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David Goyer & Michael Cassutt – Himmelsschatten

Im August des Jahres 2019 kehren die USA in den Weltraum zurück: Was eigentlich als Mondfahrt geplant war, wird zum Planetenbruchstück „Keanu“ umgeleitet, das – von weit außerhalb des Sonnensystems kommend – diesem einen Besuch abstattet. Bevor „Keanu“ wieder den Weiten des Alls verschwindet, will man ihn erforschen. Die „Destiny 7“ wurde unter dem Kommando von Zack Stewart auch deshalb an den Start gebracht, um der ‚Konkurrenz‘ eins auszuwischen: Ein russisch-indisch-brasilianisches Konsortium hat das Raumschiff „Brahma“ in den Raum geschossen. Auf keinen Fall werden die USA Taj Radhakrishnan und seinen drei Kollegen das Feld allein überlassen!

Sowohl der „Destiny“ als auch der „Brahma“ gelingt die Landung auf dem 100 km durchmessenden Himmelskörper, der sich vor Ort als außerirdisches Raumschiff entpuppt. Die insgesamt sieben Raumfahrer schließen sich zwecks Untersuchung zusammen, während auf der Erde Hektik ausbricht: Für die USA gilt immer noch eine 1948 erlassene Militärdoktrin, nach der außerirdische Intelligenzen als potenzielle Feinde zu betrachten sind.

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Goyer, David S./Cassutt, Michael – Himmelsschatten

_Das geschieht:_

Im August des Jahres 2019 kehren die USA in den Weltraum zurück: Was eigentlich als Mondfahrt geplant war, wird zum Planetenbruchstück „Keanu“ umgeleitet, das – von weit außerhalb des Sonnensystems kommend – diesem einen Besuch abstattet. Bevor „Keanu“ wieder den Weiten des Alls verschwindet, will man ihn erforschen. Die „Destiny 7“ wurde unter dem Kommando von Zack Stewart auch deshalb an den Start gebracht, um der ‚Konkurrenz‘ eins auszuwischen: Ein russisch-indisch-brasilianisches Konsortium hat das Raumschiff „Brahma“ in den Raum geschossen. Auf keinen Fall werden die USA Taj Radhakrishnan und seinen drei Kollegen das Feld allein überlassen!

Sowohl der „Destiny“ als auch der „Brahma“ gelingt die Landung auf dem 100 km durchmessenden Himmelskörper, der sich vor Ort als außerirdisches Raumschiff entpuppt. Die insgesamt sieben Raumfahrer schließen sich zwecks Untersuchung zusammen, während auf der Erde Hektik ausbricht: Für die USA gilt immer noch eine 1948 erlassene Militärdoktrin, nach der außerirdische Intelligenzen als potenzielle Feinde zu betrachten sind.

„Keanu“ hat inzwischen ein Todesopfer gefordert: Im Inneren fanden die Forscher eine lebensfreundliche Zone, in der allerdings die insektenähnlichen „Wächter“ ihr Unwesen treiben, von denen einer den Piloten „Pogo“ Downey in Stücke reißt. Wenig später ist Pogo wieder da: „Keanus“ Erbauer verfügen über eine Technik, die es ermöglicht, Tote ins Leben zurückkehren zu lassen. Stewart hat inzwischen seine verstorbene Gattin Megan wiedergetroffen.

Doch sind die „Revenants“, wie man sie nennt, überhaupt Menschen? Welche Überraschungen brütet „Keanu“ noch aus? Kreuzt er zufällig die Erdumlaufbahn? Was planen seine weiterhin unbekannten Erbauer …?

_Tanz auf dem Quark_

Bekanntlich können auch kleine Dinge gewaltige Schatten werfen, wenn die Sonne tief genug steht. Ersetzen wir die „kleinen Dinge“ durch den hier zu besprechenden Roman und die Sonne durch die von der Werbung geschürte Erwartungshaltung, passt das Bild perfekt in seinen Rahmen. Dabei stellt dieses ziegelsteindicke Buch, dass als Tüpfelchen auf dem I den grandiosen Titel „Himmelsschatten“ trägt, dennoch nur die Ouvertüre eines gewaltigen Epos‘ dar, das sich über zwei mindestens ebenso seitenstarke Bände fortsetzen wird – allerdings ohne diesen Rezensenten, der nach der Lektüre deutlich missmutiger als Marcel Proust über die Spuren der verlorenen (Lebens-) Zeit sinniert.

Da haben wir also eine Geschichte, die sich im Original über 400 Seiten wälzt – der Umfang wird in der deutschen Übersetzung auf deutlich mehr als 600 dürftig bedruckte Seiten aufgebläht – und doch nur Einleitung bleibt. Schlimmer als eine Geschichte ohne Pointe ist eine langweilige Geschichte, die man zu allem Überfluss bereits kennt. Unter diesen drei Hieben geht „Himmelsschatten“ zu Boden. Dies geschieht nicht erst, wenn man das Buch gelesen zuklappt, sondern bereits nach dem ersten Viertel, wenn man bemerkt, dass die Autoren uns nicht wirklich etwas zu sagen haben und außerdem mit einer Dreistigkeit Seiten schinden, die einfach ärgert.

Noch das unwichtigste Detail wird lang und breit erläutert und erklärt, was sicher notwendig ist, da die Handlung von „Himmelsschatten“ so dürftig bleibt, dass sie kaum eine Kurzgeschichte tragen könnte. Was Peter Jackson mit dem „Hobbit“ schafft, können wir schon lange, dachten sich Goyer & Cassutt offensichtlich. Sie vergaßen dabei, dass Schaumschlägerei im Film einfacher fällt, wenn dort eindrucksvolle Bilder die Zuschauer ablenken.

|An die Zukunft denken!|

In diesem Zusammenhang lässt eine Information tief blicken. Für „Himmelsschatten“ wurden die Filmrechte bereits verkauft. Goyer, der bisher ohnehin hauptsächlich für Film und Fernsehen schreibt, arbeitet an einem Drehbuch für das Studio Warner Brothers. Wenn daraus nichts wird, könnte er den Stoff zu einer TV-Serie umschneidern, die man bereits deutlich vor dem inneren Auge ablaufen sieht: Hin und wieder gibt es teure Spezialeffekte, zwischendurch Fernseh-Füllstoffe: Klischee-Figuren haken Klischee-Probleme ab, zanken und vertragen sich, feiern |familiy values| und andere Werte.

Solche Erklärungen sucht man auf der verzweifelten Suche nach einer Antwort auf die Frage, wieso Käse jener Stink-Stufe, die „Himmelsschatten“ erreicht, als Meilenstein der Unterhaltungsliteratur verkauft werden kann. Träge säumen öde Ereignisse, die nicht nur in der Science-Fiction schon viel zu oft ausgemolken wurden, den Platt-Plot. Überraschungen fallen aus, für Zeitvertreib sorgt höchstens ein privates Quiz, bei dem sich der Leser die Frage stellt, wo er bereits besser gesehen oder gelesen hat, was er gerade ertragen muss.

Tempo sollen kurze Kapitel sowie der regelmäßige Sprung zwischen den Ereignissen auf „Keanu“ und auf der Erde suggerieren. Doch die einen sind einschläfernd, die anderen lassen ob ihrer abgedroschenen Gefühlsduseleien den leserlichen Blutdruck in die Höhe schnellen.

|Was ist flacher als ein Blatt Papier?|

Goyer & Canutt lassen in der Figurenzeichnung kein Fettnäpfchen aus. Da haben wir den gefühlvollen aber willensstarken US-Helden, der nicht nur mit dem kindischen Spitznamen „Zack“ geschlagen ist, sondern darüber hinaus den charismatischen, verständnisvollen Raumschiff-Kapitän, den sich in Sehnsucht an die tragisch verstorbene Gattin verzehrenden Witwer, den halbherzig neu verliebten Mann UND den überforderten Vater einer heftig pubertierenden Tochter geben muss.

Letztere sorgt auf der Erde für jenen Trubel, den im US-Fernsehen pubertierende Töchter üblicherweise anrichten. Selbstverständlich hasst Rachel die Schwiegermutter in spe, ist dem Vater entfremdet, mit dem Handy verwachsen, verstößt manisch selbst gegen unwichtige Regeln und ist auch sonst die reinste Nervensäge.

Die tote Gefährtin/Mutter taucht später wiederbelebt in „Keanus“ Bauch auf, wo sie und Zack damit beschäftigt sind, zwei Jahre getrenntes Liebes- und Familienleben aufzuarbeiten. Manchmal gibt Megan Erinnerungsschnipsel an ihr Geisterdasein frei, die geheimnisvoll wirken und die Ankunft der „Konstrukteure“ vorbereiten sollen, die „Keanu“ konstruierten und bauten. Bereits diese dürren Infos lassen den Rest der heißen Luft aus der Blase, die eigentlich drei Bände „Heaven’s Shadow“ in die oberen Ränge der Bestsellerlisten tragen soll.

|Quirlen, quirlen, quirlen!|

Niemand interessiert sich für die stewartschen Familienproblemchen. Niemand interessiert sich für sämtliche anderen Figuren, die ebenfalls mit einer denkbar stumpfen Schere aus jenem Papierbogen geschnitten wurden, der ihre Charaktertiefen definiert. Wer will wissen, dass Astronautin Yvonne Hall mit ihrem Über-Vater hadert, der ‚zufällig‘ ein hohes Tier im NASA-Control-Center ist? Dennoch malträtieren uns Goyer & Canutt mit endlosen Passagen einschlägiger Erinnerungen, Identitätskrisen und Gewissensnöte, die rein gar nichts zur Handlung beitragen, die währenddessen faul auf der Stelle dümpelt.

Manchmal reicht es nicht einmal für Routine. An einer Stelle wird der ebenfalls wiederbelebte Astronaut „Pogo“ Downey – was finden US-Amerikaner bloß an dümmlichen Spitznamen? – urplötzlich verrückt. Selbst die rudimentäre Zeichnung des noch lebenden Pogo gibt dafür keinen Grund. Der war bisher der grobe, fröhliche, für lahme Witze zuständige Sidekick. Nun mutiert er zum Mörder und Saboteur, weil Goyer & Cassutt nichts Besseres einfällt, um die Raumfahrer möglichst dramatisch auf „Keanu“ stranden zu lassen.

Unbeholfen versucht sich das Autorenduo zu schlechter Letzt an der Kritik irdischer Verhältnisse, bleibt dabei jedoch stets an der Oberfläche: Die daraus resultierende Bedeutsamkeiten sind reine Behauptung, weil es der Leser (und spätere Zuschauer) erwartet, dass Wissenschaftler liebenswerte Idealisten und Politiker machtgeile Schurken sind und Militärs den Finger ständig am Abzug haben.

Auf diese Weise wird „Himmelsschatten“ zu einem Instant-Bestseller aufgeschäumt. Wer die Originalität fürchtet aber Versatzstücke schätzt, wird diesen Roman lieben. Auch der Umfang muss nicht schrecken: „Himmelsschatten“ ist so strukturiert, dass man notfalls nur den ersten und letzten Absatz eines (und nicht einmal jedes) Kapitels lesen muss, ohne den Anschluss an die Handlung zu verlieren. Wer auch an Unterhaltungslektüre höhere Erwartungen stellt, sollte den „Himmelsschatten“ auf der Suche nach sonnigeren Lektüre-Gefilden schleunigst und ohne den Gedanken an eine Rückkehr verlassen.

_Verfasser_

_David Samuel Goyer_, geboren am 22 Dezember 1965 in Ann Arbor, US-Staat Michigan, studierte an der University of Southern California, die er 1988 mit einem Abschluss der „School of Cinema-Television“ verließ. Bereits ein Jahr später verkaufte er ein erstes Drehbuch für den 1990 mit Jean-Claude van Damme in der Titelrolle entstandenen Film „Death Warrant“ (dt. „Mit stählerner Faust“).

Seit den 1990er Jahren schreibt Goyer für verschiedene Comic-Serien wie „Doctor Strange“, „Ghost Rider“, „Batman“, „Superman“ und „The Flash“. Für „Blade“ verfasste er zusätzlich die Drehbücher für den zweiten und dritten Kinofilm; „Blade: Trinity“ wurde 2004 von Goyer inszeniert, für „Batman Begins“ (2005), „Batman: The Dark Knight“ (2008), „Batman: The Dark Knight Rises“ (2012) und „Man of Steel“ (2013) schrieb er an den Drehbüchern mit. Auf Goyers Konto gehen allerdings auch Film-Gurken wie „Jumper“ (2008), „The Unborn“ (2009) oder „Ghost Rider: Spirit of Vengeance“ (2011).

_Michael Joseph Cassutt_ wurde am 13. April 1954 in Owatonna, US-Staat Minnesota, geboren und wuchs in Hudson, Wisconsin, auf. Nach der High School studierte er an der University of Arizona in Tucson Medien- und Kommunikationswissenschaft. Anschließend schlug sich Cassutt als Discjockey durch, leitete einen Radiosender und ging schließlich zum Fernsehen. Für den Sender CBS brachte er Drehbücher und Scripts zur Serienreife.

Ab 1985 schrieb Cassutt verstärkt selbst für das Fernsehen. Zu den zahlreichen Serien, die auf seine Vorlagen zurückgriffen, gehören „Eerie, Indiana“, „The Outer Limits“, „The Dead Zone“ oder „Stargate SG-1“. Selbst vor die Kamera trat Cassutt für den History Channel; hier schrieb und moderierte er Dokumentationen über Astronomie und Weltraumfahrt.

Parallel zu seinen TV-Aktivitäten verfasste Cassutt Romane und Kurzgeschichten, wobei er sich auf die Genres Science-Fiction und Fantasy spezialisierte. Eine erste Kurzgeschichte erschien 1974, der Roman-Erstling „The Star Country“ 1986. Darüber hinaus veröffentlicht Cassutt Artikel zu Themen der Luft- und Raumfahrt und ist Autor der Enzyklopädie „Who’s Who in Space“, die Lebensläufe von 700 Astronauten und Kosmonauten sammelt. Zwischen 2000 und 2009 schrieb Cassutt eine monatliche Kolumne: „The Cassutt Files“ beschäftigte sich mit Kino- und TV-SF.

Mit seiner Familie lebt und arbeitet Michael Cassutt in Los Angeles.

|Taschenbuch: 639 Seiten
Originaltitel: Heaven’s Shadow (New York : Ace Books 2011)
Übersetzung: Ingrid Herrmann-Nytko
ISBN-13: 978-3-453-52999-1
eBook: 965 KB
ISBN-13: 978-3-641-09216-0|
http://www.randomhouse.de/heyne

Akers, Tim – Untoten von Veridon, Die

_Die „Burn-Cycle“/Veridon-Serie:_

(2009) [Das Herz von Veridon]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=8131 |(Heart of Veridon)| – Bastei Fantasy 20666
(2011) Die Untoten von Veridon |(Dead of Veridon)| – Bastei Fantasy 20686

_Das geschieht:_

Obwohl er zu einer der prominenten Gründerfamilien der Hafenstadt Veridon gehört, ist Jacob Burn tief gefallen. Von seinem Vater, Mitglied des mächtigen Rates, wurde er verstoßen. Zum Kleinkriminellen heruntergekommen, hat es Burns sich sogar mit dem Gaunerkönig von Veridon, verdorben. In Gesellschaft seines eher waghalsigen als intelligenten Gefährten Grau Anderson schlägt sich Burn mit obskuren, stets gefährlichen Aufträgen durch, die niemand sonst übernehmen will. Aktueller Kunde ist der mysteriöse Erfinder Ezekiel Cranich. Für ihn soll Burn eine Ladung an die Fehn liefern. Diese seltsamen Symbionten beleben die Leichen derer, die im Wasser des Flussdeltas ertrinken, an dem Veridon errichtet wurde.

Wie er es befürchtet hat, wird Burn betrogen: Der Inhalt der Lieferung lässt die Fehn zu mordgierigen Zombies mutieren, die aus dem Wasser steigen und über die Bürger von Veridon herfallen. Für das daraus resultierende Blutbad wird Burn verantwortlich gemacht und eingesperrt. Ausgerechnet die Ratsfrau Angela Tomb, die nach einer missglückten Intrige nur noch mit Maschinenhilfe überleben kann, holt ihn aus dem Gefängnis – eine ‚Gefälligkeit‘, die selbstverständlich mit einer Gegenleistung zu entgelten ist.

Burn identifiziert Cranich als ein Mitglied der „Schöpfergilde“, die noch vor dem Rat über Veridon herrschte. Cranichs Sippe fiel einem grausamen Strafritual zum Opfer, für das der letzte Überlebende nun Rache fordert. Dank jahrzehntelanger Vorbereitung und unheimlicher Verbündeter ist Cranich stark genug, sich nicht nur mit dem Rat, sondern auch mit Veridons „Kirche des Algorithmus'“ anzulegen. Er plant die Auslöschung der herrschenden Oberschicht, weiß aber nicht, dass er selbst nur noch Strohmann einer uralten Kreatur ist, die in einem Kerker tief unter den Mauern von Veridon auf die Gelegenheit für eigene Rache lauert …

_Retro-Fantasy fast ohne Steampunk-Dämpfe_

Veridon ist eine angenehm erdferne Fantasy-Welt. Zwar sind die Ähnlichkeiten zu einer irdischen Großstadt des frühen 19. Jahrhunderts deutlich. Autor Akers schäumt jedoch keineswegs Phantastik-Routinen auf, für die längst eine Schublade mit der Aufschrift „Steam-Punk“ existiert. Dieses Etikett wurde ursprünglich für eine Science-Fiction geprägt, die in den Zukünften ‚alternativer‘ Vergangenheiten schwelgt, in denen keine Flugzeuge, sondern gewaltige Luftschiffe den Himmel beherrschen und die notwendige Energie per Dampfmaschine erzeugt wird.

Die Fantasy griff dieses Konzept auf; es bot sich als Ergänzung typischer Spannungselemente nicht nur an, sondern passte auch sonst ins Genre. Also zogen die erwähnten Luftschiffe jetzt auch an den Himmeln mehr oder weniger exotischer Welten ihre Bahnen, während auf dem Boden keine Wissenschaftler, sondern Magier, Ungeheuer und andere Grusel-Gestalten ihr unterhaltsames Unwesen trieben: Der Fantasy wird gern ein Quäntchen Horror beigemischt.

Auf den Dampf möchte Akers nicht verzichten. Retro-Hightech mag ein Widerspruch in sich darstellen, doch zweifellos ist sie attraktiv. Akers geht einen Schritt weiter: Die im Klappentext erwähnten „Zombies“ werden nicht durch Dampf in Gang gehalten, sondern per Nanotechnik ins ‚Leben‘ zurückgerufen.

|Magisch aber nicht zauberhaft|

Veridon ist ein fremdartiges Pflaster. Im zweiten Teil einer offensichtlich geplanten Serie kristallisiert sich heraus, dass Veridon wohl nicht identisch mit einer ‚alternativen‘ Erde ist. Den Fluss herunter treiben Relikte, die von der „Kirche des Algorithmus'“ als Bruchstücke einer Technik erkannt werden, die den Menschen verlorengegangen ist. Möglicherweise ist Veridon Teil einer fremdplanetaren Kolonie und wurde im Rahmen einer irdischen Zukunft besiedelt, die in Vergessenheit geraten ist.

Technik ist der Welt von Veridon überhaupt näher als Magie. Sie wird in einer Weise genutzt, die – siehe die oben erwähnten ‚Zombies‘ – auf den ersten Blick an Zauberei erinnert. Ignoriert man die fantasyastischen Kulissen, werden Elemente der Science-Fiction erkennbar. Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht der abermalige Auftritt des „Engels“ Camilla, der wie ein Cyborg wirkt.

Das gegenwärtige Veridon ist eine Stadt, die von den Menschen beherrscht wird. Dahinter scheint immer wieder eine düstere Vergangenheit durch, die der „Anansi“ Wilson mehrfach zur Sprache bringt. Er gehört einer intelligenten, spinnenähnlichen Spezies an, die offensichtlich zur ursprünglichen Bevölkerung des Planeten zählt. Die Anansi wurden von den Menschen bzw. ihren „Celestianern“ genannten Ahnen – „coelestis“ ist ein lateinisches Adjektiv und bedeutet „von himmlischer Ab- oder Herkunft“ – verdrängt und offensiv ausgerottet, was Wilson zum Außenseiter auf seiner eigenen Heimatwelt stempelt.

|Das universelle Spiel um Macht|

Die einst fremde Welt ist den Menschen inzwischen so zur Heimat geworden, dass sie kaum noch Gedanken an ihre Exotik verlieren. Mit Seltsamkeiten wie den Fehn hat man sich arrangiert. Handel und Handwerk florieren, die unpolitische „Kirche des Algorithmus'“ beschäftigt sich in erster Linie mit eigenen Plänen und beansprucht keine Führerrolle. Ganz anders denkt der Rat von Veridon übernommen, dessen Mitglieder in einem nie wirklich durchschaubaren Kleinkrieg um die Macht in der Stadt verwickelt sind.

Ständig wechselnde Bündnisse, Verrat und Intrigen bestimmen den Alltag in einem Maß, das echte Regierungsarbeit beinahe unmöglich macht: Autor Tim Akers versteht es, eine daraus resultierende Gegenwart zu schildern, in deren Regelwerk große Nischen gerissen wurden. Hier haben sich Parallel-Gesellschaften angesiedelt, die abseits von Rat und Kirche geduldet werden, solange sie beiden Institutionen nicht allzu deutlich in die Quere kommen.

Diverse Nischen blieben jedoch unbeachtet und sind Brachen oder Lücken geblieben. Hier konnte Ezekiel Cranich eindringen und sich festsetzen, um Rache zu nehmen. Zusätzliche Tarnung erfuhr er durch die freiwillige Hilfe der Familie Tomb, die seine Existenz vor den anderen Ratsfamilien geheim hielt. Veridons Mächtige haben ihren Untergang damit selbst verschuldet – eine Entwicklung, die geschickt in die Handlung integriert wird, um dieser einen weiteren Twist in eine vom Leser unerwartete Richtung zu verleihen.

|Undurchschaubare Intrigen & Geheimnisse|

Der Plot ist durchaus komplex. Hinter jedem gelösten Geheimnis tritt ein neues Rätsel oder eine böse Überraschung hervor. Ständig werden die Karten neu gemischt. So ist es möglich, dass Hauptfigur Jacob Burn vom Dieb und Verfemten zum Terroristen und Gefangenen und wenig später zum Ratsmitglied und Anführer eines bewaffneten Stoßtrupps zur Rettung Veridons werden kann.

Nicht immer beugt sich Burn dem Sog der Ereignisse. Er ist ein Held, der sich sträubt, zum Retter zu werden. Auf seine Weise passt er so perfekt zu den übrigen Figuren, die alle Geheimnisse hegen. Nicht einmal die Geschichte von Veridon ist offiziell. Man hat sie so sorgfältig ‚gereinigt‘, dass sie sogar den Nachfahren derer, die dafür verantwortlich zeichnen, unbekannt geworden ist. Veridon gleicht nicht nur im Stadtbild einer Zwiebel mit ihren zahlreichen Schichten. Die Lüge ist dem Rat und der Kirche zur zweiten Natur geworden. So heftig klammern sie sich an ihre Privilegien, dass sie ihre Menschlichkeit notfalls aufgeben und mit nur halb verstandenen Maschinen zu beinahe unsterblichen Cyborgs verschmelzen.

Burn kann sich dem nicht völlig entziehen, was ihn als Charakter interessant macht. Ohne den Schleier von Täuschung und Hinterlist bleibt ausgerechnet Wilson, der unmenschliche Spinnenmann. Er ist stets bestrebt, den Dingen auf den Grund zu gehen. Stärker noch als die ‚echten‘ Wissenschaftler hat er sich von vorgefassten Meinungen und Dogmen freigemacht. Mit den obskuren Relikten einer geschönten Vergangenheit vermag er sich deshalb vorurteilsfrei auseinanderzusetzen.

Vieles bleibt weiterhin offen in und über Veridon. Der interessierte Leser muss gleichwohl Geduld aufbringen. Anders als viele seiner schreibenden Kolleginnen und Kollegen walzt Akers die Geschichte/n seiner Welt nicht zur unendlichen Serie aus, die er in tausendseitigen Episoden mindestens jährlich auf den Buchmarkt wirft, solange es ein Publikum dafür gibt. Eine Fortsetzung der Veridon-Saga steht derzeit in den Sternen; Akers hat sich stattdessen einer ganz anderen Fantasy-Story gewidmet.

_Autor_

Tim Akers wurde am 12. Dezember 1972 als Sohn eines Theologen im US-Staat North Carolina geboren. Eigene Studienjahre verbrachte er in Chicago, wo er noch heute lebt. Nach eigener Aussage begann er Anfang der 2000er Jahre ernsthaft und mit dem Ziel zu schreiben, seinen Lebensunterhalt als Schriftsteller zu verdienen. Dies ist Akers noch nicht gelungen, seit er 2009 mit „Das Herz von Veridon“, dem ersten Band der „Burn-Cycle“-Serie debütierte, weshalb der Autor hauptberuflich weiterhin in der Datenverarbeitung tätig ist.

|Paperback: 334 Seiten
Originaltitel: The Dead of Veridon (Oxford : Solaris Books/Rebellion Publishing Ltd. 2011)
Übersetzung: Michael Krug
ISBN-13: 978-3-404-20686-5
Als eBook: 560 KB
ISBN-13: 978-3-8387-1940-5|
http://shadoth.blogspot.de
http://www.luebbe.de

Rendell, Ruth – vergessene Tote, Der

_Die |Inspektor-Wexford|-Romane von Ruth Rendell:_

01. |From Doon with Death| (1964, Alles Liebe vom Tod)
02. |A New Lease Of Death/The Sins of the Fathers| (1967; Mord ist ein schweres Erbe)
03. |Wolf To The Slaughter| (1967; Schweiß der Angst/Den Wolf auf die Schlachtbank)
04. |The Best Man to Die| (1969; Mord am Polterabend)
05. |A Guilty Thing Surprised| (1970; Der Liebe böser Engel)
06. |No More Dying Then| (1971; Schuld verjährt nicht)
07. |Murder Being Once Done| (1972; Die Tote im falschen Grab)
08. |Some Lie and Some Die| (1973; Phantom in Rot)
09. |Shake Hands For Ever| (1975; Der Kuss der Schlange)
10. |A Sleeping Live| (1978; Leben mit doppeltem Boden)
11. |Put on by Cunning/Death Notes| (1981, Durch Gewalt und List)
12. |The Speaker of Mandarin| (1983; Durch das Tor zum himmlischen Frieden)
13. |An Unkindness of Ravens| (1985; Die Grausamkeit der Raben)
14. |The Veiled One| (1988; Die Verschleierte)
15. |Kissing the Gunner‘s Daughter| (1992; Eine entwaffnende Frau)
16. |Simisola| (1994; Die Besucherin)
17. |Road Rage| (1997; [Wer Zwietracht sät 1771 )
18. |Harm Done| (1999; [Das Verderben 2918 )
19. |The Babes in the Wood| (2002; [Dunkle Wasser 340 )
20. |End in Tears| (2002; Ein Ende mit Tränen)
21. |Not in the Flesh| (2007; Der vergessene Tote)
22. |Monster in the Box| (2009)
23. |The Vault| (2011)

_Das geschieht:_

Eigentlich sucht der alte Jim Belbury auf Old Grimble’s Field bei Flagford nach Trüffel-Pilzen, die auch in der englischen Grafschaft Sussex gedeihen. Stattdessen gräbt Hündin Honey eine knöcherne Totenhand aus der Erde. Die alarmierte Polizei birgt später das vollständige Skelett eines Mannes, der hier vor mindestens zehn Jahren verscharrt wurde.

Da dies heimlich und damit sicherlich in verbrecherischer Absicht geschah, werden Ermittlungen in Gang gesetzt. Zuständig ist die Kriminalpolizei von Kingsmarkham, wo der Fall an Inspektor Wexford geht. Die Nachbarn und der Eigentümer des Grundstücks werden befragt. John Grimble ist ein schwieriger Zeuge, der mit allen Behörden über Kreuz liegt, seit ihm untersagt wurde, auf Old Grimble’s Field Mietshäuser zu errichten. Vor elf Jahren hatte er in Erwartung der Baugenehmigung einen Abwassergraben anlegen lassen, der wieder zugeschüttet werden musste – eine Gelegenheit, die der unbekannte Mörder nutzte, um sein Opfer loszuwerden.

Auf dem Grundstück steht noch der Bungalow, den einst Grimbles Vater bewohnte. Der Sohn wollte ihn für die Neubauten abreißen. Da sich dieser Plan zerschlug, ließ er das Haus leer stehen und verrotten. Als die Polizei die Ruine routinemäßig durchsucht, entdeckt man im Kohlenkeller ein weiteres Skelett. Dieser Mann kam vor acht Jahren ums Leben, wie forensisch festgestellt werden kann.

Die Vermutung liegt nahe, dass zwischen den Knochenfunden ein Zusammenhang besteht. Allerdings bereitet es nach so vielen Jahren große Schwierigkeit, die Leichen zu identifizieren. Die Nachbarn verschanzen sich hinter kollektivem Unwissen, doch Wexford und seine ebenso kundig wie geduldig ermittelnden Kollegen stoßen auf diverse Lücken in diversen Alibis. Hier lässt sich ansetzen, bis Stück für Stück ein Verbrechen ans Licht kommt, wie es so komplex und bizarr nur das wahre Leben schreiben kann …

_Bekannte Qualitäten_

Wenn eine 76-jährige Autorin ihren 59. Thriller veröffentlicht, der gleichzeitig der 21. Band einer Serie ist, die 964 gestartet wurde, darf sich der Leser vor allem auf eines einstellen: Routine. „Der vergessene Tote“ bietet genau das, wenn man „Routine“ als „in jahrzehntelanger Erfahrung gereiftes Handwerk“ definieren möchte. Natürlich wohnt dem Wort eine weitere, weniger positive Bedeutung inne, die auf eine allzu großzügige Anwendung generell bekannter, oft verwendeter und nur variierter Plots und Figurenzeichnungen zielt. Auch das trifft auf „Der vergessene Tote“ zu, wie selbst der enthusiastische Fan der Wexford-Romane von Ruth Rendell zugeben muss.

Beginnen wir mit dem Erfreulichen: „Der vergessene Tote“ ist ein moderner Kriminalroman der alten englischen Schule. Darin liegt kein Widerspruch, setzt man die „alte Schule“ mit jener Sorgfalt gleich, die angelsächsische Krimi-Meister beiderlei Geschlechts seit vielen Jahren in ein Genre investieren, das von der hehren Literaturkritik lange und zum Teil noch heute als schnöde Unterhaltung abqualifiziert wird – was selbst dann Unrecht wäre, träfe es zu.

Verbrechen – Ermittlungsstart – Irrtum und Sackgasse – Einkreisung des Täters – logische aber überraschende Auflösung: Die Eckpfeiler des „Whodunit“ stehen fest in diesem Roman, der darüber hinaus in der unmittelbaren Gegenwart wurzelt und sich keineswegs in jene welt- bzw. alltagsabgeschiedenen Winkel zurückzieht, in denen sich der Rätselkrimi gern ansiedelt. Kingsmarkham mag eine fiktive Stadt sein, doch die geschilderten Probleme spiegeln die gegenwärtige Realität sehr wohl wider.

|Kriminalistisches Treiben jenseits der Mode|

Der Plot ist angemessen verzwickt aber nicht überkonstruiert. Gleich zwei Skelette unterschiedlichen Ablagealters werden entdeckt. Die vom Krimi lesenden Publikum erwartete Spannung resultiert u. a. aus der Frage, ob und in welchem Zusammenhang diese beiden Leichen stehen. Rendell biegt für den gewünschten Effekt die Gesetze der Wahrscheinlichkeit ein wenig zurecht, was indes höchstens den Puristen stören wird, für den glasklare (Krimi-) Logik das Maß aller Dinge ist.

Die gibt es hier nicht, und sie wird auch nicht vermisst, denn Rendell hat die Handlung so gut im Griff, dass logische Brüche und Schlampigkeiten im Detail – wieso kann ein Hund ausbuddeln, was vor Jahren mehr als metertief begraben wurde? – zur Kenntnis aber nicht übelgenommen werden. Außerdem liebt die Realität manchmal obskure Zufälle, die aufzugreifen sich mancher Schriftsteller nicht trauen würde.

Das Tempo ist gemächlich, denn die Ermittlungen werden von Profis durchgeführt, die ihren Job verstehen. In Kingsmarkham ist der Revieralltag nicht von Mobbing und Konkurrenzkämpfen gekennzeichnet, ohne die der moderne britische Polizei-Thriller kaum mehr auszukommen scheint. Zwar gibt es Konflikte, doch letztlich ziehen alle im Dienst der Sache – die hier altmodische Gerechtigkeit heißt – an einem Strang.

|Wiedersehen mit alten Bekannten|

Was moderne kriminalistische Techniken betrifft, bleibt Rendell eher vage. Ihre Krimis kommen ohne CSI-Wunder aus. Computer werden erwähnt, Handys genutzt, aber generell bleibt dieser Teil des Polizeiapparates im Hintergrund. Ermittelt wird noch vor Ort und mit sehr viel Fußarbeit. Rendell kann sich hier geschickt auf ihre Hauptfigur berufen: Wexford ist ein Veteran, der die Hightech akzeptiert, sie aber nicht selbst bedient. Einerseits muss er das aufgrund seines inzwischen erreichten Ranges nicht, andererseits will und kann er es im fortgeschrittenen Lebens- und Dienstalter nicht mehr. Dies passt zu ihm, denn Wexford ist ein Kriminalist, der Fakten nicht digital zusammenpuzzeln lässt, sondern sie analog im eigenen Schädel wälzt, bis sie sich zu einem Mosaik fügen, das die Tatgeschichte widerspiegelt.

Inzwischen haben Rendells Leser Wexfords Leben beruflich wie privat mehr als vier Jahrzehnte verfolgt. Der Inspektor ist älter geworden, aber er altert nicht in realen Jahren. Beliebte Nebenfiguren wie der Kollege und Freund Michael Burden treten auf, selbstverständlich sind auch Gattin Dora und der Rest der Familie wieder mit an Bord. Frühere Wexford-Krimis werden angesprochen; es hat sich über die Jahre eine Chronik entwickelt, die nicht nur die Familie Wexford, sondern auch die Stadt Kingsmarkham erfasst. Sie hat sich seit 1964 stark verändert, was das kriminelle Milieu ausdrücklich einschließt.

Schon früh wurden Wexford und seine Familie zu Schnittpunkten, an denen Rendell krimiferne Elemente knüpfen konnte. Der Polizist ist immer auch Mensch, und die Berücksichtigung dieses Aspekts ist im Krimi der Jetztzeit eine Selbstverständlichkeit – leider, muss man oft sagen, da die Grenze zwischen vertiefter Charakterisierung und Seifenoper schmal bzw. schmierig ist. Zwar begeht Rendell nicht den Fehler, den Krimi zum Beziehungsdrama mit schmückendem Krimi-Beiwerk herunterkommen zu lassen und ihre Werke dabei immer weiter aufzublähen – der Elizabeth-George-Faktor -, doch sie ist nicht immun gegen die Verlockung, ihre beliebten Krimis als Plattform für Botschaften zu nutzen, die ihr jenseits der Krimispannung wichtig sind.

|Politisch korrekt & mit Botschaft|

Noch als ironische Übertreibung könnte man den Eifer werten, mit der einige Rendell-Figuren sich in politisch korrektem Gutmenschentum förmlich aufreiben. Vor allem Detective Sergeant Hannah Goldsmith überschreitet mit ihrem unkontrollierbar gegen Chauvinisten und Umweltverschmutzer gerichteten Beißreflex die Grenze zur Lächerlichkeit. Allerdings gehört Rendell einer Frauengeneration an, die sich ihre Rechte buchstäblich erkämpfen musste und deshalb weiterhin wachsam mit dem Gewehr bei Fuß bereitsteht.

Zur Predigt entartet Rendell ein Subplot, der mit dem eigentlichen Kriminalfall nichts zu tun hat: Wexford und eine Gruppe ähnlich gesonnener Aktivisten bemühen sich, ein somalisches Mädchen vor der traditionellen Beschneidung zu retten. Zwar ist dieser barbarische Akt nicht nur in England gesetzlich verboten, doch er wird heimlich und notfalls im Rahmen eines Auslands-‚Urlaubs‘ vollzogen. Das Problem wird gern verdrängt, da die Beschneidung zu jenen undankbaren Themen gehört, mit denen man sich politisch nur in die Nesseln setzen kann. Rendell bezieht Stellung, doch ein Kriminalroman ist dafür der falsche Ort, wenn dies so didaktisch, mit betroffen erhobenem Zeigefinger und im Stil einer staatlichen Aufklärungsbroschüre vermittelt bzw. der Geschichte aufgeladen wird.

Die Wexford-Serie wird diesen unnötigen, selbst verursachten Tiefschlag überstehen. Schon die früheren 20 Bände waren nicht durchweg gelungen. Immer kam jedoch ein neuer Krimi, der den Leser wieder versöhnte. Auch dieses Mal kann man darauf hoffen, denn Rendell ist keineswegs im Ruhestand: Nach „Der vergessene Tote“ erschienen bereits zwei weitere Wexford-Krimis – eine erfreuliche Information.

_Autorin_

Ruth Rendell wurde 1930 in South Woodford/London geboren. Sie arbeitete zunächst als Journalistin, bevor sie sich als Schriftstellerei selbstständig machte. Hier schreibt sie als Ruth Rendell die seit vier Jahrzehnten bei Kritik und Publikum ungemein beliebten Inspektor-Wexford-Romane. Unter dem Pseudonym „Barbara Vine“ verfasst Rendell serienungebundene Bücher, die weg vom klassischen Krimi eher psychologisch die menschlichen Abgründe ausloten.

Rendell hat bisher mehr als fünfzig Romane sowie unzählige Kurzgeschichten vorgelegt. Ihr erstaunliches Arbeitstempo geht mit einer bemerkenswerten Niveaustabilität einher. Nicht nur Verlage und Medien feiern sie deshalb als „Königin der Kriminalliteratur“. Auch ihre Kolleginnen und Kollegen zollen ihr Anerkennung: Allein drei Mal wurde Rendell mit dem Edgar Allan Poe Award ausgezeichnet. Königin Elizabeth II., die auch einen guten Krimi schätzt, hat sie in den Adelsstand erhoben. Dame Ruth Rendell lebt und arbeitet in London.

|Taschenbuch: 348 Seiten
Originaltitel: Not in the Flesh (London : Hutchinson 2007)
Übersetzung: Eva L. Wahser
ISBN-13: 978-3-442-37979-8|
http://www.randhomhouse.de/blanvalet

_Ruth Rendell bei |Buchwurm.info|:_
[„Unschuld des Wassers“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6442

MacBride, Stuart – Knochensplitter (Logan McRae 7)

_|Logan McRae|:_

01 [„Die dunklen Wasser von Aberdeen“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=2917
02 [„Dying light“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6758
= [„Die Stunde des Mörders“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=3739
03 [„Der erste Tropfen Blut“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4940
04 [„Flesh House“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6760
= [„Blut und Knochen“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5792
05 „Blinde Zeugen“
06 [„Dunkles Blut“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7164
07 [„Shatter the Bones“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=8190
= _“Knochensplitter“_

_Das geschieht:_

Der ohnehin hektische Alltag der Grampian Police im ostschottischen Aberdeen hat sich zum permanenten Ausnahmezustand gesteigert, seit vor sechs Tagen Alison McGregor und ihre sechsjährige Tochter Jenny entführt wurden. Sie hatten als Gesangsduo an der Fernseh-Casting-Show „Britain’s Next Big Star“ teilgenommen und die Zuschauer zu Tränen gerührt.

Die Kidnapper haben Mutter und Tochter aus ihrem Haus entführt. Sie stellen keine Lösegeldforderung, sondern fordern die Fans der Alisons auf, Geld zu sammeln, das sie nach Ablauf einer nicht genannten Frist einfordern werden. Sollte die Summe zu gering ausfallen, werden Alison und Jenny umgebracht. Um zu zeigen, dass es ihnen Ernst ist, schicken die Entführer der Polizei einen abgeschnittenen Kinderzeh.

Auch Detective Sergeant Logan McRae ist in die Fahndung eingespannt, obwohl ihm mindestens ein ungelöster Fall zusätzlich zu schaffen macht: Eine drogensüchtige Frau wurde wahrscheinlich von Gangstern entführt, die eine Geldschuld eintreiben wollen, und schwebt in Lebensgefahr. Ihr Lebensgefährte macht McRae dafür verantwortlich und droht mit gewaltsamen Konsequenzen.

Im Büro stößt McRae nicht nur die üblichen Kollegen vor die Köpfe. Der arrogante Superintendent Green von der „Serious Organized Crime Agency“ mischt sich in die Ermittlungen ein. Während McRaes unkonventionelle Vorgesetzte Roberta Steel dessen ‚Vorschläge‘ zu ignorieren weiß, tritt McRae in jedes mögliche Fettnäpfchen. Daheim fordert Freundin Samantha mehr Anwesenheit, die McRae nicht bieten kann, da sich umso stärker in den Fall McGregor verbeißt, je länger die Entführung dauert. Obwohl die Täter keinerlei verräterischen Indizien hinterlassen haben, kommt ihnen der zähe Beamte allmählich auf die Schliche. Allerdings vernachlässigt McRae dabei seine Deckung auf anderen Kriegsschauplätzen und muss bitter dafür büßen …

_Kollektiver & kommerzieller Irrwitz_

Über das Phänomen der TV-Casting-Shows haben sich Mahner ebenso wie Spötter in den vergangenen Jahren mehr als ausgiebig und oft sogar klug geäußert. Diese Veranstaltungen haben ihren Titel längst zur Travestie verkommen lassen, da die Teilnehmer nur vorgeblich gecastet, sondern in erster Linie vorgeführt und ausgebeutet werden.

Das Seltsame und Beunruhigende ist die krude Kumpanei, die zwischen den Teilnehmern, den Ausrichtern besagter Shows und deren Publikum existiert: Sie wissen alle um die Verlogenheit dieser Programme. Nach Jahren des immer gleichen Getöses haben auch die Dümmsten begriffen, dass die Teilnahme an oder gar der Sieg in einer solchen Show keineswegs mit dem Startschuss zu einer Märchenkarriere gleichzusetzen ist. Seit dem Zeitalter der römischen Arena-Kämpfe ist das Publikum keineswegs reifer geworden. Weiterhin giert es nach neuen Sensationen bzw. neuen Köpfen, auf wenn diese heute nicht mehr (oder noch nicht wieder) abgeschlagen werden. Kandidaten werden dennoch wie Gladiatoren verheizt; kaum hat man ihnen den Siegeslorbeer aufgesetzt, hetzt man sie in den nächsten Kampf. Ist der letzte Tropfen Blut aus ihnen herausgepresst, lässt man sie fallen.

Wie gesagt haben dies auch die Kandidaten selbst begriffen, was sie nicht abhält, sich in die sinnlose Schlacht zu stürzen. Stuart MacBride geht nun einen Schritt weiter – oder zurück, indem er das Vorbild der antiken Spiele nutzt, um abermals Blut fließen zu lassen. Dies geschieht unter einer simplen Fragestellung: Wie weit gehst du als Kandidat, um dem Teufelskreis zu entrinnen? MacBride findet eine konsequente, drastische und sehr unbehagliche Antwort.

|Alltäglicher Jammer im Glanz der Übertreibung|

Die Logan-McRae-Romane boten dem Leser schon immer harten Stoff. Ohnehin brutale Verbrechen werden bizarr bis zur Schmerzgrenze (und gern darüber hinaus) gesteigert. MacBrides Kritiker werfen ihm Zynismus auf der Suche nach dem grellsten Effekt vor. Sie übersehen – oder wollen übersehen -, dass die Intensität der Darstellung sehr wohl einen Zweck verfolgt: Den (Zeige-) Finger in die Wunde zu legen oder ihn gar predigend zu erheben, hat selten zur Besserung eines Missstandes geführt. Der Mensch ist durchaus willens zu helfen, doch er hasst es, belehrt oder gezwungen zu werden.

Seit jeher bietet Unterhaltung eine Möglichkeit, Nachdenklichkeit dort zu erzeugen, wo Eifer und Didaktik ins Leere laufen. MacBride mag auf einem selbst angefachten Vulkan tanzen, doch man gibt ihm Recht, wenn er konstatiert, dass die moderne Gesellschaft aus dem Lot geraten ist. In früheren Romanen hat er skrupelarme Politiker, profitfixierte Konzerne oder das organisierte Verbrechen karikiert und dennoch in ihrer alltäglichen Erbärmlichkeit offenbart. Dieses Mal nimmt MacBride gezielt die Medien bzw. die Mediengeilheit einer ihnen hörigen Gesellschaft aufs Korn, ohne dabei die üblichen Feindbilder zu vernachlässigen.

Denn das Verbrechen gedeiht deshalb so prächtig (und nicht nur in Aberdeen), weil die Mächtigen und Skrupellosen dieser Welt miteinander vernetzt sind. Eine Hand wäscht die andere. Den Letzten in dieser Kette beißen die Hunde, weshalb jede/r tunlichst bemüht ist, einen noch Schwächeren zu finden, den man dorthin schubsen kann. In „Knochensplitter“ ist die Reihe dieser Trittbrettfahrer besonders lang.

|Die Festungsmauern bröckeln|

Auf zunehmend einsamerem Posten steht das Gesetz oder besser: die Polizei, die in McRaes Welt des alltäglichen Wahnsinns dazu verurteilt ist, ihm Geltung zu verschaffen. In diesem Punkt folgt MacBride dem Beispiel des US-Kollegen Joseph Wambaugh, der vor allem in den 1970er und 80er Jahren in seinen Cop-Krimis sehr präzise nachgezeichnet hat, wie grundsätzlich und ursprünglich engagierte Männer und Frauen verrohen, zynisch werden und schließlich ausbrennen, wenn sie an sämtlichen Fronten unter Feuer genommen werden.

„Fort Apache“ nennen die Beamten ihr Polizeirevier in Heywood Goulds Cop-Krimi-Klassiker „The Bronx“ (1984), denn sie wähnen sich mitten im Feindesland. In Aberdeen ist man ähnlich isoliert. Längst hat der Feind jedoch auch im Inneren der Festung Fuß gefasst. Die Polizisten kämpfen nicht nur gegen eine Kriminalität, die sie allein in der Quantität der begangenen Taten überfordert. Immer wieder schwelgt MacBride in Szenen, die seine Polizisten im Kampf mit den Tücken einer Ausrüstung zeigen, die veraltet oder defekt ist oder gänzlich fehlt.

Der Verfall greift auf eine zunehmend abgestumpfte Gesellschaft über: |“Logan … schaute aus dem Fenster … Drei Stockwerke tiefer, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, pinkelte jemand in das offene Verdeck eines falsch parkenden Porsche – direkt vor dem Präsidium der Grampion Police. Ein solches Ausmaß an Dummheit konnte man nur bewundern.“| (S. 435) „Knochensplitter“ ist eine Fundgrube entsprechender Szenen: In Kleinigkeiten spiegelt sich der Vormarsch einer längst nicht mehr schleichenden Apokalypse wider.

Zum effektiven Helfershelfer wird die Bürokratie. „Rationalisierung“ wird beschönigend genannt, was realiter als Verteilung immer neuer Pflichten auf immer weniger Beamte umgesetzt wird. Der Papierkram nimmt auch im angeblich digitalen Zeitalter stetig zu, denn hungrige Anwälte und die Medien warten auf den kleinsten Fehler, um daraus Kapital zu schlagen. Dieses Mal sitzen McRae und seine (zu) wenigen Mitstreiter in einem ‚Büro‘, dessen unverputzte Wände mit Plastikfolien abgedeckt werden und deren Inventar die Beamten aus dem Sperrmüll ziehen müssen.

|Der Krug & der Brunnen|

Im siebten Band steigert sich das Trommelfeuer auf Logan McRae noch einmal. Er wird u. a. von einem Rottweiler angefallen und gleich mehrfach niedergeschlagen, man brennt seine Wohnung nieder, ständig regnet es, und jeder Vorgesetzte sitzt ihm nicht nur im Nacken, sondern an der Kehle. Zwar reagiert McRae lange mit der üblichen Mischung aus Resignation und mühsam verschleierter Unbotmäßigkeit, doch sein Panzer bekommt dieses Mal nicht nur Risse. Die ungerechte Welt dringt buchstäblich zu seinem ungeschützten Inneren vor. Das hat Folgen: McRae verbündet sich mit einem Gangsterboss, um einen Verdächtigen zu schnappen, dessen die Polizei nicht habhaft wird, um Selbstjustiz zu üben. Hier bleibt der Humor vollständig ausgeblendet.

Dies betrifft auch jene Szenen, in denen MacBride das erlittene Martyrium aus der Sicht der entführten Jenny beschreibt. Ohne Rücksicht auf ein Unbehagen, das die Misshandlung ’nur‘ eines fiktiven Kindes auskommen lässt, dokumentiert der Autor ein grausames Verbrechen, dessen düstere Wirkung durch eine Auflösung gesteigert wird, die Täter und Opfer zu Komplizen macht.

Wenn Polizisten im Buch oder Film ausgelaugt sind, kommt garantiert der Moment, indem sie den Bettel hinwerfen wollen. Dann muss der müde Krieger wieder aufgebaut werden. Außerdem ist er ohnehin ein Ritter, der ohne den Dienst für die Gerechtigkeit gar nicht leben könnte. Im Finale ist die Krise überwunden, der nächste Fall kann kommen. Wie es mit Logan McRae weitergeht, ist offen. Zumindest persönlich verlassen wir Leser ihn am absoluten Tiefpunkt seines Lebens. Der nächste Band ist bereits geschrieben. Es geht also weiter, aber ob oder besser: wie und mit einem (gegen alle Wahrscheinlichkeit sogar beförderten) McRae, bleibt spannungssteigernd ungewiss.

_Autor_

Stuart MacBride wurde im schottischen Dumbarton geboren. Die Familie zog wenig später nach Aberdeen um, wo Stuart aufwuchs und zur Schule ging. Studiert hat er an der University in Edinburgh, die er indes verließ, um sich in verschiedenen Jobs (Designer, Schauspieler, Sprecher usw.) zu versuchen. Nach seiner Heirat begann MacBride Websites zu erstellen, stieg bis zum Webmanager auf, stieg in die Programmierung ein und betätigte sich in weiteren Bereichen der Neuen Medien.

Stuart MacBride lebt heute wieder in Aberdeen.

|Gebunden: 510 Seiten
Originaltitel: Shatter the Bones (London : HarperCollinsPublishers 2011)
Übersetzung: Andreas Jäger
ISBN-13: 978-3-442-54699-2
Als eBook: 718 KB
ISBN-13: 978-3-641-09437-9|

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|Als (ungekürztes) Hörbuch (gelesen von Detlef Bierstedt): 914 min.
ISBN-13: 978-3-8445-0876-5|
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Carter Dickson (= John Dickson Carr) – Die Treppe des Königs

Eine schöne aber durchtriebene Schauspielerin wird unter bizarren Umständen ermordet, die der Polizei so viele Rätsel stellen, dass man den exzentrischen aber genialen Privatdetektiv Merrivale an den Tatort ruft … – ‚Unmöglicher‘ Mord im alten englischen Landhaus, alle Anwesenden sind verdächtig, die Indizien vage: Rätselkrimi der alten Schule von einem John Dickson Carr auf der Höhe seines Könnens.
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Masello, Robert – Knochengrube

_Das geschieht:_

Während Paläontologe Carter Cox für das Naturgeschichtliche Museum des Los Angeles County die Knochen vorzeitlicher Tiere aus dem zähen Natur-Asphalt der La Brea Tar Pits zieht, beschäftigt sich Gattin Elizabeth, Kunsthistorikerin im Dienst des J.-Paul-Getty-Museums in nahen Brentwood, mit einer Jahrhundert-Entdeckung, einem vor tausend Jahren entstandenen Bestiarium, das ihr der wahrlich geheimnisvolle Eigentümer bringt.

Mohammed al-Kalli steht nicht nur einem uralten arabischen Adelsgeschlecht vor, sondern ist auch nach seiner Flucht aus dem Irak ein unermesslich reicher Mann geblieben. Außerdem sind die al-Kallis seit mehr als einem Jahrtausend Hüter einiger wahrhaft fabelhafter Wesen. In einem privaten, von der Außenwelt sorgfältig abgeschirmten Zoo halten sie mythische aber quicklebendige Kreaturen wie den Mantikor, den Greifen oder den Basilisken. Al-Kalli hat sie ins Exil retten können. Doch in der kalifornischen Fremde kränkeln die Wesen. Verzweifelt sucht al-Kalli Hilfe, ohne sein Geheimnis zu lüften. Er hofft auf Hinweise in dem uralten Buch „Edens wilde Tiere“. Elizabeth soll es für ihn übersetzen. Zusätzlich gedenkt al-Kalli ihren Gatten zu Rate zu ziehen, der zwar kein Tierarzt aber irgendwie doch ein Spezialist für urzeitliches Getier ist.

Dummerweise erregt al-Kalli die Anwesenheit der tumben Ex-Soldaten Greer und Sadowski. Sie haben sich ebenfalls in Los Angeles niedergelassen, wo sie sich mit kleinen Diebstählen (Greer) und der Vorbereitung der arischen Revolution (Sadowski) die Zeit vertreiben. Nun planen sie, sich am Eigentum des Einwanderers zu vergreifen, ohne freilich über dessen ‚Zoo‘ Bescheid zu wissen. Wie der Zufall (in Gestalt des ideenarmen Autors) spielt, treffen die meisten Figuren der oben skizzierten Handlung in einer turbulenten Nacht in al-Kallis Bestiarium aufeinander, das nur wenige lebendig wieder verlassen werden …

_Knochentrockene Spannungs-Lektüre_

550 durchaus kleinbuchstabig bedruckte Buchseiten stellen eine Herausforderung dar. Man stellt sich ihr als Leser nur, wenn das Thema Interesse erregt. Für die Freunde der Phantastik ist dies hier gegeben, denn wer wäre nicht neugierig, Basilisken, Mankitore u. a. Fabelwesen in Hollywood umgehen zu sehen? Was sie ausgerechnet dorthin verschlägt, müsste der Autor klären, doch dies wird zu einer der deprimierend zahlreichen Herausforderungen, an denen Robert Masello scheitert.

Dabei gelang ihm ein klassischer Einstieg, der lumpige US-Soldaten in „Three-Kings“-Manier im Irak-Krieg zeigt, der ihnen vor allem die Möglichkeit bietet, sich fern der Heimat und ihrer misstrauischen Gesetzeshüter die eigenen Taschen zu füllen. In dieser Umgebung hätte Masello die gesamte Handlung ansiedeln sollen. Bereits der Exodus, der den Hüter der Bestien und seine Brut ausgerechnet nach Kalifornien bringt, wird zu einem der Logikbrüche, die der Leser nur mühsam überwindet. Masello schweigt sich über das „Wie“ klugerweise einfach aus; er scheint die Ansicht zu vertreten, dass Geld einfach alles möglich macht – den Schmuggel nashorngroßer Ungeheuer inklusive.

Solche Hürden würde ein guter Autor hinter sich lassen, indem er auf das Gaspedal drückt. Masello kann nur auf einen leistungsschwachen Motor zurückgreifen, der nie auf Tempo kommt. Sobald die erwähnte Einleitung ihr Ende gefunden hat, schaltet er zurück und später viel zu oft in den Leerlauf. Spannung kann auf diese Weise nicht aufkommen.

|Viele Einfälle, wenig Handlungsrelevanz|

Masello versucht dies durch ein Füllhorn von Ideen auszugleichen, unter denen er freilich den Plot begräbt. Die meisten der angerissenen Themen stellen nur künstliche Verwicklungen dar, die mit dem eigentlichen Geschehen nur marginal oder gar nichts zu tun haben bzw. es künstlich auf Länge bringen. „Knochengrube“ wirkt wie ein schlampig und überprall gefüllter Reisekoffer, der schier aus den Nähten platzt.

Viele Seiten schildern Carter Cox, der in seinen geliebten Teergruben nach Urzeit-Knochen wühlt und dabei zufällig einen menschlichen Pechvogel ausgräbt, der einst dem Rand zu nahe gekommen war. Obwohl es der deutsche Titel suggeriert, gibt es keinerlei zwingenden Zusammenhang mit der ursprünglichen Handlung. Masello arbeitet sich stattdessen an einem seiner Lieblingsthemen ab: Wie steht es um die hehre (Natur-) Wissenschaft in einer Gegenwart, die auch die Forschung vor allem ökonomisch sowie multimedial tauglich wünscht? Seine Befürchtungen ehren ihn, doch er fasst sie trivial und klischeeplump und vor allem so ausführlich in Worte, dass sie ins Kontraproduktive umschlagen.

Seine Weitschweifigkeit bekommt Masello generell nie in den Griff. Er hat über die von ihm aufgegriffenen Themen recherchiert, wie er in einem Nachwort angibt, kann sich aber nicht von dem erworbenen Wissen trennen, sondern zwingt es der Handlung auf, statt es bei Bedarf einfließen zu lassen. Das Ergebnis ist als Roman weder Fisch noch Fleisch, sondern in erster Linie zäh.

|Mr. Saubermann & Mrs. Langweilig|

Das Ehepaar Cox – Carter & Elizabeth – stellt sich Masello als Verbindung zwischen Indiana Jones und Lara Croft vor. Er gräbt nach Knochen, sie wühlt nach vergessenen Schriftstücken. Wie es im realen Wissenschaftler-Leben höchst selten aber im Wissenschafts-Thriller glücklicherweise ständig geschieht, stolpert unser Paar regelmäßig über Sensationelles. Damit ist beileibe nicht die wissenschaftliche Sensation gemeint, die nebenbei und eher pflichtschuldig unter dem Motto „Lesen heißt hier auch lernen“ abgehandelt wird, sondern die daraus resultierenden Verwicklungen.

Die sind in der Regel politischer, militärischer oder religiöser Art, weil besagte Forscher über Mysterien stolpern, die stets missgelaunte und mächtige Munkelmänner lieber ungelüftet sähen. Dies führt zuverlässig zu ausgedehnten Verfolgungsjagden, in denen der wissenschaftliche Aspekt mit der Logik weit zurückbleibt. In der Krise mutieren auch Carter & Elizabeth zu Indiana & Lara. Mit der Linken fahren sie Bösewichten in die Parade, mit der Rechten wehren sie hungrige Fabelbestien ab. Die Füße bedienen Gas- und Bremspedal, denn im großen Finale muss u. a. in rasanter Fahrt Baby Joey auf einem brennenden Hügelhaus gerettet werden.

Wenn zwischenzeitlich tatsächlich in Feldlager, Labor oder Archiv gearbeitet wird, kommt wie gesagt garantiert etwas Interessantes zum Vorschein. Ansonsten müssen sich Carter & Elizabeth als redliche Wissenssucher, die sie sind, mit bürokratischen Vorgesetzten, leicht beleidigten Geldsäcken u. a. Lästlingen auseinandersetzen, über die sie schließlich als wahre Idealisten und Gutmenschen zuletzt lachen und dabei der Forschung manchen großen Dienst erweisen.

Das alles drückt sich als Figurenzeichnung kaum auf die Buchseiten durch. Carter & Elizabeth sind kluge, hübsche, unendlich fade Gutmenschen und hohle Helden wider Willen. Dies fällt im Umfeld dieses Romans nicht auf, denn hier tummeln sich ausschließlich Pappkameraden. Klischees reihen sich an Dummheiten, die in diesem Salventakt unerträglich werden.

|Was tun sie hier, warum gibt es sie?|

Dazu trägt bei, dass es für viele der umständlich und aufwendig eingeführten Figuren keinerlei Existenzberechtigung gibt. Dies schließt fatalerweise Elizabeth Cox als Hauptfigur ein. Kapitel um Kapitel hockt sie in ihrem Büro und entschlüsselt ein uraltes Manuskript. Was sie dabei herausfindet, ist für das Geschehen völlig unerheblich, was als eigener Handlungsstrang aufgezogen wurde, endet kläglich ohne Höhepunkt.

Dem Hauptstrang ergeht es nur marginal besser. Man sollte meinen, Masello konzentriere sich auf die Fabelbestien. Mit ihnen weiß er jedoch nichts anzufangen. Meist lungern sie kränklich in ihren geheimen Käfigen herum und fressen höchstens einen Saddam-Schergen, den ihnen der US-vorurteilsreich geschilderte Finsterling al-Kalli vorwirft. Deshalb wringt sich Masello einen dritten Handlungsstrang aus dem Hirn, der nun gar keinen Sinn mehr ergibt: Zwei ausgebrannte Veteranen wollen al-Kalli erst berauben; dann lässt sich der eine vom anvisierten Opfer anheuern, während der andere mit faschistoiden Redneck-Kumpeln einen Weltenbrand anzettelt. Später tauchen sie aber doch im al-Kalli-Bestiarium auf, weil dort ohne sie die Handlung endgültig zum Stillstand käme.

Dem Fass die Krone ins Gesicht schlägt ein mysteriöser Supermann namens „Arius“. Ihm sind Carter & Elizabeth erstmals im Roman „Das letzte Relikt“ (Fischer-TB 18844) begegnet. Seitdem ist er so etwas wie ihr Schutzengel. Heuer geistert er durch das Naturgeschichtliche Museum und begräbt dort die Knochen aufgefundener Ur-Amerikaner, weil diese unter die Erde und nicht in eine Vitrine gehören. Anbiedernder Schwachsinn dieser Art ist leider stark vertreten in dieser elend ausgewalzten, sich in ziellosen Mäandern ihrem Ende entgegen schleppenden Geschichte, die wohl auch deshalb unter der Bezeichnung „Mystery-Thriller“ läuft, weil niemand eine Ahnung hat, wieso Robert Masello immer wieder neue, nach bekanntem Muster gestrickte Gähn-Garne auf den Buchmarkt bringen kann.

_Verfasser_

Robert Masello wurde 1952 in Evanston, US-Staat Illinois, geboren. An der Princeton University studierte er Kreatives Schreiben. Ab 2002 hielt er als Gastdozent Vorlesungen über Literatur am Claremont McKenna College. Seit 2008 ist Masello, nun in Santa Monica, Kalifornien, ansässig, hauptberuflich Autor, der nicht nur Romane und Sachbücher, sondern auch Artikel für Zeitungen und Zeitschriften schreibt. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre arbeitete Masello für das Fernsehen; er schrieb u. a. für die Serien „Poltergeist – Die unheimliche Macht“, „Sliders – Das Tor in eine fremde Dimension“ und „Charmed“.

|Taschenbuch: 544 Seiten
Originaltitel: Bestiary (New York : Berkley Books 2006)
Übersetzung: Maria Poets
ISBN-13: 978-596-18864-2
Als eBook: 1036 KB
ISBN-13: SBN: 978-3-10-400785-4|

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Simmons, Dan – Eiskalt erwischt (Joe Kurtz 1)

_|Kurtz-|Trilogie_:

1) _Eiskalt erwischt_ (Hardcase, 2001);
2) Bitterkalt (Hard Freeze, 2002)
3) Kalt wie Stahl (Hard as Nails, 2003)

_Das geschieht:_

Weil er den Mörder seiner Partnerin kurzerhand aus dem Fenster eines Hochhauses geworfen hatte, wurde Privatdetektiv Joe Kurtz zu einer zwölfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Die hat er jetzt abgesessen und kehrt in seine Heimatstadt Buffalo, US-Staat New York, zurück. Ohne sich um den Verlust seiner Lizenz oder die Vorgaben der Bewährungshelferin zu kümmern, nimmt Kurtz seine Geschäfte wieder auf. Das neue Büro richtet er im Keller unter einem Porno-Shop ein, und erster Kunde wird Mafiaboss Byron Farino, dessen Sohn Kurtz im Knast kennengelernt hatte.

Farino hat nach einem Attentat an Macht verloren. Deshalb muss er wütend aber ratlos mit ansehen, wie seine Schmuggeltransporter aus Kanada überfallen werden. Außerdem ist sein Buchhalter verschwunden, dessen Unterlagen über die farinoschen Geschäfte in Juristenhand großen Schaden anrichten könnten. Farino heuert Kurtz deshalb tatsächlich an, zumal er einen Verräter in seiner ‚Familie‘ wittert.

In diesem Zusammenhang gibt es eine ganze Reihe von Kandidaten, zu denen u. a. Farino-Anwalt Leonard Miles und Byrons Tochter Sofia gehören, die unbedingt den Platz ihres Vaters übernehmen will. Außerdem meldet sich die Vergangenheit bei Kurtz: Manny Levine, dessen Bruder ihm einst vor den Pistolenlauf geriet, will Rache. Ebenfalls hinter Kurtz her ist der korrupte Detective Hathaway von der Mordkommission.

Sie müssen sich quasi anstellen, denn die aufgeschreckten Gegner der Farino-Familie setzen gleich mehrere hochkarätige oder wenigstens hochgradig irre Killer auf Kurtz an, der sich der Mordattacken des Psychopathen-Duos Kibunte & Cutter, des chamäleonhaften „Dänen“ und der grenzdebilen „Beagle Boys“ erwehren muss. Allerdings erwartet und gibt Kurtz im Gegenzug kein Pardon, und er ist findig genug, nicht nur zu überleben, sondern auch seinem Auftrag nachzugehen sowie ganz eigene, sorgfältig verborgen gehaltene Pläne zu verfolgen. Zwischenfälle kommen jedoch vor, und irgendwann droht auch der gewiefteste Fuchs seinen Verfolgern in die Falle zu gehen …

_Verbrechen kann ein Job sein_

Dan Simmons ist zumindest seinem deutschen Publikum primär als Horror- und Science-Fiction-Autor bekannt. Schon in diesen beiden Genres leistet er nicht nur Großes, sondern auch Erstaunliches; während man einen Stephen King nach wenigen Absätzen erkennt, gibt sich Simmons nicht nur stilistisch wesentlich wandlungsfähiger. Ein erstes Signal dafür, dass man auch außerhalb der Phantastik mit Simmons rechnen muss, gab es hierzulande im Jahre 2000. In „Fiesta in Havanna“, einem in den USA im Jahre zuvor unter dem wesentlich einfallsreicheren Titel „The Crook Factory“ erschienenen Historien-Thriller, jagt Ernest Hemingway 1942 vor der Küste Kubas japanische und nazideutsche Agenten.

„Bizarr“ ist das Schlüsselwort. Die Kombination einer schnörkellos, beinahe dokumentarisch erzählten Geschichte mit möglichst absurden Ereignissen und Figuren übernahm Simmons für seine 2001 gestartete Joe-Kurtz-Trilogie, deren Bände in schneller Folge bis 2003 erschienen.

Bis der erste schräge Zeitgenosse auftritt, meint der Leser in Simmons einen würdigen Nachfolger des inzwischen verstorbenen Donald E. Westlake gefunden zu haben. Dieser veröffentlichte zwischen 1962 und 2008 unter dem Pseudonym „Richard Stark“ 24 kriminelle Abenteuer des Berufsverbrechers Parker. Als lakonischer Profi geriet dieser immer wieder in die Bredouille, weil selbst der beste Plan nie perfekt gelang, sondern durch menschliches Versagen und mit dramatischen Folgen scheiterte.

|Irrwitz als Normalzustand|

Joe Kurtz könnte Parkers Bruder im Geiste sein. Auch ihm ist das Gesetz nur dort ein Maßstab für sein Verhalten, wo es ihm definiert, wie tief unter dem Radar von Polizei und Justiz er agieren muss. Kurtz kennt keine Gewissensbisse. Moralisch sieht er ausschließlich dem eigenen Kodex verantwortlich, der denkbar simpel ist: Gesetzeshüter werden ausgetrickst, Verbrecher betrogen und notfalls ohne Federlesens umgebracht. Freunde hat Kurtz nur wenige. Sie allein können auf seine bedingungslose Unterstützung rechnen. Im Fall seiner ermordeten Kollegin hat er nach eigenem Urteil versagt. Er richtet den Täter deshalb nicht nur förmlich hin, sondern akzeptiert die folgende Gefängnisstrafe, statt sich ihr durch Flucht zu entziehen.

Generell geht Kurtz stets vom Schlimmsten aus. Aufgrund seiner Lebensweise liegt er damit richtig. Die Vergangenheit ist längst nicht so tot wie diverse Pechvögel, die Kurtz in die Quere gekommen sind. Blutrachedurstige Zeitgenossen heften sich dem wieder freien Kurtz umgehend an die Fersen. Gleichzeitig ist er eifrig damit beschäftigt, sich neue Feinde zu machen: Immer in Bewegung bleiben und frontal auf den Feind losgehen, lautet seine Devise.

Simmons weiß dies sehr bildhaft zu verdeutlichen. Großartig gelang ihm beispielsweise die Episode in dem leeren Kühlhaus, das Kurtz zeitweise als Unterschlupf dient: Er hat das Innere mit Fallen gespickt, da er mit ungebetenem ‚Besuch‘ rechnet. Als dieser tatsächlich erscheint, ist der Empfang entsprechend ruppig. Simmons hat keine Angst vor drastischen Gemetzeln, die er in ihrer Wirkung durch rabenschwarzen Humor ins Groteske übersteigert. Es sind also keine simplen Killer, die ihm zu Leibe rücken, sondern die „Beagle Boys“, vier ebenso gewalttätige wie strohdumme Brüder. Ihr Spitzname lässt sich übersetzen: Die „Beagle Boys“ sind die „Panzerknacker“, die ihr Leben dem Versuch geweiht haben, Dagobert Ducks Geldspeicher zu leeren.

|Gauner aus der Geisterbahn|

Die „Beagle Boys“ belegen die ganz und gar nicht nüchterne Machart der Kurtz-Krimis. Faktisch gibt sich ein ganzer Reigen von Freaks die Klinke in die Hand. Simmons‘ Killer töten ihre Opfer nicht einfach. Selbst der „Däne“, der sich als Geschäftsmann betrachtet, liebt es, sich extravagant zu verkleiden, wenn er zur mörderischen Tat schreitet. Psychopathen wie Kibunte und Cutter sind überlebensgroße Zerrbilder realer Schreckgestalten.

Simmons demonstriert mit der Figurenzeichnung, dass er „Eiskalt erwischt“ absichtlich mit beachtlichen Trash-Elementen auflädt. (In diese Kategorie fällt auch die eine, isoliert in der bzw. quer zur Handlung stehende Sex-Szene dieses Romans, die Simmons genüsslich über die Grenze zur Plump-Pornografie und damit in die Lächerlichkeit treibt.) Also schaltet Kurtz seine Feinde nicht einfach aus. Er nimmt um des Effektes wegen durchaus eine winterliche Nachtfahrt zu den Niagara-Fällen in Kauf, um einen Schurken besonders grausig enden zu lassen.

Mit solchen Episoden lenkt Simmons den Leser von dem komplexen Spiel ab, das Kurtz mit seinen Feinden spielt. Jeder belauert und betrügt hier jeden. Kurtz ist keine Ausnahme, doch da er in der Minderzahl ist, muss er einen besonders hohen Einsatz wagen. „Eiskalt serviert“ ist mehr als eine willkürliche Häufung möglichst abstruser Action- und Splatter-Szenen. Dahinter steckt ein sauber konstruierter Plot, dessen Ablauf Simmons spannungstreibend in die Länge zieht, indem er Kurtz mehr als einen Knüppel zwischen die Beine wirft.

|Dieses Mal erfreulich: Fortsetzung folgt|

Das Finale ist erwartungsgemäß turbulent und wendungsreich. Ihm folgen gleich zwei böse Überraschungen, die für ein grandioses Crescendo aus Gewalt und Gegengewalt sorgen. Und obwohl das Blut in breiten Strömen floss, bleibt Kurtz mindestens ein besonders unheimlicher Gegner erhalten. Da eine Fortsetzung folgt, darf sich der Leser auf weitere Unterhaltung der politisch erfreulich unkorrekten Art freuen.

Mit „Eiskalt erwischt“ setzt der Festa Verlag die jüngst gestartete Reihe „Festa Crime“ denkbar gelungen fort. Hier bleiben Kuschel-Krimis außen vor; es geht in jeder Hinsicht rau und gewalttätig zu. Dass dies der Unterhaltung keineswegs abträglich ist, macht Dan Simmons exemplarisch deutlich. Gut übersetzt und schön gestaltet sorgt „Eiskalt erwischt“ nicht nur für zusätzliches Vergnügen, sondern macht auch neugierig auf weitere „Festa-Crime“-Bände.

_Autor_

Dan Simmons wurde 1948 in Peoria, Illinois, geboren. Er studierte Englisch und wurde 1971 Lehrer; diesen Beruf übte er 18 Jahre aus. In diesem Rahmen leitete er eine Schreibschule; noch heute ist er gern gesehener Gastdozent auf einschlägigen Workshops für Jugendliche und Erwachsene.

Als Schriftsteller ist Simmons seit 1982 tätig. Fünf Jahre später wurde er vom Amateur zum Profi – und zum zuverlässigen Lieferanten unterhaltsamer Pageturner. Simmons ist vielseitig, lässt sich in keine Schublade stecken, versucht sich immer wieder in neuen Genres, gewinnt dem Bekannten ungewöhnliche Seiten ab.

|Paperback: 331 Seiten
Originaltitel: Hard Case (New York : St. Martin’s Minotaur 2001)
Übersetzung: Michael Plogmann
Cover: yellowfarm
ISBN-13: 978-3-86552-186-6|
http://www.dansimmons. com
http://www.festa-verlag.de

Masterton, Graham – Atmen der Bestie, Das

_Das geschieht:_

John Hyatt arbeitet für das Gesundheitsamt der Stadt San Francisco. Er betreut jene Bürger, die Stadtschmutz, allzu sichtbare Ratten oder andere krankheitserregende Ärgernisse des urbanen Lebens melden wollen. Seymour Wallis‘ Meldung sprengt diese Routine: In seinem erst vor wenigen Wochen erworbenen Haus „atme es“, klagt der ehemalige Ingenieur. Dafür ist das Amt eigentlich nicht zuständig, aber Hyatt besucht Wallis zusammen mit einem ebenso neugierigen Arbeitskollegen.

Tatsächlich „atmet“ das Haus nicht nur, sondern wird auch handgreiflich. Mit Verstärkung kehrt Hyatt am nächsten Abend zurück. Die erwartungsvoll auf weitere Phänomene hoffenden Geisterjäger werden nicht enttäuscht: Der Spuk reißt dem Amtmann Bryan Corder Haut und Haarskalp vom Schädel und fährt in seinen Körper.

Hyatt wendet sich an eine Spezialistin – Freundin Jane Torresino, die in ihrem Buchladen auch Werke über Okkultismus verkauft. Sie recherchiert, dass wahrscheinlich ein indianischer Dämon in dem Haus sein Unwesen treibt. Glücklicherweise ermittelt Jane auch die Adresse des Medizinmanns George Thousand Names, der seinen Besuchern Näheres schildern kann: In Wallis‘ Haus lauert ausgerechnet „Coyote“, einer der übelsten Bewohner der Geisterwelt. Sogar seine Mit-Dämonen können ihn nicht ausstehen, weshalb sie halfen, als Coyote vor vielen hundert Jahren nicht nur besiegt, sondern in vier Stücke gerissen wurde, die an verschiedenen Stellen versteckt wurden. Leider ist Coyote selbst unsterblich, weshalb ihm die Wiederbelebung seines Körpers so schwierig wie möglich gemacht werden sollte.

Dummerweise hat der Dämon einen Weg gefunden, auch als Geist Nachforschungen anzustellen. Herz, Hirn und Blut konnte Coyote schon an sich bringen. Sollte er noch seine Haare bergen können, wäre er unbesiegbar. Mit George Thousand Names, Jane und dem durch die Ereignisse zum Geisterglauben bekehrten Dr. Jarvis versucht Hyatt, genau das zu verhindern, doch der Gegner ist nicht nur stark und skrupelfrei, sondern auch schlauer als gedacht …

_Manitous garstiger Bruder im Geiste_

1974 schrieb Graham Masterton seinen Roman-Erstling. „The Manitou“ erzählte vom Geist des notorisch übellaunigen und mordlustigen Medizinmanns Misquamacus, der aus dem Jenseits in die nun bleichgesichtig dominierte Welt der Gegenwart eindrang, um dort blutige Rache für längst vergessenes Unrecht zu nehmen. Das recht ungelenke Werk fand seine Leser und wurde sogar (bzw. leider) 1976 verfilmt. Das musste Folgen haben: In der Tat kehrte Misquamacus 1979 und danach drei weitere Male zurück, um die weiter oben beschriebenen Possen zu treiben.

Zwischen den ersten beiden Bänden veröffentlichte Masterton 1978 „Das Atmen der Bestie“, der inhaltlich mehr als nur ein wenig an den ersten „Manitou“-Roman erinnert. Der seit jeher ungemein fleißige Autor kennt die Notwendigkeiten einer ökonomischen Arbeitsweise. Auf der Grundlage offensichtlicher Recherchen in Sachen indianischer Mystik wollte Masterton aber keine weitere Misquamacus-Episode erzählen. „Das Atmen der Beste“ ist trotzdem „Der Manitou“ ohne Manitou.

Was hierzulande freilich niemandem auffallen dürfte, da die beiden ersten „Manitou“-Bände schon seit vielen Jahrzehnten vergriffen sind. Deshalb steht zu erwarten, dass man „Das Atmen der Bestie“ als altes und im positiven Sinn altmodisches Horror-Garn zur Kenntnis nehmen wird. So sollte man diesen Roman jedenfalls lesen, denn hier taucht keinesfalls ein vergessener Klassiker aus der Versenkung auf!

|Wenns gruselt, kommts mit in die Suppe|

Masterton mischt einfallsreich und unbekümmert diverse Genre-Elemente zu einem stets trivialen aber routiniert gestrickten, rasanten und längenfreien Spektakel. Es beginnt mit einer Geistergeschichte in einem Spukhaus, doch Masterton weicht bald vom üblichen Schema ab. Subtilität ist sein Ding nicht, weshalb sich der unter dem Dach des Pechvogels Seymour Wallis hausende Unhold als recht grober Klotz erweist, dem jegliche Spuk-Raffinesse vollständig abgeht.

Stattdessen fliegen die Fetzen, die aus den Resten zerbrochener Möbel und unglücklicher Geisterjäger bestehen. 1978 konnte von den Splatter-Orgien des 21. Jahrhunderts noch keine Rede sein. Für die zeitgenössischen Leser dürften Mastertons eigenwillige Körperwelten aus ramponierten Körperteilen und Leichenblut harter Tobak gewesen sein. Heute lassen diese Szenen jede Provokationen vermissen. Sie erfüllen schlicht ihren Zweck; ein positiver Ansatz in einer literarischen Gegenwart, in der viel zu viele Horror-Autoren glauben, auf das Fundament einer Story zugunsten von bis zur Lächerlichkeit übertriebener Blut-&-Gekröse-Ekstasen verzichten zu dürfen.

Natürlich ist der Plot eher bizarr als auch nur annähernd logisch nachvollziehbar. Die Story schlägt jederzeit bekannte Haken, die Grusel-Effekte sind vor allem grell, und formal schwebt das Ganze nicht sehr weit über dem Groschenheft-Horizont. Aber Masterton versteht sein Handwerk, das Unterhaltung heißt und nie mehr sein möchte.

|Seltsame Helden, schräger Spuk|

Das Grauen benötigt einen möglichst ’normalen‘ Hintergrund. Masterton findet hier einen besonders profanen Einstieg: ‚Held‘ John Hyatt ist ein Angestellter des Gesundheitsamtes, wo er sich als kleines Rädchen irgendwo im behördlichen Apparat meist unbemerkt dreht. Er ist nicht klug oder stark, sondern der mustergültige Mr. Jedermann, mit dem sich der Leser identifizieren kann.

Auch eine wenig heldenhafte Hauptfigur benötigt Nebenpersonal, das u. a. dafür herhalten muss, wenn jemand dem Spuk zum Opfer fallen soll. Hier treten auf: ein unkonventioneller Arbeitskollege aus dem Amt, ein zunächst skeptischer und später gläubiger Arzt und natürlich eine schöne Frau, nach der sich der Dämon buchstäblich die Krallenfinger leckt: Dass Masterton sein Geld auch mit der Niederschrift diverser Sex-Ratgeber verdient, kann er an solchen Stellen frivol einfließen lassen.

Da Spukbold Coyote der indianischen Mythologie entspringt, wirkt natürlich ein Medizinmann mit. George Thousand Names heißt er, und einer dieser tausend Namen könnte auch „Singing Rain“ sein, der in den „Manitou“-Romanen an seine Stelle tritt. Masterton entwirft eine Figur, die mit einem Bein in der Moderne und mit dem anderen in der indianischen Geisterwelt steht. Dies schafft Raum für farbenfrohen Hokuspokus und schlichte Witzchen – neben seinem Beutel mit dem Zauberwerkzeug trägt George Thousand Names eine goldene Rolex – und wird mit den obligatorischen Plattitüden – die Siedler waren einst sehr unfreundlich zu den US-Ureinwohnern; gute Bleichgesichter wie John Hyatt schämen sich wenigstens ein bisschen dafür – abgeschmeckt.

Coyote ist ein Geist mit erstaunlich weltlichen Bedürfnissen. Massenmord und Sex sind die Ziele, nach denen er strebt. Bis er sich aus den Teilen, in die man ihn vorsichtshalber zerlegte, wieder zusammengebastelt hat, gibt er auch optisch eine hübsch hässliche Erscheinung ab, was über die Eindimensionalitäten seines Handelns & Sprechens – eigentlich kommuniziert er nur über Drohungen – hinwegtröstet.

Damit ist es amtlich: „Das Atmen der Bestie“ gehört zu dem Lesefutter, vor dem der Ernährungsberater warnt, weil es ungesund ist und dumm macht. Nichtsdestotrotz schmeckt solche Kost einfach gut und ist manchmal eine Sünde wert.

_Autor_

Graham Masterton, geboren am 16. Januar 1946 im schottischen Edinburgh, ist nicht nur ein sehr fleißiger, sondern auch ein recht populärer Autor moderner Horrorgeschichten. In Deutschland ist ihm der Durchbruch seltsamerweise nie wirklich gelungen. Nur ein Bruchteil seiner phantastischen Romane und Thriller, ganz zu schweigen von seinen historischen Werken, seinen Thrillern oder den berühmt berüchtigten Sex-Leitfäden, haben den Weg über den Kanal gefunden.

Besagte Leitfäden erinnern übrigens an Mastertons frühe Jahre. Seine journalistische Ausbildung trug dem kaum 20-Jährigen die Position des Redakteurs für das britische Männer Magazin „Maifair“ ein. Nachdem er sich hier bewährt hatte, wechselte er zu Penthouse und Penthouse Forum. Dank des reichlichen Quellenmaterials verfasste Masterton selbst einige hilfreiche Werke, von denen „How to Drive Your Man Wild in Bed“ immerhin eine Weltauflage von mehr als drei Millionen Exemplaren erreichte.

Ab 1976 schrieb Masterton Unterhaltungsromane. Riss er sein Debütwerk „The Manitou“ (dt. „Der Manitou“) noch binnen einer Woche herunter, gilt er heute als kompetenter Handwerker, dem manchmal Größeres gelingt, wenn sein Geist schneller arbeitet als die Schreibhand, was freilich selten vorkommt.

|Taschenbuch: 249 Seiten
Originaltitel: Charnel House (New York : Pinnacle Books 1978)
Übersetzung: Felix F. Frey
Cover: yellowfarm
ISBN-13: 978-3-86552-135-4|
http://www.grahammasterton.co.uk
http://www.festa-verlag.de

Agatha Christie – Hercule Poirots Weihnachten

Das geschieht:

Über Gorston Hall in der englischen Grafschaft Middleshire herrscht Simeon Lee. Auf den Diamantenfeldern Südafrikas hat er sein Vermögen auf die harte Tour gemacht. Schwäche ist ihm verhasst, seine Gattin hat er durch ständige Affären früh ins Grab gebracht, die meisten seiner zahlreichen Kinder sind im Streit gegangen. Nur der gutmütige Alfred ist mit Ehefrau Lydia beim Vater geblieben, der ihnen das Leben mit boshaftem Vergnügen zur Hölle macht. Agatha Christie – Hercule Poirots Weihnachten weiterlesen

Roberts, Adam – Scrooge. Ein Zombie-Weihnachtsmärchen

_Das geschieht:_

Ebenezer Scrooge genießt im London des 19. Jahrhunderts einen legendären Ruf als Geizhals und Geldverleiher. Er liebt den Mammon und verabscheut die Menschen, seit er als Kind auf einem Friedhof überfallen von einem Verrückten und in Todesangst versetzt wurde. Selbstverständlich ist Scrooge unverheiratet und hat keine Freunde; gerade ist sein ehemaliger Geschäftspartner Jacob Marley gestorben, mit dem er sich vor Jahren überworfen hatte.

Doch am bitterkalten Heiligen Abend vor Weihnachten taucht eben dieser Marley in Scrooges Heimstatt auf – mausetot aber sehr agil und bestrebt, seinem Opfer das Gehirn aus dem Schädel zu fressen: Marley ist zum Zombie mutiert! Diese Information verdankt Scrooge einem Geist, der ihm kurz darauf erscheint. Darüber hinaus muss er feststellen, dass in dieser Nacht überall in London Zombies über die Lebenden herfallen. Ausgerechnet er, Scrooge, ist nach Auskunft des Geistes immun gegen die Seuche und der einzige Mensch, der ihren Ausbruch verhindern kann.

Wie dies zu bewerkstelligen ist, muss Scrooge selbst herausfinden. Zwei weitere Geister sollen ihm bei der Erkenntnisfindung helfen. Der eine nimmt ihn in eine Zukunft mit, in der die Zombies erst England, dann Europa und schließlich die ganze Erde überrollt haben, der andere kehrt mit ihm in die Vergangenheit und an den Ursprungsort der Seuche zurück.

Bei diesen Reisen durch Zeit und Raum trifft Scrooge nicht nur prominente Zeitgenossen wie Königin Viktoria oder die Schriftsteller Charles Dickens und H. G. Wells, sondern immer wieder sich selbst, der in unterschiedlichen Parallelwelten zu überleben sowie das Rätsel der Zombies zu lösen versucht. Als er schließlich hinter das Geheimnis kommt, konfrontiert ihn dies mit einem Feind, der deutlich heimtückischer als die Untoten ist …

_Vom Ursprung (auch) des Blöden_

Am 19. Dezember 1843 veröffentlichte der Verlag Chapman & Hall eine Novelle des Schriftstellers Charles Dickens. Dieser musste die Kosten selbst übernehmen; eine gute Investition, denn „A Christmas Carol“ ging nicht nur in die Literatur-, sondern auch in die Kulturgeschichte ein. „Eine Weihnachtsgeschichte“ erschien in den Sprachen dieser Welt, wurde als Theaterstück adaptiert, als Hörspiel ausgestrahlt und selbstverständlich immer wieder verfilmt. Zu tief hatte Dickens an einem Nerv gerührt, der beim Menschen vor allem zur Weihnachtszeit empfindlich ist: Ebenezer Scrooge, ein hartherziger aber nicht grundsätzlich böser, sondern eher unglücklicher Mensch, wird durch den Besuch seines verstorbenen Geschäftspartners sowie durch eine Art Zeitreise durch das eigene Leben, auf der ihn drei Geister führen, aus seiner Gefühlsstarre gerissen und verwandelt sich in einen Menschenfreund.

Dies las sich schon 1843 naiv und ging doch ans Herz, weil Dickens alle Register zog. „A Christmas Carol“ wurde zu DER Weihnachtsgeschichte. Noch die geringste Nebenfigur gewann eigenen Ruhm. Der arme, kleine, kranke „Tiny Tim“ schaffte es sogar ins 3. Jahrtausend und trat als weihnachtsgeplagter, reparaturanfälliger Roboter in der Zeichentrickserie „Futurama“ auf. Und Ebenezer Scrooge verschmolz ab 1947 kongenial mit Scrooge McDuck alias Dagobert Duck.

Was bereits darauf hinweist, dass nicht sämtliche Leser in Bewunderung oder Rührung zerflossen. „A Christmas Carol“ birgt wie jeder Archetyp bereits den Keim der eigenen Parodie in sich. Die Konstruktion der Story bietet wunderbare Kontakt- bzw. Angriffsflächen. Drei Geister erscheinen, die Scrooge sein in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verpfuschtes Leben vor Augen führen. Diese Episoden lassen sich mit eigenen Inhalten füllen, was die Geschichte in völlig neue Bahnen lenkt.

|Abkupfern und umformen|

Adam Roberts ist nur einer von unzähligen Autoren, die sich der dickensschen Vorlage bedient haben. Roberts gilt als Humorist, was zwar keinesfalls zutrifft, seinem Erfolg jedoch keinen Abbruch tut, da der Autor schlau genug ist, sich nicht auf sein diesbezügliches Talent zu verlassen, sondern sich an aktuelle Erfolgstrends hängt, die er ‚witzig‘ veredelt. So stieß es u. a. der „Millenium“-Trilogie von Stieg Larsson, aber auch dem Film-Dreiteiler „Der Herr der Ringe“ zu, der Roberts gleich zu zwei Parodien inspirierte; zum „Hobbit“-Dreiteiler ist er erneut mit einem entsprechenden Werk am Start.

Nun ist die „Weihnachtsgeschichte“ zwar alles andere als aktuell, aber Roberts fand dennoch seinen Zugang: Derzeit höchst erfolgreich sind in allen Unterhaltungsmedien die Zombies. ‚Dank‘ des Autors Seth Grahame-Smith und seines Untoten-Ulks „Pride and Prejudice and Zombies“ (dt. „Stolz und Vorurteil und Zombies“) existiert seit 2009 sogar eine Horror-Nische, in der die Klassiker der Literaturgeschichte von lebenden Leichen gestürmt werden.

Darauf beschränkt sich der unterhaltsame Mehrwert in der Regel, was den humoristischen Reiz – falls überhaupt vorhanden – rasch verfliegen lässt. Nichtsdestotrotz hieb auch Adam Roberts gleich 2009 beherzt in die vorgegebene Kerbe. Da der „Monster-Mash-up“ zur Verbrauchs-Literatur mit begrenzter Haltbarkeit gehört, griff sich Roberts keinen Roman, sondern eine Novelle heraus. So konnte er die Arbeit minimieren, die es mit sich brachte, Ebenezer Scrooge mit einer Zombie-Epidemie zu konfrontieren, und das Ergebnis so rasch wie möglich auf den Buchmarkt werfen.

|“Witz ist glitzernder Schaum der Oberfläche“|

So sprach der Dichter Peter Sirius (1858 – 1913), um so fortzufahren: „Humor ist die Perle aus der Tiefe.“ Mit der ersten Feststellung liegt er richtig, mit der Zweiten stellt er fest, was Adam Roberts nicht geborgen hat. „Eine Weihnachtsgeschichte“ plus Zombies! Was konnte da schiefgehen? Vom Standpunkt des Marketings vermutlich nichts, denn dass sich hinter dieser unschlagbaren Kombination ein denkbar witzflaues und auch sonst mattes Machwerk verbirgt, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Für das Weihnachtsgeschäft und dort als nettes, angenehm kostengünstiges Geschenk für den lesenden Gruselfreund taugt dieses „Weihnachts-Zombiemärchen“ allemal.

Nur in dieser Funktion ist es denn auch erträglich. Schon nach wenigen Seiten fragt sich der ungeachtet des Themas entgeisterte Leser, welcher Teufel den Verfasser geritten haben mag. „Eine Weihnachtsgeschichte“ und Zombies passen zumindest so, wie Roberts die Sache angeht, eben nicht zusammen. Die Untoten werden einer Handlung gewaltsam aufgezwungen, in der sie sichtlich gar nichts verloren haben. Roberts‘ Scheitern ist mindestens so schmerzhaft wie ein Zombiebiss, seine Horror-Humor-Mixtur nicht einmal un-, sondern mausetot.

Das Spiel mit dem Original, das wenigstens in der Grundstruktur unberührt bleiben muss, damit die parodistischen Verfremdungen umso stärker wirken, ist auch deshalb verlorene Liebesmühe, weil die Mehrheit der modernen Leser die historische Vorlage selbst nicht kennt. Etwaige Wortspiele gehen deshalb sowie in der Übersetzung verloren. Lieblos aufgepfropfte Zombie-Ekeleien bieten keinen Ersatz, da ihr Zweck allzu eindeutig ist: Roberts lässt beißen, wenn und weil ihm keine logische Fortsetzung der sinnlosen Story einfällt.

|Missratener Humor kann Schmerzen bereiten|

Charles Dickens nahm sich die Zeit, nicht nur Ebenezer Scrooge, sondern auch seinen geplagten Angestellten Cratchit oder den Neffen Fred sorgfältig zu charakterisieren. Jacob Marley, den Roberts im Rahmen einer Zombie-Metzelei verheizt, ist eine für die Handlung wichtige Figur, zeigt sie Scrooge doch als Geist, wie auch er enden könnte, und leitet den Besuch der drei Weihnachts-Geister ein.

Roberts lässt diese ohne entsprechende Ankündigung auftreten, was nicht nur Scrooge, sondern auch der Leser spätestens dann übelnimmt, als sich der „Geist der künftigen Weihnacht“ als Prolet aus dem 21. Jahrhundert entpuppt. Sein Dummsprech-Slang soll komisch sein, lädt aber zumindest in der deutschen Übersetzung nur zum Fremdschämen ein.

Besondere Botschaften haben die Geister nicht an Scrooge. Stattdessen schleppen sie ihn durch die Lüfte und lassen ihn beobachten, wie die Zombies durch die Straßen von London toben. Dies bringt zwar die Geschichte nicht voran, bietet dem Verfasser aber Raum für ‚witzige“ Episoden, in denen u. a. Königin Viktoria einen Zombie mit der Reichskrone erledigt oder Jack the Ripper – der in Scrooges Epoche gar nichts verloren hat – unter die Untoten gerät.

Die Story selbst bietet in einem endlosen Mittelteil Zeitreise-SF aus zweiter bis dritter Hand. Schließlich kehrt Scrooge ins 19. Jahrhundert zurück und wird endlich in ein nicht einmal als Witz funktionierendes Komplott eingeweiht. Eine Auflösung erspart sich Roberts; die Geschichte endet quasi mitten im Satz. Auf diese Weise erreicht des Lesers „Gehürn!“, nach dem die Zombies ständig rufen, jene Weißglut, die es ermöglicht, ihm den Autorennamen „Adam Roberts“ als ewig dem Vergessen trotzende Warnung einzugravieren.

_Autor_

Adam Roberts wurde am 30. Juni 1965 in London geboren. Zur Schule ging er in der Grafschaft Kent, studiert hat er Englische Literatur sowie Literaturgeschichte an der University of Aberdeen sowie in Cambridge. Seit 1991 gehört Roberts dem Royal Holloway College der University of London als Dozent für Englische Literatur und Lehrer für Kreatives Schreiben an.

Die Science-Fiction beschäftigte Roberts zunächst wissenschaftlich. Er folgte dem Genre zu seinen Wurzeln im 19 Jahrhundert. In den 1990er Jahren begann Roberts selbst SF zu schrieben. Er debütierte 2000 mit dem Roman „Salt“ (dt. „Sternennebel“), der 2001 für einen „Arthur-C.-Clarke-Award“ nominiert wurde. (Roberts musste sich China Miéville mit „Perdido Street Nation“ geschlagen geben.)

Roberts erwies sich als ebenso produktiver wie einfallsreicher SF-Autor. Typisch für ihn sind bizarre Ausgangssituationen, deren Auswirkungen er konsequent auf die Spitze treibt. Unter Pseudonymen wie A. R. R. R. Roberts, A3R Roberts oder Don Brine verfasst Roberts außerdem Parodien auf multimediale Welterfolge wie „Der Herr der Ringe“ oder „Star Wars“.

Mit seiner Familie lebt und arbeitet Adam Roberts in London.

|Taschenbuch: 174 Seiten
Originaltitel: I Am Scrooge – A Zombie Story for Christmas (London : Victor Gollancz/Orion Publishing Group 2009)
Übersetzung: Thomas Schichtel
ISBN-13: 978-3-404-16742-5|
http://www.adamroberts.com
http://www.luebbe.de

Bram Stoker – Im Haus des Grafen Dracula

Inhalt:

In neun Erzählungen und einem Kurzroman beweist Bram Stoker, dass er mehr ist als der Schöpfer des Vampir-Fürsten Dracula:

Die Squaw (The Squaw, 1893): Ein dummer Scherz endet böse und lässt eine Katzenmutter zur rächenden Schicksalsgöttin mutieren.

Das Festmahl der Ratten (The Burial of the Rats, 1896): Im Paris des Jahres 1850 gerät der unvorsichtige Tourist unter Räuber und Mörder, die ihn durch eine bizarre Unterwelt aus Müll und Schmutz jagen. Bram Stoker – Im Haus des Grafen Dracula weiterlesen

Ed McBain – Schrot und Horn

Schrot und Horn Cover kleinEin Ehepaar wird geradezu in Stücke geschossen, eine Barfrau endet mit einem Messer in der Brust: Zwei scheinbar beliebige Fälle des 87. Polizeireviers entpuppen sich als Stationen eines Verbrechens, das einem neuen Höhepunkt entgegensteuert … – Zumindest in Deutschland gehört dieser 23. Band zu den weniger bekannten Romanen der berühmten McBain-Serie, was seiner realistischen Eindringlichkeit keinerlei Abbruch tut: ein zeitloser Lektüre-Genuss.
Ed McBain – Schrot und Horn weiterlesen

Salisbury, Mark – Tim Burton – Der melancholische Magier

_Aller Anfang war (dieses Mal besonders) schwer_

Tim Burton, geboren 1958 in einem Vorort-Viertel der kalifornischen Stadt Burbank, gilt in Europa mehr noch als in den USA als einer der originellsten und einfallsreichsten Filmemacher der Gegenwart. Obwohl für mehrere Hollywood-Blockbuster (u. a. „Edward mit den Scherenhänden“, 1990; „Batman“ und „Batmans Rückkehr“, 1989 bzw. 1992, „Alice im Wunderland“, 2010) verantwortlich, gelang es ihm, eine eigene Stimme zu entwickeln, zu entfalten und zu erhalten.

Dieser Weg war steil und reich an Stolpersteinen, denn der junge Tim Burton passte schlecht in die stromlinienförmige Welt der Erfolg- und Einflussreichen. Er war als Kind und in der Schule ein Außenseiter, und er blieb es, als er nach einem Studium am „California Institute of the Arts“ ausgerechnet vom Disney-Studio angestellt wurde. Die Liebe zum Morbiden, Abseitigen und dabei Liebenswerten konnte ihm selbst die Fließbandarbeit als Zeichner für Filme wie „The Fox and the Hound“ (1981, dt. „Cap und Capper“) und „The Black Cauldron“ (1985, dt. „Taran und der Zauberkessel“ nicht austreiben. Stattdessen nutzte er die Gelegenheit, abseits der Studio-Großfilme mit angeblich veralteten Techniken wie dem Stop-Motion-Trick zu experimentieren und schräge Kurzfilm-Visionen zu verwirklichen.

Nach „Beetlejuice“ (1988) und „Edward Scissorhands“ (1990, dt. „Edward mit den Scherenhänden“) und dank des gewaltigen Erfolgs der beiden „Batman“-Filme gewann Burton allmählich Routine und Ruf, was ihm ermöglichte, Filme nach eigenen Vorstellungen zu drehen.

_Alles ganz anders und oft besser_

Relativ früh erregte Burtons Werk das Interesse des Film-Spezialisten Mark Salisbury. Er schrieb eine erste Fassung von „Burton on Burton“ 1995, blieb aber mit Burton in Kontakt und wurde schließlich in das „Tim Burton Collective“ aufgenommen. Es umfasst Freunde und Verbündete, die Burton im Laufe der Jahre um sich scharen konnte und auf die er immer wieder zukommt, wenn er einen Film dreht.

Quasi exklusiv verfasst Salisbury seit einigen Jahren Bücher zu Burton-Filmen, die reich illustriert und von Burton mit (sorgfältig ausgesuchten) exklusiven Informationen angereichert werden. „Burton on Burton“ wurde zur „work in progress“, wie Salisbury in einem Nachwort belegt. Eine ergänzte und erweiterte Version erschien 2000, eine wiederum überarbeitete Fassung 2006. Für die deutsche Ausgabe griff Salisbury exklusiv auf Interviews zurück, die er 2007 und 2009 mit Burton geführt hatte; „Tim Burton“ ist damit in seiner deutschen Ausgabe sogar aktueller als das Original – ein seltener aber vorbildlicher Service des Verlags, denn was nützt dem Leser eine veraltete Biografie und Werkschau? Die ‚modulare‘ Struktur des Buches ermöglicht zudem das zukünftige Andocken weiterer Ergänzungen, die zweifellos kommen werden. Burton ist ein fleißiger Mann, der schon wieder mehrere Filme gedreht hat, die noch keine Aufnahme in Salisburys Buch fanden.

Die enge Beziehung zu Tim Burton prägt das Werk. „Burton on Burton“ ist weder eine die üblichen Stationen eines Lebens abhakende Biografie noch eine kritikintensive Betrachtung und Bewertung der burtonschen Filme durch den Fachmann Salisbury. Stattdessen überlässt der Autor weitgehend Burton selbst das Wort und kanalisiert dessen Erinnerungsfluss höchstens durch eingestreute Fragen, die dem Text eine chronologische Struktur geben.

Das Ergebnis ist ein Buch, das den strengen Filmkritiker nur bedingt zufriedenstellen kann, weil weder Salisbury noch Burton daran denken, das (eigene) Werk unter filmwissenschaftlichen Aspekten zu betrachten. Leser, die gern in privaten Details schwelgen, bleiben erst recht außen vor. Salisbury interessiert sich ausschließlich für Burtons Vita als Filmemacher. Privates wird knapp dort angesprochen, wo es den Künstler Burton betraf. Nicht nur hier mag sich eine vielleicht allzu große Nähe zwischen Autor und Regisseur zwiespältig auswirken. Allerdings fällt zumindest der Verzicht auf die öffentliche Waschung schmutziger Privat-Wäsche, die auch der gar nicht so ätherische und weltfremde Burton zurückgelassen hat, nicht negativ auf.

|Ein literarischer Trip in exotische Welten|

Auch formal geht „Burton on Burton“ eigene Wege. Zum Text treten gleichwertig Fotos, die ‚typische‘ Burton-Filmszenen oder Aufnahmen von Dreharbeiten zeigen. Hinzu treten zahlreiche Zeichnungen und Skizzen, die Burton als Vorlagen für Storyboards und Gedächtnisstützen anfertigte. Es sind kleine Kunstwerke, die für sich stehen sowie Burtons Gedankenwelt oft besser erhellen können als viele Worte. Da für die deutsche Ausgabe durchweg hochwertiges Kunstdruckpapier Verwendung fand, kommen diese schwarzweißen oder pastellfarbigen Zeichnungen ausgezeichnet zur Geltung.

Weil Salisbury wie gesagt zum „Burton Collective“ zählt, hat er Zugriff auf diese Zeichnungen. Sie sind ein fixer Bestandteil jener Bücher geworden, die Salisbury seit 2001 zu beinahe jedem Burton-Film veröffentlicht – bildreich im Burton-Stil gestaltet und mit knappen aber informativen Texten versehen.

Eingeleitet wird „Burton on Burton“ durch gleich zwei Vorworte des ebenfalls zum „Collective“ gehörenden Burton-Freund und Weggefährten Johnny Depp. Er ist dem Regisseur in ewiger Dankbarkeit verbunden, seit dieser ihn 1993 aus der verhassten Fronarbeit an der TV-Serie „21 Jump Street“ erlöste.

|Ein wenig Skepsis ist angebracht|

Tim Burton sagt nur, was er sagen möchte, und Mark Salisbury hakt nicht wirklich nach: Die daraus resultierenden Unschärfen wurden bereits angesprochen. Burton ist keineswegs frei von Selbstkritik. Allerdings fragt man sich, wie tief Burton – auch nur ein Mensch – für dieses Buch in solche Wunden wie „Planet of the Apes“ (2001; dt. „Planet der Affen“) bohrte.

Glaubhaft sind die immer wieder geschilderten Auseinandersetzungen mit Filmstudios und Produzenten, die Burton in seine Arbeit hineinreden, um das Ergebnis möglichst massentauglich und damit einträglich zu trimmen. Hier merkt man dem sich sonst sehr gelassen gebenden Burton die damit einhergehenden Belastungen an. Anders als seine Anti-Helden konnte sich Burton jedoch an der Spitze halten und sogar in Hollywood eine Nische schaffen. Wie ihm dies gelang, muss sich der Leser oft zwischen den Zeilen zusammenreimen: Burton vermag auf beiden Hochzeiten zu tanzen, was ihn als ‚echten‘ Außenseiter eigentlich disqualifizieren müsste. Gern stellt er seine Karriere als Kette glücklicher Zufällen dar, bei der ihm außerdem talentierte Menschen hilfreich unter die Arme griffen. Tatsächlich ist Burton alltagstauglich genug, sich ein beachtliches Netzwerk zu schaffen, auf deren oft prominente Mitglieder er zählen kann.

Der „melancholische Magier“ stellt nur die eine Seite Burtons dar. Sie ist längst auch zur Rolle geworden, in die Burton betont unkonventionell mit tiefschwarzer, der profanen Mode enthobenen Kleidung und der Wirrhaar-‚Frisur‘ des wahren Genies zu schlüpfen weiß. Mit „Burton on Burton“ unterstützt ihn Salisbury dabei, ohne zu hinterfragen. Somit fehlen wichtige Stücke des Puzzles, die Tim Burtons Charakter ausmachen. „Burton on Burton“ ist – um es überspitzt aber dadurch deutlich auszudrücken – durch Fakten gestützte Hagiografie und in Sachen Tim Burton keineswegs der Weisheit letzter Schluss.

Bis zum Erscheinen einer „unautorisierten Biografie“ erfüllt dieses Buch dennoch seinen Zweck. Was Burton künstlerisch antreibt, wird auf jeden Fall deutlich. In diesem Punkt fällt es dem Leser leicht, die Sympathie des Autors (Salisbury) mit dem Subjekt seiner Darstellung (Burton) zu teilen.

|Gebunden: 368 Seiten
Originalausgabe: Burton on Burton. Revised Edition (London : Faber & Faber Limited 1995/2000/2006)
Übersetzung: Sara u. Hannes Riffel
ISBN-13: 978-3-86995-036-5|
http://marksalisbury.blogspot.de
http://www.timburtoncollective.com
http://www.quadrigaverlag.de

Brodrick, William – Schweigen des Mönchs, Das

_Die Pater-Anselm-Romane:_

(2003) Die sechste Klage |(The Sixth Lamentation)| – List TB 60610
(2006) Die Gärten der Toten |(The Gardens of the Dead)| – List TB 60820
(2008) Das Schweigen des Mönchs |(A Whispered Name)| – List TB 60996
(2011) |The Day of the Lie| (noch kein dt. Titel)

_Das geschieht:_

Herbert Moore, der mehr als ein halbes Jahrhundert dem Gilbertiner-Kloster Larkwood in der englischen Grafschaft Suffolk als Prior vorstand, hinterließ ein seltsames Erbe. Zwei Identifikationsmarken des Soldaten Owen Doyle aus dem Ersten Weltkrieg geben ein besonderes Rätsel auf: Sollte Doyle gefallen sein, hätte ein Kamerad mindestens eine dieser Marken als Beweis des Todes an den Vorgesetzten aushändigen müssen.

Noch merkwürdiger ist ein Brief, der Moore als Mitglied eines Generalfeldgerichts nennt, das im September des Jahres 1917 den irischen Freiwilligen Private Joseph Flanagan der Fahnenflucht schuldig sprach und damit zum Tode verurteilte. Der für seine Milde bekannte Prior lässt sich mit dem strengen Offizier der Northumberland Infantry nicht in Einklang bringen. Moores Nachfolger beauftragt deshalb den Mönch Anselm mit Nachforschungen.

Anselm war vor seinem Eintritt ins Kloster Jurist und kennt sich mit den Gepflogenheiten der Militärjustiz wenigstens ansatzweise aus. Ausgedehnte Archivforschungen vertiefen das Geheimnis: Die Akte Flanagan wurde offenkundig manipuliert und enthält keinen Hinweis auf ein tatsächlich vollstrecktes Todesurteil. Flanagan selbst war im Prozess der Lüge überführt worden. Er hatte sich nur zeitweise von seiner Truppe entfernt. Was er in diesen Stunden getan hatte, wollte er nicht aussagen, obwohl vor allem Moore ihn inständig um Aufklärung bat: In einem Krieg, der bereits Millionen Menschenleben gefordert hatte, wollte kein Soldat einen Kameraden hinrichten. Mildernde Umstände hätten Flanagan retten können.

Doch der Soldat schwieg. Die Erinnerung an dieses Ereignis begleitete und bedrückte Herbert Moore sein ganzes langes Leben. Anselm gelingt es beinahe ein Jahrhundert später, die spärlichen Hinweise zu bündeln und auszuwerten. Sie enthüllen ein Drama, dessen Ende wider Erwarten noch offen ist …

_Das beinahe vergessene nationale Trauma_

Am 25. Juli 2009 starb 38 Tage nach Vollendung seines 111ten Geburtstags Harry Patch. Er war der letzte noch lebende englische Soldat gewesen, der in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs (1914-1918) gekämpft hatte. Mit ihm verschwand der letzte Zeitzeuge, der aus erster Hand von den Schrecken dieses Krieges hatte berichten können, den man in England den „Großen Krieg“ nennt, weil er stärker als der IErsten Weltkrieg noch immer im kollektiven Gedächtnis verankert und Teil einer eigenen Erinnerungskultur geworden ist.

Von den 7,5 Mio. Soldaten, die für Großbritannien kämpften, fielen zwar ’nur‘ 850.000 im Gefecht (bei ca. 10 Mio. kriegstoten Soldaten insgesamt), doch diese Männer gehörten den jüngeren Generationen an, die demografisch fassbar deutlich ausgedünnt wurde. Die heimkehrenden Kämpfer hatten zwar überlebt, aber sie blieben nicht selten für den Rest ihres Lebens von ihren Erfahrungen gezeichnet. Auf Umwegen und in der Regel ungern erfuhren die Daheimgebliebenen von den unerhörten Schrecken eines Krieges, der als fröhlicher Waffengang begonnen hatte, um sich schon bald in ein Schlachtfest zu verwandeln.

Von der Nordsee bis in die Schweiz erstreckte sich ein bizarres System von Schützengräben, in denen sich die Gegner manchmal nur wenige Meter entfernt gegenüberlagen. Vier Kriegsjahre ging es weder voran noch zurück; erfolgreiche Vorstöße wurden unter großen Opfern erreicht, und meist musste das eroberte Terrain bald wieder aufgegeben werden. Nässe, Kälte, Schlamm, Läuse, Krankheiten: Selbst wenn nicht gekämpft wurde, starben die Soldaten.

Zu den körperlichen Strapazen kam der psychische Terror. Viele Männer hielten dem Druck nicht stand und verloren buchstäblich den Verstand. Den pragmatischen Militärs galten sie als ‚Feiglinge‘ und ‚Drückeberger‘, und auch in der Heimat wurden sie als Schwächlinge verachtet. Im Erholungsurlaub schwiegen auch jene, die es besser wussten, weil sie nicht über das erlebte Grauen sprechen konnten oder ihre Familien und Freunde erschrecken wollten. So blieb es nach Kriegsende. Erst Jahrzehnte später wurde der Ersten Weltkrieg nicht nur als Todesmühle, sondern auch als Trauma einer ganzen Generation begriffen.

|Großer Ehrgeiz, kleine Geschichte|

Dies ist das Fundament, auf dem William Brodrick den dritten Roman seiner Serie um den Ermittler-Mönch Anselm gründet. Damit tut er des Guten wahrscheinlich mehr als ein bisschen zu viel, denn obwohl „Das Schweigen des Mönchs“ wie vom Verfasser geplant über die eigentliche Handlung hinauswirkt, verheddert sich Brodrick in einem Thema, das ihm wichtiger als eine spannende Geschichte ist.

So werden jedenfalls jene Leser urteilen, die das Prädikat „Kriminalroman“, das dem Cover der deutschen Ausgabe aufgedruckt wurde, buchstäblicher definieren als der Verlag. Verständlicherweise drückt dieser sich davor, „Das Schweigen …“ als Historienroman zu präsentieren, der inhaltlich nicht nur um Begriffe wie Schuld und Sühne kreist, sondern sich auch darin erschöpft: Obwohl die Handlung über viele Kapitel im Ersten Weltkrieg spielt und entsprechende Szenen enthält, geht es Brodrick nur vorgeblich um ein klassisches Krimi-Rätsel und dessen von turbulenten Ereignissen begleitete Lösung.

In gewisser Weise wandelt Brodrick auf den Spuren von Gilbert Keith Chesterton (1874-1936). Dessen Father Brown war ebenfalls an den Motiven des Täters stärker interessiert als an der Aufklärung eines Kriminalfalls, die Brown nicht selten zur seelsorgerischen Betreuung geriet. Erst Kino und Fernsehen verdümmlichten Brown zum schlauköpfigen Pfäfflein, das mit frommem Augenaufschlag zum HERRN sowie zum ulkigen Ärger verknöcherter Vorgesetzten den Detektiv spielte.

|Im toten Winkel der Humanität|

Diese Klischees glänzen – und dieses Verb kommt hier mit Absicht zum Einsatz – bei Brodrick durch Abwesenheit. Es ist sogar der Prior, der Anselm in Marsch setzt, um Nachforschungen anzustellen, die mit ziemlicher Sicherheit aus kirchenpolitischer Sicht Unerfreuliches über den hochgeehrten Herbert Moore zu Tage bringen werden. Die Wahrheit steht über der Eitelkeit, so lautet eine der Lehren, die Brodrick nicht religionspädagogisch, sondern unaufdringlich einfließen lässt.

Selbstverständlich müssen Themen wie Schuld und Sühne einen Geistlichen besonders intensiv beschäftigen. Das Klosterleben ist in Larkwood zwar der Kontemplation gewidmet, doch die Mönche sind gestandene Männer, die oft auf ein weltliches Vorleben zurückblicken und folglich mit dem Profanen aber Menschlichem vertraut sind. Dies ermöglicht die ambivalente Betrachtungsweise einer ungesühnten Schuld, die womöglich gar keine Schuld ist.

Hier entwickelt „Das Schweigen des Mönchs“ jene Sogwirkung, die dieses Buch nach Ansicht der „Crime Writers‘ Association“ 2008 in den Rang des jahresbesten Kriminalromans erhob. Die Ereignisse von 1917 fallen in ein juristisches und moralisches Niemandsland. Brodrick gelingt es, den psychischen Aspekt dieser Ausnahmesituation plastisch darzustellen. Flanagan ist kein Deserteur, sein Tod bleibt ohne Abschreckungseffekt in einem Krieg, der zum industrieähnlichen Abschlachten verkommen ist. Dazu gehört eine Bürokratie, die sich unberührt vom Kriegsalltag verselbstständigt hat und Gnade nicht einmal für die eigenen Soldaten vorsieht.

|Täter & Opfer in einer Person|

Schicht um Schicht löst Brodrick die miteinander verbackenen Schichten aus Historie und Erinnerung, Wahrheit und Täuschung. Dieser Prozess benötigt Zeit, die der Verfasser sich nimmt und nutzt, die eigene Problematik einer solchen Untersuchung zu verdeutlichen: Die Grenzen sind über viele Jahrzehnte beinahe unkenntlich verwischt. Der Fall des Soldaten Flanagan, der einmal das Richtige tun wollte und dadurch erst recht Freunde und Kameraden in bittere Gewissensnöte brachte, steht für viele ähnliche Vorfälle, wie Brodrick in einem Nachwort kurz erläutert.

Folgerichtig ist die Auflösung des eigentlichen Rätsels kein finaler Höhepunkt, sondern wirkt in dieser Geschichte eher wie eine Pflichtschuld, die dem Krimi-Genre erbracht wird. An der Ungeheuerlichkeit einer weitgehend verdrängten aber von den Zeitgenossen nie wirklich bewältigten Vergangenheit ändert sich dadurch nichts. Dies ist die Summe unzähliger Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die das Format (aber auch das Korsett) des üblichen Kriminalromans sprengen.

_Autor_

William Brodrick wurde 1960 in Bolton in der englischen Grafschaft Lancashire geboren. 1971 emigrierte die Familie nach Kanada, zog später ins australische Queensland und kehrte schließlich nach England zurück.

Bereits in Kanada hatte sich Brodrick intensiv mit dem katholischen Glauben beschäftigt. 1979 trat er dem Augustinerorden bei, wurde Novize in einer Abtei im irischen Dublin und später in eine Pfarrei in London versetzt. Hier studierte Brodrick Philosophie und Theologie.

Dem abgeschiedenen Mönchsdasein zog er auf Dauer die Arbeit für bedürftige Menschen vor. 1985 verließ Brodrick den Orden kurz vor dem Ablegen der Ewigen Gelübte und kümmerte sich um Obdachlose. Außerdem studierte er Jura, ließ sich 1991 als Rechtsanwalt nieder, heiratete und gründete eine Familie.

Seinen ersten Roman veröffentlichte Brodrick 2003. „The Sixth Lamentation“ (dt. „Die sechste Klage“) war gleichzeitig der erste Fall des Mönches Anselm, der anders als sein geistiger Vater Rechtsanwalt war und erst später Mönch geworden ist. Die kontinuierlich fortgesetzte Reihe profitiert von Brodricks juristischen Kenntnissen ebenso wie von seinen Erfahrungen als Mönch. Für „A Whispered Name“ (dt. „Das Schweigen des Mönchs“), den dritten Anselm-Roman, wurde der Autor von der britischen „Crime Writers‘ Association“ (CWA) 2009 mit einem „Gold Dagger Award“ für den besten englischsprachigen Kriminalroman ausgezeichnet.

|Taschenbuch: 430 Seiten
Originaltitel: A Whispered Name (London : Little, Brown Book Group 2008)
Übersetzung: Ulrike Bischoff
ISBN-13: 978-3-548-60996-6|
http://www.ullsteinbuchverlage.de

Agatha Christie – Tragödie in drei Akten / Nikotin [Hercule Poirot 16]

Der scheinbar zufällige Tod eines Geistlichen erweist sich als Glied einer komplex verschlungenen Kette krimineller Taten, mit der einer alten Tragödie mörderisch neues Leben eingehaucht wird … – Im 16. Roman um den Privatermittler Hercule Poirot zeigt sich Agatha Christie auf der Höhe ihrer Krimi-Kunst: Plot, Story und Figurenzeichnung wirken nicht altmodisch, sondern zeitlos. 
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Böhnhardt, Michael – Luftschiff des Doctor Nikola, Das

_|Doctor Nikola| von Guy N. Boothby:_

01 [„Die Rache des Doctor Nikola“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6319
02 [„Die Expedition des Doctor Nikola“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6746
03 [„Das Experiment des Doctor Nikola“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7041
04 „Der Palazzo des Doctor Nikola“

und die Fortsetzungen von verschiedenen Autoren:

05 _“Das Luftschiff des Doctor Nikola“_
06 „Das Serum des Doctor Nikola“ (2013)

_Das geschieht:_

Im Februar des Jahres 1920 ist abzusehen, dass die zaristischen „Weißen“ den bolschewistischen „Roten“ im russischen Bürgerkrieg unterliegen werden. Nur im Osten des zerstrittenen Riesenreiches können sich die Weißen noch halten. Zu denen, die weiter für die Monarchie kämpfen, gehört Baron Robert von Klingenberg. Er ist sich der nahen Niederlage ebenso wie der Tatsache bewusst, dass man ihn als Offizier und Kommandeur eines Kosakenregiments, das den „Roten“ manchen bitteren Schlag versetzt hat, umgehend hinrichten wird.

Klingenberg will mit einem kühnen aber verzweifelten Plan das Schicksal herausfordern: In Wladiwostok ist der englische Herzog von Glenbarth an Bord eines riesigen Luftschiffs eingetroffen. Eigentlich wollte er die „Weißen“ unterstützen, die ihm jedoch misstrauen. Klingenberg lernt den frustrierten Adeligen und seine Gattin, Lady Gertrude, kennen. Das Gespräch kommt auf einen gemeinsamen Bekannten – Dr. Nikola, das verbrecherische aber hochintelligente Genie, das sich vor zwei Jahrzehnten auf der Suche nach dem Ewigen Leben in ein tibetisches Kloster zurückgezogen hat. Nur er könnte Annabelle, der jungen Glenbarth-Tochter, helfen, die ihre Eltern begleitet, obwohl sie unter einer schweren Krankheit leidet.

Nikola gehört aktuell dem Hofstaat des Bogdo Khan an, der als mongolische Inkarnation Buddhas verehrt wird. Die Chinesen, die seit 1919 über die Mongolei herrschen, halten den Khan als Geisel in einer Bergfestung gefangen. Dorthin soll Glenbarth sein Luftschiff lenken, damit man die Gefangenen befreien kann.

Der Coup glückt. Mit dem Khan und Dr. Nikola an Bord flüchtet man ins ebenfalls chinesisch besetzte Urga. Dort soll Nikola Annabelle heilen. Dies lässt ihm noch genug Zeit, eine seiner meisterhaften Intrigen einzufädeln und die Mitglieder der Expedition gegeneinander auszuspielen, um sie seinem Willen zu unterwerfen …

_Manchmal kommen sie doch zurück_

So etwas ist selten, um es untertreibend auszudrücken: Ein in Australien und England ausgebrüteter und bei der angelsächsischen Leserschaft beliebter Serienheld geht nach dem Tod seines geistigen Vaters ins Exil und kehrt 111 Jahre später zurück – ausgerechnet in Deutschland, wo man ihm bei seinem ersten Erscheinen keinen besonders warmen Empfang geboten hatte: Von den vier Doctor-Nikola-Romanen, die Guy Newell Boothby (1867-1905) verfasst hatte, erschienen hierzulande nur zwei. Erst 2010 kamen auch wir Deutschen in den Genuss sämtlicher Nikola-Schurkereien. Der Wurdack-Verlag hatte sich ihrer angenommen und diese vier Bücher neu übersetzen lassen bzw. erstmals veröffentlicht.

Offensichtlich fand der böse aber faszinierende Nikola immer noch bzw. endlich ein Publikum. Es kam sogar noch besser: 1901 hatte Boothby den seiner Tücken müden Nikola in ein tibetisches Kloster abgeschoben. Vermutlich hätte er ihn selbst reaktiviert, wäre ihm eine weitere Nikola-Geschichte eingefallen, doch Boothbys früher Tod im Alter von nur 37 Jahren setzte solchen mutmaßlichen Plänen ein Ende.

Ein Jahrhundert später leistet Autor Michael Böhnhardt deutlich mehr, als nur in die Bresche zu springen. Er hatte die Nikola-Romane erst quasi ‚privat‘ und später für den Wurdack-Verlag übersetzt und sich dabei in die Welt des nicht plakativ bösen, sondern vor allem manipulativen Doktors eingearbeitet und eingelebt. So war Böhnhardt eine naheliegende Wahl, als Doctor Nikola aus dem Ruhestand geholt und in ein weiteres Abenteuer geschickt werden sollte.

|Nikolas doppelte Frischzellenkur|

Der Autor stand dabei vor einer doppelten Herausforderung. Einerseits sollte er an den Nikola-Handlungsbogen anknüpfen, der freilich über ein Jahrhundert alt sowie gealtert war, weshalb Böhnhardt andererseits inhaltlich und formal behutsam aber deutlich aktualisieren musste. Der heutige Leser schätzt auch in einer ‚historisierenden‘ Geschichte gewisse viktorianische Standards und Klischees nicht mehr. Also ist die weibliche Hauptfigur keineswegs auf die Rollen Opfer bzw. zukünftige Braut beschränkt, und auf den männlichen Arm ist sie nur insofern angewiesen, als sie seinen Besitzer in einer maskulin geprägten Gesellschaft geschickt dorthin lenkt, wo sie ihn sehen möchte. Auch als sexuelle Wesen dürfen Frauen nun auftreten, ohne dadurch als Handlanger des Teufels gebrandmarkt zu werden.

Michael Böhnhardt ist als Autor deutlich skrupulöser als Guy Boothby, der meist an mehreren Büchern gleichzeitig schrieb bzw. sie in einen Phonografen diktierte. Daraus resultiert eine Literatur, die auch deshalb ebenso trivial wie rasant ist, weil ihr Verfasser Abgabetermine einhalten musste. An aufwändige Hintergrundrecherchen war nicht zu denken. Deshalb beschränkt sich Boothby auf vage geografische, historische, kulturelle etc. Rahmenfakten, während Böhnhardt deutlich weiter ausholt und präzise wird, ohne die Tatsachen – die in einem ausführlichen Nachwort erläutert werden – die Handlung dominieren zu lassen. Die satte Unterfütterung des Geschehens ist eine echte Bereicherung. Böhnhardt ersetzt Boothbys unbekümmerten Handlungsfluss, den dieser sich als geborener Geschichtenerzähler und Zeitgenosse gestattete und gestatten konnte, durch eine kontrollierte Form des Erzählens.

|Mehr Fleisch auf den Knochen|

Diese Feststellung beinhaltet bereits die Antwort auf die Frage, ob sich der ’neue‘ Nikola vom ‚alten‘ unterscheidet: ja – und zwar deutlich. Von Anfang an verzichtet Böhnhardt auf den Versuch, den Boothby-Stil nachzuahmen. Als Übersetzer von vier Nikola-Romanen hätte er es versuchen können. Selbst ein Gelingen wäre freilich kein Gewinn gewesen, denn um es mit anderen Worten noch einmal deutlich zu machen: 2012 schreibt man einfach nicht mehr wie 1900.

Dies schließt eine Handlungsführung ein, die den Helden nicht nur von Punkt A nach B usw. bringt, sondern einen roten Faden erkennen lässt. Boothby verließ sich auf ein grobes Konzept sowie darauf, dass ihm schon etwas einfallen würde. Das Ergebnis war oft danach, wenn wieder einmal der Zufall die Logik oder Routine die Inspiration vertreten musste. Solche Lücken und Sprünge weist diese Handlung nicht auf, obwohl „Das Luftschiff des Doctor Nikola“ seine Insassen ebenfalls rasant von Ort zu Ort bringt.

Die Einbettung in ein durchaus konkretes historisches Umfeld bedingt eine gewisse Handlungsdisziplin, gibt aber auch interessante Entwicklungsmöglichkeiten vor. In einem nächsten Schritt beeinflusst es die Figurenzeichnung. Boothbys Helden und Bösewichte waren lebendig und farbenfroh aber eindimensional. Nicht nur der heutige Leser weiß beinahe stets, wie sie denken und handeln werden. Das Rollenbild hat sich jedoch auch in der Trivialliteratur geändert: Aus Schwarz oder Weiß wurde Grau in allen Schattierungen. Boothby hat in dieser Hinsicht experimentiert, sich dabei jedoch auf die Nikola-Figur beschränkt.

|Keine Tat ohne Hintergedanken|

Böhnhardt zeigt wesentlich mehr Mut zur Ambivalenz und geht dabei über Nikola hinaus. Robert von Klingenberg, die eigentliche Hauptfigur, ist kein Held, der auch deshalb naiv in Nikolas Fallen tappt, weil ihm solche manipulative Niedertracht fremd ist. Klingenberg ist ein durch Erfahrung zynisch gewordener Idealist, der sich bei Bedarf sehr unheldenhaft benimmt und damit leben kann.

Interessant ist die Neuinterpretation des Herzogs und der Herzogin von Glenbarth. Sie hatten sich in „Der Palazzo des Doctor Nikolas“ gefunden und waren von Boothby in die üblichen Rollen – wackerer britischer Edelmann bzw. Jungfrau in Not – gepresst worden. Böhnhardt lässt nunmehr den Herzog nach der eigenen Tochter gieren, während Gattin Gertrude einerseits nach Kräften fremdgeht sowie kein Problem damit hat, mit Nikolas Hilfe der genannten Tochter die Jugend zu rauben.

Nikola selbst wird von Böhnhardt verständlicher als von Boothby als Mensch gezeichnet, der sich gänzlich seiner Suche nach Wissen verschrieben hat. Die erworbenen Kenntnisse sucht Nikola voller Neugier aber dabei skrupellos in die Tat umzusetzen. Ausgerechnet der so kindisch wirkende Bogdo Khan hat ihn durchschaut, der die Menschen nur als Versuchskaninchen für seine Experimente zwischen Wissenschaft und Magie betrachtet. Gänzlich über jegliche Niedertracht erhaben ist aber auch Dr. Nikola nicht, was für einen gelungenen Finaltwist sorgt. Bevor er sich nach Europa absetzt, um sich dort neuerlich als graue Eminenz im Hintergrund zu etablieren, zahlt er Klingenberg dessen ‚Ungehorsam‘ heim.

Das nächste Mal werden wir in den „Goldenen Zwanzigern“ auf Nikola treffen, der sich als wahrer Kosmopolit in Berlin eingenistet hat. Nach dem gelungenen (sowie abermals als Sammler-Ausgabe schön gestalteten) Neu-Einstand darf man sich auf die Rückkehr des inzwischen unsterblichen Schurken freuen, den wir irgendwann womöglich – die Resonanz bei der Leserschaft wird es entscheiden – in der aktuellen Gegenwart werden sehen können.

|Paperback: 220 Seiten
ISBN-13: 978-3-938065-89-1|
http://doctornikola.blogspot.com

Classic Shop

Robert Jackson Bennett – Silenus

Eigentlich sucht George seinen Vater. Als er ihn findet, wird er in dessen Theatergruppe aufgenommen, die nach Feierabend die Apokalypse verhindert; es schließen sich gefährliche Abenteuer im Diesseits und anderen Welten an … – Es gibt sie also noch: Autoren für „Urban Fantasy“, die ein fantasiereiches Garn nicht ohne Längen und Klischees aber ohne kussfeste Vampire oder rollige Werwölfe spannend über die volle Seitendistanz bringen.
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Craig Rice – Mord im Gerichtshof

rice-mord-im-gerichtshof-cover-1981-kleinIn einer abgelegenen Kleinstadt gerät ein Urlauber-Paar in einer Mordserie; während die örtliche Polizei gern auf die beiden Sündenböcke zurückgreifen würde, nimmt Privatdetektiv Malone auf solche Befindlichkeiten keine Rücksicht … – Band 5 der erfolgreichen Serie um John J. Malone ist unterhaltsam verworren und karikiert das US-Provinzleben im Stil der zeitgenössischen „Screwball“-Komödien: lesenswert.
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Child, Lee – Underground (Jack Reacher 13)

_Die |Jack Reacher|-Romane:_

Band 1: „Größenwahn“
Band 2: [„Ausgeliefert]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=905
Band 3: [„Sein wahres Gesicht“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=2984
Band 4: [„Zeit der Rache“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=906
Band 5: [„In letzter Sekunde“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=830
Band 6: „Tödliche Absicht“
Band 7: [„Der Janusmann“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=3496
Band 8: [„Die Abschussliste“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4692
Band 9: [„Sniper“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5420
Band 10: [„Way Out“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5893
Band 11: [„Trouble“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6756
Band 12: [„Outlaw“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7640
Band 13: _“Underground“_

_Das geschieht:_

Auf seinem unendlichen und ziellosen Streifzug durch die USA ist Jack Reacher, ehemaliger Militärpolizist, aktuell in New York City. Als er in der U-Bahn sitzt, fällt ihm eine Frau auf, die alle Profilanforderungen einer Selbstmord-Attentäterin erfüllt. Reacher will sie aufhalten, doch in der Tasche von Susan Mark ist keine Bombe, sondern eine Pistole, mit der sie sich in den Kopf schießt.

Reacher fühlt sich für diesen Selbstmord mitverantwortlich. Außerdem wird er provoziert: Da Susan Marks eine Zivilangestellte des Pentagons war, nehmen ihn arrogante Bundesagenten in die Mangel; sie wollen feststellen, ob Marks, die geheime Dateien aus dem Verteidigungsministerium kopiert hat und deshalb unter Beobachtung stand, ihm eine Abschiedsbotschaft oder gar eine Kopie zukommen ließ. Wenig später stellen vier private aber ebenfalls unfreundliche Sicherheitsleute im Auftrag eines unbekannten Auftraggebers ähnliche Fragen.

Statt die Sache auf sich beruhen zu lassen, wird Reachers Neugier geweckt. Einige unvorsichtige Bemerkungen haben ihn auf die Spur des ehemaligen Elitesoldaten John Sanson gebracht, der nun im Kongress sitzt und sich um einen Senatoren-Posten bewirbt. Reacher nutzt seine Kenntnisse über den militärischen Verwaltungsapparat und findet heraus, dass Sanson vor beinahe drei Jahrzehnten an einer Geheimmission in Afghanistan teilnahm, die aus heutiger Sicht politisch absolut unkorrekt war.

Der Auftraggeber der Sicherheitsleute (s. o.) offenbart sich: Die ehemalige sowjetische Politkommissarin Swetlana Hoth und ihre Tochter Lila suchen nach einem US-Soldaten, der einst der Mutter das Leben gerettet hat. Für Reacher klingt dies allzu fantastisch. Er ermittelt weiter – und erregt den Zorn der US-Heimatschutzbehörde, die ihn als ‚Staatsfeind‘ verschwinden lassen will. Aber Reacher lässt nicht locker. Er ist einer Verschwörung auf der Spur, die zu Al-Qaida führt, wo man diese Verbindung um wirklich jeden Preis gekappt sehen will …

_Hässliche neue Welt_

Seit 1997 ist Jack Reacher unterwegs. Er hat sich aus einem System ausgeklinkt, das keine Verwendung mehr für ihn und sein besonderes Talent hatte: Reacher ist ein ausgezeichneter Ermittler, der Indizien sichern, erkennen und miteinander verknüpfen kann. Schon während er noch seinen Dienst als Militärpolizist leistete, erregte er den Widerwillen besagten Systems, weil ihm Ergebnisse über die Vorschriften gingen.

Als Privatmann hat Reacher seinen Job nur offiziell aufgegeben. Nach eigener Auskunft reist er durch die Vereinigten Staaten, um sich das Land anzuschauen. Tatsächlich ist er jedoch nicht |“heute hier, morgen dort“| – |“here today, gone tomorrow“|, wie es der Originaltitel andeutet. Stattdessen wartet er auf Kriminalfälle, die einen klugen Kopf über starken Schultern erfordern. Reacher schaut nicht weg, sondern mischt sich ein, wenn er Zeuge von Verstößen wird, der sich – in dieser Reihenfolge – gegen das Menschenrecht, seinen Ehrenkodex und das Gesetz richtet, wie er es definiert.

Damit exponiert sich Reacher nicht nur gegen ohnehin kriminelle Zeitgenossen, sondern auch gegen die etablierten Vertreter von Recht und Ordnung. Hier stellt Autor Lee Child seit einiger Zeit eine unheilvolle Veränderung fest, die er an einem Datum festmachen kann: Die Ereignisse des 11.09.2001 bzw. „Nine-Eleven“ brachten nicht nur den Terrorismus ganz großen Stils in die USA, sondern führten auch zu einer ‚legalen‘ Aufweichung der Menschenrechte. Der „patriot act“ gestattet Geheimdiensten und Bundesbehörden einen vom Gesetz normalerweise so nicht gestatteten Zugriff auf verdächtige Personen: Sie KÖNNTEN Terroristen sein bzw. mit Terroristen zusammenarbeiten und dürfen deshalb nicht nur aus dem Verkehr gezogen, sondern auch einem ‚verschärften‘ Verhör unterworfen werden.

|Die neue Dimension des Terrors|

Als Ergebnis sieht Child zwei gleichermaßen gefährliche Phänomene: Auf der einen Seite ist der globale Terror weiterhin akut, während auf der anderen Seite entfesselte Terrorjäger Gesetz und Menschenrechte aushebeln können, dies auch tun und weitere Privilegien fordern. Deshalb kämpft Reacher nicht nur gegen al-Qaida, sondern auch gegen jene, die auf seiner Seite stehen müssten.

Natürlich ist Reacher ein Vigilant, dessen Gerechtigkeitstrip selbst gegen fixiertes Recht verstößt. Da er der Held einer Serie unterhaltender Thriller ist, kann ihm das nicht vorgeworfen werden. Child nutzt jedoch die Chance, auf die moralische Schieflage hinzuweisen, in welche US-Politik und -Justiz geraten sind, indem er die Folgen in seine Geschichte einfließen lässt. Das Ergebnis ist mindestens so beängstigend wie der simple Kampf gegen eine Horde messerschwingender Meuchelmörder: Der Staat führt Krieg gegen seine eigenen Bürger. Sie werden in „Underground“ von den Polizeibeamten Jacob Mark und Theresa Lee verkörpert, die anders als Reacher nach den Regeln spielen und trotzdem in die Mühlen einer außerhalb geregelter Kontrollen agierenden ‚Schutzbehörde‘ geraten.

Das Prädikat „politisch korrekt“ kann „Underground“ also nicht für sich beanspruchen – dies auch deshalb, weil Child über Reacher Farbe bekennt: Die Schuld für die beschriebene Barbarisierung liegt für ihn letztlich bei den Strippenziehern des Terrors, hier also al-Qaida. Letztlich verhält sich Reacher wie eine Kampfdrohne ohne Fernsteuerung: Im großen Finale rottet er die Terroristenbrut aus, weil nur dies gerechte Strafe, Warnung und Verhütung künftigen Unheils gewährleistet.

|Spannungsschraube mit vielen Windungen|

Bis es soweit ist, wird der Leser auf manche falsche Spur geführt. Ausgewiesene Twist-Spezialisten wie Jeffery Deaver müssten angesichts der Leichtigkeit, mit der Child nicht einmal oder zweimal, sondern immer wieder die Handlungsachse in andere Richtungen biegt, eigentlich vor Scham in den Boden versinken. „Underground“ bietet keineswegs ’nur‘ Action der glaubwürdigen Art, sondern kann auch als Rätsel-Krimi bestehen. Worum es in dieser Geschichte geht, bleibt nach dem Willen des Verfassers bis zuletzt offen. Der Leser nimmt es mit der gewünschten Reaktion – fieberhafte Neugier – wahr und lässt sich gern von Childs an der Nase herumführen (auch wenn es heißt, zügig den Anschluss zu halten, um das Riechorgan vor aus Rasanz geborenen Dehnstreifen zu bewahren).

Die Action der Reacher-Romane ist eine Lektion in Sachen erwartungsvoller Spannung. Vorzugsweise gerät unser Held dort in die Bredouille, wo das Gelände übersichtlich oder sogar leer wirkt: eine U-Bahnstation, eine Nebenstraße, ein Kellerraum. Sorgfältig listet Child auf, was sich dort befindet und aus welchem Material es besteht. Solche Informationen sind wichtig, denn es verschärft die Frage, wie sich Reacher aus dieser hoffnungslosen Situation herauswinden wird.

Es gelingt ihm, weil er ein Profi ist, der anders als der Normalbürger die Möglichkeiten erkennt, die ein simples Stück Holz, ein Sack voller Müll oder ein Gummischuh bergen. Reacher beobachtet, ordnet ein, zieht Schlüsse, trifft Entscheidungen, kalkuliert Probleme ein. Die Konsequenz, mit der Child die in Worte fasst, mildert angenehm das Klischee von Reacher, dem Supermann, der zwar zeitweilig aufgehalten aber nie ausgeschaltet werden kann. Stattdessen ist der Leser bereit zu glauben, dass Reachers Fähigkeiten auf guter Ausbildung, Intelligenz und Wachsamkeit beruhen.

Tatsächlich ist dies eine (Selbst-) Täuschung. Ein Einzelkämpfer wie Reacher ist eine Wunsch- (bzw. Albtraum) Gestalt. Hin und wieder wird deutlich, dass sich die Bewohner seiner Welt wie auf Schienen bewegen. Er kann ihre Handlungen ein wenig zu deutlich und zuverlässig vorausahnen – das Privileg des Serienhelden, der für seine spannenden Taten mehr geliebt wird als für die Wahrung der Realität, die bekanntlich stets für böse Überraschungen gut ist. Lee Child hält in seinem 13. Reacher-Abenteuer die Zügel (wieder) fest in der Hand. Durchhänger, Seifenoper-Einschübe oder Tritte auf die Handlungsbremse gibt es nicht, was sich kurz & bündig so zusammenfassen lässt: Reacher bürgt weiterhin für Lektüre-Spaß.

_Autor_

Lee Child wurde 1954 im englischen Coventry geboren. Nach zwanzig Jahren Fernseh-Fron (in denen er u. a. hochklassige Thriller-Serien wie „Prime Suspect“/“Heißer Verdacht“ oder „Cracker“/“Ein Fall für Fitz“) betreute, wurde er 1995 wie sein späterer Serienheld Reacher ‚freigestellt‘.

Seine Erfahrungen im Thriller-Gewerbe, gedachte Child nun selbstständig zu nutzen. Die angestrebte Karriere als Schriftsteller ging er generalstabsmäßig an. Schreiben wollte er für ein möglichst großes Publikum, und das sitzt in den USA. Ausgedehnte Reisen hatten ihn mit Land und Leuten bekannt gemacht, sodass die Rechnung schon mit dem Erstling „Killing Floor“ (1997, dt. „Größenwahn“ aufging. 1998 ließ sich Child in seiner neuen Wahlheimat nieder und legt seither mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks in jedem Jahr ein neues Reacher-Abenteuer vor; zehn sollten es ursprünglich werden, doch zur Freude seiner Leser ließ der anhaltende Erfolg Child von diesem Plan Abstand nehmen.

Man muss die Serie übrigens nicht unbedingt in der Reihenfolge des Erscheinens lesen. Zwar gibt es einen chronologischen Faden, doch der ist von Child so konzipiert, dass er sich problemlos ignorieren lässt. Jack Reacher beginnt in jedem Roman der Serie praktisch wieder bei null.

|Gebunden: 446 Seiten
Originaltitel: Gone Tomorrow (London : Bantam Press 2009)
Übersetzung: Wulf Bergner
ISBN-13: 978-3-7645-0368-0|
http://www.leechild.com
http://www.randhomhouse.de/blanvalet

|eBook: 714 KB
ISBN-13: 978-3-641-06115-9

Hörbuch: 433 min. (6 Audio-CDs, gekürzte Lesung)
Gelesen von Frank Schaff
ISBN: 978-3-8371-1596-3|
http://www.randomhouse.de/Hoerbuch

|Hörbuch-Download: 798 min. (ungekürzte Lesung)
Gelesen von Frank Schaff
ISBN-13: 978-3-8371-1618-2

Hörbuch-Download: 433 min. (gekürzte Lesung)
Gelesen von Frank Schaff
ISBN-13:978-3-8371-1617-5|