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Vargas, Fred – dritte Jungfrau, Die

Die Grande Dame des französischen Kriminalromans ist zurück. Nicht, dass sie jemals weg gewesen wäre, aber ein neuer Roman von Fred Vargas ist immer ein Grund für Lobhudelei.

In „Die dritte Jungfrau“ vertraut der verschrobene Kommissar Adamsberg mal wieder mehr auf seine Intuition als auf Tatsachen. Zwei tote Männer werden an der Porte de la Chapelle gefunden, und alles deutet darauf hin, dass sie in den Bereich der Drogendelikte fallen. Aber Adamsbergs Intuition sagt, dass die beiden vorsätzlich ermordet worden. Der Grund: Sie haben Erde unter den Fingernägeln, und so ein winziges Detail reicht dem Kommissar, um von seiner Theorie überzeugt zu sein und seine Kollegen auf verschlungene Ermittlungswege zu schicken, die nur er selbst versteht.

Es stellt sich heraus, dass Adamsberg Recht hatte. Die beiden Männer starben tatsächlich nicht wegen Drogen, sondern weil sie einer unbekannten Person dabei geholfen haben, den Sarg einer jungen Frau auszugraben. Das alleine ist natürlich noch kein Grund für einen Mord. Was steckt also hinter diesen seltsamen Vorkommnissen?

In einem Dorf in der Normandie findet Adamsberg neben einer weiteren ausgegrabenen Leiche mehrere tote Hirsche (was vor allem die Stammkundschaft in der kleinen Dorfkneipe beunruhigt), einen Reliquienraub und einen mysteriösen grauen Schatten auf dem Friedhof. Und ein Reliquienbuch aus dem 17. Jahrhundert, über das einige seiner Kollegen auffällig gut Bescheid wissen. Darin ist von einem Elixier für ewiges Leben die Rede, und die Zutaten darin verlangen neben dem Knochen, der im Hirschherz enthalten ist, nach etwas „Lebendigem von Jungfrauen“. Genauer gesagt von drei Jungfrauen und zwei wurden bereits behelligt. Für Adamsberg und seine Kollegen beginnt die Jagd nach einem Wahnsinnigen …

Kommissar Adamsberg ist wirklich ein Thema für sich. Man möchte gerne sagen, dass er nur ein wenig schrullig ist, aber eigentlich ist er einfach sehr still und sehr philosophisch und seine Ermittlerarbeit besteht aus unkonventionellen Gedankengängen. Hinzu kommen sein trockener Humor und dass er den Kopf ständig in den Wolken hat. Adamsberg ist ein echtes Original und Fred Vargas weiß ganz genau, wie sie damit umzugehen hat. Sie stellt ihm Personen an die Seite, die prima zu ihm passen und durch ihre Details den Ton des Buches treffen.

Zum Beispiel der Neue in der Mannschaft, Veyrenc, der aus der gleichen Pyrenäengegend wie Adamsberg kommt, weshalb sich zwischen diesen beiden ein kleiner Konflikt entwickelt. Veyrenc zeichnet sich durch seinen besonderen Haarschopf aus (braun mit roten Strähnen, die natürlich sind) und dadurch, dass er mit Adamsbergs Ex und Mutter seines Sohnes etwas anfängt. Der Konflikt der beiden, den Adamsberg seinem kleinen Sohn in einer Fabel mit Steinböcken und Kamelen darlegt, schwelt im ganzen Buch und weiß immer wieder zu unterhalten. Dadurch gerät die Geschichte sehr vielschichtig, da es nicht nur um den mysteriösen Fall geht.

Diese und andere kleine Nebengeschichten sorgen dafür, dass „Die dritte Jungfrau“ nie an Spannung verliert. Die Geschichte ist, genau wie ihr Protagonist Adamsberg, nicht sonderlich stringent, aber in diesem einen Ausnahmefall ist dies das Beste, was dem Buch passieren konnte. Auf Fred Vargas muss man sich einlassen. Man kann nicht erwarten, dass in einem ihrer Bücher etwas so abläuft wie in normalen Krimis.

Deshalb sind wir der Französin auch nicht böse, dass Adamsberg manchmal Zusammenhänge herstellt, wo gar keine sind, und dass seine Gedanken teilweise sehr skurrile Abwege gehen. Hinterher wird doch alles so erklärt, dass es passt, und bis dahin weiß Vargas mit ihrem charmanten Erzählstil, dem Humor und dem Auge für die kleinen, versteckten Details zu erfreuen.

Gerade dadurch, dass Vargas mit so viel Herzenswärme und Spaß erzählt, ist das Buch sehr spannend, denn man fragt sich ständig, was nun als Nächstes passiert und vor allem, auf welche Weise.
Na gut; vielleicht sind wir Vargas doch ein wenig böse, dass sie bei all der erzählerischen Dichte und kurzweiligen Spannung, die sie zwischen zwei Buchdeckel quetscht, am Ende ein wenig über das Ziel hinausschießt. Dort verstrickt sich die Handlung ein wenig in sich selbst, und das Knäuel, das dabei entsteht, wirkt etwas an den Haaren herbeigezogen.

Andererseits macht die Lektüre so viel Spaß, dass man die paar Seiten schnell vergessen hat. Adamsberg trockener, unbeabsichtigter Humor durchzieht nämlich den ganzen Roman. Vargas erzählt nicht nur einfach trocken, sie spielt mit der Handlung und den Charakteren Pingpong und verwendet dabei die Wörter als Spielbälle. Hier passt jeder Satz wie die Faust aufs Auge. Wenn die Präsidiumskatze fett ist und von einigen Kollegen „Die Kugel“ genannt wird, nun, warum sollte man sie nicht das ganze Buch über so nennen? Und was spricht dagegen, ihr ein Alkoholproblem anzudichten?

Vargas schreibt amüsant, ohne dass der Ernst der Sache dabei völlig verloren ginge. Im Gegenteil hat man das Gefühl, dass sie sich einfach sehr wohl fühlt in ihrer Erzählwelt und das dementsprechend auslebt. Sie benutzt Metaphern, kleine Aufhänger aus der Geschichte, Spitznamen, Eigenschaften der Personen, um sie so bunt und lebendig wie möglich zu gestalten. Die Dialoge sprühen nur so vor Leben und Humor und halten sich weder an alltägliche noch an literarische Maßregeln. Und genau dadurch wirken sie so authentisch.

Eine skurrile Geschichte, skurrile Charaktere und ein unglaublich lebendiger, sprühender Schreibstil – das zeichnet Fred Vargas seit vierzehn Büchern aus. Und das Schönste dabei ist, dass sie einfach nicht nachlässt. „Die dritte Jungfrau“ ist in bester Tradition proppevoll mit Humor, einer dichten Handlung und jeder Menge Alltag. Und dem Gegenteil von Langeweile.

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Theurillat, Michael – Eistod

Michael Theurillats Debütroman [„Im Sommer sterben“ 3471 war wirklich nicht von schlechten Eltern. Er war spannend und sauber geschrieben und arbeitete mit interessanten Charakteren. Kann der Nachfolgeroman „Eistod“ diese gute Kritik toppen?

Im Mittelpunkt des Geschehens steht einmal mehr Eschenbach, der leicht verschrobene, humorvolle Kommissar aus Zürich, der sich mit einem Fall herumschlagen muss, der ihn persönlich berührt. Schließlich sind einige der Beteiligten alte Schulfreunde, deren Schuld er nicht einsehen will.

Alles beginnt mit einem toten Stadtstreicher in der Limmat. Dieser wurde mit Fugu-Gift, dem Gift des Kugelfisches, ermordet, doch er ist nicht der Einzige. Ein Zeitungsartikel zeigt auf, dass dieses Jahr auffallend viele Obdachlose sterben, und erst da fällt Eschenbach dieses Phänomen auf und er lässt die Leichen nach Rückständen des Fugu-Gift untersuchen.

Etwa zur gleichen Zeit verschwindet der Mitarbeiter des berühmten Biochemieprofessors Theo Winter. Anonym schickt er Berichte an Eschenbach, in denen von Menschenversuchen mit einem biochemischen Stoff die Rede ist. Wenig später macht sich auch Winter aus dem Staub und der neue Praktikant, der Eschenbach zur Seite steht, erweist sich als ein wenig undurchsichtig. Was für ein Spiel wird hier eigentlich gespielt?

Diese Frage stellt sich nicht nur Eschenbach, sondern auch der Leser. Während bei „Im Sommer sterben“ die Handlung spannend und gradlinig aufgebaut war, wird „Eistod“ von einem langatmigen und wenig authentischen Plot gestützt. Der Vorspann, in dem weder gemordet noch ermittelt wird, zieht sich über viele Seiten hin und auch danach kommt das Buch nicht in Gang. An vielen Stellen fragt man sich, worauf der Krimi eigentlich hinauswill, einige Rückschlüsse sind voreilig und nur schlecht nachvollziehbar. Immer wieder langweilt der Autor mit unnötigen, aber dafür um so längeren theoretischen Abhandlungen über Fischgift, japanisches Essen oder Drogen. Etliche dieser Abhandlungen haben keinen wirklichen Bezug zu Eschenbachs Fall und sorgen deshalb dafür, dass die Story noch zäher wird.

Dass Eschenbach persönlich involviert ist, weil er einige der Verdächtigen aus seiner Schulzeit kennt, ist ein netter Aspekt, der dem Buch jedoch nicht mehr helfen kann. Eschenbach ist nach wie vor ein sorgfältig ausgearbeiteter Charakter, der dem Leser vor allem mit seinem trockenen Humor und seiner Ehrlichkeit gefällt. Nur leider fühlt es sich so an, als ob Theurillat die anderen Charaktere diesmal vernachlässigt hat. Gerade das Zwischenmenschliche – bis auf Eschenbachs aufkeimende Beziehung zu Winters Sekretärin – kommt zu kurz. Die amüsanten Wortgeplänkel zwischen Eschenbach und seiner italienischen Sekretärin aus dem ersten Buch haben nicht mehr den Biss des Debüts und insgesamt wird weniger Wert auf Dialoge gelegt.

Das Einzige, was sich wirklich verbessert hat, ist Theurillats Schreibstil. Der ist noch praller, dichter und ausgefeilter geworden. Es gibt kaum Füllsätze, jeder Satz hat Bedeutung, hinter jedem Wort scheint ein Sachverhalt zu stehen. Dabei bedient sich der Autor einer gehobenen, aber nicht gestochenen, klaren Sprache, mit der er seiner Geschichte ein solides Fundament baut.

Leider nimmt die Geschichte das Angebot dieses Fundaments nicht an. Zäh und unlogisch tröpfeln die verschiedenen Handlungsstränge dahin, und um die Frage vom Anfang zu beantworten: „Eistod“ hält nicht, was sein Vorgänger versprochen hat. Besonders im Aufbau und den Charakteren muss der Leser Abstriche machen, und das tut „Eistod“ nicht sonderlich gut – trotz des verbesserten Schreibstils.

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Theurillat, Michael – Im Sommer sterben

Im Sommer geht man ins Schwimmbad oder isst Eis und liegt faul in der Sonne. Nach Meinung des Schweizers Michael Theurillat ist das aber noch nicht alles. Er plädiert für „Im Sommer sterben“.

Der beliebte Philip Bettlach, der im Bankgeschäft seines Bruders tätig war und dort mit Erfolg Kunden anwarb, wird eines Tages beim Golfspielen auf einem Züricher Golfplatz aus großer Distanz erschossen. Aber warum? Bettlach scheint keine Feinde gehabt zu haben, sein fünfundsechzigjähriger Lebenslauf war erstaunlich sauber. Zu sauber, wie Kommissar Eschenbach und sein junger Kollege Jagmetti finden.

Sie graben etwas tiefer und schon bald stellt sich heraus, dass Bettlachs Freundin, die zweiundzwanzigjährige Doris Hottiger, nicht nur einen guten Grund, sondern auch die entsprechende Schützenausbildung gehabt hätte, um Bettlach zu erschießen. Doch weder Eschenbach noch Jagmetti, der ein kurzes Intermezzo mit der blonden Dame hat, können glauben, dass sie die Täterin ist. Sie stochern weiter in der Lebensgeschichte der Familie Bettlach herum und bringen einiges zu Tage …

Theurillat baut in sein Debüt eine Familientragödie ein, die man sicherlich schon des Öfteren gelesen hat, aber sie wurde sicherlich nicht immer so grundsolide und spannend abgehandelt. Der Krimi tut sich dabei nicht durch Action und Blut hervor, sondern durch spannende Ermittlerarbeit.

Spannend, obwohl das Buch ohne Action auskommt? Jawohl. Theurillat setzt eher auf die kleinen Überraschungsmomente und falschen Verdächtigungen, die seinen Krimi sehr niveauvoll erscheinen lassen.

Zudem fällt auf, dass ein Großteil der Handlung bzw. der Aufklärung des Mordfalls über Dialoge stattfindet. Zeugen erzählen über das Leben Bettlachs oder Eschenbach bekommt seine Informationen auf mündlichem Wege, was die Geschichte sehr lebendig werden lässt und gut gelungen ist. Der Autor schafft es dabei, das Gleichgewicht zwischen banalem Alltagsgeschwätz und relevanter Information zu halten. Dadurch wirkt der Roman nicht trocken, sondern im Gegenteil unglaublich lebendig, weil hauptsächlich Menschen und nicht Indizien und Tatsachen involviert sind.

Für gute Dialoge braucht man natürlich gute Charaktere, und die liefert Theurillat gleich mit. Eschenbach überzeugt vor allem, weil er weder dem amerikanischen Superermittler noch dem skandinavischen Depri-Ermittler ähnelt. Er ist ein durch und durch bodenständiger Mann mit Frau und Tochter und einem Hang zur Bärbeißigkeit, von dem er aber weiß und an dem er arbeitet.

Sein Helfer, der Praktikant Jagmetti, dagegen ist ein kleiner Jungspund, der noch viel lernen muss und in dem Eschenbach sich selbst gerne wiederfindet. Er versucht dem angehenden Beamten ein guter Chef zu sein, auch wenn die beiden dabei manchmal aneinandergeraten.

Auch andere Charaktere in dem Buch sind gelungen. Richtige Exzentriker findet man zwar selten, aber dafür sehr authentische Menschen mit Eigenarten und überzeugenden Charakterzügen, die die dialogschwangere Geschichte abrunden.

Zumeist wird aus Eschenbachs Perspektive erzählt, aber ab und an wechselt Theurillat die Perspektive und lässt unbedeutende Nebencharaktere zu Wort kommen. Das ist sehr ritterlich von ihm, aber da diese Personen meist nur ein, zwei Auftritte haben, hinterlassen sie eher einen störenden Eindruck. Zumeist ist ihr Auftritt auch nicht wirklich von Relevanz, sondern soll nur Tatsachen näher beleuchten, so dass die Geschichte dadurch unnötig gebrochen wird.

Alle bisher aufgezählten Elemente von „Im Sommer sterben“ werden von dem sauberen Schreibstil des Autors zusammengehalten. Simpel, trocken, manchmal mit einem sehr interessanten, unterschwelligen Humor gewürzt, der zumeist aus dem Munde Eschenbachs kommt, weiß Theurillat seinen Kriminalroman sehr gut herüberzubringen. Er leistet sich dabei keine Schnitzer und sein Hang zu Dialogen zeichnet sich einmal mehr aus.

„Im Sommer sterben“ ist sauber aufgebaut, sauber ausgebaut und sauber geschrieben. Man kann kein schlechtes Haar an Michael Theurillat lassen. Der Debütroman ist zwar kein herausragendes Literaturwerk, aber ein sehr angenehm zu lesender und beinahe makelloser Krimi.

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Schutz, Benjamin M. – Unerbittlich

Scheidungen sind normalerweise keine schöne Sache, doch der Gerichtspsychologe Benjamin M. Schutz treibt es mit seinem Psychothriller „Unerbittlich“ auf die Spitze.

Unerbittlich ist der ehemalige Footballstar Tom Tully, als er herausfindet, dass seine Frau Serena ihn betrügt. Ohne ihr Wissen engagiert er den Anwalt Albert Garfield, der von seinen Kollegen auch „Agent Orange“ genannt wird, weil er dafür bekannt ist, dass dort, wo er wütet, kein Gras mehr wächst. Zusammen planen die beiden Männer, Serena fertigzumachen, wobei der aggressive Tom dabei die treibende Kraft ist. Sie erreichen eine gerichtliche Verfügung, die es Serena verbietet, die beiden vier und sechs Jahre alten Kinder zu sehen und das gemeinsame Haus zu betreten, weil sie angeblich psychisch krank sei.

Tom schafft es, alle renommierten Scheidungsanwälte der Gegend auszuschalten und er sorgt dafür, dass Serena ohne Geld und Arbeit auf der Straße sitzt. Dafür hat sie einen miserablen Anwalt, den sie nicht bezahlen kann. Erst als der Gerichtspsychologe Morgan Reece beauftragt wird, ein Gutachten über die Familie zu erstellen, um die Sorgerechtsfrage zu klären, zeichnet sich für Serena ein Silberstreif am Horizont ab. Denn Reece ist für seine saubere, nicht korrumpierbare Arbeit bekannt und er sorgt dafür, dass sich das Blatt in dem Prozess, den Garfield mit scharfen Waffen führt, wendet. Doch das will Tom Tully sich natürlich nicht gefallen lassen …

Eigentlich ein interessantes Szenario, das Schutz da entwirft. Schließlich haben Ehestreite großes Potenzial. Zwei verhasste Parteien, von denen keine eine weiße Weste hat, und die sich nach allen Regeln der Kunst mit Schmutz bewerfen. Leider versteift sich der Autor sehr auf die Geschehnisse vor Gericht, was in Anbetracht der Tatsache, dass nicht jeder Leser mit dem (amerikanischen) Rechtssystem vertraut ist, nicht besonders glücklich ist. Hier hätte man vielleicht die Schere ansetzen sollen, um zu verhindern, dass zähe Wortgeplänkel zwischen Richtern, Anwälten und Zeugen das Buch derart verstopfen.

Gegen Mitte des Buchs bessert sich die Situation. Nachdem das erste Drittel hauptsächlich von den an den Haaren herbeigezogenen Vorwürfen von Tom gegen Serena getragen wird, schalten sich dann zwei weitere Parteien ein, die Tom in keinem guten Licht dastehen lassen. Das Buch gewinnt an Fahrt und Spannung, kommt aber nie über den durchschnittlichen, oberflächlichen Thriller hinaus.

Schuld daran sind vor allem die stereotypen Charaktere. Tom Tully, der bullige Footballstar, der sich weder um seine hübsche Frau noch um seine Kinder kümmert und in schmierige Machenschaften verstrickt ist, zeigt im ganzen Buch keine Züge von Menschlichkeit. Sein Verhalten ist vorhersehbar, seine Persönlichkeit auch.

Während Schutz es schafft, die meisten anderen Charakteren von zwei Seiten, der guten und der schlechten, zu beleuchten, gelingt ihm das gerade bei den „Bösewichten“ nicht. Das ist ungeschickt, denn damit beraubt er sich selbst der Möglichkeiten. Vielleicht wäre das Buch wesentlich besser geworden, wenn es auf dem Charaktergebiet nicht so unglaublich vorhersehbar wäre.

Die hübsche Serena, die getroffene Ehefrau, bleibt ihrer oberflächlichen Rolle treu, und Morgan Reece entpuppt sich als Lehrbuchgerichtspsychologe – leider als ein allzu glatter. Er scheint für jedes Problem eine Lösung und für jeden Vorwurf das passende Gegenargument zu haben. Selbst, wenn die Angriffe von Tom und Garfield gegen seine Vergangenheit gerichtet sind, wirkt er unglaubwürdig gelassen.

Der Schreibstil macht es nicht besser. „Amerikanische Massenware“ sagt alles, was „Unerbittlich“ ausmacht. Kaum rhetorische Mittel, kaum etwas, was den Schreibstil nach dem Zuschlagen des Buches im Kopf des Lesers verbleiben ließe. Schutz schreibt glatt, ohne Ecken und Kanten, und selbst die Dialoge klingen nicht wie aus dem Leben, sondern wie von einem Computerskript entworfen. Klare, gehobene Sätze, die keine Gefühle der Sprecher erlauben, sorgen dafür, dass die sowieso schon blutleeren Charaktere noch blasser dastehen.

Was am Ende bleibt, sind ein schales Gefühl und die Frage, ob manche Bücher nur deshalb in Deutschland veröffentlicht werden, weil sie aus dem geheiligten Lande USA stammen. „Unerbittlich“ arbeitet mit stereotypen, klischeebeladenen Personen, einer zähen, vorhersehbaren Handlung und einem Schreibstil, der sich vielleicht durch förmliche Korrektheit hervortut, aber sicherlich nicht durch Lebendigkeit oder Originalität. Es ist nicht so, dass das Buch so abstoßend wäre, dass man es so schnell wie möglich aus der Hand legen wollte. Es ist nur so langweilig, dass man es gar nicht erst wieder in die Hand nehmen möchte.

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Blazon, Nina – Reise nach Yndalamor, Die (Die Taverne am Rande der Welten 1)

Mit der Woransaga hat sich Nina Blazon in die Herzen ihrer Leser geschrieben. Jetzt veröffentlicht |Ravensburger| den neuen Streich der erfolgreichen Autorin, „Die Reise nach Yndalamor“.

Der fast dreizehnjährige Tobbs wohnt bei Zieheltern in der Taverne am Rande der Welten und fragt sich jeden Tag aufs Neue, wer seine Eltern sind und wieso sie ihn in dem Gasthaus vergessen haben. Denn dieses Gasthaus ist kein normales. Viele Türe gehen in den Gängen der kleinen Kneipe ab und hinter jeder wartet ein anderes fantastisches Land, dessen Gäste gerne an die Tür von Dopoulos und Wanja klopfen.

Eines Tages wird in der Taverne eine Dämonenhochzeit ausgerichtet und Tobbs bekommt die Aufgabe, auf das vorwitzige Dämonenkind Sid aufzupassen. Sid schafft es, ihm zu entwischen, und als er hört, dass die Göttin Kali gerade auf einen Tee vorbeigekommen ist, wird er geradezu magisch von der Tür nach Yndalamor, wo Kali lebt, angezogen. Tobbs kann nicht verhindern, dass Sid den Streitwagen der Göttin, die auch die Zerstörerin genannt wird, klaut, und gemeinsam begeben sie sich auf eine kurze, aber erlebnisreiche Reise durch Yndalamor. Für Tobbs endet sie in der Stadt der Spiegel, wo er aus der Kutsche, die von einem fliegenden Monsterlöwen gezogen wird, fällt.

Er wird eingesperrt und soll als Menschenopfer dargebracht werden, aber Mamsie Matata, eine junge Frau, die in einen Spiegel gesperrt wurde, hilft ihm bei der Flucht. Doch nur, weil er frei ist, bedeutet das noch lange nicht, dass alles wieder gut wird. Kali wird gewiss böse sein, wenn ihr Gefährt nicht an Ort und Stelle steht, wenn sie von ihrem Tee zurückkommt …

„Kali? Moment, die kenne ich doch!“, wird der eine oder andere jetzt rufen, und tatsächlich: Die Göttin ist stark an die Gottheit aus dem Hinduismus angelehnt, die sowohl für Zerstörung als auch für Erneuerung steht.

Kali ist aber nicht das einzige bekannte Wesen in diesem Buch. Während Blazon in der Woransaga zumeist selbsterfundene Fantasiewesen ins Rennen schickte, verlässt sie sich dieses Mal lieber auf bereits Erfundene wie Banshees, Anguana oder auch Alastor, auch wenn nicht alle Wesen so bekannt sein dürften wie Kali. Im Anhang werden Wissenslücken geschlossen, was gerade für jüngere Leser sehr sinnvoll ist.

Allerdings schadet das dem Buch in keiner Weise. Blazons Fantasie entfaltet sich ungebremst, und so strickt sie, wie man es von ihr gewohnt ist, eine bunte, detailverliebte Welt, in der alles seinen Platz hat. Yndalamor und die Taverne, die beiden Hauptschauplätze des Buches, platzen vor lauter fantastischer und origineller Elemente aus allen Nähten, und es erstaunt immer wieder, wie lebendig und bunt Blazon ihre Bücher zu gestalten weiß.

Sie verzichtet dabei zumeist auf seitenlange Beschreibungen der fremden Wesen und lässt lieber die Geschichte für sich sprechen, was sehr geschickt ist und die temporeiche und spritzige Handlung vor unnötigen Längen bewahrt. Trotzdem wirkt gerade das Ende ein wenig aufgesetzt bzw. das zweite Ende. Denn nachdem Tobbs und Sid, die genauso schön ausgearbeitet sind wie die Welt und durch Bodenständigkeit glänzen, die Taverne erreicht haben, werden sie aufgrund eines Ereignisses wieder zurück nach Yndalamor gerissen. Was folgt, wirkt eher etwas belanglos und zu sehr auf actionreichen Abschluss getrimmt.

Das bedeutet aber nicht, dass die Geschichte vorher nicht spannend wäre, denn das ist sie. Gerade die vielen Details in Blazons Welten machen unglaublich neugierig auf den weiteren Verlauf der Geschichte, und das hohe Erzähltempo, das sie an den Tag legt, sorgt dafür, dass dem Leser überhaupt nicht langweilig werden kann.

Das Tempo manifestiert sich in Blazons Schreibstil, der sich, wie bereits erwähnt, nicht mit langen Beschreibungen aufhält und wenn doch, diese mit knapper, aber eindeutiger Wortwahl absteckt. Blazons Arbeit als freie Journalistin lässt sich gut erkennen in ihren klaren, strukturierten Sätzen, die manchmal humorvoll, manchmal sogar beinahe poetisch klingen. Eines sind sie aber immer: schön atmosphärisch. Blazon gehört tatsächlich zu den wenigen Autoren, die mit Worten Welten in den Köpfen der Lesern schaffen können, und das sei ihr hoch angerechnet.

„Die Reise nach Yndalamor“ ist in der Summe also ein sehr vergnügliches, buntes Fantasybuch für Leser ab elf Jahren, das aber auch dem einen oder anderen Erwachsenen Spaß bereiten wird. Blazons niveauvoller Schreibstil und die straffe Handlung werden dafür sorgen.

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Heiland, Henrike – Späte Rache (Verdeckte Ermittlungen 1)

_Von den Bergen an die See._

So geht es Dr. Anne Wahlberg in „Späte Rache“ von Henrike Heiland. Die Mittdreißigerin, die ihr Geld als Kriminalpsychologin verdient, erhält die Chance von München nach Rostock zu ziehen, um dort ein Forschungsprojekt zu unterstützen. Gleich nach ihrer Ankunft wird sie zu dem verzwicktesten Fall, den die Rostocker Kripo seit langem zu lösen hat, zu Rate gezogen.

Hauptkommissar Erik Kemper ist darüber nicht gerade erfreut und beteiligt Anne so gut wie gar nicht an dem Fall der Kindergärtnerin Lena Sommer, die ermordet und geschändet an der Neptunwerft aufgefunden wird. Die Polizei sitzt schon eine ganze Weile an dem Fall, aber sie hat bis jetzt noch keine einzige verwertbare Spur.

Erst Anne findet zusammen mit dem jungen Malte, der der Polizei als Unterstützung aus Schwerin zugeteilt wurde und bei den Kollegen nicht gerade beliebt ist, heraus, dass Lena Sommer ein Verhältnis mit dem ortsbekannten Mitglied einer rechten Partei hatte. Doch ob das mit dem Mordfall zusammenhängt?

Wenig später wird eine weitere Frau tot aufgefunden – an der gleichen Stelle wie Lena, doch sie wurde gekreuzigt. Es stellt sich heraus, dass die Tote Lenas Tante war und Anne ahnt, dass dies kein Zufall sein kann. Kemper ist allerdings nicht so begeistert von der Theorie einer Psychologin, die von der echten Polizeiarbeit so viel Ahnung hat wie ein Schwein vom Eierlegen …

Nun also Rostock in seiner ganzen Schönheit: Heiland erschließt neue Polizeireviere, doch leider muss an dieser Stelle gesagt werden, dass Lokalkolorit nicht nur aus dem Wissen von Straßennamen und Bars besteht. Die Autorin schafft es nicht, mehr von der Stadt zu transportieren, und es fehlt dem Buch auf weiten Strecken an einer ordentlichen Atmosphäre.

Die Autorin konzentriert sich sehr auf den Kriminalfall und lässt dabei besonders Dr. Anne Wahlberg in den Vordergrund treten, die neben der schwierigen Eingewöhnung und eigenen Problemen auch noch den Fall lösen möchte. Leider ist die Person der Anne, so wie die meisten anderen Charaktere, nicht ordentlich ausgearbeitet. Sie wird nur umrissen, und auch wenn Heiland versucht, ihr durch Gedanken und Gefühle Leben einzuhauchen, fehlt es der Kriminalpsychologin an Substanz. Sie wirkt ein wenig zu beliebig und austauschbar.
Das Gleiche gilt für die anderen Charaktere. Selbst der brummige Kemper wirkt halbseiden und kann seine nicht ganz unkomplizierte Persönlichkeit nicht richtig in der Geschichte entfalten.

Die Handlung ist an und für sich solide. Es fehlt oft an Spannung, weil es an echten Überraschungen mangelt, aber die Lösung des Falls wirkt authentisch. Es gibt keine übertriebenen Zufälle, aber auch sonst nichts, was über den typischen Kriminalroman hinausgeht. Sorgfältige Polizeiarbeit, ein paar Ermittlungen auf eigene Faust und die eine oder andere Reiberei mit einer feindlichen Partei – viel mehr hat „Späte Rache“ leider nicht zu bieten.

Der biedere Eindruck, den das Buch hinterlässt, hängt sicherlich auch mit dem neutralen Schreibstil zusammen. Es fällt schwer, selbigen zu beschreiben, denn er ist allzu beliebig. Auf der einen Seite gibt es keine schwerwiegenden Fehler, aber genauso wenig gibt es auffällige Besonderheiten in Heilands Schreibe.

Heilands erster Kriminalroman mit Wahlberg und Kemper glänzt also vor allem durch Durchschnittlichkeit. Es gibt kaum etwas, das sich nach dem Zuschlagen des Buches im Kopf festsetzt, und das ist schade. Die Spannungen zwischen der Kriminalpsychologin und dem Hauptkommissar hätten sicherlich noch einiges hergegeben.

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Harvey, John – Schrei nicht so laut

Manchmal kann einen die Vergangenheit einfach nicht loslassen.

So geht es auch Frank Elder, einem pensionierten Kriminalkommissar, der sich nach der Scheidung von seiner Frau und der Arbeit in ein kleines Cottage in Cornwall verkrochen hat. Ohne Fernseher und Telefon lebt er dort vor sich hin, immer wieder von Alpträumen gequält, die mit einem vierzehn Jahre alten Fall zusammenhängen.

Damals zogen zwei Jugendliche durchs Land und vergewaltigten und ermordeten mehrere junge Mädchen brutal. Alle Leichen der in dieser Zeit verschwundenen Mädchen wurden gefunden – bis auf eine. Susan Blacklock ist nach wie vor verschwunden, und das, obwohl Elder ihren Eltern damals versichert hatte, er würde sie finden.

Sein nicht eingelöstes Versprechen verfolgt ihn noch heute und erhält neue Brisanz, als Shane Donald, der damalige Mittäter von Alan McKernain, auf Bewährung freikommt. Nach Repressalien durch die Mitbewohner seines Bewährungsheims flüchtet Donald, und wenig später wird erneut ein junges Mädchen vermisst. Elder wird in die Ermittlungen eingebunden, weil er Donald schon einmal überführt hat, doch bald bekommt er Zweifel daran, ob er den Richtigen jagt. Und dann verschwindet auch noch seine Tochter …

„Schrei nicht so laut“ ist einer dieser Thrillern, die sich sehr stark auf die Persönlichkeit des im Mittelpunkt stehenden Ermittlers konzentrieren. Shane Donald und einige andere haben zwar auch eine Perspektive, aber die von Elder geht am tiefsten. Neben seinem Versagen in dem Jahre zurückliegenden Fall wird sehr ausführlich sein Verhältnis zu der sechzehnjährigen Tochter Katherine und seiner Exfrau besprochen. Besonders die misslungene Ehe durchzieht das Buch durchgehend, wird aber so dezent angesprochen, dass sie nicht stört.

Elder ist ein sympathischer Charakter von nebenan. Er hat keine hervorzuhebenden Charakterzüge, sondern ist ein ganz normaler Mensch. Harvey geht also auf Nummer Sicher, aber da er es schafft, Elder schön auszuloten und sehr lebendig darzustellen, stört das nicht besonders. Auch die anderen Charakter sind gut gestaltet. Jedem von ihnen haftet eine Spur Alltag an, aber gerade deshalb sind sie so authentisch.

Dass die Personen so gut gefallen, hängt sicherlich mit Harveys glücklichem Händchen für Beschreibungen zusammen. Mit wenigen, unauffälligen Worten und einem verschwindenden Einsatz von Metaphern schafft er es, reale Bilder im Kopf des Lesers entstehen zu lassen. Das fällt besonders am Anfang des Buches auf. Nach einem etwas langen, unspektakulären Vorspann, in dem Elders momentane Lebensumstände geschildert werden, blickt Harvey auf die Geschehnisse in der Vergangenheit zurück, die mit den Fällen der vermissten Mädchen zusammenhängen. Sehr knapp, aber intensiv und beeindruckend fasst er auf wenigen Seiten zusammen, was damals nicht nur passiert ist, sondern auch in den Köpfen der Beteiligten vorging.

Die eigentliche Thrillerhandlung dagegen ist ein wenig ernüchternd, manchmal sogar spannungsarm. Es bleibt zwar bis zum Ende offen, wer der Täter ist und was mit Susan Blacklock passierte, aber an einigen Stellen wird die Erzählung so zäh, dass selbst diese Tatsache nicht mehr viel für die Spannung tun kann. An anderen Stellen schreitet die Handlung dafür zu schnell voran und wird ein wenig unglaubwürdig. Allerdings geschieht das so leise, dass man es beinahe nicht bemerkt.

Ob der Titel des Buchs vielleicht auch darauf anspricht? In diesem Roman wird nicht laut geschrien, sondern leise erzählt, und das macht es so unglaublich angenehm. Die Personen sind sehr authentisch, der Schreibstil ein Fest und die Handlung, trotz einiger Kritikpunkte, von fließender, strukturierter Form. Allerdings ist das Buch manchmal vielleicht ein wenig zu sehr die graue Maus, denn etwas wirklich Neues lernen wir mit „Schrei nicht so laut“ nicht kennen.

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Ellis, Bret Easton – Lunar Park

Bret Easton Ellis gehört mit Romanen wie „Unter Null“ und „American Psycho“ zu den bekanntesten Autoren Amerikas.

Mit „Lunar Park“ veröffentlicht er ein Buch, von dem man denken könnte, es wäre eine Autobiografie. Immerhin wird aus der Perspektive von Bret erzählt, aber nach den harten Fakten wie dem Geburtsort und dem Erfolg als Schriftsteller hört es bereits auf. Ellis dichtet sich selbst eine fiktive Frau, einen fiktiven Sohn und eine fiktive Stieftochter an. Sie wohnen in Lunar Park, einem beschaulichen Viertel, in das Bret mit seinem Hang zu Wodka und Kokain nicht wirklich passt.

Alles beginnt aus dem Ruder zu laufen, als das batteriebetriebene Spielzeug von Ellis‘ Stieftochter Sarah, ein Vogel namens Terby, plötzlich beginnt, ein Eigenleben zu entwickeln, und Eichhörnchen und Katzen in der Nachbarschaft niederschlachtet. Außerdem ist Bret der festen Überzeugung, dass sich in dem riesigen Haus, das er mit seiner Familie bewohnt, die Möbel ständig umstellen, und er glaubt, in einem Studenten die Verkörperung seines Romanhelden aus „American Psycho“, Patrick Bateman, wiederzuerkennen.

Sind es die Drogen oder ist Brets Angst real? So genau wissen weder er noch die Leser das, wenn sich sein Haus plötzlich zu seinem Geburtshaus zu verwandeln scheint und um ihn herum Menschen ermordet werden, die die gleichen Namen tragen wie die Opfer aus „American Psycho“.

„Lunar Park“ hört sich an wie harter Stoff und ist auch welcher. Die Handlung spielt mit dem Leser. Man kann sich nie sicher sein, inwiefern die Ereignisse eingebildet oder gerade noch real sind. Und trotz der leicht „übersinnlichen“ Geschehnisse schafft Ellis es, glaubhaft zu klingen, was ihm hoch anzurechnen ist.

Wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, dass die Geschichte ein wenig schräg ist, staunt man nur noch über den Erfindungsreichtum des Autors. Es ist wirklich unglaublich, wie er Paranoia in Köpfen in fiktionale Ereignisse verwandelt und dabei nicht nachlässt. Er zieht das die ganzen 893 Minuten der Lesung durch und schafft es, die Spannung, den Wahnsinn und die fiktionale Realität zu halten.

„Lunar Park“ wäre kein echter Ellis, wenn darin nicht auch kritische Stimmen laut werden würden. Die schräge Handlung und die teilweise übertriebenen Ereignisse haben nämlich zum Zweck, das Leben im Vorort oder den Medienhype, der um den Autor gemacht wurde, zu karrikieren. Nebenpersonen verkommen teilweise zu argen Klischees, aber nicht im negativen Sinne, denn sie werden dazu benutzt, die Klischeehaftigkeit im wirklichen Leben aufzuzeigen.

Die Lesung ist ungekürzt, was sicherlich nicht immer die richtige Entscheidung war. An und für sich ist „Lunar Park“ gut als Hörbuch geeignet, denn das Buch ist in der Ich-Perspektive geschrieben, so dass das Anhören des Hörbuchs zur Märchenstunde wird. Allerdings finden sich an einigen Stellen ellenlange Beschreibungen, zum Beispiel vom Haus, in dem Bret wohnt, die unnötig in die Länge ziehen. Hier hätte man vielleicht die Schere ansetzen müssen, um die Spannung erhalten zu können.

Der Erzählstil ist dank der Ich-Perspektive sehr angenehm. Ellis schreibt in leicht verständlicher Alltagssprache, die manchmal ein wenig härter wird. Er tendiert anfangs dazu, die Sätze zu stark zu verschachteln, aber das gibt sich glücklicherweise mit der Zeit. Insgesamt lässt sich „Lunar Park“ prima anhören und ist dank der Leistung von Sprecher Wolfram Koch sehr unterhaltsam.

Koch spricht ruhig und bedächtig, so dass man ihm gut folgen kann. Er verzichtet auf eine übertriebene Betonung, was wie die Faust aufs Auge zu Ellis‘ lässigem Erzählstil passt. Trotzdem spielt er an spannenden Stellen entsprechend mit seiner Stimme oder stellt Dialoge mit verschiedenen Stimmlagen dar, was sehr gut gelungen ist, denn oft wird am Ende eines gesprochenen Satzes nicht erwähnt, wer ihn überhaupt gesagt hat.

In der Summe ist „Lunar Park“ ein Hörbuch, in das man sich erst hineinhören muss und das ab und an ein paar Längen aufweist. Insgesamt hinterlassen aber sowohl die Fabulierkunst Ellis‘ als auch Kochs Erzähltalent einen positiven Eindruck.

http://www.argon-verlag.de
|893 Minuten auf 12 CDs|

|Siehe auch unsere Rezensionen zu:|
[„Lunar Park“ 2304 (Buchausgabe)
[„American Psycho“ 764
[„Unter Null“ 2026
[„Glamorama“ 2749

Bonansinga, Jay – Hurricane (Twisted)

Hurricane Katrina, der schlimmste Wirbelsturm aller Zeiten, der im Sommer 2005 über New Orleans fegte, hat auch in der Literatur seine Spuren hinterlassen:

Der FBI-Profiler Ulysses Grove wird eines Abends von einem entfernten Bekannten, dem Uniprofessor Moses de Lourde, angerufen. Moses wohnt in New Orleans und gerade zieht der Hurrikan Cassandra über die Stadt und der Anruf entpuppt sich als Hilferuf. Doch das merkt Ulysses erst bei der Beerdigung, denn er erkennt, dass die Verletzungen, die Moses aufweist, nicht vom Sturm stammen können. Obwohl gerade nach einem sehr belastenden Fall beurlaubt, wittert er einen neuen Fall. Wenig später zieht ein Hurrikan über Florida hinweg – und hinterlässt nicht nur Verwüstung, sondern weitere Mordopfer, die im Auge des Sturms getötet wurden.

Ulysses glaubt, der Mörder will ihn ins Auge locken und er folgt dem Ruf. Doch er ist nicht alleine, denn die Journalistin Maura, mit der Ulysses ein zartes Band der Liebe verbindet, befindet sich auch auf der Jagd nach dem Mörder – und befindet sich, ohne es zu wissen, direkt bei ihm …

Jay Bonansingas Thriller „Hurricane (Twisted)“ ist ein eher unkonventionelles Buch. Schon das Motiv der Handlung – ein psychisch Kranker mordet ausschließlich im Auge des Hurrikans und sein Problem hängt mit dem Hurrikan selbst zusammen – ist eher ungewöhnlich, man möchte sogar sagen: irreal. Nun ja, der Glaube an Geister und Ähnliches, der an manchen Stellen des Buches an die Oberfläche dringt, ist sicherlich nicht gerade sehr authentisch, aber Bonansinga hat dafür eine Erklärung parat. Protagonist Ulysses, dessen Mutter aus Kenia stammt, glaubt selbst ein wenig an Geister, und dank der Einbettung in afrikanische Folklore driftet das Buch nicht in gefährliche Gewässer ab.

Im Gegenteil macht Bonansingas Roman sogar richtig Spaß. Ulysses selbst haftet zwar ein wenig Staub des typisch amerikanischen Protagonisten an – mit seiner glatten Art, dem Erfolg und der Liebe, die er nicht auf die Reihe kriegt -, aber die Handlung ist wirklich sehr gelungen. Wir finden keine übertriebene Action, sondern reale Szenen und eine unaufdringliche, aber spannende Handlung. Sie lässt den Leser lange im Dunkeln tappen, wer denn nun der Mörder ist, der sich in seiner Perspektive als „Heiliger Geist“ bezeichnet.

Die Handlung kann sich also sehen lassen, die Charaktere sitzen allerdings an einigen Stellen den üblichen Stereotypen auf. Ulysses, der geschniegelte FBI-Profiler mit Außenseiterstatus, Maura, die tapfere Journalistin mit Herz, der raubeinige Kaminsky, der Ulysses begleitet, und schlussendlich der Heilige Geist. Selbiger ist bei genauerer Betrachtung ähnlich gestört wie die meisten Mörder in amerikanischen Thrillern, was schade ist. Wäre Bonansinga hier ein wenig weiter gegangen, hätte aus „Hurricane (Twisted)“ ein herausragendes Buch werden können – auch ohne einen wirklich glänzenden Schreibstil.

Der Schreibstil ist nämlich ebenfalls ein wenig zu glatt und in dieser Form schon oft dagewesen. Zwar gelingt es Bonansinga an einigen Stellen, dank seiner distanzierten Schreibe den inneren Konflikt von Ulysses gut darzustellen, aber insgesamt mangelt es etwas an Beweglichkeit. Zu gleichförmig und barrierefrei tröpfelt das Buch dahin und büßt dabei an einigen Stellen an Spannung ein.

Insgesamt lässt sich „Hurricane (Twisted)“ aber gut lesen. Handlung, Schreibstil und Protagonisten sind gelungen und haben nur aufgrund einiger kleiner Kritikpunkte den Sprung in die Thrilleroberliga verpasst.

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Keller, Titus – Aussortiert

Wer ist Titus Keller? Eine berechtigte Frage. Immerhin brüstet sich der |Eichborn-Verlag| damit, dass hinter diesem Pseudonym ein bekannter deutscher Schriftsteller steckt. Nur wer? Das ist hier die Frage – oder auch nicht. Denn eigentlich geht es um Kellers Debüt „Aussortiert“.

„Aussortiert“ werden in diesem Krimi Leute, deren Lebenswandel dem Mörder nicht zu passen scheinen. Ein Klempner in einem Pornokino, ein Freier, während eine Prostituierte ihn gerade oral befriedigt, ein Drogendealer. Und bei allen hinterlässt er ein Kärtchen mit einer passenden Aufschrift wie „Zu unsauber für Gott. Aussortiert. Hallelujah.“

Der schrullige Kommissar Nabel und seine gut aussehende Kollegin Lidia Rauch sind nicht die Einzigen, die in dem Fall ermitteln. Auch der Reporter Jimmy Kistner (Nabel nennt seinen Arbeitsplatz auch abschätzig die Schweinezeitung) hat seine Nase in dem Fall und wird prompt ebenfalls ermordet. Als Nabel Kistners Wohnung untersucht, findet er eine Liste mit prominenten Namen, denn anscheinend hat der Journalist die erlesenen Kreise mit Kokain versorgt. Nur die erlesenen Kreise? Lidia Rauchs Name steht auch auf dem Zettel …

Vorweg: Wen interessiert schon, wer sich hinter Titus Keller verbirgt, wenn dessen Name von diesem fabelhaften Büchlein in den Schatten gestellt wird?

Kommissar Nabel gehört sicherlich zu den unterhaltsamsten Charakteren der letzten Zeit. Er ist nicht so heruntergekommen wie die Ermittler der skandinavischen Depression, aber nahe dran, doch er trägt das Ganze mit einer ordentlichen Portion bissigem Humor. Sarkastisch und gänzlich unchristlich kommentiert er seine Ermittlungen, und die Dialoge, die sich mit Kollegin Lidia (in die er heimlich verliebt ist – auf seine schrullige Art und Weise) ergeben, sind einfach nur köstlich.

Die anderen Charaktere sind ebenfalls sehr gelungen, besonders weil sie weit davon entfernt sind, politisch korrekt zu sein. Die Mitarbeiter der Berliner Polizei scheinen alle ihr kleines Geheimnis zu haben, und Keller lässt es sich nicht nehmen, seinen Protagonisten und ihrem Humor dezente Kritik an den Umständen in den Mund zu legen. Im Waschzettel des Verlags nennt sich das so schön „Parallelgesellschaften“, also Türkengangs, Dealergeschäfte, der Straßenstrich – Keller umreißt Berlin unterhaltsam als Stadt, die mehr Sumpf als Kultur ist, ohne dabei zu sehr ins Fabulieren zu geraten.

Die Handlung ist überhaupt eine sehr angenehme Angelegenheit. Sie ist sicherlich nicht die spannendste vor dem Herrn, aber logisch aufgebaut, mit überraschenden Wendungen, vielen Verdächtigen und einer klaren Spannungskurve. Da der Schreibstil und die Charaktere der Handlung jedoch sowieso die Schau stehlen, ist sie zweitrangig – und bietet trotzdem ein gutes Gerüst für den Roman. Was sie nämlich vor allem interessant macht, ist weniger die Suche nach dem Täter als die bereits erwähnte Beschreibung der verschiedenen Welten Berlins, in denen sich der Roman bewegt. Sie alle stellt Keller lebendig und authentisch dar, mit einem guten Auge für kleine, aber unterhaltsame Details.

Diese manifestieren sich vor allem im Schreibstil, der den Zuckerguss auf „Aussortiert“ darstellt. Einfach und schnörkellos erzählt Keller, immer auf der Suche nach dem humorvollen Kick. Er benutzt Metaphern, setzt gehobene Wörter ein, um die Lachmuskeln zu animieren, und überlässt es vor allem seinem zynischen, erdigen Humor, den Leser einzunehmen.

Wer ist Titus Keller? Ein Name, den man auf jeden Fall in Erinnerung behalten sollte, denn mit „Aussortiert“ hat er einen selten unterhaltsamen Roman geschrieben. Nabel gehört zu den originellsten Charakteren in Krimideutschland, die ich bis jetzt gelesen habe, und der Schreibstil geht sowohl in die Tiefe als auch in die Breite und gefällt mit seiner Schlagfertigkeit. Mehr davon!

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Donzowa, Darja – Spiele niemals mit dem Tod

Das Leben als Schriftsteller muss wunderbar sein. Ruhig und friedlich, den ganzen Tag nur am Schreibtisch sitzen und schreiben. Die Russin Darja Donzowa ist da allerdings anderer Ansicht.

Die vierzigjährige, aufgeweckte Tanja ist gerade als Haushälterin im Haus des berühmten Krimi-Autors Kondrat Rasumow und seiner jüngeren, schönen Frau eingestellt worden, als der Autor bei dem allabendlichen Kriegsspiel mit seinem vierjährigen Sohn plötzlich zusammenbricht – tot, wie sich herausstellt. Erschossen mit einer Waffe, die jemandem dem spielzeugwaffenvernarrten Wanja in die Hand gedrückt hat. Es ist ganz klar, dass der Vierjährige seinen Vater nicht mit Absicht ermordet hat, aber wer hatte dem Jungen die scharfe Waffe zugesteckt?

Für die Miliz ist der Fall klar. Es war Lena, denn Rasumow war ein ziemlicher Schürzenjäger und sie nicht sonderlich glücklich darüber. Die Einzige, die an Lenas Unschuld zu glauben scheint, ist Tanja, und die macht sich jetzt auf die Suche nach dem wahren Täter. Anhaltspunkte findet sie im letzten, noch unveröffentlichten Werk von Rasumow, in dem er über einige Menschen aus seinem Leben herzieht. Tanja beschließt, diese Leute aufzusuchen und sie darüber auszufragen, wie sie zu dem Schriftsteller standen, doch irgendwie scheinen all diese potenziellen Zeugen ums Leben zu kommen …

Einer der großen Boni von „Spiele niemals mit dem Tod“ ist die unglaublich sympathische Hauptperson Tanja, die mit ihrer resoluten Art den Haushalt des Schriftstellers auch nach seinem Tod zusammenhält. Gleichzeitig kümmert sie sich aber auch noch mit einer großen Portion Herz um die Tochter und auch um den Nachbarn Andrej, ein ehemaliger Gangster, der ihr während ihren Ermittlungen zur Seite steht.

Tanja weiß genau, wie sie an die Zeugen herankommt, und sie ist sehr geschickt, wenn es darum geht, Lügen zu erfinden, um die Leute zu treffen. Trotzdem schafft Donzowa es, Tanjas heimliche Ermittlungsarbeiten sehr authentisch wirken zu lassen, da sie nicht auf Superheldenkräfte setzt, sondern in so kleinen, nachvollziehbaren Schritten vorgeht, dass es tatsächlich real wirkt. Dabei ist ja gerade die Frage nach der Realität diejenige, die man sich in Büchern, bei denen der Normalbürger ermittelt, gerne stellt.

Donzowa meistert diese Hürde unglaublich gut und schafft es dabei auch noch, eine Menge Spannung aufzubauen. In Tanjas Leben tauchen plötzlich so viele fremde Menschen auf, dass weder sie noch der Leser wissen, wem sie jetzt eigentlich vertrauen können. Die Autorin schafft es dadurch, einige falsche Spuren auszulegen und Tanja immer tiefer in einen Sumpf geraten zu lassen, bei dem man nicht immer zwischen aufrichtigem, aber illegalem Angebot und Bosheit unterscheiden kann.

Wer ist der Mörder des Schriftstellers? Lange wird diese Frage noch nicht mal ansatzweise beantwortet, aber schlussendlich, nach vielen Wendungen und Überraschungen kommt die Wahrheit ans Licht – und ist vielleicht das Überraschendste am ganzen Buch.

Neben Tanja als Hauptperson, die aus der Ich-Perspektive erzählt, ist aber vor allem Donzowas Schreibstil bezeichnend für „Spiele niemals mit dem Tod“. Nicht umsonst wird sie auf dem Buchrücken als „Die große Satirikerin unter den Krimi-Frauen“ (|Literaturen|) bezeichnet. Gewitzt und nicht unkritisch lässt sie Tanja das Leben in Moskau beschreiben. Dabei schafft sie es auf der einen Seite, sehr liebevoll und sauber zu schreiben, so dass sich ein flüssig zu lesendes Ganzes ergibt, und auf der anderen Seite unterhält sie den Leser mit ihren kleinen Witzchen, Bemerkungen, Anspielungen, die manchmal beinahe sarkastisch klingen. Der Roman ist also in einem frischen, flüssigen, manchmal zum Lachen animierenden Stil geschrieben ist, den man sofort ins Herz schließt.

Genau wie das ganze Buch. „Spiele niemals mit dem Tod“ hebt sich schon deshalb von anderen Kriminalromanen ab, weil im Mittelpunkt eine Frau aus dem gewöhnlichen Volk steht, die gelernte Harfenistin ist, aber als Haushälterin arbeitet und dabei in eine Sache schlittert, die eigentlich eine Nummer zu groß für sie ist. Eine sympathische Protagonistin, ein Fall mit Winkeln und Ecken und ein unterhaltsamer Schreibstil – diese Zutaten sorgen dafür, dass „Spiele niemals mit dem Tod“ ein richtig gutes Buch ist!

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Seghers, Jan – Braut im Schnee, Die

|Jan Seghers ist das Pseudonym für den Frankfurter Journalisten Matthias Altenburg, unter dem er Kriminalromane schreibt. Nach „Ein allzu schönes Mädchen“ veröffentlichte er den Krimi „Die Braut im Schnee“, in dem ebenfalls der leicht verschrobene Hauptkommissar Marthaler ermittelt.|

Die Leiche einer jungen Zahnärztin wird, in grotesker Weise ausgestellt, vor ihrem eigenen Haus gefunden. Die Frau, die kaum Freunde gehabt zu haben schien, führte ein biederes Leben. Sie kannte nur die Arbeit und ihren entfernt lebenden Verlobten, einen schüchternen Installateur. Das Ermittlerteam um Marthaler kann sich überhaupt keinen Reim aus dem Verbrechen machen, doch ihr Chef Herrmann schießt sich sehr schnell darauf ein, dass ein wegen sexueller Vergehen vorbestrafter Fotograf der Schuldige ist, und zieht alle Polizeikräfte für die Fahndung nach dem Fotografen ab.

Marthaler, der noch nie ein gutes Haar an seinem Chef gelassen hat, ist mit diesem Vorgehen nicht einverstanden, was zu seiner vorübergehenden Suspendierung führt.

Als Marthaler wieder im Dienst erscheint, ist der Fall immer noch nicht gelöst. Im Gegenteil gibt es ein zweites Opfer, doch dieses Mal ist der Täter beobachtet worden …

In einem lobenden Zitat am Anfang des Buches wird erwähnt, dass es Henning Mankell war, der Jan Seghers zum Schreiben brachte. Wenn das wahr ist, dann wundert es nicht, dass man die eine oder andere Parallele zwischen Ermittlerschwergewicht Wallander und Marthaler entdeckt. Beide sind alleinstehend und eher etwas zurückgezogen, haben Figurprobleme und widersetzen sich ihren Vorgesetzten.

So weit, so gut, denn Marthaler ist im Vergleich von Wallanders manchmal schon entrückt wirkender Depressivität weit entfernt und wirkt menschlicher und alltagsnaher als der beliebte schwedische Polizist. Was ihn sympathisch macht, ist, dass er keineswegs ein Übermensch ist, sondern wie der nette Nachbar von nebenan wirkt. Ein wenig verschroben manchmal, aber an und für sich ein freundlicher Kerl. Manchmal vielleicht ein wenig zu freundlich, wenn es darum geht, in ihm eine herausragende Persönlichkeit zu sehen, die im Gedächtnis bleibt.

Ähnliches gilt für die Handlung. Die ist auch ein sehr freundlicher Kerl, lässt an einigen Stellen aber die Originalität missen. Damit ist sie in Bezug auf den Punkt Authentizität natürlich auf der sicheren Seite, denn man kann ihr nicht den Vorwurf machen, sie würde mit überzogenen, unrealistischen Ereignissen prahlen.

Allerdings nagt es an der Spannung, wenn man als Leser das Gefühl hat, Ähnliches schon einmal in einem anderen Buch gelesen zu haben. Und da hilft es noch nicht einmal, wenn der Ermittleralltag wirklichkeitsgetreu dargestellt wird, indem man zwischen dem ersten Mord und der Aufklärung über ein halbes Jahr verstreichen lässt. Die harmlose Mischung aus Marthalers Privatleben und den Mordermittlungen inklusive einiger weniger Perspektivwechsel hat zwar ihre kleinen Höhe- und Wendepunkte, läuft aber nie zur Höchstform auf.

Der Schreibstil beweist, dass Seghers alias Altenburg sein Handwerk gelernt hat. Es gibt keine Unannehmlichkeiten und das Buch lässt sich flüssig lesen, auch wenn es an der einen oder anderen zu ausschweifenden Ortsbeschreibung ruckelt.

Insgesamt ist „Die Braut im Schnee“ aber ein sehr angenehmes Buch. Nicht besonders aufregend, aber auch nicht schlecht. Ein netter Krimi für zwischendurch, aber keiner, der sonderlich lange im Gedächtnis haften bleibt.

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Pickard, Nancy – Schneeblüte

|Wenn man sich die Preise anschaut, die Nancy Pickard für ihre Kriminalromane bereits eingeheimst hat, erwartet man eigentlich eine spannende Geschichte in „Schneeblüte“. Eigentlich …|

1987 findet der junge Rex zusammen mit seinem älteren Bruder Patrick und seinem Vater, dem Sheriff des kleinen Örtchens Small Plains, die Leiche einer jungen Frau im Schnee. Es wird nie geklärt, wer sie ist oder woher sie kam, denn niemand im Dorf scheint sie zu kennen.

In der gleichen Nacht wollen Abby und Mitch zum ersten Mal miteinander schlafen, doch als Mitch aufsteht, um aus der Hauspraxis von Abbys Vater, der der örtliche Arzt ist, Präservative zu holen, kehrt er nicht mehr zurück. Als Abby am nächsten Morgen bei seinen Eltern klingelt, erfährt sie, dass sie ihn weggeschickt haben, weil er sie angeblich nicht mehr sehen wollte.

Siebzehn Jahre vergehen. Abby und Rex sind mittlerweile erwachsen und die Identität der jungen Toten ist immer noch nicht geklärt. Sie liegt in einem anonymen Grab auf dem Friedhof von Small Plains und hat über die Jahre den Status einer Wunder vollbringenden Jungfrau bekommen.

Es ist der Tod von Mitchs Mutter, der Abby aufweckt und sie daran erinnert, dass die junge Frau immer noch anonym ist. Sie versucht Rex, der mittlerweile das Amt seines Vaters übernommen, zu überreden, den Fall nochmals aufzurollen. Zufällig taucht zur gleichen Zeit Mitch wieder auf, dem man nach dessen Verschwinden vor siebzehn Jahren nachsagte, er könnte das Mädchen umgebracht haben. Abby, die sich immer noch von ihm angezogen fühlt, steht vor einem großen Konflikt …

„Schneeblüte“ ist eines dieser Bücher, die man nach der Lektüre mit einem schalen Beigeschmack zur Seite legt und feststellt, dass man doch nur Zeit verschwendet hat.

Nancy Pickards Roman weist eine Handlung auf, die durchaus schlüssig ist. Sie beginnt mit einem in der Vergangenheit liegenden Leichenfund, der dessen Beteiligte auch nach Jahren noch beschäftigt. Die Autorin versucht auch Spannung aufzubauen, indem sie die wirklichen Wesenszüge einiger Figuren im Dunkeln lässt und dem Leser Einblicke gewährt, die die Hauptpersonen nicht haben.

Trotzdem kommt während des Lesens kaum Spannung auf. Das Buch zieht sich in die Länge, weist immer wieder unnötige Passagen auf (in denen es vornehmlich um die weiblichen Probleme von Abby geht) und hat so gut wie keine sich steigernden Spannungsstufen. Seite für Seite tröpfelt das Geschehen vor sich hin, mal mehr, mal weniger vorhersehbar.

Vorhersehbar ist ein Wort, das man im Zusammenhang mit diesem Buch nicht nur einmal verwenden kann. Die Charaktere sind leider recht einfach gestrickt, geradezu oberflächlich, langweilig. Abby erscheint wie die lockerluftige Dauersinglechaotin eines Frauenromans, und das ist nicht gerade die perfekte Besetzung für ein Buch, das sich „Thriller“ nennen lassen möchte.

Hinzukommt eine klischeehafte Schwarzweißzeichnung der Dorfbevölkerung. Es gibt den Bad Boy, der vom College fliegt, wovon aber niemand etwas wissen soll, und der selbst nach siebzehn Jahren immer noch etwas unreif wirkt und zu Gewalt neigt. Es gibt die Dorfseelen, die Dorfhexen und all diese unbescholtenen Bürger, deren einziger Fauxpas zu sein scheint, in den Fall von vor siebzehn Jahren verwickelt gewesen zu sein, was ihnen aber niemand ansieht, weil sie sich wie normale Menschen benehmen. Nancy Pickard scheint voll und ganz auszuklammern, dass selbst die beste Dorfseele ihre Abgründe hat und dass die Menschen eben nicht immer nur nett zueinander sind.

Dummerweise ist der Schreibstil Pickards genauso belanglos wie die Handlung und die Personen. Gerade Letztere fallen an dieser Stelle noch mal negativ auf, da die Autorin zu exzessiven Personenbeschreibungen neigt, die sie nicht in den Erzählfluss einbettet. An solchen Stellen entstehen Brüche, die nicht hätten sein müssen und vielleicht hätten verhindert werden können, wenn Pickard sich dazu aufgerafft hätte, etwas spannender zu schreiben. Stattdessen reiht sie einen wenig tiefgründigen Satz an den anderen und stürzt den Leser damit in verzweifelte Langeweile.

Beim besten Willen, nein. Es ist sehr schwierig, an „Schneeblüte“ auch nur ein gutes Haar zu lassen. Die Handlung schleppt sich so langsam dahin wie ein trister Tag im Herbst, die Charaktere sind sehr oberflächlich und der Schreibstil glänzt durch seine Langeweile. Langeweile ist wohl der beste Begriff für ein Fazit zu diesem Buch von Nancy Pickard, denn viel mehr weiß selbiges nicht zu bieten.

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Bathurst, Bella – Feindinnen

|Jugendzeit – schöne Zeit? Bella Bathurst belehrt uns mit „Feindinnen“ eines Besseren!|

Eine Gruppe von englischen Internatsschülerinnen fährt für zwei Wochen in ein abgelegenes Schullandheim. Doch von der Erholung, die sie dort genießen sollen, bekommen die Dreizehn- und Vierzehnjährigen nichts mit, denn sie sind viel zu sehr damit beschäftigt, sich und ihre Umwelt zu beobachten.

Da wäre zum Beispiel Caz, der strahlende Stern der kleinen Gruppe, die einen perfekten Körper und Jungskontakte aufweisen kann. Hen, die magersüchtig ist und mit der Scheidung ihrer Eltern nicht zurechtkommt. Ali, die sich von den anderen Mädchen fernhält, lieber alleine auf Bäumen sitzt und Bücher liest. Izzy, die etwas dicklich ist und trotz ihrer hilflosen und nervenden Versuche keinen Anschluss an die Gruppe findet. Jules, die so sein möchte wie Caz und sich deshalb zu unschönen Erfahrungen hinreißen lässt.

Es ist die Personenkonstellation, aus der Bathurst ihre Handlung bezieht. Die Konflikte, die die Mädchen mit sich selbst und unterschwellig mit den anderen haben, treten auf dem engen Raum eines Zimmers ans Tageslicht und entladen sich in ungewollten Entjungferungen, Essensverweigerungen und allergischen Schocks. Die beiden Lehrkräfte, die sadistische Ms Naylor und die junge Geschichtslehrerin Jaws tragen ihren Teil dazu bei, dass die Atmosphäre sich nicht bessert.

Die englische Autorin weiß geschickt mit diesen Handlungsfäden umzugehen und spinnt daraus eine dichte, intensive, aber angenehm unaufdringliche Story. Spannung gibt es dagegen kaum und es ist fraglich, ob der Aufdruck „Psychothriller“ wirklich verdient ist. An und für sich gibt es nämlich noch nicht mal eine stringente Handlung. Die Geschichte stellt eher die Aneinanderreihung verschiedener, mit dem Jugendalter verbundener Ereignisse dar, die aber nicht voneinander abhängen.

Das ist in diesem Fall allerdings kein Negativpunkt, denn durch die Abwesenheit eines wirklichen Handlungstrangs kann sich Bella Bathurst völlig darauf konzentrieren, ihren Figuren und deren Erlebnissen den Raum zur Entfaltung zu geben, den sie benötigen, um den Leser zu becircen.

Die Figuren sind wirklich sehr gut getroffen, auch wenn man sie anfangs für ein wenig langweilig hält, aber sie gewinnen an Form und differenzieren sich mit dem Verlauf des Buches immer mehr voneinander, so dass man erkennt, wie sie eigentlich sind. Auf leisen Sohlen schleichen sie sich an, bis der Leser dann plötzlich, mit Erinnerung an seine eigene Jugend, sofern er diese schon hinter sich hat, feststellen muss, wie authentisch die Darstellung ist.

Die Stimmungsschwankungen und Unsicherheiten werden mit melancholischen, nüchternen Worten dargestellt, ohne zu sehr in Pathos oder Gefühlskälte abzurutschen. Bathurst trifft genau den Nerv der Jugend und überrascht dabei ab und an noch mit ein paar gelungenen Metaphern, die positiv aus den sehr trocken gehaltenen Zeilen hervorstechen. Einzig die sehr abgehackte Jugendsprache, die in den Dialogen vorkommt, stört ein wenig. Doch da dies auch an der Übersetzung liegen kann, sollte man der Autorin deswegen keinen Vorwurf machen.

Bella Bathurst hat mit ihrem Debütroman ein leises, unaufdringliches Buch geschaffen, das seinen Zauber erst nach einer Weile entwickelt. Dann allerdings auf allen Ebenen. Die Story, die Personen, der Schreibstil – alles passt zusammen und schafft ein pralles Bild vom Teenagerdasein. Ein wenig mehr Spannung an der einen oder anderen Stelle hätte „Feindinnen“ sicherlich nicht geschadet, aber auch so handelt es sich bei dem Buch um ein beeindruckendes Debüt.

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Despentes, Virginie – Bye Bye Blondie

Virginie Despentes hat sich in den letzten Jahren vom Schmuddelkind zu einer der beliebtesten Autorinnen Frankreichs gemausert. Mit „Bye Bye Blondie“ möchte sie diesen Status weiter ausbauen.

Hauptperson ist die Mitdreißigerin Gloria, eine Chaotin, die für ihre Wutanfälle gefürchtet, in ihrer Stammkneipe „Royal“ bei den Stammgästen aber sehr beliebt ist.

Eines Tages, als sie gerade von ihrem Freund rausgeschmissen worden ist, trifft Gloria auf Eric, eine Jugendliebe, die sie damals bei einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik kennengelernt hat. Nachdem sie beide entlassen wurde, verbrachten sie eine glückliche Zeit, bis Eric plötzlich wie vom Erdboden verschwand und sich nicht mehr bei ihr meldete. Das brach Gloria das Herz und als sie ihn, der mittlerweile ein bekannter Fernsehmoderator ist, auf der Straße verheult und außer sich wiedertrifft, hat sie überhaupt keine Lust, sich wieder auf ihn einzulassen.

Trotzdem folgt sie ihm nach Paris in sein schmuckes Appartement und in ein Leben voller Glitzer und Glamour, in dem sie sich als rotzfrecher Altpunk nicht gerade wohlfühlt und das auch zeigt. Ob die beiden trotzdem eine Chance haben?

Das Buch spielt in zwei verschiedenen Welten. Neben dem aktuellen Handlungsstrang erzählt die französische Autorin auch aus der Jugend der Punkerin Gloria aus anständigem Elternhaus, gegen das es sich zu rebellieren lohnte. Sie beschreibt dabei einen ganzen Lebensstil. Von spontanen Fahrten nach Paris, ohne einen einzigen Cent in der Tasche, und dem Leben auf der Straße bis hin zu Prügeleien mit Skinheads ist alles dabei und Gloria präsentiert sich als alles andere als ein liebes, nettes Mädchen. Das stößt den Eltern von Eric, die der höheren Schicht zugehörig sind, natürlich sauer auf, besonders weil Gloria noch nicht mal damit zurückhält, was sie von diesen Spießern hält.

Die Gloria von heute ist vielleicht keine Punkerin mehr, aber ganz normal ist sie trotzdem nicht. Als Sozialhilfeempfängerin mit einem Faible für Alkohol und das Anpöbeln fremder Menschen in der Öffentlichkeit lebt sie bei ihren ständig wechselnden Freunden, die sie zumeist deshalb rausschmeißen, weil sie ihre Wutanfälle nicht mehr ertragen.

Gloria ist nicht glücklich. Sie ist kaputt und gleichzeitig auf der Suche nach ein bisschen Wärme. Diese nicht ganz alltägliche Protagonistin weiß Virginie Despentes sehr schön darzustellen, ohne dabei seitenlange Beschreibungen abzuliefern. Sie beschreibt ihre Figur lieber aus deren Erinnerung heraus, so dass der Leser versteht, wieso sie handelt und was sie schon hinter sich hat.

Auch die anderen Charaktere in dem Buch wissen aufgrund ihrer Authenzität zu gefallen, und trotzdem schleicht sich da eine kleine Frage in den Kopf des Lesers, der gerne mal einen der modernen französischen Autoren wie Pille oder andere Bücher von Despentes liest. Wieso kommt einem die Konstellation eines armen Mädchens, das in die höheren Schichten aufsteigt, weil es irgendeinen neureichen jungen Mann kennenlernt, so bekannt vor? Eine gewisse Klischeehaftigkeit lässt sich folglich nicht verbergen.

Die Handlung ist auch nicht immer so goldig, wie sie laut den Kritiken glänzen sollte. Glorias Jugenderinnerungen, die einen Großteil des Buches einnehmen, sind wirklich sehr gut gelungen. Dicht, ohne Längen und sogar mit einer gewissen zwischenmenschlichen Spannung gewürzt, sorgen sie dafür, dass man das Buch lange nicht aus der Hand legen will. Besonders, wenn man von dem dargestellten Lifestyle weit entfernt ist, ist es sehr interessant zu lesen, wie die junge Gloria ihre Freizeit verbringt.

Der Erzählstrang, der sich mit der aktuellen Beziehung von Gloria und Eric beschäftigt, wirkt dagegen zum größten Teil wie die lästige Pflicht nach der Kür. Arme Sozialhilfeempfängerin trifft schneidigen Moderator und landet auf VIP-Feiern – das ist wirklich nichts Neues mehr und der Großteil der Erlebnisse von Eric und Gloria ist furchtbar vorhersehbar und langweilt dementsprechend ein wenig.

Da hilft teilweise noch nicht einmal der überzeugende Schreibstil Despentes‘. Despentes schreibt einfach, trocken, alltäglich, manchmal obszön, aber immer treffend. Sie gibt den Emotionen ihrer Charaktere nicht wirklich viel Raum, aber gerade das lässt die Emotionen umso authentischer wirken. Sie benutzt auch hier die für sie typischen Beobachtungen der kleinen Dinge des menschlichen Zusammenlebens und schmückt sie oft mit nüchternen, aber passenden Metaphern wie auf Seite 53 aus:

|“Sie nahm wohl wahr, dass sie am ehesten einem durchgeknallten Vogel glich, der für alle anderen unsichtbar Skateboard fuhr und mit gesenktem Kopf gegen alle Wände um sich herum knallte.“|

Derartige rhetorische Mittel lockern das Buch auf, auch wenn die Jugendsprache in der deutschen Übersetzung stellenweise eher grenzwertig ist. (|“Seine Nase ist rot verquollen, voll die Erbeere.“|, Seite 16).

„Bye Bye Blondie“ ist dementsprechend ein durchwachsen anmutendes Buch mit einer positiven Tendenz. Die Handlung hat ihre Höhepunkte, aber auch ihre Tiefpunkte, und die Personen sind, solange sie nicht Gloria heißen und unglaublich gut ausgearbeitet sind, manchmal etwas klischeehaft. Der Schreibstil kann sich dagegen mit seinen feinsinnigen Anspielungen, Metaphern und Beobachtungen lesen lassen.

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Ellroy, James – Black Dahlia – Die schwarze Dahlie

James Ellroy gehört zu den großen Kriminalautoren unserer Zeit, und so ist es kein Wunder, dass sein Erfolgsbuch „Die schwarze Dahlie“ im letzten Jahr mit einer Starbesetzung und unter der Regie von Brian de Palma in die Kinos kam. Für |Ullstein| ist das Grund genug, um den Roman von 1988 nochmals herauszubringen.

Im Mittelpunkt steht Ich-Erzähler Bucky Bleichert, Polizist in Los Angeles, der in Lee Blanchard, einem hochgewachsenen, meist skrupellosen Polizisten, der mit der ehemaligen Freundin eines Gangsters zusammenwohnt, nicht nur einen Partner, sondern auch einen guten Freund findet.

Das Ermittlungsgeschick der beiden ist gefragt, als 1947 die schrecklich zugerichtete Leiche einer 22-jährigen vor einem heruntergekommenen Haus gefunden wird. Bei der Toten handelt es sich um die naive Elizabeth Short, die nach L. A. gekommen war, um beim Film groß herauszukommen – wie so viele andere Mädchen. Tatsächlich landete sie ständig in den Betten anderer Männer und verstrickte sich in Lügengeschichten von Ehen mit tapferen Soldaten anstatt ein Filmstudio auch nur von außen gesehen zu haben.

Der gesamte Polizeiapparat steht unter großem Druck, denn einen Fall, der so hohe Wellen in der Öffentlichkeit schlägt, sollte man nicht ungelöst lassen. Doch obwohl Bleichert und Blanchard ihr gesamtes Repertoire an legalen und illegalen Ermittlungsmethoden ausschöpfen, kommen sie nicht voran. Währenddessen wird der Fall für Blanchard eine Art Obsession, da ihn die Tote, die aufgrund ihres exzentrischen Aussehens – sie färbte sich die Haare schwarz und trug nur schwarze Kleider – von der Presse als Schwarze Dahlie bezeichnet wird, an seine verschwundene kleine Schwester erinnert.

Und auch Bucky verliert den Bezug zur Realität. Er fühlt sich nicht nur von Kay, der Freundin Blanchards, angezogen, sondern beginnt auch ein Verhältnis mit der verwöhnten Unternehmertochter Madeleine Sprague, die sich auffällig für den Fall der Schwarzen Dahlie interessiert …

Was Ellroys Roman vor allem auszeichnet, sind der hohe Realismus und das hohe Maß an Misstrauen, das er seinen Charakteren entgegenbringt. In „Black Dahlia – Die schwarze Dahlie“ gibt es keinen strahlenden Protagonisten – jeder hat Dreck am Stecken und das, obwohl die meisten Personen Gesetzeshüter sind. Aber gerade dieser Dreck am Stecken lässt die Charaktere unglaublich authentisch aussehen und ihre undurchsichtigen Verwicklungen sorgen innerhalb der Handlung immer wieder für Überraschungsmomente.

Diese Überraschungsmomente kann die Handlung ab und an ganz gut gebrauchen. Obwohl die Atmosphäre des Buches stimmt, zieht sich die Handlung an einigen Stellen etwas zu sehr in die Länge. An anderen Stellen weiß sie dagegen zu überraschen und ein beträchtliches Maß an Spannung aufzubauen. Allerdings ist gerade die Auflösung des Falls, die zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr im Vordergrund steht, ein wenig zu haarsträubend geworden.

Was steht denn dann im Vordergrund, wenn nicht der Kriminalfall? Ganz einfach. Es ist Buckys Leben nach dem Verschwinden seines Partners Lee Blanchard. Denn „Black Dahlia – Die schwarze Dahlie“ ist mehr als ein Kriminalfall und geht weit über den stereotypen Ermittlerroman hinaus. Es behandelt viel mehr das Leben von Bleichert, zusammen mit seinen Frauengeschichten und der Männerfreundschaft zu Blanchard. Dadurch bekommt das Buch sehr viel psychologische Tiefe und hebt sich wohltuend von anderen Kriminalromanen ab.

Der Autor zeichnet folglich ein sehr düsteres Bild vom L. A. der 40er Jahre, das er mit dem ebenfalls recht düsteren Ich-Erzählerschreibstil noch eindrücklicher gestaltet. Bucky Bleichert zeichnet sich auch sprachlich nicht gerade durch Überkorrektheit aus, was zu einigen Flüchen und politisch unkorrekten Äußerungen führt. Dadurch und durch die lakonische Schreibweise entsteht eine beinahe schon filmische Atmosphäre, die an alte Ermittlerstreifen erinnert. Da sowohl Bleichert als auch Blanchard früher leidenschaftliche Boxer waren (und auch mal gegeneinander im Ring standen), würzt Ellroy seine Schreibe noch mit ein wenig Boxerslang, was das Ganze noch verruchter erscheinen lässt.

In der Summe ist „Black Dahlia – Die schwarze Dahlie“ das gestochen scharfe Portrait der Traumfabrik L. A. in den 40er Jahren und eines Ermittlerpaares, das sowohl im dienstlichen als auch im privaten Leben keine weiße Weste aufweist. Auch wenn der Kriminalroman an einigen Stellen in der Handlung schwächelt, tut er sich mit einer wunderbar düsteren Atmosphäre, großartigen Charakteren und einem dreckig-authentischen Schreibstil hervor.

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Masot, Núria – Labyrinth der Schlange, Das

„Nicht schon wieder der heilige Gral!“, möchte man schreien, wenn man „Im Labyrinth der Schlange“ von Núria Masot in die Hand nimmt und das Zeichen der Tempelritter auf dem Buchrücken entdeckt. Doch diese Sorge ist völlig unbegründet, denn der historische Krimi möchte uns nicht mit noch einer Version dieser alten Legende quälen.

Guillem de Montclar, ein junger Spion für die Tempelritter, kehrt aus Palästina nach Spanien zurück, um dort das Geheimnis des Baumeisters Serpentarius aufzuklären. Der Baumeister der Templer verschwand vor hundert Jahren spurlos aus der Gegend der Burg Miravet. Plötzlich entdeckt man in den Gemäuern des Klostern ein verborgenes Arbeitszimmer von Serpentarius und nun soll Guillem aufklären, wie der Baumeister damals verschwand.

Zur gleichen Zeit geschehen im nicht weit entfernten Wald Fontsanta mehrere Morde und die Bewohner des Klosters Santa María des Maleses und des nahe liegenden Dorfes sind in heller Aufregung. Man ruft die Templer zu Hilfe, denn vor hundert Jahren hat es bereits schon einmal mehrere Morde an der heiligen Quelle gegeben. Beginnt der Schrecken von damals wieder? Und was haben die Mönche des Klosters damit zu schaffen? Gibt es vielleicht eine Verbindung zwischen den beiden Fällen? Guillem, der ihm zur Seite gestellte Mönch Folch und der junge, clevere Stallbursche Abro müssen sich nicht nur mit Tatsachen, sondern auch mit dem Aberglauben der Gottesbrüder auseinandersetzen …

„Das Labyrinth der Schlange“ verbleibt zunächst im Fahrwasser historisch beschreibender Romane. Sowohl Handlung als auch Schreibstil sind einfach, trocken, stellenweise vielleicht sogar ein wenig spröde gehalten, was das Aufkommen von Spannung lange behindert. Gerade am Anfang scheint sich die Autorin nicht sicher zu sein, wo sie eigentlich genau hin möchte. Sie lässt zwar schon deutlich zwei Stränge durchschimmern, aber erst gegen Mitte des Buches geht es mit großen Schritten Richtung Spannung. Tatsächlich gewinnt der Roman letztendlich an Fahrt, kann die historische Lähmung aber nicht vollständig abschütteln.

Im schönen Gegensatz zu der trockenen Handlung stehen die lebendigen Charaktere, die man als Leser wirklich ins Herz schließt. Gerade Guillem sticht dadurch hervor, dass er sich durch Intelligenz und nicht vorhandenen Aberglauben von den meisten anderen Figuren im Buch unterscheidet. Auch der junge Ebro weiß zu begeistern, denn Masot gelingt die Darstellung des übereifrigen Jungen sehr authentisch. Seine fixen Ideen und seine Anhimmelung des Templers Guillem sind typisch für sein Alter und unglaublich plastisch dargestellt.

Der Schreibstil ist, wie bereits erwähnt, ein wenig trocken und anfangs auch ein wenig gewöhnungsbedürftig. Dabei benutzt Masot bzw. ihre Übersetzerin noch nicht mal besonders viele alte Begriffe. Es sind eher die verschachtelten, emotionslosen Sätze, die man erst auf den zweiten Blick entwirren kann. Erneut sind es die Personen, die die Situation retten. Die herzlichen Dialoge, vor allem zwischen den drei Ermittelnden, lockern den Erzählfluss auf, so dass der trockene Eindruck des Beginns sich mit der Zeit minimiert.

Núria Masots Roman ist sicherlich kein Glanzlicht des Genres, aber die Handlung liefert, nach anfänglichen Schwierigkeiten, gute Unterhaltung. Der Schreibstil ist zwar ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber nicht im Sinne von unlesbar, und die wunderbar ausgearbeiteten Charaktere und die steigende Spannung machen einiges wieder wett.

|Originaltitel: El Laberinto de la Serpiente
Originalverlag: Roca Editorial, Barcelona
Aus dem Spanischen von Hanna Grzimek, Anja Lutter
Taschenbuch, 576 Seiten|
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Harrison, Kim – Blutspur

In den USA ist Kim Harrison mit ihrer Protagonistin Rachel Morgan längst Kult, in Deutschland ist man erst jetzt, knapp drei Jahre später, auf den Geschmack gekommen – auf den Geschmack von mysteriösen Kräutern und Blut!

Denn Rachel Morgan ist eine Hexe. Sie lebt in Cincinnati, das jedoch mit dem „realen“ Cincinnati nicht wirklich vergleichbar ist. Es gibt dort nämlich nicht nur Menschen, sondern auch so genannte Inderländer, Wesen wie Rachel, also Hexen, Vampire, Tiermenschen, Pixies, Faeries und Dämonen. Diese Wesen haben schon immer auf der Welt gelebt, aber erst eine weltumspannende Seuche, übertragen von genmanipulierten Tomaten, führte dazu, dass die Inderländer sich ins öffentliche Leben trauten, nachdem die Bevölkerung dezimiert wurde. Nun lebt man in mehr oder weniger friedlicher Eintracht, auch wenn sich natürlich Viertel wie die Hollows gebildet haben, wo nur Inderländer leben und sich die Menschen nicht hintrauen.

Rachel arbeitet als Runner für die I. S., die Inland Security, doch sie hat die Schnauze voll von ihrem mickrigen Job und der Art ihres blasierten Chefs Denon. Also kündigt sie ihren lebenslangen Vertrag, denn sie weiß, dass Denon sie gerne los wäre. Dass sie seine beste Runnerin, den lebenden Vampir Yvy (lebend bedeutet, dass sie zwar ein Vampir ist, aber noch kein richtiger. Das geschieht erst, wenn sie stirbt und eine Untote wird), mitnimmt und diese schließlich Agenturpartner werden, war nicht vorgesehen. Deshalb hat Rachel plötzlich ein Problem, denn Denon hat alles darangesetzt, um sie umzubringen. Sie sieht nur eine Möglichkeit, um ihr Leben zu retten: Sie muss Trent Kalamack, ein hohes Tier in der Politik, des Schmuggels mit der Droge Brimstone überführen. Er ist der I. S. schon lange ein Dorn im Auge, doch bis jetzt konnte man ihm nie etwas anhängen …

Liest man ein paar Seiten von „Blutspur“, steigen unweigerlich ein paar Assoziationen auf. Die Art der Protagonistin Rachel Morgan und der Schreibstil sowie das ganze Ambiente erinnern stark an die Sorte amerikanischer Romane, in deren Mittelpunkt eine junge, toughe, gut aussehende Frau in einem Männerberuf steht, die sich als Ermittlerin oder Ähnliches gegen die Schmähungen der Kollegen, ihre Vergangenheit, ihre Gefühle und fiese Verbrecher durchsetzen muss.

Ein solcher erster Eindruck ist natürlich nicht unbedingt der beste. Schließlich möchten wir keinen neunhundertsten Aufguss dieser Thriller lesen, sondern etwas Frisches. Leider hört Harrison nicht auf unsere Bitte. Auf weiten Strecken erinnert „Blutspur“ deshalb an die einschlägige Literatur und schwächelt gerade im Spannungsaufbau ein wenig. Zu vorhersehbar und zu gewöhnlich, möchte man sagen, wenn da nicht noch dieser kleine Touch Magie und Untote wäre.

Die Welt, welche die amerikanische Autorin entwirft, ist wunderbar komplex gestaltet und die mystischen Elemente von den Vampiren bis zur Hexenkunst sind gut an unsere Zeit angepasst. Magie kann man mittlerweile studieren und es gibt Leute, die sich bereitwillig von Vampiren aussaugen lassen, im Sinne von grenzwertigen Sexualpraktiken. Rachel verhext Menschen und sich selbst hauptsächlich, indem sie Amulette benutzt, und der kleine Pixie Jenks, ihr Partner mit der großen Familie, treibt entweder seine kleinen Späßchen mit ihr, wenn er nicht gerade in eine Clanfehde mit anderen Pixies oder Faeries verwickelt ist.

Wie man sieht, vermischt Kim Harrison viele verschiedene Elemente der Mystery sehr geschickt und lässt all diese unterschiedlichen Wesen wie Elfen, Hexen und Vampire nebeneinander existieren, ohne dass das Buch zu überfüllt wirkt. Im Gegenteil macht diese Masse einen gewissen Reiz aus, weil man beständig von Neuem überrascht wird.

Was ebenfalls für den Roman spricht, ist die sympathische Protagonistin, die aus der Ich-Perspektive schreibt. Auch wenn ihre mutige, aber ab und an selbstmörderische, freche Art leicht nach dem Thrillerfrauenprototyp schmeckt, können ihre Bodenständigkeit und ihr Humor sie davor retten, zu banal zu wirken.

Die anderen Personen in dem Buch sind ebenfalls sehr gut ausgearbeitet, wobei der Pixie Jenks und seine große Familie immer wieder für ein Grinsen sorgen. Besonders Jenks resolute Frau, unter deren Pantoffel er steht, bereitet Freude, genau wie ein ehemaliger Kollege von Rachel, der aber stellenweise vielleicht ein wenig zu sehr dem Klischee des speichelleckenden Arschlochs entspricht.

Der Schreibstil passt wunderbar zu den übrigen Bestandteilen des Buches – nur leider klingt er wirklich sehr „amerikanisch“. Frech und frisch, mit ein wenig Humor versetzt und immer für eine intensive Beschreibung der Actionszenen gut. Harrison unterscheidet sich dabei nicht wirklich von anderen Autoren, was schade ist. Sie setzt kaum Akzente durch eigentümliche Formulierungen oder die Wiederholung bestimmter rhetorischer Mittel mit Wiedererkennungswert.

Deshalb bleibt „Blutspur“ letztlich doch nur „ein weiteres“ Buch. Auf dem Buchrücken wird der Roman als „Kult-Bestseller“ betitelt und die richtigen Zutaten für einen Mainstreamkult weist er definitiv auf. Eine sympathische Protagonistin (weiblich, jung, ständig in Schwierigkeiten), eine Handlung, die mit einem Hauch Sex und recht viel Crime angereichert ist, und ein verständlicher, frecher Schreibstil. Kim Harrisons Debüt ist nichts für den großen Literaturliebhaber, aber doch ein gutes Exemplar für einen unterhaltsamen Nachmittag auf dem Sofa.

|Paperback, 576 Seiten, 13,5 x 20,6 cm|
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Colfer, Eoin – Artemis Fowl – Die Akte

Alle Jahre wieder greift der Buchhandel in der Weihnachtszeit auf Bücher zurück, die eher als Fanartikel denn als „echtes“ Buch durchgehen würden. Harry Potter hatte schon seine Fanartikel, dieses Jahr ist der Nachfolgehype „Artemis Fowl“ an der Reihe …

„Artemis Fowl – Die Akte“ ist ein 175-seitiges Büchlein mit zwei neuen Kurzgeschichten über Artemis und seine Freunde bzw. Feinde, Interviews mit den Hauptcharakteren und dem Autor Eoin Colfer, das gnomische Alphabet, Steckbriefe der verschiedenen Wesen, Rätsel und ein paar Bildchen zur Ausrüstung der ZUP, der zentralen Untergrundpolizei der Elfen.

Herzstück des Buches sind natürlich die beiden neuen Kurzgeschichten, die auch ohne Vorwissen von den „echten“ Büchern über Artemis Fowl gelesen und verstanden werden können. Die erste, „Blaue Spinnen“, handelt davon, wie die Gegenspielerin des zwölfjährigen Meisterdiebs Artemis, die Elfe Holly Short, als erste Frau die Aufnahmeprüfung zur Aufklärungseinheit der ZUP besteht. Natürlich verläuft selbige nicht reibungslos, denn der aus dem Untergrund vertriebene Bruder des ruppigen, nicht gerade frauenfreundlichen Commanders Julius Roots schaltet sich ein, um sich an seinem Bruder zu rächen. Kann Holly die Situation retten, obwohl sie noch in ihren Kinderschuhen steckt?

Die zweite Geschichte, „Der siebte Zwerg“, handelt davon, wie Artemis Fowl das Diadem der Lady Fei Fei stiehlt und zudem seine Verbindungen zum Meisterdieb-Zwerg Mulch Diggums aufbaut.

Während die erste Geschichte durchaus Spannung zu vermitteln weiß, ist zweite doch ein wenig flach. Insgesamt wendet Colfer einen sehr gerafften Stil an, so dass viele Kleinigkeiten, wie sie in den Romanbüchern vorkommen und dort schön erläutert werden, keinen Platz haben. Dadurch wirken die Geschichten ein wenig lieblos, auch wenn Colfer nach wie vor starke Charaktere wie den amüsanten Julius Roots verwendet und auch mit den knallhart humorvollen Dialogen nicht spart.

Und inwieweit die „Interviews“ mit den Hauptcharakteren nötig gewesen wären, bleibt offen, denn sie muten recht lahm und brav an, dafür, dass die Charaktere in den Geschichten oft so frech sind. Im Gegenteil kann man kaum Unterschiede in den Antworten der Figuren herausfiltern, so dass die Interviews eigentlich getrost weggelassen hätten werden können.

Die Steckbriefe zu den einzelnen Wesen oder die farbigen Illustrationen der technisch sehr ausgefeilten Ausrüstung der ZUP dagegen sind ein netter Service. Man erfährt zwar nichts wesentlich Neues, aber die Dinge sind nett zusammengefasst.
Gleiches gilt für das gnomische Alphabet und die Rätsel, die liebevoll illustriert sind und den jüngeren Lesern sicherlich viel Freude bereiten werden.

Überhaupt ist dieses Büchlein wohl eher etwas für die jüngeren Leser, die noch wirklich in die Welt eines Artemis Fowl eintauchen und darin leben. Denn „Die Akte“ bringt wenig Neues, und das Neue, welches das Buch bringt, ist nicht so reizvoll, als dass ein Erwachsener es unbedingt haben müsste. Trotzdem wird dieses Buch wohl seinen Platz unter dem Weihnachtsbaum gefunden haben – warum auch nicht? Eine nette Geschenkidee für das Kind, den Enkel, den Neffen oder die Nichte ist es allemal.

|Siehe ergänzend dazu unsere [Rezension 3135 der Lesung von Rufus Beck.|

Massaron, Stefano – toten Kinder, Die

Wenn man mich fragt, welches zu rezensierende Buch ich in diesem Jahr am liebsten gelesen habe, dann gibt es nur eine Antwort: „Die toten Kinder“ von Stefano Massaron.

Wie? Nie davon gehört? Das sollte sich aber schnell ändern …

Schauplatz des Romans ist Mailand im Sommer 1977, genauer gesagt die Arbeitersiedlung der „Bienenstöcke“, wie die alten Hochhäuser überall genannt werden. In den Bienenstöcken wohnt auch eine Bande von Kindern zwischen neun und zwölf Jahren, deren Lieblingsspielort ein alter Schrottplatz ist. In dem Koloss aus Eisen, welcher den Hauptteil des Schrottplatzes ausmacht, haben sie ihre kleine Höhle. Doch ihr Frieden wird bedroht, als ein kleines Mädchen geschändet und erschlagen auf dem Schrottplatz gefunden wird. Für Carmine, den Anführer der Bienenstockbande, ist der Täter sofort klar. Der Sabberer, ein harmloser Geisteskranker, soll die kleine Magherita vergewaltigt und ermordet haben. Doch Carmine irrt, denn wenig später wird seine eigene Schwester entführt. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …

Allerdings steht nicht Carmine im Vordergrund, so wie das vielleicht in der Beschreibung anmuten mag. Vielmehr ist es Sandro, aus dessen Sicht – sowohl 1977 als auch 2003 – erzählt wird, und es ist Cinzia. Sandro ist in Cinzia, die kratzbürstige Streberin, die Carmine offen die Stirn bietet, verliebt, was ihn gleichzeitig von den anderen isoliert. Im Jahr 2003 sehen die beiden sich endlich wieder – nachdem die Vergangenheit die beiden eingeholt. Sandro kommt damit nicht zurecht und verspürt den Drang, nicht nur zu rekapitulieren, sondern die Angelegenheit auch zu klären.

Neben diesen beiden Perspektiven erzählt Massaron aber auch subtil und meisterhaft aus der Sicht des Täters. Selbiger ist dem Leser von Anfang an bekannt und trotzdem schafft Massaron es, innerhalb der Handlung Spannung aufzubauen. Schon alleine die Frage, ob die Bienenstockbande Carmines Schwester retten kann, sorgt dafür, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen will.

Schuld daran ist auch der phänomenale Schreibstil des Italieners, der weit über das hinausgeht, was man bei seinen Kollegen sieht. Er macht die Worte und die Schrift geradezu zu seinen Sklaven. So kommt es, dass er zum Beispiel die Gedanken des pädophilen Täters wiedergibt, aber neben den „normalen“ Gedanken in Klammern auch noch die böse innere Stimme sprechen lässt. Ähnlich verfährt er mit den Erinnerungen, die Sandro lieber unterdrücken möchte.

Durch derartige Geschicklichkeiten, aber auch durch die raffinierten Perspektiven- und Zeitsprünge, die immer wieder für Brüche im Erzählfluss sorgen, gelingt es Massaron, ein überaus lebendiges Bild der Geschichte zu gestalten. Lebendig und spannend, denn die düstere Spannung ist allgegenwärtig, so wie das drohende Streichergewitter im Hintergrund eines guten Thrillers.

Doch Massaron macht sich nicht nur die Schriftform völlig zu Eigen und reichert es zudem mit Mails, Worddokumenten und Bautafeln an. Er verfügt auch über entsprechende rhetorische Mittel. Metaphern, grandiose Erinnerungen aus den Köpfen von Kindern, dazu Stilmittel wie Wiederholungen und Metaphern.

Was ebenfalls Beachtung verdient hat, ist Massarons Umgang mit seinen Protagonisten, allesamt im besten Alter, nämlich der Pubertät. Er schafft es, sie perfekt darzustellen, nämlich als Mittelwesen zwischen Kindheit und Jugend. Der Einfluss der Eltern ist noch unübersehbar, jedoch werden die Gleichaltrigen, vor allem die der eigenen Bande immer wichtiger, genau wie das andere Geschlecht.

Massaron schafft also das, woran viele Autoren schon verzweifeln, wenn sie nur eines der vielen Elemente, die der Italiener verwendet, zu einem Roman verarbeiten wollen. Kindheitserinnerungen, Pubertierende als Charaktere, ein Pädophiler, eine Thrillerhandlung und ein Schreibstil für die Götter. Was will man mehr? Hier ist alles in einem wunderbaren Buch versammelt, das man einfach lieben muss. Hier gewinnt das Wort „Kunst“ wieder an Bedeutung!

http://www.rowohlt.de