Grant Allen – Der Wolverden-Turm (Gruselkabinett 143)


Bewegend: ein Opfer überholter Tradition

Kurz vor Weihnachten 1889: Die junge Maisie Llewelyn erhält von der Millionärin Mrs. West eine Einladung nach Wolverden Hall in Kent, einem der Kurz vor Weihnachten 1889: Die junge Maisie Llewelyn erhält von der Millionärin Mrs. West eine Einladung nach Wolverden Hall in Kent, einem der schönsten und besterhaltenen Herrenhäuser der elisabethanischen Zeit. Manch düsteres Geheimnis aus vergangenen Jahrhunderten haben sich die Gebäude auf dem weitläufigen Gelände noch immer erhalten… (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt das Hörbuch ab 14 Jahren.

Der Autor

Charles Grant Blairfindie Allen (* 24. Februar 1848 bei Alwington nahe Kingston, Ontario, Kanada; † 25. Oktober 1899 in Hindhead, Surrey, UK) war ein kanadisch-britischer Schriftsteller.

Allen schuf ab 1876 ein sehr vielfältiges Werk. Es umfasst Gedichte, Essays, populärwissenschaftliche Beiträge, Schriften über Botanik und Theologie sowie Romane, darunter auch Werke mit kriminalistischem Einschlag. Die englische Wikipedia bezeichnet ihn als „Atheisten und Sozialisten“. Er lieferte die Vorlage zu dem deutschen Spielfilm „Eine Frau mit dem schlechten Ruf“ (1925).

Als Sohn eines irischen protestantischen Geistlichen und bemerkenswerten Gelehrten ist er irischer und frankokanadischer Abstammung. Er wurde teils in Amerika, teils in Frankreich erzogen. Da er ein Stipendium gewann, studierte er klassische Sprachen am Merton College in Oxford. Die Universitätskarriere war schwierig. Zum einen hatte er eine kranke Frau, zum anderen verfügte er nur über geringe Finanzen. Er graduierte 1871 „mit Ehren“.

Als Professor für Philosophie lehrte er ab 1873 Ethik, Latein und Griechisch am Queen’s College, einer neu gegründeten Bildungseinrichtung für Schwarze in Spanish Town, Jamaika. Aus Mangel an Studenten wurde diese jedoch bald wieder aufgelöst und Allen kehrte 1876 nach England zurück, um künftig vom Schreiben zu leben. Grant Allen war ein Freund und Nachbar von Arthur Conan Doyle, dem Schöpfer von Sherlock Holmes.

Zu Wolverden: Im nordenglischen Lancashire gibt es den Fluss Walverden Water ((https://en.wikipedia.org/wiki/Walverden_Water)). In der Bibliografie taucht der Titel „Der Wolverden-Turm“ allerdings nicht eigenständig auf. Vielleicht ist die Story in einer der Story-Sammlungen Allens versteckt.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher und ihre Rollen:

Peter Weis: Erzähler
Annina Braunmiller-Jest: Maisie Llewellyn
Dagmar von Kurmin: Mrs. West
Beate gerlach: Alte Bessie
Louis Friedemann Thiele: Student
Kristine Walther: Yolande
Reinhilt Schneider: Hedda
Bodo Primus: Hohepriester
Claus Thull-Emden: Arzt

Die Macher

Regie führten die Produzenten Marc Gruppe und Stephan Bosenius. Die Aufnahmen fanden im Titania Medien Studio und in den Planet Earth Studios statt. Die Illustration trug Ertugrul Edirne bei.

Handlung

Maisie Llewellyn hat 1889 eine Einladung nach Wolverden Hall in Kent erhalten, und zwar von keiner Geringeren als der Millionärin Mrs. West. Diese war eine gute Freundin ihrer Eltern. Maisie fühlt sich sehr geehrt, zu der Weihnachtsfeier eingeladen worden zu sein und da das Anwesen der Wests, „Wolverden Hall“ in Kent, nach der aufwendigen Renovierung eine wahre Sehenswürdigkeit geworden ist, freut sich die junge Frau auf den Aufenthalt.

Es liegt bereits Schnee, aber eine Kutsche holt sie vom Bahnhof ab, und am Eingang wird sie von netten Männern willkommen geheißen, die sie zu ihrem Zimmer im Parterre geleiten. Sie freut sich auf die im Brief versprochenen Tableaux Vivants ((https://de.wikipedia.org/wiki/Tableau_vivant)), also „lebende Bilder“. Sie bewundert das Interieur und den Blick, den sie über den schneebedeckten Park auf den Turm der Dorfkirche hat.

Mrs. West nimmt Maisie am Arm und führt sie zu ebenjenem Turm. Er sei kürzlich restauriert worden und sehe wieder prächtig aus. Sie passieren ein Gräberfeld und ein Mausoleum. Ha, das ist ja wie drunten in Sussex. Als sie die Kirche betreten, spottet die alte Bessie über Mrs. West und prophezeit ihr kommendes Unheil. Der alte Turm war den Gebräuchen gemäß errichtet worden, denn er wurde mit dem Blut einer Jungfrau geweiht. Bis es dann zur Verschwörung gegen den Turm gekommen sei, jaja, keift die Alte. Maisie bekommt es mit der Angst zu tun, und Mrs. West geleitet sie fort. Ob die alte Bessie wohl eine Hexe ist?

Nachdem sie sich umgezogen hat, schließt sich Maisie dem Dinner an, dann genießt sie den Anblick der Tableaux Vivants. Ein Student aus Oxford sitzt neben ihr und erklärt ihr, was gerade gezeigt wird. Bild Nummer eins zeigt „Jephthas Tochter“ ((https://de.wikipedia.org/wiki/Jiftach#Jiftachs_Tochter)): Selbige wird ja in der Bibel bekanntlich geopfert. Dann folgt der alte Klassiker: „Opferung der Iphigenie [auf Tauris]“ ((https://de.wikipedia.org/wiki/Iphigenie)). Merkwürdig ist lediglich der Auftritt zweier schöner Frauen, die nichts mit dem Thema des Bildes zu tun.

Als Maisie ihren Tischnachbarn fragt, entdeckt sie, dass nur sie in der Lage ist, die beiden Frauen zu sehen. So hat sie nichts dagegen, als sich die beiden schönen Damen neben sie setzen. Sie behaupten, dass der Tod nur das Tor in die andere, schönere Welt sei. „Mors ianua vitae“, so lautet das Motto über dem Eingang zur Gruft der Wolverdens. Die Damen finden heraus, dass Maisie nicht nur eine Vollwaise, sondern auch ledig und folglich noch Jungfrau ist.

Maisie realisiert, dass Yolande und Hedda, so heißen die Damen, Geister sind. Das nächste Bild zeigt „Ophelias Tod“ aus Shakespeares „Hamlet“. Auch Mrs. West kann die Geister nicht sehen, aber als Maisie schließlich auf ihr Zimmer geht, wird sie bereits von den beiden erwartet. Sie geben an, sie hätten sich „verlaufen“. Maisie fallen ihre alten keltischen Broschen mit den verschlungenen Mustern auf. Als sie sie zu einem Spaziergang einladen, kann sie nicht nein sagen.

Bald erscheint die Kirche mit ihrem wuchtigen Kirchturm im Mondschein, ebenso die Familiengruft mit der ominösen Inschrift „mors ianua vitae“: Die Schwestern geben an, hier drin zu leben. Drinnen bestaunt Maisie, wie die Schwestern von innen leuchten. Sie sieht Schatten an der Wand: ein Hohepriester erwartet sie und stellt Fragen. In Maisies Adern, soviel ist klar, fließt königliches Blut, und zwar das von König Artus. Ihre Aufgabe bestehe nun darin, mit ihrem Blut den Turm den Göttern Odin und Hercules zu weihen. Der Priester nennt sich Baumeister Wulf.

Doch wie soll das Opfer vollzogen werden, fragt Maisie. Yolanda und Hedda hätten sich einmauern lassen, doch sie selbst soll sich von den Zinnen des neuen Kirchturms stürzen. Natürlich aus freiem Willen. Maisie ist bereit, hat keine Angst, und die anderen drei geleiten sie die Stufen der Wendeltreppe hinauf. Die alte Bessie ist erleichtert: Endlich! Sie trägt den Schlüssel bei sich, mit dem sich die kleine Tür öffnen lässt, die auf den Wandelgang ringsum die Turmspitze führt. Es sind nur drei Schritte bis zur nächstgelegenen Zinne, drei kurze Schritte.

Bald werde Maisie unsterblich sein, bald, flüstern die Geister und Bessie. Doch da gibt es eine entscheidende Störung der Opferung. Der Turm beginnt zu wanken…

Mein Eindruck

Der Stimmung einer wachsenden Störung in der Realität und einer zunehmenden emotionalen Anspannung kann sich kein empathischer Zuhörer entziehen. Eine in jeder Hinsicht unschuldige Frau kommt an einen Ort der heidnischen Traditionen. Die Lebenden Bilder weisen auf das, was ihr zustoßen soll, voraus: die Opferung von Jungfrauen sowie der Selbstmord Ophelias, Hamlets Geliebter und Tochter des heimtückischen Polonius.

Allerdings ist es schon etwas verwunderlich, dass dieses düstere Thema ganz offen im Haus von Mrs. West dargestellt wird. Denn es war ja Mrs. West selbst, die den alten Kirchturm, auf dem solche Jungfrauen geopfert wurden, ersetzen ließ. Während also einerseits die architektonische Tradition beendet worden ist, findet die Darstellung der Unsitte des Jungfernopfers weiterhin Gebrauch. Das Heidentum ist somit noch immer halb gültig, und als Beleg diene dem Hörer die völlige Abwesenheit eines christlichen Priesters. Die Gegenseite hat dagegen einen geisterhaften Hohepriester aufzubieten. Dieser behält um ein Haar die Oberhand, als der Kampf um Maisies Seele entbrennt.

Der atheistische Autor Grant Allen lässt also auf dem Lande nicht nur Tradition und Moderne (es fahren schon Züge) aufeinanderprallen, sondern auch das alte Heidentum und das „moderne“ Christentum. Maisie, die Hauptfigur, ist in jeder Hinsicht schutzlos, nicht nur als Vollwaise und unverheiratete Frau, sondern auch in Glaubensfragen. Denn sonst könnte sie nicht Geistern in eine Totengruft folgen, um deren Willen zu erfüllen.

Seinen viktorianischen Zeitgenossen wollte der Autor offenbar eine kleine Lektion erteilen. Wo die christliche Kirche versage, kämen wohl wieder alte heidnische Bräche – siehe die Tableaux vivants – wieder zum Zuge. Doch Allen ist kein Verfechter des aus Großbritannien vertriebenen Katholizismus und schon gleich gar nicht des Spiritismus, wie er Ende des 19. Jahrhunderts sehr in Mode kam. Da es ein Student der Uni Oxford ist, der die Heldin rettet, scheint der Autor die Wissenschaft anstelle irgendeiner Religion zu unterstützen. Das würde auch meinen Beifall finden.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher

Annina Braunmiller-Jest spielt Maisie Llewellyn als Unschuld vom Lande, die keine Ahnung hat, aber von Geistern verführt wird. Titania-Urgestein Dagmar von Kurmin stellt Mrs. West dar, der beim Bau des neuen Turms ein fataler Fehler unterläuft. Beate Gerlach spricht eindrucksvoll die Alte Bessie, die mit den alten Mächten im Bunde ist und sich über das Auftauchen jeder Jungfrau freut…

Kristine Walther spricht Yolande und Reinhilt Schneider ihre Schicksalsgefährtin Hedda, denn sie ließen sich beide lebendig einmauern. Bodo Primus spricht mit großer Autorität den heidnischen Hohepriester, der seinen Götter ein ganz besonderes Opfer bringen will. Louis Friedemann Thiele spricht den Studenten aus Oxford, der alles tut, um dies zu verhindern.

Geräusche

Eine schier unglaubliche Vielfalt von Geräuschen verwöhnt das Ohr des Zuhörers. Der Eindruck einer real erlebten Szene entsteht in der Regel immer. Diesmal spielen v.a. die Geräusche der Umgebung eine Rolle: Donnergrollen, der Wind, Glockenklänge, eine Kutsche, ein Bahnhof und vieles mehr. All diese Samples setzt die Tonregie zur Genüge ein, um einer Szene eine Fülle von realistisch klingenden Geräuschen zu vermitteln.

Die Musik

Von einem Score im klassischen Sinn kann keine Rede mehr sein. Hintergrundmusik dient nur dazu, eine düstere oder angespannte Stimmung zu erzeugen, und zwar nur dort, wo sie gebraucht wird. Hier steigert sich die emotionale Spannung sehr dezent von Szene zu Szene. Pianokadenzen begrüßen den Hörer und harmonische Orchestermusik, sie in den frühen Titania-Hörspielen Standard war, begleiten Maisie durch das Anwesen von Mrs. West.

Die Hintergrundmusik wird jedoch unheimlich, als die Geister auftauchen, während die Lebenden Bilder der Frauenopferungen dargestellt werden. Deutlich lässt sich das Flötenmotiv aus „Après-midi d’un faune“ von Claude Debussy erkennen, dann folgt Tanzmusik. Der Gang zur Gruft wird von einem tiefen Bass-Sound untermalt, der dem Geschehen einen Ton des Unheils beifügt. Er begleitet den ganzen Rest der Handlung, findet aber im erwähnten Donnergrollen, das über dem Turm dröhnt, einen Kontrapunkt.

Das Booklet

Das Titelmotiv zeigt die Szene, in der Maisie von den Geistern zweier Jungfrauen zum Ort ihrer Opferung geleitet wird.

Im Booklet sind die Titel des GRUSELKABINETTS verzeichnet. Die letzte Seite zählt sämtliche Mitwirkenden auf.

Im Booklet finden sich Verweise auf die im Herbst 2018 und Frühjahr 2019 kommenden Hörspiele aufgeführt:

Ab Herbst 2018

138: Lovecraft: Die Ratten in den Wänden
139: Poe: Der Rabe
140: M. R. James: Runenzauber
141: Julian Osgood Field: Der Judas-Kuss
142: Kipling: Das Zeichen der Bestie
143: Grant Allen: Der Wolverden-Turm

Ab Frühjahr 2019

144: Arthur Machen: Der gewaltige Gott Pan
145: M.R. James: Das unheimliche Puppenhaus
146: H.G. Wells: Der rote Raum
147: Per McGraup: Die Höllenfahrt des Schörgen-Toni (Original-Hörspiel!)
148: Louisa May Alcott: Im Labyrinth der Großen Pyramide
149: E. & H. Heron: Flaxman Low – Der Fall Teufelsmoor

Ab Herbst 2019

150: H.P. Lovecraft: Herbert West, der Wieder-Erwecker
151: H.H. Ewers: Die Topharbraut
152: G. Allan England: Das Ding
153: Th. Storm: Bulemanns Haus
154: Wm. Hope Hodgson: Tropischer Schrecken
155: E. & H. Heron: Flaxman Low – Der Geist von Baelbrow

Unterm Strich

Eine junge Unschuld kommt aufs Land, aber vom Regen in die Traufe. Und ausgerechnet zum zweithöchsten Fest der Christen soll sie den heidnischen Göttern geopfert werden. Ob es wirklich noch dazu kommt, ist die spannende Frage, die den Hörer bewegt. Der Autor weiß die Spannung zu steigern, indem er drei klassische Beispiele heranzieht, in denen Jungfrauen entweder geopfert (Iphigenie und Jephthas namenlose Tochter) werden oder sich selbst den Freitod (Ophelia) geben.

Ob Maisie das Schicksal ihrer fiktiven Vorgängerinnen teilen wird, hängt ausschließlich von ihrer freiwilligen Bereitschaft ab. Das betonen die Geister immer wieder. Das Erschreckende daran ist, dass ihnen Maisie keinerlei Widerstand entgegensetzt. Wie kann das sein, scheint der Autor uns zu fragen und treibt die Handlung zum Äußersten. Obwohl das Hörspiel nur eine Dreiviertelstunde dauert, gehört es für mich doch zu den Höhepunkten des Titania-Programms vor Folge 155.

Das Hörspiel

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen.

Dieses relativ alte Hörspiel ist noch ganz der klassischen Inszenierung verpflichtet: Die altvertrauten Sprecher wie etwa Dagmar von Kurmin setzen ganz auf emotionale Wirkung, die Stimmung ist unheimlich bis bedrohlich, und vor allem die Musik weiß mit einem vollen Orchester zu beeindrucken.

Fazit: vier von fünf Sternen.

Titania Medien, 2018;
CD-Länge: über 43 Minuten.
ISBN-13: 9783785757239

www.titania-medien.de

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