunterricht, und eines Tages erschien unser Deutschlehrer schweigend zum Unterricht, trat bedächtig an die grüne Tafel, nahm ein Stück Kreide und begann langsam und ohne ein Wort zu sagen an die Tafel zu schreiben:
„Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts…“
In der Klasse verstummte nach und nach jeder Geräuschpegel.
„…wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng…“
In den Jahren zuvor hatte ich die Werke Hesses gelesen, Nietzsches Werk, Schopenhauer, aber die Worte an der Tafel hatte ich bisher weder gehört noch gelesen.
„Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen…“
Kein Räuspern, kein Mucks in der Klasse, während unser Lehrer über die ganze Länge der Tafel schrieb, Wort für Wort:
„der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland…“
Ich sehe noch heute genau jenes Bild, der Lehrer schreibend an der Tafel, schweigend mit dem Rücken zur Klasse. Es war eine sonderbare Stimmung im Raum. Das langsame Schreiben mag wohl eine halbe Stunde gedauert haben, aber in dieser kurzen Zeit geschah, dass ich in einer Weise bewegt wurde, die mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist. Es war meine erste Erfahrung mit Paul Celan, die mich nicht mehr loslassen sollte:
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith
Obwohl mir und jedem anderen in der Klasse damals klar war, dass es im beschriebenen Gedicht um die Konzentrationslager der Nazis ging, eindeutig beschrieben bis hin zur Reimform:
„der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau…“
…war doch viel mehr spürbar über die Worte hinaus, eine tiefe, neue, mir damals unbekannte Form der Sprache zwischen Wirklichkeit und Metapher, einer Sprache losgelöst von einer logisch- grammatikalischen Funktion: „wir trinken und trinken“ – dieser unerbittliche Rhythmus der zentralen Metapher mit gleichmäßig wiederkehrenden Hebungen und Senkungen ohne jede Interpunktion.
In diesem Raum der TO, in dem es bisher hauptsächlich um Formel und Logik ging, war etwas anderes eingezogen, das sich jeder formelhaften Beschreibung in klarer Kausalität entzog. Darin lag für mich eine erste große Faszination, die ohne jede weitere Interpretation oder Deutung vorhanden war. Es war mir klar, dass es sich hier um einen Sprachgebrauch handelte, der wie das Vokabular einer Fremdsprache neu gelernt werden müsse, wenn dies überhaupt vom Sprachansatz möglich sein sollte. Auch wenn ich später zahlreiche Deutungsansätze zum Werk Paul Celans las, blieb an erster Stelle die Wirkung über jede Deutung hinaus, eine Sprache des im Grunde Unaussprechlichen.
In seiner Art forderte Celans Werk die philologische Forschung geradezu heraus und sie nahm die Herausforderung gerne an. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit seinem Werk ist in Quantität und Intensität mit der zu keinem seiner Generationskollegen vergleichbar. Und die Zahl der Untersuchungen nimmt weiter zu, seit der Nachlass durch das Deutsche Literatur-Archiv Marbach übernommen und der Forschung dadurch zugänglich wurde.
Gerne beschäftigte ich mich in Folge auch mit dem sozialen Hintergrund zu Celans Werk. Das Ausnahmewerk konnte nur denkbar sein in Bezug zu einer persönlichen Ausnahmesituation geprägt von unvorstellbarem psychischem Schmerz innerhalb einer ständigen fortwährenden schwerwiegenden traumatischen Krise.
Später beschrieb ich in meiner Diplomarbeit zum Thema „Suizid und Suizidversuch als notwendige Folge haltloser Existenz“ (1987) die Inhalte und Auswirkungen traumatischer- und sonstiger sozialen Krisen bis hin zum Begriff der „Haltlosigkeit“ in Bezug zur Existenzphilosophie:
„Nach den bisherigen Erfahrungen muss der absurden Existenz nicht notwendigerweise der Suizid folgen. Alle weithin bekannten Literaten und Philosophen, die von der Absurdität der menschlichen Existenz überzeugt waren, haben sich das Leben weitgehend nicht genommen. Nicht Schopenhauer, der an reich gedecktem Tisch den Selbstmord pries, nicht Nietzsche, der den Tod gelobt hat, den freien, nicht Kierkegaard, Beckett, Sartre und auch nicht Camus, der durch einen Unfall umkam. Und sie taten recht daran: der absurde Mensch ist nicht geneigt, die Absurdität des Daseins durch suizidale Handlungen noch übertrumpfen zu wollen. Der Suizid ist für ihn keine Lösung, denn seiner Ansicht nach sind Proteste gegen das Leben genauso unsinnig, wie das Leben selbst. Es muss also etwas Anderes sein, was Menschen aus dem Leben treibt, oder es muss zumindest noch etwas dazukommen. Der absurde Mensch sagt sich: das Leben muss so, wie es ist, nämlich absolut sinnlos, zu Ende gelebt werden. Unter den Suizidanten waren viele lange Zeit vom Sinn des Lebens überzeugt. Der Absurde nimmt weder Ernst und Würde noch Angst und Verachtung besonders wichtig. Der Suizidant verachtet das Leben, so wie es sich ihm darstellt, und ihm ist es bitter ernst. Der Absurde ist nicht mehr verzweifelt und da es für ihn keinen Weg gibt, kann er auch niemals in eine Ausweglosigkeit geraten. Der Suizidant ist verzweifelt und er ist am Ende seines Lebens angelangt. Er ist haltlos, sieht keinen Sinn mehr in seinem Leben und hat vielleicht nie einen Gedanken bewusst an die Philosophie verschwendet. Er kann somit auch nicht im Ganzen wissen, ob sich das Leben lohnt oder nicht. Er weiß nur, dass er unter diesen Umständen nicht länger leben kann.“
(Aus N. Sternmut: „Suizid und Suizidversuch als notwendige Folge haltloser Existenz“)
Paul Celan konnte 1970 nicht länger leben. Auch wenn der Philosoph Hans-Georg Gadamer aus Gedichten wie „Tenebrae“ einen „christlichen Existentialismus“ herausgelesen hat, war Celan auch kein „christlicher Existentialist“. Auch setzte er sich mit der Philosophie Heideggers auseinander, blieb ihr aber ambivalent gegenüber. Gleichwohl beschreibt Celan die Vision universalen Leidens auch über jedes christliche Denkschema hinaus.
In seiner psychischen Grundsituation sah er keine Möglichkeit mehr zur notwendigen Erholung und Gesundung. Das gesamte Werk Celans ist Ausdruck einer schwerwiegenden traumatischen Krise, geprägt von bedrückenden Erinnerungen, permanent angsteinflößenden inneren Bildern, die dazu führen können, dass die Grenzen zwischen „Wirklichkeit“ und „Einbildung“ verwischen.
Einen ersten traumatischen Inhalt beschrieb er selbst, als seine Eltern 1942 von den Nazis [aus Czernowitz] deportiert wurden. Er erzählte, eines Tages seien die Nazis gekommen und hätten ihn und die Eltern verhaftet. Das sei 1942 gewesen. Sie seien ins KZ gebracht worden. Ein Stacheldrahtzaun habe sie getrennt. Da habe er seine Hand durch die Stacheldrähte gesteckt und seines Vaters Hand ergriffen. Ein Wächter habe es gesehen und Paul kräftig in die Hand gebissen: „Und ich ließ Papis Hand los – denk dir, ich ließ die Hand los und lief davon.“
Sein Vater starb 1942 an Typhus. Seine Mutter wurde von einem SS-Mann ermordet.
Er selbst hatte während der Kriegsjahre die Zeit immer wieder in Arbeitslagern in Rumänien verbracht.
1949 schrieb Celan:
„Was während der Kriegsjahre das Leben eines Juden war, brauche ich nicht zu erwähnen.“
Das Thema behandelte er mit einiger Diskretion. Gleichwohl waren die Kriegsjahre für ihn absolut bedrückend und traumatisch. Celans Werk kreist um sein Trauma, nimmt es gleichfalls als Triebfeder. Die Erinnerungen an die Mutter durchwehen Celans Dichtung. Gleichfalls mit ihr war seine Sprache verbunden, in der er aufging, seine Sprache, die Muttersprache, also auch die Sprache der Mörder seiner Mutter.
Sicherlich bot ihm das Schreiben eine einzige Möglichkeit, dem Trauma soweit wie möglich zu entgegnen oder mit ihm umzugehen und es in etwas „anderes“, also in Poesie zu verwandeln. Letztendlich war es aber keine Möglichkeit, das Trauma zu überwinden oder daran zu gesunden. Ich gehe davon aus, dass ohne dieses tiefgreifende Trauma Celans tiefgreifendes Werk in dieser Form nicht möglich geworden wäre. Allein dieser absolut schmerzliche Spannungszustand lässt m. E. erst dieses tiefgründige, im Grunde unfassbare, über alles hinaussteigende lyrische Werk erklären.
Celans Werk wird aus diesem Grund sicherlich auch weiterhin nicht zum massentauglichen „Bestseller“. Um es vom Leser „transformieren“ zu können, in welcher Form auch immer, braucht es m. E. eine bestimmte innere Affinität innerhalb der eigenen psychologischen Grundvorstellung. Worte verbinden nur, was im Grunde bereits verbunden ist, vielleicht zunächst auch nur unterbewusst. Durch das Lesen und die Beschäftigung kann es ins Bewusstsein treten, was längst übereingestimmt hat.
Es bleibt dem einzelnen m. E. also zu „verstehen“, was er selbst bereits in irgendeiner „Form“ in sich trägt. Affinität wird beim Lesen über das „Gefühl“ bzw. den „Verstand“ nur hergestellt werden, wenn der „Lesestoff“ an vorhandenen „Stellen“ im Gehirn andocken kann. Celan vollkommen zu „verstehen“, würde m. E. kausal den Zustand voraussetzen, der Celan selbst zum Schreiben trieb, letztendlich zum Suizid.
„Das Gedicht verweilt oder verhofft – ein auf die Kreatur zu beziehendes Wort – „
(aus „Der Meridian“, 1961)
Wie sich der Mensch Celan selbst „gedeutet“ hat, kann nur vermutet werden. Die „Deutung“ seines Werks überließ er hauptsächlich seiner Nachwelt. In wieweit er hier von einem eigenen Bewusstsein in der Planung und Vorstellung begleitet war, wird Spekulation bleiben. Vermutlich schrieb er sein Werk aus „einiger Entfernung“ zum eigenen Bewusstsein, zumal zum eigenen Unterbewusstsein, auch wenn er sich durchaus mit den psychologischen Hintergründen von Schizophrenie, Melancholie und Manie befasste. Die medikamentösen Therapien bis hin zu den Schock-Therapien brachten keine Besserung seiner psychischen Notlage. Zu dieser Zeit war die Diagnostik und Therapie von Traumata noch vollkommen unzureichend.
Das Schreiben war und blieb für ihn in dieser Zeit m. E. die einzige Art, mit dieser schweren psychischen Belastung immerhin über die Jahre seines Lebens zu kommen und gleichzeitig eines der größten Werke in der Weltliteratur zu hinterlassen.
„Aber das Gedicht spricht, ja!
Es bleibt seiner Daten ein-
gedenk, aber – es spricht immer
nur in seiner eigenen,
aller eigensten Sache.
(aus „Der Meridian“)
Auch wenn ich die Gelegenheit in Marbach / Neckar gerne weiterhin nutze und schätze, bleibt mir doch immer das „andere“ an Paul Celans Werk, das mit Untersuchung und Forschung nicht aufgeschlüsselt und „erklärt“ werden kann.
Jedes Wort kann im Grunde nur als Versuch einer Annäherung an die „Wirklichkeit“ gedeutet werden, also auch jedes Wort über ein Wort. Beim Werk Celans ist der Versuch der Deutung an sich und in sich von vornherein zum Scheitern verurteilt. Allein das Scheitern in dieser Hinsicht kann als Annäherung an die „Wirklichkeit“ dienen, wie „Sprache“ hier nicht allein als „Transportmittel“ für „Bedeutung“ dient.
Dass in den Schulen der Zugang zu Gedichten insgesamt zumeist und einzig über „Interpretation“ erreicht werden soll, zeigt allein den Versuch, sich das Gedicht „habhaft“ zu machen. Gerade bei Celans Gedichten kann und wird dies nicht gelingen. Und das soll auch so sein.
Damit bin ich mir sicher, dass auch für die folgenden Generationen die Faszination für Celans Werk erhalten bleiben wird und die Forschungen zu keinem abschließenden Ergebnis kommen können. Und wenn Celan sicherlich auch weiterhin, wie heute, wenig im allgemeinen Bewusstsein der Lyrikleser trotz seines großen Bekanntheitsgrades als Dichter der „Todesfuge“ präsent sein wird, so wird sein Werk insgesamt nicht in Vergessenheit geraten.
Auch wenn in hundert Jahren sicherlich kein Deutschlehrer mehr schweigend vor einer grünen Tafel eine weiße Kreide nehmen und langsam und bedächtig Wort um Wort der „Todesfuge“ schreiben wird, so wird es hoffentlich andere Möglichkeiten geben, Celans zu gedenken und weiteren nachfolgenden Generationen ins Bewusstsein zu rufen, soweit dies überhaupt möglich ist und sein wird.
(Ludwigsburg im Mai 2020. Alle Links stammen vom Redakteur.)