Alle Beiträge von Michael Drewniok

Clark, Simon – Vampyrrhic

_Das geschieht:_

Leppington ist eine kleine Hafenstadt im nördlichen Yorkshire. Sie ist im Niedergang begriffen, nur die gewaltigen Schlachthöfe sorgen noch für Arbeit – und viel Blut, das scheinbar direkt in die Kanalisation geleitet wird. Dies ist Leppingtons seltsamer Geschichte geschuldet, die Dr. David Leppington, ein Nachfahre des Stadtgründers, von seinem Großonkel George erfährt, als er, der den Ort schon als Kind verlassen hat, zurückkehrt, um sich eventuell als Arzt in ’seiner‘ Stadt niederzulassen.

Nach George Leppington schloss vor tausend Jahren der Donnergott Thor einen Pakt mit dem ersten Leppington. In jenen frühen Tagen des Christentums sah Thor den Untergang der nordischen Götter bereits vorher. Um Einhalt zu gebieten, schuf er eine Armee untoter, vampirischer Krieger, die in großen Höhlen und Kavernen unter der Stadt darauf warteten, von einem Leppington in den Kampf geführt zu werden. Doch der Pakt wurde einseitig aufgekündigt. Seither lauern die Vampire unter der später entstandenen Stadt, und die Leppingtons hüten sie, wobei schwere Gitter nützlich sind.

Ausgerechnet der alte George beschließt, Thors Forderung endlich zu erfüllen. Er lässt die Vampire frei, die in Leppington das oberirdische Blutsaugen üben, bevor sie später in die Welt hinausziehen. David versucht verzweifelt, den Kreaturen Einhalt zu gebieten. An seiner Seite stehen Electra Charmwood, Inhaberin eines alten Hotels, ihre Angestellte Bernice Mochardi und der Vagabund Jack Black – ein Quartett, das sich aus Wiedergeburten jener mittelalterlichen Männer und Frauen rekrutiert, die einst für das Ende des Paktes verantwortlich waren.

Während Leppingtons ahnungslose Bürgerschaft sich nach und nach in Untote verwandelt, versuchen diese vier Personen, die Ausbreitung der Vampir-Seuche zu stoppen. Doch wie bekämpft man Kreaturen, die einerseits nicht mehr sterben können, während sie andererseits die durch Buch und Film bekannten Methoden zur Vampir-Abwehr kaltlächelnd ignorieren …?

_Tod, Blut plus Sex = echte Vampire!_

Der erwachsene Freund zumal der klassischen Phantastik hat in den ersten Jahren des noch jungen 21. Jahrhunderts Grund zur Klage. So viele Archetypen zählt der Horror nicht, dass er auf eine prägende Gestalt wie den Vampir verzichten könnte. Aber den stolzen Blutsauger scheint es dahingerafft zu haben; er wurde nicht gepfählt, sondern meyerisiert. Ein grässliches Schicksal, denn ausgerechnet DAS klassische Symbol für wilden, aller Gesetze und Regeln enthobenen Sex wurde seines Beißtriebs beraubt (= kastriert) und zum platonischen Minne-Kasper für die Maid, die sich (noch) nicht traut, herabgewürdigt.

Diese horromantische Demütigung wird der Vampir hoffentlich bald überstanden haben und zur alten Form zurückkehren. Bis es soweit ist, müssen seine wahren Anhänger mit ihm in der Grusel-Diaspora schmachten oder sich mit unbekanntem Stoff aus besseren, alten Zeiten über die Dürre trösten. „Vampyrrhic“ erschien bereits 1998, als sowohl Edward als auch Bella sowie ihre doppelt untoten Klone noch so undenkbar waren wie die aktuelle Gesundheitsreform oder die Ölpest im Golf von Mexiko.

Simon Clark ging damals einen eigenen Weg; ’seine‘ Blutsauger sind keine vornehm in samtgefütterte Capes gewandete Aristokraten, sondern eine gänzlich unattraktive Mischung aus Vampir und Zombie. Sie benehmen sich so schlecht wie sie aussehen, und sie sind viel zu dumm, um sich Gedanken über ihr unerfülltes, untotes Dasein zu machen, sich deshalb zu grämen oder gar auf Erlösung zu hoffen.

In einem Punkt sind sie allerdings klassisch geblieben: Sie definieren sich über das Blut bzw. die Gier danach. Clarks Vampire können sich tarnen und quasi einen Liebeszauber über ihre Opfer werfen, der jedoch wie der Duft der Venusfliegenfalle oder die bunte Schönheit des Fliegenpilzes reines Mittel zum Zweck ist. Dahinter lauert die unkontrollierbare Gier, weshalb diese Vampire wie wilde Hunde hinter massiven Gittern und Türen eingesperrt wurden. Auf den Zeitpunkt ihrer Freilassung haben sie keinen Einfluss: Der Vampir degeneriert zum gelenkten Kollektiv, das als Waffe instrumentalisiert wird.

|Böse Meister und verdammte Helden|

Solche Blutsauger taugen nur als Scheusale, die einen grässlichen (aber vom Verfasser detailfroh ausgemalten) Tod bringen bzw. selbst ein scheußliches Ende finden. Damit sind sie ungeeignet als böse Widersacher, weshalb Clark eine Art Über-Vampir postuliert, der das Denken übernimmt. Logischerweise übernehmen jene Blutsauger diesen Job, die erst jüngst zu Untoten wurden. Sie sind im Gegensatz zu den im Untergrund von Leppington hausenden Dumm-Vampiren mit den Verhältnissen der Gegenwart vertraut und daher fähig, den doch reichlich angestaubten Plan zur Vernichtung des Christentums durch eine zwar ebenso menschenfeindliche aber zeitgemäße Schurkerei zu ersetzen.

Deshalb sind es primär diese ‚modernen‘ Vampire, die unseren menschlichen Helden die echten Probleme verursachen. Wie es sich gehört sowie die Spannung schürt, sind sie eigentlich hoffnungslos in der Minderzahl. Außerdem bilden sie einen bunten, zur Rettung der Welt faktisch untauglichen Haufen. Deshalb dauert es viele Seiten, bis sie ihre Mission begreifen, akzeptieren und in die Tat umsetzen. Diese Zeit ist auch deshalb erforderlich, weil sich die vier Kämpfer gegen das Böse erst einmal finden und zusammenraufen müssen.

Wie einst Abraham van Helsing stellt Clark einen Arzt in den Mittelpunkt des Geschehens. Allerdings ist Dr. David Leppington ein Mann der Gegenwart sowie Wissenschaftler und deshalb zunächst gänzlich unwillig, an Vampire zu glauben. Ihm wird deshalb ein echter Krieger zur Seite gestellt.

Mit Jack Black gelang Clark die sicherlich beste Figur dieses Romans. Bereits der Name ist ein gelungener Insider-Scherz: „Jack Black“ war ein Rattenfänger, der im London der 1850er Jahre nach Ungeziefer jagte. ‚Unser‘ Jack Black setzt die Vampire von Leppington mit Ratten gleich. Dass er einer der ‚Guten‘ ist, vermag Clark gut zu verbergen, denn er wird wie ein Bösewicht eingeführt. Erst allmählich und für den Leser überraschend schält sich seine wahre Rolle heraus.

Wesentlich prosaischer sind dagegen die beiden weiblichen Hauptrollen gezeichnet, obwohl Clark sich alle Mühe gab, Electra Charmwood und Bernice Mochardi ein wenig Normabweichung einzuhauchen. Letztlich beschränkt sich der Verfasser dabei auf Klischees. Electra ist allzu dramatisch, und Bernice wird zum Weibchen in Not, für das sich der zauderliche Leppington mannhaft den Blutsaugern stellt.

|Mancher Plan erledigt sich (von) selbst|

Sowie Götter als auch Untote haben ein gänzlich anderes Verständnis vom Wesen und dem Verstreichen der Zeit, weshalb für sie die Einleitung von Ragnarök weiterhin aktuell ist. Nur wenn man sich diese Tatsache vor Augen führt, ist es möglich, sich mit der Idee einer donnergöttlichen Vergeltungsmaßnahme durch Vampire wenigstens halbwegs anzufreunden. Die überzeugende Rekonstruktion einer Zeit, in der nordische Götter über die Erde wandelten, übersteigt Clarks Fähigkeit eindeutig. Als Leser kann man sich ein Grinsen nicht verkneifen, zumal die ‚Logik‘ in Thors Racheplan sich wohl nur seinem Schöpfer erschließt. Selbst im Mittelalter wäre dieses Heer der grenzdebilen Untoten mit der Vernichtung der Menschheit definitiv überfordert gewesen. Tausend Jahre später wirkt dieses Vorhaben erst recht lächerlich. Nicht grundlos beschloss Stephen King, ’seine‘ Vampire in „Salem’s Lot“ (dt. „Brennen muss Salem“) auf entsprechende Ambitionen verzichten zu lassen. Sie beschränkten sich darauf, ein Territorium zu schaffen, in dem sie unbemerkt von einer Menschenwelt ‚leben‘ konnten, die sie ansonsten problemlos vernichten könnte.

Genau dies würde den Vampiren blühen, sollten sie Leppington verlassen. Nur im Untergrund konnten sie überdauern. Dass sie sich plötzlich in apokalyptische Zerstörer verwandeln sollen, will man Clark beim besten Willen nicht abnehmen. In der Tat scheint ihm diese Drohung nur als spannungsförderlicher Vorwand zu dienen. Die Handlung verlässt Leppington niemals, und selbst dort bemerken die meisten Bürger nicht einmal, dass Blutsauger durch die Straßen gaukeln.

Diese vage Bedrohlichkeit spiegelt sich in der wenig stringenten Entwicklung der Handlung wider. „Vampyrrhic“ ist hervorragend in den ersten beiden Romandritteln. Clark geizt nicht mit blutigen Effekten, vermag aber dennoch eine sich steigernde Atmosphäre der Angst zu entfachen. Als die finale Konfrontation zwischen Gut und Böse ansteht, fällt ihm freilich nur ein, die Helden mit Kettensägen auszustatten, als sie den Vampiren in die Höhlen unter Leppington folgen. Dort wird gesäbelt und geschnetzelt, bis sich Vampire und Vampirjäger unter einer Schicht aus Schmutz, Blut- und Fleischfetzen nicht mehr unterscheiden lassen.

|Parforceritt statt Meisterwerk|

Die Auflösung der Handlung ist weder originell noch wirklich entschlossen; sie lässt Raum für ein Wiederauftauchen der Vampire, und tatsächlich kehrten sie 2003 und 2009 in zwei Fortsetzungen zurück. „Vampyrrhic“ ist kein Klassiker des Horrorgenres wie Bram Stokers „Dracula“ oder Kings „Brennen muss Salem“. Er war auch nie als solcher gedacht. „Vampyrrhic“ ist pure Unterhaltung mit harten Bandagen. Zur Gruselstimmung gehören hier drastische Ekel-Effekte. Weil „Vampyrrhic“ immer wieder durchscheinen lässt, dass mehr in diesem Roman stecken könnte, ist zumindest derjenige Leser leicht enttäuscht, der darauf wartet, dass Clark dieses Potenzial nutzt, wozu es nie kommt.

Langeweile wird sich deshalb freilich nicht einstellen. Clark kann schreiben und sich der einschlägigen Grusel-Effekte virtuos bedienen. Die Handlung schreitet rasch voran, und sie wird – klammert man den Ragnarök-Faktor (s. o.) aus – mit gelungenen Einfällen aufgewertet.

Auch die deutsche Ausgabe kann – abgesehen von der Tatsache ihrer bloßen Existenz – sowohl den Leser auch auch den Sammler erfreuen. Die Übersetzung ist gut, das Buch ein Paperback mit Klappenbroschur, solidem Papier und – dies ist heutzutage eine Extra-Erwähnung wert – einem gezeichneten Cover statt eines nichtssagenden Fotos, das lieblos einem Billig-Bildstock entnommen wurde.

_Autor_

Simon Clark wurde am 20. April 1958 in Wakefield im Westen der englischen Grafschaft Yorkshire geboren. Er stammt nach eigener Auskunft aus einer Familie von „Geschichtenerzählern“ und hat bereits in sehr jungen Jahren erste Kurzgeschichten geschrieben. Die Jahre zwischen Schule bzw. Ausbildung und einer vollzeitlichen Schriftsteller-Tätigkeit füllte Clark standesgemäß mit den üblichen langweiligen, exotischen oder verrückten Aushilfs- und Kurzzeit-Jobs.

Clark ist ein Genre-Autor, der sich auf Horror und Science-Fiction konzentriert. Er debütierte 1995 mit dem Roman „Nailed by the Heart“, dessen Titel er für seine Website übernommen hat. Für seine Romane und Kurzgeschichten wurde Clark mehrfach für Preise nominiert; gewonnen hat er zweimal den „British Fantasy Award“.

Mit seiner Familie lebt Simon Clark in Doncaster im Süden von Yorkshire. Über seine Aktivitäten informiert er (nicht sehr aktuell) auf [dieser Website]http://www.bbr-online.com/nailed .

|Kartoniert: 448 Seiten
Originaltitel: Vampyrrhic (London : Hodder & Stoughton 1998/Forest Hill, Maryland : Cemetery Dance Publications 1998)
Übersetzung: AZMO u. Ernst Wurdack
Cover: Jacek Kaczynski
ISBN-13: 978-3-938065-55-6|
[www.wurdackverlag.de]http://www.wurdackverlag.de

Queen, Ellery – Spiel mit dem Feuer

_Das geschieht:_

Shinn Corners ist eine Siedlung in einem abgelegenen Tal irgendwo in den Bergen Neuenglands. Nur noch 36 Einwohner fristen hier ein eher ärmliches als bescheidenes Dasein. Auf Einladung seines Vetters, des Richters Lewis Shinn, besucht Johnny Shinn das Dörflein, aus dem seine Vorfahren stammen. Nach Gefangenschaft und Folter im Koreakrieg ist der ehemalige Major psychisch angeschlagen. Der Richter hofft ihn aus seiner zynischen Gleichgültigkeit zu holen, doch kaum ist Johnny im friedlichen Shinn Corners eingetroffen, ereignet sich dort ein brutaler Mord.

Fanny Adams, eine 91-jährige Malerin, deren Bilder die Bewunderung amerikanischer Kunstkenner erregen, wurde in ihrem Atelier mit einem Schürhaken erschlagen. Kurz vor dem Verbrechen klopfte der Wanderarbeiter Josef Kowalczyk an ihre Tür und bat um eine Mahlzeit. Ihn halten die entsetzten und wütenden Bürger für den Täter. Nach einer wilden Hetzjagd kann Kowalczyk gefasst werden. Man sperrt ihn im Keller der Kirche ein und will ihm den Prozess machen.

Dass Kowalczyk dem Sheriff oder der Staatspolizei ausgeliefert werden müsste, wird von den Bürgern ignoriert. Sie trauen der fernen Obrigkeit nicht. Um der drohenden Lynchjustiz Einhalt zu gebieten, inszeniert Richter Shinn ein Schein-Gerichtsverfahren. Es hat vor dem Gesetz keine Gültigkeit, beruhigt aber die Gemüter der Einwohner von Shinn Corners.

Lewis und Johnny Shinn glauben an die Unschuld Kowalczyks, der diese auch vehement beteuert. Sie ermitteln deshalb heimlich in der Frage, ob alle Bürger für den Zeitpunkt des Mordes ein Alibi vorweisen können. Der wahre Täter darf ihnen keinesfalls auf die Schliche kommen, da er – oder sie – sonst den Lynchmob entfesseln würde, denn die braven Menschen aus Shinn Corner wollen Blut sehen …

_Wer anders ist, muss schuldig sein!_

Die 1950er Jahre waren in den USA eine Zeit fast ungebremsten Wirtschaftswachstums. Politisch sah die Situation allerdings weniger rosig aus. Der Zweite Weltkrieg hatte das Ende der nazideutschen Bedrohung in Europa und die Waffenbrüderschaft mit der Sowjetunion gebracht. Doch dann hatten USA und UdSSR miteinander gebrochen. Das Wettrüsten der Supermächte hatte eingesetzt, ein neuer Weltkrieg kündigte sich an, und dieses Mal würde man ihn mit Atom- und Wasserstoffbomben führen!

Der Feind schien allgegenwärtig. Er hatte womöglich längst die USA unterwandert und fünfte Kolonnen in Politik, Wirtschaft und Kultur eingeschleust. Seit 1950 führte Senator Joseph McCarthy einen hysterischen Kreuzzug gegen kommunistische Agitatoren, die er überall am Werk sah. Wer in das Mahlwerk seines „Komitees für unamerikanische Aktivitäten“ („House on Un-American Activities Committee“) geriet und sich dessen inquisitorischer Befragung unter Berufung auf verbriefte Staatsbürgerrechte nicht unterwarf, wurde als „Roter“ gebrandmarkt und landete auf der schwarzen Liste, was das sichere Ende der beruflichen Karriere und den Absturz ins soziale Abseits bedeutete.

McCarthys Terror endete im Dezember 1954. Die Folgen der Hexenjagd überdauerten ihn viele Jahre. Auch in den Jahren seiner uneingeschränkten Herrschaft war McCarthy nicht ohne Opposition geblieben. Viele Amerikaner traten dem Senator entweder direkt gegenüber oder kommentierten seine Umtriebe zumindest aus der Ferne.

Die Vettern Frederic Dannay und Manfred Bennington Lee gerieten nie ins Visier der HUAC. Unter dem Pseudonym „Ellery Queen“ schrieben sie komplexe und realitätsferne Kriminalromane, was sie als potenzielle Sowjetspione vermutlich disqualifizierte. Doch Dannay und Lee waren McCarthy-Gegner. Ihre Eltern, russische Juden, hatten das zaristische Heimatland, in dem sie drangsaliert und verfolgt wurden, verlassen und waren in die hoffentlich gelobten Vereinigten Staaten eingewandert, wo angeblich alle Menschen ungeachtet ihrer Nationalität, ihrer Religion oder ihrer politischen Überzeugung vor dem Gesetz gleich waren. Nun verfolgten Dannay und Lee besorgt, wie diese Freiheit, die auch sie, US-Amerikaner der ersten Generation, genießen durften, ins Wanken geriet. Sie nahmen nicht an politischen Protestaktionen teil, sondern bedienten sich ihres ureigenen Instruments: Sie schrieben einen Kriminalroman.

|Die große Welt im kleinen Tal|

„The Glass Village“ entstand in der Hochzeit der McCarthy-Ära. Ausdrücklich verzichteten Dannay und Lee auf ihr Alter Ego, den Privatdetektiv und Kriminalschriftsteller Ellery Queen. Als künstliche und primär für das intellektuelle Spiel mit dem Verbrechen geeignete Figur war er dieses Mal fehl am Platz. Johnny Shinn verankerten Dannay und Lee fest im Hier und Jetzt. Grausame Erfahrungen in zwei Kriegen haben seinen Patriotismus beschädigt und ihn Kritik gelehrt. Shinn blickt hinter die großen und hehren Worte, an die er nicht mehr glaubt. Er repräsentiert außerdem den Leser, der fremd in Shinn Corner, aber immerhin Amerikaner ist. Welchen Unterschied das macht, weiß er spätestens, als er erlebt, wie es Josef Kowalczyk ergeht, dem Fremden, dem man genau dies abspricht und der ohne diesen kollektiven Schirm auskommen muss.

Thornton Wilder hatte 1938 in seinem Aufsehen erregenden Theaterstück „Unsere kleine Stadt“ („Our Town“) das alltägliche Leben in der ‚Musterstadt‘ Grover’s Corners als Spiegelbild der US-amerikanischen Realität gestaltet. Diesem Vorbild folgend, wird Shinn Corner zum Mikrokosmos und zum Spiegelbild einer ‚ursprünglichen‘ und ‚gesunden‘ US-Gesellschaft, die sich auf die Wahrung traditioneller Werte beruft. Die Bürger werden zur „gläsernen Gemeinde“ des Originaltitels. Dannay und Lee stellen sie uns in einer ungewöhnlich ausführlichen Einführung sorgfältig vor.

In kleinen und ländlichen Orten hatten sie schon oft ihre Kriminalromane spielen lassen. Gern bedienten sie sich einschlägiger Klischees und ließen exzentrische und dummdreiste Hinterwäldler Revue passieren. Shinn Corner und seine Bewohner werden dagegen ohne nostalgisches Lokalkolorit dargestellt. Der Ort steht vor dem Exitus. Die meisten Bürger sind arm, leiden unter Existenz- und Zukunftsängsten, fühlen sich als Stiefkinder des amerikanischen Traums. Untereinander sind sie uneins, unterdrückte Konflikte schwelen. Die Familie bietet keineswegs Zuflucht vor den Fährnissen der Welt, sondern wird zur privaten Hölle. Jeder steht unter ständiger Beobachtung seiner Nachbarn. Abweichungen von der Norm erregen umgehend Misstrauen, schon eine unbedachte Äußerung kann dir schaden: |“‚Sie haben Kirchen in Rußland‘ [, sagte Drakely Scott.] ‚Was ist los mit dir, Drake‘, sagte Tommy Hemus. ‚Bist du kommunistenfreundlich?'“| (S. 53) Gerade diese ‚Anschuldigung‘ beendet jede Diskussion und (nicht nur in Shinn Corner) die Zeit der Meinungsfreiheit.

In diese Schlangengrube stürzt ahnungslos Josef Kowalczyk. Dannay und Lee verstärken die Schrecken seines Schicksals, indem sie ihn als Überlebenden des Nazi-Terrors schildern, der zwar das Konzentrationslager überlebte aber seine gesamte Familie verlor. In den USA suchte er den Neuanfang, doch er scheiterte. Nun wird das Opfer abermals zum Spielball eines Sturms, den er nicht begreifen kann und dem er hilflos ausgesetzt ist: Denn Josef Kowalczyk kommt den guten Menschen von Shinn Corner gerade recht. Er ist der ohnehin verdächtige Fremde, den sie ohne Gewissensbisse zum Sündenbock machen können. Ausgerechnet in der Jagd auf den angeblichen Mörder findet die Gemeinde zu neuer Eintracht: als Lynchmob – oder Hexenjäger.

|Bittere Medizin wird auf einem Zuckerstück verabreicht|

Allegorische Gesellschaftskritik dürfte kaum etwas gewesen sein, das die Leser eines Ellery-Queen-Romans erwarteten. Dannay und Lee trieben es vorsichtshalber nicht zu weit mit den entsprechenden Ambitionen. Sagen sie anfangs noch sehr deutlich, was sie stört im aktuellen Amerika, integrieren sie ihre Kritik später mehr und mehr in eine scheinbar konventionelle Krimihandlung. „The Glass Village“ wird zum klassischen „Whodunit“ und gleichzeitig zum dramatischen |court drama|: Der Mörder von Fanny Adams wird klassisch durch das Suchen, Finden und Auswerten von Indizien ermittelt; die Suche nach der Wahrheit findet parallel dazu im Rahmen einer laufenden Gerichtsverhandlung statt.

Diese Verhandlung ist eigentlich keine: Vor dem Gesetz wird ein in Shinn Corner gefälltes Urteil keinerlei Gewicht haben, weil das Gericht fixierte Regeln ignoriert. Mit diesem Kunstgriff schüren die Autoren einerseits die Spannung, weil die Suche nach dem Täter zum Wettlauf mit der Zeit wird. Andererseits erinnert die Verhandlung an die zeitgenössischen Befragungen durch das „Komitee für unamerikanische Aktivitäten“, deren Vertreter ebenfalls das Recht mit Füßen traten bzw. treten konnten, solange sie die politische und gesellschaftliche Mehrheit hinter sich wussten. Das Gericht von Shinn Corner ist eine Farce. Dannay und Lee ersparten es sich, die Parallelen zu den HUAC-Sitzungen direkt in Worte zu fassen.

„The Glass Village“ bietet einen Krimi-Plot, der im Vergleich zum typischen Ellery-Queen-Rätsel recht simpel wirkt. Die Auflösung ist logisch, und sie verzichtet nicht auf den Faktor Verblüffung, doch sie wirkt dennoch wie die Erfüllung einer Verpflichtung, auf die der Leser beharrt, der geduldig den didaktischen Lektionen des Autorenduos gefolgt ist und dafür belohnt bzw. entschädigt werden möchte. Wichtiger als der Kriminalfall ist Dannay und Lee allerdings der konsequente Abschluss ihres Lehrstücks: Die Bürger von Shinn Corner sind zur Besinnung gekommen und werden ihren Fehler nicht wiederholen. Johnny Shinn ist durch den Sieg der Gerechtigkeit geläutert und gibt seine passive Beobachterrolle auf; er wird zukünftig wieder seinen Teil dazu beitragen, den Feinden von Recht und Ordnung außerhalb von Shinn Corner Paroli zu bieten. Der Leser ist aufgefordert, seine eigenen Schlüsse zu ziehen.

|Deutsches Leser, dummes Leser?|

Knapp 190 eng bedruckte Seiten zählt die erste deutsche Übersetzung von „The Glass Village“, die 1958 unter dem Titel „Spiel mit dem Feuer“ erschien. Sie wirkt heute ein wenig steif und enthält diverse Fehlinterpretationen – |“Judy las ihm vor, aus einer westlichen Zeitschrift, er liebte Cowboygeschichten“| (S. 146) ist ein besonders kurioser Klopfer -, aber sie ist vollständig und enthält nicht nur Dannays und Lees Anklagen gegen autoritäres Unrecht, sondern auch ihre Ausführungen über das Wesen des neuenglischen Puritanismus‘, der für das Geschehen von großer Bedeutung ist.

Anderthalb Jahrzehnte später erschienen dem Ullstein-Verlag die politischen Untertöne entweder zu kritisch oder nicht verkaufsförderlich. „The Glass Village“ bekam 1973 nicht nur einen neuen Titel („Das rächende Dorf“), sondern wurde auf 126 Seiten zusammengestrichen. Aus einem Lehrstück im Krimi-Gewand wurde ein simpler Krimi, wie ihn der geistig einfach gestrickte Leser solcher Romane sicherlich lieber goutieren würde … Dieser traurige Romantorso wurde mehrfach aufgelegt. Man sollte ihn tunlichst meiden und sich auf die (allerdings nicht einfache) Suche nach der Ausgabe von 1958 begeben.

_Autoren_

Mehr als vier Jahrzehnte umspannt die Karriere der Vettern Frederic Dannay (alias Daniel Nathan, 1905-1982) und Manfred Bennington Lee (alias Manford Lepofsky, 1905-1971), die 1928 im Rahmen eines Wettbewerbs mit „The Roman Hat Mystery“ als Kriminalroman-Autoren debütierten. Dieses war auch das erste Abenteuer des Gentleman-Ermittlers Ellery Queen, dem noch 25 weitere folgen sollten.

Dabei half die Fähigkeit, die Leserschaft mit den damals beliebten, möglichst vertrackten Kriminalplots angenehm zu verwirren. Ein Schlüssel zum Erfolg war aber auch das Pseudonym. Ursprünglich hatten es Dannay und Lee erfunden, weil dies eine Bedingung des besagten Wettbewerbs war. Ohne Absicht hatten sie damit den Stein der Weisen gefunden: Das Publikum verinnerlichte sogleich die scheinbare Identität des ‚realen‘ Schriftstellers Ellery Queen mit dem Amateur-Detektiv Ellery Queen, der sich wiederum seinen Lebensunterhalt als Autor von Kriminalromanen verdient!

In den späteren Jahren verbarg das Markenzeichen Queen zudem, dass hinter den Kulissen zunehmend andere Verfasser tätig wurden. Lee wurde Anfang der 1960er Jahre schwer krank und litt an einer Schreibblockade, Dannay gingen allmählich die Ideen aus, während die Leser nach neuen Abenteuern verlangten. Daher wurden viele der neuen Romane unter der mehr oder weniger straffen Aufsicht der Cousins von Ghostwritern geschrieben.

Wer sich über Ellery Queen – den (fiktiven) Detektiv wie das (reale) Autoren-Duo – informieren möchte, stößt im Internet auf eine wahre Flut einschlägiger Websites, die ihrerseits eindrucksvoll vom Status dieses Krimihelden künden. Vielleicht die schönste findet sich [hier]http://neptune.spaceports.com/~queen: eine Fundgrube für alle möglichen und unmöglichen Queenarien.

|Originaltitel: The Glass Village (Boston : Little, Brown, and Company 1954/London : Victor Gollancz 1954)
Deutsche Erstausgabe (unter dem Titel „Spiel mit dem Feuer“): 1958 (Humanitas Verlag/Blau-Gelb Kriminalroman Nr. 22)
189 Seiten, Übersetzung: Ilse Veltmann
ASIN: B0000BMK2T

Bisher letzte Ausgabe (unter dem Titel „Das rächende Dorf“): 1973 (Ullstein Verlag/Ullstein-Krimi Nr. 1903)
126 Seiten, Übersetzung: Ernst Heyda
ISBN-13: 978-3-548-01903-1|
[www.ullsteinverlag.de]http://www.ullsteinverlag.de

Rankin, Ian – Ein reines Gewissen

_Das geschieht:_

Malcolm Fox: geschieden, trockener Alkoholiker und Mitarbeiter der Dienstaufsichtsbehörde der Lothian and Borders Police im schottischen Edinburgh. Weil er den Kollegen auf die Finger schaut, ist er höchst unbeliebt. Gerade hat er den zwar korrupten aber ungemein beliebten Glen Heaton vom Revier Torphichen Place zu Fall gebracht und sich dadurch verhasster denn je gemacht.

Dies nutzt Detective Chief Inspector William „Bad Billy“ Giles, Heatons bester Freund, rachsüchtig aus, als Vince Faulkner, der Lebensgefährte von Foxes Schwester Judith, erschlagen aufgefunden wird. Giles nimmt Judith in die Mangel, aber noch stärker würde es ihn freuen, könnte er dem Bruder eine Beteiligung an dem Verbrechen nachweisen: Faulkner hat Judith schwer geschlagen, und der wütende Fox wusste davon.

Zu allem Überfluss überträgt Giles den Mordfall seinem Detective Sergeant Jamie Breck. Genau diesen sollte Fox just für DS Anthea „Annie“ Inglis von der Kinderschutz-Abteilung der Polizei überwachen, denn Breck steht im Verdacht, pädophil zu sein und verbotene Sex-Fotos in einschlägigen Internet-Kreisen zu tauschen. Noch fehlen eindeutige Beweise, und diese zu beschaffen, fällt Fox immer schwerer, denn Breck scheint ein ehrlicher Polizist zu sein, den er zunehmend sympathischer findet.

Die Schlinge um den Hals des Beamten zieht sich zu, bis Fox zum Gegenangriff übergeht. Er zieht eine kleine Gruppe von Kollegen und Freunden auf seine Seite und erkennt, dass er als Bauernopfer in einer Intrige dienen soll, in die nicht nur hochrangige Polizisten, sondern auch Stadtpolitiker, Geschäftsleute und Gangster verwickelt sind, die in der aktuellen Wirtschaftskrise gefährdete Investitionen sichern wollen und dabei vor keiner Gewalttat zurückschrecken …

_Behutsame Übergabe des Staffelholzes_

Eine etablierte, gut laufende und bei den Lesern beliebte Serie abzuschließen, birgt für einen Schriftsteller gleichermaßen Möglichkeiten und Risiken. Nach 17 Romanen um John Rebus war Ian Rankin in eine schöpferische Sackgasse geraten. Aus der Figur hatte er herausgeholt, was sie ihm zu bieten schien. Sich ihrer zu entledigen, gestattete einen Neubeginn ohne eine Rebus-Chronologie, die einen beachtlichen Umfang angenommen hatte und deren Beachtung der kritische Leser forderte.

Aber würden besagte Leser eine gänzliche neue Figur akzeptieren? Die Frage bleibt offen, denn mit „Ein reines Gewissen“ hat sie Rankin keineswegs beantwortet: Dieser erste Krimi um Malcolm Fox liest sich wie der 18. „Rebus“-Roman, denn höchstens der Name und einige wenige Charakterzüge unterscheiden den alten vom neuen ‚Helden‘.

Nicht einmal den Ort des Geschehens hat Rankin gewechselt. Wieder spielt sich die Geschichte im schottischen Edinburgh ab. Wir lesen vertraute Namen und finden uns in bekannten Polizeirevieren wieder, in denen nur das Personal gewechselt zu haben scheint. Oder werden wir in den nächsten Fox-Folgen auf bekannte Figuren stoßen? Generell herrscht jedenfalls die Rebus-typische Routine, es werden vertraute Polizei-Witze gerissen und Intrigen gesponnen.

|Die alten = die neuen Schurken|

Auch außerhalb des polizeilichen Umfelds finden wir eine bekannte Welt wieder, in der Politik, Wirtschaft, Gesetz und Verbrechen dicht miteinander verwoben sind. Rankin hat stets tagesaktuelle Ereignisse aufgegriffen und in seine Romane einfließen lassen. Dort dienen sie entweder dem Plot, oder sie stellen Kommentare dar, in denen der Verfasser seine Kritik an bestimmten Missständen mit den Lesern teilen möchte.

Diese Kritik geht meist in dieselbe Richtung: Die Großen bereichern sich, die Kleinen zahlen die Zeche. Durch die Weltwirtschaftskrise des Jahres 2008 hat sich diese Ungerechtigkeit verstärkt. Rankin schildert Spekulanten, die nach dem Zerplatzen der künstlich aufgeblähten Finanzblase panisch versuchen, ihre auf Pump zusammengerafften Vermögen in Sicherheit zu bringen. Dabei lassen sie letzte Reste von Rechtmäßigkeit, Rücksicht und Moral fahren. Der Mord an Vince Faulkner wird zur bitteren Fußnote eines Krisengeschehens, das sich erdrutschartig von ‚oben‘ nach ‚unten‘ fortsetzt: Der ahnungslose, dumme Normalbürger taugt immer noch als Kanonenfutter, das der in Geldnot geratene Spekulant den Wölfen vorwerfen kann, während er schwer mit Schätzen beladen die Flucht in die aktuelle Steueroase fortsetzt.

Auf die Solidarität ebenfalls angeschmierter Leidensgenossen sollte der gewöhnliche Steuerzahler dabei nicht rechnen. Malcolm Fox wird Opfer einer Intrige, aber vielleicht sollte man lieber von einem ganzen Bündel intriganter Vorgänge sprechen, die Rankin im Finale (ein wenig locker aber logisch) zu einem Gesamtkomplott bündelt. Dabei enthüllt er besonders infame Mechanismen des Machterhalts, die u. a. Mobbing und die gegenwärtige Angst des Arbeitnehmers vor dem Jobverlust einschließen: Fox gerät auch deshalb in die Bredouille, weil korrupte Vorgesetzte ehrgeizigen Untergebenen ein paar Brocken hinwerfen: Als Gegenleistung für die Versetzung eines ungeliebten Kollegen wird deshalb ein schuldfreier Polizist angeschwärzt.

|Einzelgänger mit großer Freundesschar|

In diesem Haifischbecken tummelte sich Malcolm Fox bisher regelkonform. Dass er sich plötzlich vom kleinen Fisch in einen bissigen Flossenbeißer verwandelt und dennoch glaubwürdig bleibt, verdankt Rankin dem Trick, Fox in eine Abteilung zu versetzen, in der Tricks und doppelte Böden zum Arbeitsalltag gehören. Als Mitglied der Dienstaufsicht kennt er die Kniffe verdächtiger Kollegen. Dieses Wissen kann er nutzen, als ihm übel mitgespielt wird.

Die Genese vom Querkopf zum Quertreiber, der sich nicht verheizen lassen will, gelingt auch deshalb so bruchlos, weil Fox als Figur sehr vertraute Züge aufweist. Die Ähnlichkeit zwischen Fox und Rebus wurde schon angesprochen. Womöglich wäre „Deckungsgleiche“ der treffendere Ausdruck. Die Parallelen gehen bis in die Details; sie schließen die Wohnkultur, das komplizierte Verhältnis zu Frauen, das Schimpfen über die ewig verstopften Straßen von Edinburgh oder das Wetter ein.

Wie der bärbeißige Rebus kann auch Malcolm Fox auf ein erstaunliches Netzwerk ihm gewogener Kollegen und Freunde zurückgreifen. Eigentlich steht er nie allein gegen alle. Gerät Fox einmal in eine Sackgasse, erreicht ihn garantiert ein Handy-Anruf, der ihn erneut auf eine alternative Spur bringt. Das Tempo ist gewiss nicht das Problem dieses Romans. Schwieriger fällt es, die Details der monströsen Verschwörung im Hinterkopf zu behalten, während die Handlung zügig weiter voranschreitet.

In die Erleichterung darüber, dass Fox den Einstieg in die neue Rankin-Serie so erleichtert, mischt sich dennoch Ärger: Wieso hat der Autor Rebus abgesägt, um ihn quasi umgehend wiederauferstehen zu lassen? Wie wäre es mit einem |echten| Neustart? Oder sollte man lieber froh sein, dass Rankin nicht auf Biegen und Brechen versucht, das Rad neu zu erfinden? „Ein reines Gewissen“ bietet inhaltlich (oder formal) keine Originalität. Was Rankin beherrscht – es ist bekanntlich eine ganze Menge -, variiert er jedoch so gut, dass einmal mehr ein überdurchschnittliches Lektürevergnügen daraus entspringt.

_Autor_

Ian Rankin wurde 1960 in Cardenden, einer Arbeitersiedlung im Kohlerevier der schottischen Lowlands, geboren. In Edinburgh studierte er ab 1983 Englisch. Schon früh begann er zu schreiben. Nach zahlreichen Kurzgeschichten versuchte er sich an einem Roman, fand aber keinen Verleger. Erst der Bildungsroman „The Flood“ erschien 1986 in einem studentischen Kleinverlag.

Noch im selben Jahr ging Rankin nach London, wo er u. a. als Redakteur für ein Musik-Magazin arbeitete. Nebenher veröffentlicht er den Kolportage-Thriller „Westwind“ (1988) sowie den Spionage-Roman „Watchman“ (1990, dt. „Der diskrete Mr. Flint“). Unter dem Pseudonym „Jack Harvey“ verfasste Rankin in rascher Folge drei Action-Thriller. 1991 griff er eine Figur auf, die er vier Jahre zuvor im Thriller „Knots & Crosses“ (1987; dt. „Verborgene Muster“) zum ersten Mal hatte auftreten lassen: Detective Sergeant (später Inspector) John Rebus. Mit diesem gelang Rankin eine Figur, die im Gedächtnis seiner Leser haftete. Die „Rebus“-Romane ab „Hide & Seek“ (1991; dt. „Das zweite Zeichen“) spiegeln das moderne Leben (in) der schottischen Hauptstadt Edinburgh wider. Rankin spürt den dunklen Seiten nach, die den Steuerzahlern von der traulich versippten Führungsspitze aus Politik, Wirtschaft und Medien gern vorenthalten werden. Daneben lotet Rankin die Abgründe der menschlichen Psyche aus. Nachdem er Rebus 2007 (vorläufig?) in den Ruhestand geschickt hatte, begann Rankin 2009 eine neue Serie um den Polizisten Malcolm Fox.

Ian Rankins Rebus-Romane kamen ab 1990 in Großbritannien, aber auch in den USA stets auf die Bestsellerlisten. Die renommierte „Crime Writers‘ Association of Great Britain“ zeichnete ihn zweimal mit dem „Short Story Dagger“ (1994 und 1996) sowie 1997 mit dem „Macallan Gold Dagger Award“ aus. 2004 wurde Rankin für „Resurrection Man“ (dt. „Die Tore der Finsternis“) mit einem „Edgar Award“, 2007 „The Naming of the Dead“ (dt. „Im Namen der Toten“) als „BCA Crime Thriller of the Year“ ausgezeichnet. Rankin gewann weiter an Popularität, als die britische BBC 2000 mit der Verfilmung der Rebus-Romane begann.

[Ian Rankins Website]http://www.ianrankin.net ist höchst empfehlenswert; über die bloße Auflistung seiner Werke verwöhnt sie u. a. mit einem virtuellen Gang durch das Edinburgh des John Rebus.

|Gebunden: 512 Seiten
Originaltitel: The Complaints (London : Orion 2009)
Übersetzung: Juliane Gräbener-Müller
ISBN-13: 978-3-442-54650-3|
[www.randomhouse.de/manhattan]http://www.randomhouse.de/manhattan

|Als eBook: März 2010 (Goldmann Verlag)
ISBN-13: 978-3-641-03854-0|
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|Als Hörbuch: März 2010 (Random House Audio)
6 CDs mit ca. 420 Minuten Spieldauer
Gelesen von Heikko Deutschmann
ISBN-13: 978-3-8371-0292-5|
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_Ian Rankin bei |Buchwurm.info|:_
[„Verborgene Muster“ (John Rebus 1) 956
[„Das zweite Zeichen“ (John Rebus 2) 1442
[„Wolfsmale“ (John Rebus 3) 1943
[„Ehrensache“ (John Rebus 4) 1894
[„Ein eisiger Tod“ (John Rebus 7) 575
[„Das Souvenir des Mörders“ (John Rebus 8) 1526
[„Die Sünden der Väter“ (John Rebus 9) 2234
[„Puppenspiel“ (John Rebus 12) 2153
[„Die Tore der Finsternis“ (John Rebus 13) 1450
[„Die Kinder des Todes“ (John Rebus 14) 5559
[„So soll er sterben“ (John Rebus 15) 1919
[„Im Namen der Toten“ (John Rebus 16) 4583
[„Ein Rest von Schuld“ (John Rebus 17) 5454
[„Eindeutig Mord. Zwölf Fälle für John Rebus“ 5063
[„So soll er sterben (Hörbuch)“ 2489
[„Der diskrete Mr. Flint“ 3315

Carol O’Connell – Ein Ort zum Sterben [Mallory 1]

Der Mord an ihrem Stiefvater führt eine junge, schwer verhaltensgestörte aber ungemein fähige Polizistin auf einen unerbittlichen Rachefeldzug, der sie außerdem auf die Spur eines uralten Komplotts bringt … – Der erste Band der Mallory-Serie beeindruckt nicht nur durch seinen raffinierten Plot, sondern auch durch die Wucht einer außergewöhnlichen Hauptfigur, die fern bekannter Klischees agiert: ein bemerkenswerter Roman!
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Lloyd Biggle – Für Menschen verboten

Das geschieht:

Im Jahre 1986 gelingt in den (alternativen) Vereinigten Staaten von Amerika die Entwicklung eines bahnbrechenden Verfahrens zur Materieübermittlung: Statt mühsam zu reisen oder transportiert zu werden, können Menschen und Fracht nun per Teleportation in Nullzeit an jeden gewünschten Ort geschafft werden. Diese Erfindung wird nicht nur das Verkehrswesen revolutionieren, sondern alle Aspekte des Alltagslebens verändern. Nicht alle Menschen scheinen davon begeistert zu sein. Privatdetektiv Jan Darzek wird mit einer perfiden Form von Sabotage konfrontiert. Angeheuert hat ihn Ted Arnold, leitender Ingenieur der Teleportations-Gesellschaft, nachdem Reisende zwar abgestrahlt, aber am Zielort nicht empfangen wurden.

Lloyd Biggle – Für Menschen verboten weiterlesen

Cyril Hare – Mit einer Nadel bloß

Hare Nadel Cover kleinDas geschieht:

In diesen Tagen des II. Weltkriegs möchte auch Anwalt Francis Pettigrew seinen Beitrag im Kampf gegen die Nazis leisten. Da er für den Frontdienst denkbar ungeeignet ist, versetzt man ihn in eine Behörde, die Herstellung und Verkauf eines äußerst kriegswichtigen Produktes kontrolliert: die britische Nadel.

Pettigrew wird nach Marsett Bay in einen abgelegenen Winkel der englischen Provinz versetzt, wo in dem ungemütlichen Schloss eines lange verstorbenen Landadligen eine Handvoll verschrobener Männer und Frauen der oben erwähnten Aufgabe nachgeht. Nach Feierabend trifft man sich in einer wenig gastlichen Pension wieder. Die Langeweile regiert, sodass die lebenslustige Witwe Hopkinson mit einem aufregend unanständigen Vorschlag aufwartet: Der Kollege Wood entpuppte sich als Verfasser leidlich bekannter Kriminalromane. Nun soll er eine Geschichte erfinden, in der seine Mitarbeiter als Opfer, Täter und Zeugen auftreten. Als Mörderin wird ausgerechnet die ältliche, psychisch labile Sekretärin Honoria Danville auserkoren. Cyril Hare – Mit einer Nadel bloß weiterlesen

Dietz, William C. – Resistance: Ein Sturm zieht auf

_Das geschieht:_

Außerirdische Invasoren haben diese (alternative) Erde 1908 angegriffen. Sie töten ihre Opfer nicht, sondern infizieren sie mit einem Virus und verschmelzen mit ihnen zu grausamen, schier unverwundbaren Kampfmaschinen. Auf diese Weise eroberten die „Schimären“ oder „Bestien“ zunächst die Sowjetunion und Asien. Anfang 1949 wurde Europa überrannt; nur England konnte die Aggressoren noch zurückhalten. Seit 1952 belagert der unheimliche Gegner die USA. Der Notstand wurde ausgerufen, viele Küstenstädte sind bereits gefallen, das Militär befindet sich auf dem Rückzug, der Präsident denkt laut über eine Kapitulation nach.

Jedes Mittel ist recht, um den Schimären Paroli zu bieten. Lieutenant Nathan Hale, der immun gegen das Virus ist, kann im November 1951 im Rahmen eines riskanten Kommandounternehmens Alien-Technik aus einem in Nebraska abgestürzten Shuttle des Gegners bergen. Diese enthält Hinweise auf die Lagerung spaltbaren Materials, dass die Armee zur Herstellung dringend benötigter Atomwaffen verwenden könnte. Unter Hales Leitung dringt eine Spezialeinheit in jenen Stützpunkt ein, in dem die Bestien besagtes Material horten. Tief unter der Erde entspinnt sich ein erbitterter Kampf.

Der Erfolg bleibt nicht aus: Zur ‚Belohnung‘ werden Hale und seine Leute – die „Sentinels“ – in die Ruinen der von den Bestien besetzten Stadt Chicago geschickt. Dort vermutet die Regierung ihren abgängigen Verteidigungsminister, der den Präsidenten als Verräter brandmarken und mit den „Freedom First“-Rebellen paktieren will. Doch die Schimären haben ihn erwischt, und wenn sie ihn dingfest machen wollen, müssen die Sentinels in eine wahre Bestien-Höhle vorstoßen …

_Vom Ballerspiel zum Buch_

„Resistance“-Fans sind wahrscheinlich nicht überrascht, dass der Roman zum Playstation-Game überraschend lesbar geraten ist: Obwohl vor allem auf Alien jeglicher Gestalt und Größe geballert wird, ruht die „Resistance“-Story doch auf einem recht detailreich ausgeführten ‚historischen‘ Fundament. Der Grundton ist düster, die Umsetzung konsequent. Vor allem ist der Plot gut für unendlich viele Geschichten aus einem solide gefügten Mythos: Der Kampf Mensch gegen Bestien kann praktisch unendlich fortgesetzt werden. Limitierender Faktor ist allein das Interesse der (zahlenden) Kunden.

Diese sollen nicht nur durch das (inzwischen fortgesetzte) Spiel, sondern auch durch allerlei Franchise-Artikel an das „Resistance“-Produkt gebunden werden. Da mit einem Film zum Spiel (noch) nicht zu rechnen ist, müssen Comics und Romane die Lücke schließen und womöglich jene mit ins Boot ziehen, die keine Lust haben, sich Tage & Nächte im Kampf gegen digitale „Wanzen“, „Wühler“, „Stahlköpfe“ u. a. außerirdische Ungetüme um die Ohren zu schlagen.

„Tie-in“-Romane sind Bestandteil der modernen Franchise-Geschäftspolitik. Sie beschränken sich in der Regel auf das schlicht und lieblos aufbereitete Recycling zentraler Elemente des Primär-Produkts, werden billig hergestellt und rasch auf den Markt geworfen. Autoren, die kein Problem mit Qualitätsansprüchen (bzw. deren Fehlen) haben sowie schnell und termingerecht schreiben (oder besser: produzieren) können, finden hier ihre Nische. Viele Autoren schreiben quasi exklusiv für die „tie-in“-Industrie, aber auch Verfasser, die sonst ‚richtige‘ Bücher mit selbst ausgedachten Handlungen schreiben, nehmen hin und wieder gern den schnellen Dollar mit.

|Zwischen Action und Waffen-Fetischismus|

William C. Dietz schwebt gewissermaßen zwischen beiden Welten. Das militärische Element bildet die gemeinsame Klammer. Die „Military-Science-Fiction“ wird gern als Variante des „Landser“-Romans geschmäht. Sehr oft trifft dieser Vorwurf zu, wobei der gewalttätige Aspekt durch die Verlagerung in ferne oder zukünftige Welten gemildert oder getarnt wird. Fakt bleibt jedoch, dass „Military SF“ in einem simpel gegliederten Mikrokosmos spielt, der von strengen Regeln und Hierarchien gekennzeichnet ist („Befehl ist Befehl“) und in dem Ordnung mit Waffengewalt hergestellt wird.

Auf die Handlungsstrukturen dieses Genres, vor allem aber auf seine Klischees muss der Leser sich einlassen. Auch „Ein Sturm zieht auf“ wimmelt von militärischen Abkürzungen. Feuerwaffen und Kriegsgeräte werden detailliert beschrieben. Noch liebevoller geraten die Schilderungen der Sach- und Körperschäden, die sie anrichten. Soldatischer Alltag wird ausgebreitet, US-typische „Sir, Jawoll, Sir“-Appell-Rituale mit lässiger Kameradschaft gekreuzt. Selbstverständlich gibt es einen bärenhaften Unteroffizier mit polnischem Nachnamen, der stets dort zu finden ist, wo es besonders heftig zugeht – also im Kampf und später in der Kneipe.

Mit „Ein Sturm zieht auf“ bedient Dietz die genannten Genrevorgaben, bietet daneben aber vor allem in den ersten beiden Roman-Dritteln gut getimte, spannende Action und überrascht mit einigen gegen den erwarteten Strich gekämmten Figur-Persönlichkeiten (was mit dem auf den letzten 100 Seiten zerfasernden roten Fadens einigermaßen versöhnt): Der US-Verteidigungsminister hält seinen Präsidenten für einen Verräter und geht in den Untergrund, besagter Präsident schickt ihm eine Todesschwadron hinterher. Die Staatsführung lebt privilegiert, während die flüchtenden Bürger in Zelt- und Hüttenslums getrieben sowie mit Stacheldraht und drakonischen Gesetzen in Schach gehalten werden. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist selbstverständlich außer Kraft gesetzt, wobei Dietz das darüber entstehende Unbehagen ausgerechnet in einem eisenharten Elitekämpfer aufkeimen lässt.

|Klischees und Klassiker|

Der ‚einfache Soldat‘ ist der per-se-Held jeder Geschichte, die im Militär-Milieu spielt. Hauptgegner ist nicht der jeweilige Feind, der im Feld bekämpft wird. Verständnis- und rücksichtslose Vorgesetzte sind eine der ständigen Plagen. In der Sicherheit der Etappe lauern außerdem tückisch Schurken, die mit herabgelassenem Visier und glitschig wie Aale den tapfereren Soldaten den Dolch hinterrücks in die Rücken stoßen: Politiker, Journalisten, Friedensaktivisten (in dieser Reihenfolge) wissen entweder den Einsatz jener Männer (und Frauen) nicht zu würdigen, die für sie in den Kampf ziehen, oder versuchen sie zu instrumentalisieren und auszunutzen: Der Soldat an der Front wird verheizt und rechnet auch damit. An seinem Pflichtbewusstsein ändert dies nichts, denn im Hintergrund ragt über aller Korruption das patriotisch-hehre (und glücklicherweise verschwommene) Ideal freier Vereinigter Staaten auf.

Dietz mag auf diese vor allem in konservativen Kreisen beliebte Konstellation nicht verzichten. Wenigstens zeitweilig verwischt er die Grenzen zwischen ‚Weiß‘ und ‚Schwarz‘: Wer in der bestialischen US-Welt dieses 20. Jahrhunderts Dissident oder Rebell, desillusionierter Realist oder Verräter, Kollaborateur oder ethikfreier Taktiker ist, bleibt lange offen. Dietz zeigt Menschen, die das Beste wollen, ohne sich über den Weg dorthin einig zu sein, zumal es womöglich nur einen Weg gar nicht gibt.

Wer sich nun sorgen sollte, dass „Ein Sturm zieht auf“ den Tatbestand literarisch wertvoller Mehrdeutigkeit erfüllen könnte, sei beruhigt: Im Vordergrund steht stets die Unterhaltung. Von Uncle Sams Geist beseelt, sichert Nathan Hale mit dem Instinkt des Individuums die sowohl richtige als auch ehrenvolle Fortsetzung des ‚gerechten‘ Kampfes gegen die Bestien. Dietz gebührt Dank und Anerkennung dafür, dass er seinen Job auf einem soliden erzählhandwerklichen Niveau erledigt – und selbstverständlich gilt: Fortsetzung folgt.

_Autor_

William Corey Dietz wurde 1945 nahe Seattle in den USA geboren. Er studierte an der Universität von Washington Medizin und diente als Arzt im US-Navy- und Marine-Korps. Im Rahmen seiner Tätigkeit reiste Dietz durch die ganze Welt.

In den 1980er Jahren begann Dietz zu schreiben. Er spezialisierte sich auf das Subgenre der „Military-Science-Fiction“ und konnte sich auf seine einschlägigen Kenntnisse und Erfahrung stützen. Als Autor produziert Dietz Lesefutter der literarisch wertfreien aber unterhaltsamen Art.

Aufgrund seines enormen Arbeitstempos wird Dietz gern für Romane zu Filmen oder Computerspielen angeheuert. So ist es kein Wunder, dass er ebenso Mitglied der „Science Fiction and Fantasy Writers of America“ als auch der „International Association of Media Tie-in Writers“ ist.

Über sein Werk informiert Dietz auf [seiner Website.]http://www.williamcdietz.com

Über das Computerspiel „Resistance – The Fall of Man“, das gleichzeitig Aufschluss über die Vorgeschichte des Romans „Ein Sturm zieht auf“ gibt, kann sich der Leser hier informieren: [Verlagshomepage]http://www.resistancefallofman.com

|Taschenbuch: 363 Seiten
Originaltitel: Resistance – A Gathering Storm (New York : The Ballantine Publishing Group 2009)
Übersetzung: Cora Hartwig
ISBN-13: 978-3-8332-1934-4|
[www.paninicomics.de]http://www.paninicomics.de

Tey, Josephine – Warten auf den Tod

_Das geschieht:_

Niemand kennt den jungen Mann, dem eines Märzabends vor dem Woffington-Theater zu London ein Dolch in den Rücken gestoßen wird. Obwohl die Schlange der auf Einlass wartenden Thespisjünger sich um das große Haus windet, hat auch niemand die Bluttat beobachtet. Die zuständige Polizeiwache Gowbridge zeigt sich ratlos und bittet Scotland Yard um Unterstützung. Superintendent Barker schickt seinen besten Mann: Alan Grant, den Gentleman-Polizisten, der mit Köpfchen und Eleganz noch jeden Fall gelöst hat.

Dieses Mal lassen sich die Ermittlungen schwerfällig an, denn es gibt zwar Spuren, die jedoch nur ins Leere führen. Die Anonymität des Opfers macht Grant zusätzlich zu schaffen. Ausgerechnet ein ‚alter Kunde‘, der Ganovenkönig Danny Miller, kann dem „verdammten Polypen“ behilflich sein: Den Toten hat er als Buchmacher während eines Pferderennens kennen gelernt.

Jetzt kommt die Polizeiarbeit in Schwung. Unerbittlich verbeißt sich Grant in die sich allmählich mehrenden Spuren. Bald schon bekommt er den mutmaßlichen Mörder zumindest aus der Ferne zu Gesicht. Noch gelingt diesem die Flucht, aber er ist nervös geworden und macht sich nach Schottland davon. Gut verkleidet folgt ihm Grant und waltet seines Amtes, aber die Unschuldsbeteuerungen des Mannes verunsichern ihn. Tatsächlich gibt es da Indizien, die in eine ganz andere Richtung weisen – und Grant ist nicht der Kriminalist, der sich mit dem Offensichtlichen zufriedengäbe!

_Zeit lassen & trotzdem spannend sein_

Ein Mord geschieht und wird aufgeklärt: So kurz lässt sich der Inhalt des hier vorgestellten Kriminalromans zusammenfassen. Ob er deshalb so gut funktioniert? Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Die Schnörkellosigkeit des Plots täuscht; er ist wesentlich kunstvoller komponiert, als er zunächst erscheint. Vor allem in der ersten Hälfte sind es die wenigen Indizien, die den Eindruck erwecken, der Fall sei gelöst, wenn Grant die Bruchstücke in der korrekten Reihenfolge zusammengesetzt hat.

Selten steht in einem klassischen Thriller die profane Kriminalistik so im Vordergrund wie hier. Dabei wird das „police procedural“ im Kriminalroman erst in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg datiert. Vorher hüllte sich der Ermittler üblicherweise in den Dunst der eigenen Genialität, den in der Regel ein ‚Watson‘, der in Vertretung der Leser die dummen Fragen stellt, aufhellen muss. Josephine Tey geht einen anderen, für einen schon 1929 entstandenen Krimi bemerkenswert modernen Weg. Sie lässt uns in ausgedehnten inneren Monologen teilhaben an den Gedankengängen des Alan Grant. Diese machen sehr deutlich, dass der keinen „Assistenten“ benötigt, sondern sehr gut allein seine Arbeit erledigen (und sich dabei tüchtig irren) kann.

Stück für Stück vervollständigt Grant das Puzzle. Harte Arbeit, Beharrlichkeit, die Unterstützung durch Kollegen, Glück und Zufall: Hervorragend und stets überzeugend zeichnet Tey das Bild professioneller Polizeiermittlungen. Entspricht es der Wirklichkeit? Das ist nebensächlich, denn dank Tey glauben wir es zumindest, und das reicht völlig aus.

|Thriller mit Hitchcock-Auftakt|

Zudem hat die Verfasserin ein Händchen für eindrucksvolle Szenen. Die ersten Seiten, die das Ende des unglücklichen Buchhalters schildern, sind eines Alfred Hitchcock durchaus würdig: Inmitten einer Menschenmenge ereignet sich völlig unverhofft ein Mord. (1937 bediente sich der „Master of Suspense“ des Teyschen Grant-Romans „A Shilling for Candles“ als Vehikel für seinen Film „Young and Innocent“.) Dies bettet Tey so genial in eine lebendige Schilderung menschlichen Verhaltens ein, dass es auch den Leser überraschen kann. Auch später gelingen der Verfasserin immer wieder solche Szenen. Zu erwähnen ist beispielsweise Grants Besuch im Woffington-Theater, der in jeder Zeile von der Vertrautheit Teys – die viele Jahre Bühnenstücke schrieb – mit diesem Milieu kündet.

Der Mittelteil spielt in den Highlands, die Tey, der geborenen Schottin, ebenfalls wohl vertraut waren. Auch hier ist Hitchcock nahe: Die Figuren seiner Verfilmung des John-Buchan-Bestsellers „The 39 Steps“ (1935, dt. „Die 39 Stufen“) liefern sich ebenfalls eine Hatz durch Heide und Moor – und dann ist da natürlich |der| Sumpfkrimi-Klassiker [„Der Hund der Baskervilles“ 1896 (1901) mit Sherlock Holmes & Dr. Watson von Arthur Conan Doyle.

|Andere Zeiten mit hässlichen Vorurteilen|

Einige heute gewichtige Anlässe zur negativen Kritik liefern unschöne Ressentiments. Josephine Tey (die als Schottin geboren wurde) ist Britin durch und durch. Sie meint ‚ihre‘ Landsleute zu kennen und projiziert dies auf Alan Grant. Der sieht den Dolch im Rücken des Opfers und ‚weiß‘ sogleich: |“Kein echter Engländer würde eine solche Waffe benutzen.“| (S. 19) Deshalb ‚muss‘ ein Südeuropäer die Tat begangen haben: |“Südländer waren in ihren Gefühlen notorisch verletzlich; eine Beleidigung nagte ein Leben lang, ein verirrtes Lächeln auf der Seite ihrer Angebeteten, und sie liefen Amok.“| (S. 20) Solche Passagen verraten dann doch das wahre Alter der ansonsten nur edel gereiften Geschichte. Manchmal verärgern sie sogar, auch wenn man sich vor Augen führt, dass Tey nur schreibt, wie vielen englischen Zeitgenossen der Schnabel gewachsen war: |“[Grant] kannte die fast rattenhafte Vorliebe des Südländers für die Kloake eher als für das Offene.“| (S. 76)

|Mit scharfem Verstand & ohne Privatleben|

Dieser Alan Grant ist ungeachtet seiner Vorurteile ein höchst interessanter Charakter. Es heißt, dass Josephine Tey ihm viele eigene Wesenszüge aufgeprägt hat. Sie hat offenbar stets allein gelebt und das für völlig normal befunden. Bei der Lektüre fällt Grants ausgeprägter Hang zum Alleinsein auf. Darunter leidet er jedoch nicht; es ist sein Lebensstil, so dass Tey keine Zeit darauf ver(sch)wenden muss, dem armen Mann eine Gefährtin finden zu lassen. Die Abwesenheit solcher Seifenoper-Elemente ist durchaus zu verschmerzen.

Grant ruht in sich selbst. Er ist ein scharfer Beobachter mit festen Grundsätzen. Das macht ihn nicht unbedingt sympathisch. Grant ist sehr von sich und seinen Fähigkeiten eingenommen. Dafür gibt es oft gute Gründe, manchmal aber nicht; seine persönlichen Vorurteile lässt Grant sehr wohl in seinen Polizeialltag einfließen. Das hat er mit den Kriminologen seiner Ära gemeinsam. Trotzdem ist da nichts von den Schrullen, mit der beispielsweise Agatha Christie ihren Hercule Poirot oder ihre Miss Marple ausstattet. Außerdem Grant ein Snob; er kann es sich ja erlauben, hat er doch eine Erbschaft gemacht, die ihm finanzielle Unabhängigkeit garantiert. Trotzdem ist er bei Scotland Yard geblieben, denn weniger die Jagd auf Verbrecher als die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung ist seine Passion.

Solche Abstraktionen und Übertreibungen koppeln eine Figur von der Realität ihrer Geschichte ab und verleihen ihr ein Eigenleben, das sie unsterblich werden lassen kann. Grant ist dagegen zu stark und zu kühl, als dass er das Herz der Leser gewinnen könnte. Man akzeptiert ihn, wenn er schließlich begreift, dass die Realität sich dem Verstand nicht zwangsläufig unterordnet, aber man liebt ihn nicht. Für die Konsequenz, mit der Tey dies umsetzt, im Thriller-Genre ihren eigenen Weg geht und nicht den größten gemeinsamen Lesernenner anpeilt, gebührt ihr Anerkennung.

Nur wenige Figuren sind für Tey eindeutig ‚gut‘ oder ‚böse‘. Normalerweise steckt ein bisschen von beidem in ihren Protagonisten. Auch das wirkt heute weniger zeitgenössisch als zeitgemäß. Wie man sich denken kann, bezieht Tey die weiblichen Figuren hier ein. Ihre Frauen sind keine notwendigen Randgestalten, die gerettet oder geheiratet werden müssen, sondern stehen fest im Leben, das sie aktiv – und wiederum im Positiven wie Negativen – gestalten.

|Auch Humor kann subtil sein|

Positiv gilt weiterhin Teys ausgeprägter Sinn für den (in der Übersetzung erhalten gebliebenen) „britischen“ Humor, der nicht ohne Grund so berühmt geworden ist, setzt er doch nie auf den plumpen Furzkissen-Effekt, der z. B. für deutsche „Comedians“ lebensnotwendig ist: |“… der Arbeit brachte seine eigenen Schrecken mit sich in dem hell erleuchteten Gemeindesaal, wo … Frauen umherliefen …, dabei viel redeten und wenig zustande brachte, da keine von ihnen etwas tun konnte, ohne dass eine andere eine Verbesserung vorschlug, was hieß, dass das Komitee schon mitten in der Sitzung war.“| (S. 151). Oder Teys Kommentar zum Dorfleben: |“Die beiden Männer waren niemandem aus der Gemeinde persönlich bekannt gewesen. Sie waren … aus der Ferne als moralische Aussätzige ohnegleichen betrachtet worden, aber als Gesprächsthemen besaßen sie jene nie schwindende Anziehungskraft, die die ausgekochte Verworfenheit auf die Tugend ausübt, und keine Einzelheit ihres Lebens war den Leuten verborgen geblieben.“| (S. 153). Wieso solche Aperçus witzig sein sollen, fragt da jemand? Tja, wer so denkt, der halte sich lieber an die Grimassenschneider der privaten Fernsehsender …

_Autorin_

Josephine Tey wurde 1897 als Elizabeth Mackintosh im schottischen Inverness geboren. Sie besuchte dort die Royal Academy sowie das Anstey Physical Training College in Birmingham, eine typische Frauenschule dieser Epoche, die ‚damengemäße‘ Grundkenntnisse in Medizin und Physik vermittelte sowie viel Wert auf Gymnastik und Tanz legte.

Mackintosh, die echtes Talent als Leichtathletin an den Tag legte, lehrte nach ihrem Abschluss 1918 Sport an diversen Colleges in England. Als 1926 ihre Mutter starb, kehrte sie nach Inverness zurück, um den invaliden Vater zu pflegen. In dieser Zeit begann Mackintosh, die schon immer gern geschrieben hatte, Kurzgeschichten und Gedichte in verschiedenen Zeitschriften zu veröffentlichen. Als der Verlag Methuen in London 1929 einen Wettbewerb ausschrieb, verfasste Mackintosh angeblich binnen zweier Wochen ihren Romanerstling „The Man in the Queue“, der unter dem Pseudonyme „Gordon Daviot“ erschien.

Es dauerte knapp acht Jahre, bis die Autorin einen weiteren Roman vorlegte: „A Shilling for Candles“, wieder ein Krimi mit Inspektor Grant, trug auf dem Titel den Verfassernamen „Josephine Tey“. Mackintosh, die stets die Öffentlichkeit mied, verwendete den Vornamen der Mutter und den Nachnamen der englischen Großmutter. Bei diesem Pseudonym blieb sie. „Gordon Daviot“ lebte aber weiter und verfasste seit den 1930er Jahren Theaterstücke. Mit „Richard of Bordeaux“ verhalf Mackintosh 1932 dem Schauspieler und Regisseur (Sir) John Gielgud (1904-2000) zum Durchbruch. Ihre späteren Werke konnten diesen Erfolg nicht wiederholen. Die intime Kenntnis des englischen Theaterlebens floss indessen positiv in die Kriminalromane der Josephine Tey ein.

Diese schrieb sie erst nach dem Zweiten Weltkrieg regelmäßig. Kolportiert wird, dass sie dies als Brotarbeit betrachtete, mit der sie freilich außerordentlich gut verdiente: Die Romane der Autorin – die nicht nur Thriller verfasste – waren bei Kritikern und Lesern gleichermaßen beliebt. Tey komponierte nicht nur ausgeklügelte Plots, sondern verfügte über die Gabe einer vielschichtigen Figurenzeichnung. Alan Grant ist weit entfernt von der Eindimensionalität zahlreicher zeitgenössischer Krimi-Detektive.

Teys Werk blieb schmal. Anfang der 1950er Jahre erkrankte sie an Krebs. Sie, die niemals geheiratet hatte, verschwieg ihren Freunden die Krankheit und starb daher überraschend am 13. Februar 1952 in Streatham, London. An ihrem Grab trauerten viele Theaterfreunde, darunter auch Sir John Gielgud.

(Wie es sich gehört, sei hier [ein Link zur Quelle] http://www.r3.org/fiction/mysteries/tey_butler.html#works genannt, aus der Ihr Rezensent u. a. seine Kenntnis über J. Tey schöpfte.

|Die „Alan Grant“-Serie von Josephine Tey|

(1929) Der Mann in der Schlange / Warten auf den Tod (The Man in the Queue / Killer in the Crowd)
(1936) A Shilling for Candles (noch kein dt. Titel)
(1948) Die verfolgte Unschuld (The Franchise Affair) – DuMontKB Nr. 1026
(1950) Wie ein Hauch im Wind (To Love and Be Wise) – DuMontKB Nr. 1036
(1951) Richard der Verleumdete / Alibi für einen König (The Daughter of Time)
(1952) Der singende Sand (The Singing Sands) – DuMontKB Nr. 1013

DuMontKB = Dumont Kriminal-Bibliothek

|Taschenbuch: 285 Seiten
Originalausgabe: The Man in the Queue (London : Methuen 1929)
DuMont Kriminal-Bibliothek Nr. 1120
Übersetzung: Jochen Schimmang
ISBN-13: 978-3-8321-8300-4

Deutsche Erstausgabe (unter dem Titel „Der Mann in der Schlange“): 1972 (Wilhelm Heyne Verlag/Heyne Crime Classic Nr. 1487)
Übersetzung: Alfred Dunkel
ISBN-13: 978-3-453-10459-4|
[DuMont Buchverlag]http://www.dumont-buchverlag.de

Cook, Christopher – Robbers

_Das geschieht:_

Eddie und Ray Bob sind „white trash“: Geboren in ein chancenloses Unterschichten-Leben voller Engstirnigkeit, Gefühlskälte und Gewalt, haben sie früh die übliche kriminelle Laufbahn eingeschlagen, blieben auch dort erfolglos und haben, obwohl noch jung an Jahren, die meiste Zeit ihres Lebens hinter Gittern verbracht. So lange sie sich nicht kannten, waren die beiden Männer wie kaltes Wasser und heißes Fett: latent gefährlich, aber unter Kontrolle, wenn man das eine nicht zum anderen gießt. Als dies geschieht, explodiert die Mischung mit mörderischer Wirkung. Ausgerechnet der ruhige Eddie dreht durch. Als ihn ein Ladenbesitzer wegen eines fehlenden Cents nicht bedienen will, greift er zur Waffe. Jetzt glaubt Ray Bob endlich den Partner gefunden zu haben, der ihm bei seinem Wüten gegen Gott und die Welt zur Seite stehen wird. Binnen weniger Stunden sind vier weitere Menschen tot.

Da Eddie und Ray Bob im US-Staat Texas Amok laufen, ist nicht nur die Polizei hinter ihnen her. Der erfahrene Ranger Rule Hooks setzt sich ebenfalls auf die Spur. Er ist bekannt dafür, zur Selbstjustiz zur neigen. Dieses Mal ist Hooks besonders hartnäckig, denn Ray Bob hat Detective Bernie Rose, einen der wenigen Freunde des Rangers, erschossen.

Mit ihrem Cadillac fahren Eddie und Ray Bob ziellos durch das texanische Hinterland. Unterwegs gabeln sie Della auf, die ebenfalls auf der Flucht ist, nachdem sie in Notwehr einen allzu gewaltfreudigen Liebhaber erstochen hat. Zu dritt zieht man raubend und mordend weiter und trennt sich, bis sich eines Tages die Wege von Verfolger und Verfolgten erneut kreuzen und die Tragödie in einem tödlichen, aber hoffnungsvollen Höhepunkt gipfelt …

_Böse Menschen mit traurigen Schicksalen_

|“Sie hatten einen Hang zu Inzucht und völliger Zurückgezogenheit. Echte texanische Rednecks, Diebe und Wilderer, aggressiv von Natur aus und ignorant aus freien Stücken.“ (S. 314)|

Dies sorgt für entsprechend turbulente Szenen, die sich glücklicherweise meist auf die heimatlichen Gefilde besagter Rednecks beschränken. Christopher Cook lässt in „Robbers“ diesem labilen emotionalen Gemisch eine gefährliche Zutat einfließen: Intelligenz. Ray Bob ist zwar ein Redneck, aber in der Lage, seine hoffnungslose Situation zu erkennen. Daraus resultiert eine brodelnde Wut, die nach ihrem Ventil sucht.

Ray Bob hat bereits gemordet, als er auf Eddie trifft. Doch zum endgültigen Kontrollverlust fehlte bisher ein Faktor: Ray Bob suchte einen Gefährten, der mit ihm in den Krieg gegen die Gesellschaft zieht. Als Eddie einen Mord begeht, der nur in Ray Bobs falsch geschaltetem Hirn einen Sinn ergibt, glaubt er ihn gefunden zu haben. Er ist befreit und lässt seinem „Natural Born Killer“-Trieb freien Lauf. Als Eddie nicht mitzieht und sich später sogar von ihm trennt, glaubt Ray Bob sich doppelt verraten und setzt seinen Ex-Partner ganz oben auf die endlose Liste seiner ‚Feinde‘.

Nur nominell auf der ‚richtigen‘ Seite des Gesetzes steht Texas-Ranger Hook. De facto ist er ebenso wurzellos und verloren wie die beiden Männer, die er mangels privater Alternativen mit fanatischer Konsequenz verfolgt. Hook hat seine Familie vertrieben und betrügt seinen besten Freund. Er spielt sich als Richter und Henker auf, ohne erkennen zu wollen, dass er auf diese Weise dem Druck in seinem Inneren nachgibt: Hook muss nicht morden, als Vertreter des Gesetzes kann er im Dienst töten.

Des Vierecks zunächst verhängnisvolle letzte Seite bildet Della, eine vom Leben überforderte Frau, die ohne Mann nicht sein kann, aber stets an den Falschen gerät. Mit ihr beginnt der Streit zwischen Ray Bob und Eddie, der ausgerechnet in Della den Anlass findet, sein aus dem Ruder gelaufenes Leben neu zu beginnen. Dass dies gelingt, gehört zu den (wenigen) Überraschungen dieses dickleibigen Romans. Ohne weitere Gewalt läuft freilich auch dies nicht ab.

|Weites Land für engstirnige Menschen|

Texas wird für den Verfasser zur weiteren ‚Hauptperson‘. Immer wieder dient ihm das Land als Metapher. Es macht seinen Bewohnern das Leben nicht leicht. Cook füllt viele Seiten mit Schilderungen kahler, verödeter, vom Menschen zerstörter und verschmutzter Landstriche. Darüber liegt eine Hitze, die in der Wüste das Hirn röstet und in den Sümpfen eine schwüle, giftige, fäulnisreiche Atmosphäre ausbrütet. In jedem Fall beschwört die Sonne mentale Kurzschlüsse förmlich herauf.

Deren Folgen sind in der Regel beträchtlich, denn Cook erinnert auch an die sprichwörtliche Waffenliebe des US-Rednecks. Ohnehin sind alle Texaner bewaffnet und wie der ebenso trauernde wie hasserfüllte Deputy Lomax, den Ray Bob zum Witwer machte, überzeugt davon, ihr ‚Recht‘ notfalls mit einer waschechten Elefantenbüchse durchsetzen zu dürfen. Dass neben Revolver und Flinte stets die Bibel griffbereit liegt, erfüllt ein weiteres Südstaaten-Klischee, das vielleicht gar kein Klischee ist.

|Eine (inzwischen) ziemlich bekannte Geschichte|

„Robbers“ gehört zu den Romanen, die ein abseits des verhassten Mainstreams nach literarischen Trüffeln suchendes Feuilleton in Entzücken versetzen. Es klassifiziert dieses Buch nicht als Krimi oder Thriller, sondern erhebt es in den Stand ‚richtiger‘ Literatur. Cook selbst erleichtert diesen Vorgang, indem er eine einfache Story mit ‚literarischen‘ Einschüben auflädt. Dazu gehören innere Monologe und ein Stil, der kunstvoll versimpelt wird, um die inhaltliche Relevanz erst recht zu verdeutlichen. Ausführliche Wetterberichte und Landschaftsbeschreibungen vertiefen den Eindruck erzählerischer Dichte und poetischer Schwere.

Dass sich „Robbers“ in der deutschen Fassung auf über 550 Seiten aufplustert, kommt durch etwas zustande, dass man seit einigen Jahren als „Tarantino-Faktor“ bezeichnet: Figuren unterhalten sich nicht, indem sie bestimmte Themen direkt ansprechen. Stattdessen reden sie endlos über Nebensächlichkeiten und aneinander vorbei. Dies symbolisiert die Isolation des Individuums in einer entmenschten Gesellschaft. Ursprünglich funktionierte dieser Trick gut; auch Cook gelingen Momente, in denen sich die Verlorenheit seiner Figuren in der Trivialität ihres Redens (und Handelns) spiegelt. Allerdings wird der Effekt seit Tarantino inflationär eingesetzt. Er hat viel von seiner Wirkung verloren und wird längst auch wieder als „Geschwätz“ geschmäht – Pech für Cook, dessen „Robbers“ hierzulande erst mit zehnjähriger Verspätung erscheint.

Überhaupt kann der Autor für seine Story keine Originalität beanspruchen. „Robbers“ liest sich flüssig – die überbordenden Beschreibungen (s. o.) können übersprungen werden -, weil Cook ein guter Schriftsteller ist, der viele Bestseller-Stammler sehr dumm aussehen lässt. Die Handlung birgt allerdings kaum Überraschungen. Man hat sie u. a. in zu vielen nur mittelmäßigen Filmen gesehen. Oder wie kommt es sonst, dass vor dem inneren Auge des Rezensenten nicht Rule Hooks, sondern immer Tommy Lee Jones Gestalt annehmen will? (Was natürlich auch daran liegt, dass Autor Cook in „Robbers“ mit Elementen des Spät-Westerns spielt, was angesichts der texanischen Kulisse wahrscheinlich Vorschrift war.)

Zudem verliert die Story nach einem rasanten Auftakt rasch Tempo. Im Mittelteil lahmt vor allem die Liebesgeschichte zwischen Eddie und Della, die sicherlich ebenfalls literarisch wertvoll, aber dennoch langweilig ist. Auch Ray Bob und Ranger Hook fahren vor allem durch Texas und hängen dabei ihren trüben Lebenserinnerungen nach. Das dauert vor allem lange und führt zu nichts. Erst auf den letzten 100 Seiten zieht das Tempo endlich an.

|Chimäre ohne Biss|

Ist „Robbers“ Thriller oder Literatur? Oder beides? Und als dritte und wichtigste Frage: Wen interessiert das? Ein Buch muss seinem Leser eine Reaktion entlocken. Sie kann auch negativ ausfallen, aber Ärger über verschwendete Lektürezeit ist definitiv kein erfreuliches Resultat. Cook rettet sich mit seiner (auch in der Übersetzung) routinierten Schreibe so gerade über die volle Distanz, aber das Ergebnis als „sprachgewaltigen Thriller für alle Fans von Elmore Leonard, Quentin Tarantino und den Coen-Brothers“ zu bezeichnen, wie wir es auf dem hinteren Umschlag lesen, ist keine Orientierungshilfe, sondern die simple Bündelung dreier Namen, die nur ein guter Ruf bei ihrem jeweiligen Publikum eint, das auf diese Weise gesammelt und zum Kauf gelockt werden soll. (Um die Sinnlosigkeit dieses Vergleiches zu perfektionieren und den Werbeeffekt auf die Spitze zu treiben, hätte man übrigens „Elmore Leonard“ gegen „Stephen King“ austauschen müssen.)

Ein „Hardcore“-Thriller ist „Robbers“ ebenfalls nicht. Die ‚harten‘ Stellen sind zu zahlenarm, die Geschwätzigkeit ist zu ausgeprägt. Wie man Thrill und Anspruch harmonisch miteinander verknüpft, stellen (der auch von Cook zitierte) James Lee Burke oder Joe Lansdale unter Beweis. „Robbers“ erinnert dagegen an den Film „No Country for Old Men“, der ebenfalls ehrfürchtig als Meisterwerk bewundert wird, dessen Zuschauer sich in der Regel jedoch vor allem oder sogar nur an den Killer Anton Chigurh erinnern, der mit seinem Bolzenschussgerät für bizarre Abwechslung sorgt. Da der (deutsche) Leser jedoch mit gut geschriebenen Thrillern nicht gerade verwöhnt wird, ragt „Robbers“ trotz seiner ambitionierten Aufgeblasenheit hoch aus dem „Buch-des-Monats“- und „Lese-Tipp“-Sumpf.

_Autor_

Christopher Cook, Jahrgang 1959, ist als Schriftsteller kaum in Erscheinung getreten, weshalb man sogar im Internet wenig über ihn findet. Er ist geborener Texaner, und sein einziger Roman („Robbers“) wurde 2000 veröffentlicht. Im Folgejahr erschien noch die Story-Sammlung „Screen Door Jesus“, die Regisseur und Drehbuchautor Kirk 2003 in einen gut aufgenommenen, aber wenig gesehenen Arthouse-Film umsetzte.

|Taschenbuch: 558 Seiten
Originaltitel: Robbers (New York : Carroll & Graf Publishers Inc. 2000)
Übersetzung: Stefan Lux u. Frank Dabrock
ISBN-13: 978-3-453-67573-5|
[www.heyne-verlag.de]http://www.heyne-verlag.de
[www.heyne-hardcore.de]http://www.heyne-hardcore.de

Lang, Jeffrey/Weddle, David – Star Trek: Deep Space Nine – Sektion 31 – Der Abgrund

_Das geschieht:_

Sektion 31, eine illegale Geheimorganisation innerhalb der Föderation, deren Mitglieder genetisch ‚verbesserte‘ Menschen sind, rekrutiert Dr. Julian Bashir, der ebenfalls ‚aufgerüstet‘ wurde, für einen Einsatz. Bashir, der auf der Raumstation Deep Space Nine als Arzt dient, steht der Organisation ablehnend gegenüber. Dennoch stimmt er zu, als ihm Sektion-31-Agent Cole die Geschichte von Dr. Ethan Locken erzählt. Dieser war von der Organisation zum Planeten Sindorin geschickt worden. Tief in den Badlands existiert dort eine der Föderation unbekannte Brutstation für Jem’Hadar-Soldaten. Statt diese der Sektion 31 zugänglich zu machen, besetzte Locken die Anlage und programmierte die dort hergestellten Jem’Hadar so, dass sie ihm – und nur ihm – bedingungslos gehorchen. Seitdem baut Locken Sindorin zur Keimzelle einer „Neuen Föderation“ aus, über die er im Stil des Diktators Khan Noonien Singh herrschen will.

Bashir soll Locken ausschalten. Mit seiner Gattin Ezri Dax, der „Marquis“-Veteranin Ro Laren und dem Jem’Hadar Taran’atar fliegt der Doktor an Bord eines kleines Raumschiffs Sindorin an. Doch sie werden bereits erwartet. Locken lässt ihr Schiff abschießen und nimmt Bashir und Ezri gefangen, während Ro und Taran’atar unbemerkt abspringen und in den dichten Wäldern des Planeten untertauchen können.

Mit Bashir an seiner Seite will Locken seinen Traum, einer durch Supermenschen geführten Galaxis, verwirklichen. Zu Ezris Schrecken dringt er mit seinen Argumenten offenbar durch; Bashir droht Lockens Sirenengesängen zu erliegen. Währenddessen nehmen Ro Laren und Taran’atar Kontakt mit den Ingavi, den geheimen Bewohnern von Sindorin, auf. Gemeinsam will man Lockens Festung stürmen und die Brutstation zerstören …

_Alte Helden in neuen Rollen_

„Star Trek“ existiert seit mehreren Jahrzehnten und ist mit unzähligen Filmen, TV-Episoden, Romanen, Comics, Computerspielen u. a. Produkten nicht nur immens erfolgreich, sondern auch zu einem Synonym für „Wiederholung“ geworden: Wirklich Neues oder Originelles hat sich in den Raumquadranten A bis D schon lange nicht mehr ereignet. Dies entspricht primär dem Willen des Franchises, das von der einstigen Erfolgsformel selbst dann nicht lassen wollte, als diese Anfang des 21. Jahrhunderts durch „Enterprise“ und „Star Trek: Nemesis“ eindrucksvoll ihre Wirksamkeit verloren hatte. Erst dann wurde die Konsequenz gezogen und mit dem elften Kinofilm 2009 eine alternative „Star Trek“-Zeitlinie etabliert.

Zumindest in den gedruckten „Star-Trek“-Abenteuern überstanden die bekannten Helden aus fünf Fernseh-Serien den großen Kataklysmus problemlos. Die neuen Romane schließen zum Teil sogar direkt an die Ereignisse der TV-Serien an. Auf diese Weise kam „Deep Space Nine“ 2001 zu einer achten Staffel, deren dritte Episode „Der Abgrund“ darstellt. Gleichzeitig gehört dieser Roman zu einer Mini-Serie, in der die Umtriebe der fragwürdigen Sektion 31 thematisiert werden, deren Tentakeln nicht bis zur DS9, sondern auch in die „Enterprises“ der Kapitäne Kirk und Picard sowie bis zur „Voyager“ von Captain Janeway reichten. (Da diese vierteilige Serie bereits vollständig in Deutschland erschienen ist, kam es 2010 zur kuriosen Neuauflage – samt neuer Übersetzung! – nur dieses dritten Bandes in einem anderen Verlag, der die Kontinuität der achten „DS9“-Staffel wahren möchte.)

|Neue Rollen im bekannten Umfeld|

Die Kenntnis der beiden „Deep-Space-Nine“-Vorgänger-Romane wird vorausgesetzt, denn die Ereignisse überlappen sich. Die Station wurde wieder einmal heftig gebeutelt, sodass der kurz vor TV-Toresschluss zum Föderations-Teufelspiloten und zur Hauptfigur aufgestiegene Ferengi Nog als Retter erscheinen und durch das Wurmloch über Bajor einen Energiekern aus dem Gamma-Quadranten heranschleppen muss. Für das eigentliche Geschehen sind die sich darum rankenden Ereignisse unwichtig, aber solches Beiwerk ist integrales Element des Serienvorbilds: Nebenhandlungen werden verknüpft, um auf diese Weise den roten Faden der „DS9“-Serie zu verstärken.

Auf diese Weise wird der Leser außerdem über Veränderungen auf dem Laufenden gehalten. Wenig blieb in der Station „Deep Space Nine“ so, wie es uns in sieben Fernseh-Staffeln vertraut geworden ist. Zentrale Figuren wie Benjamin Sisko, Odo oder Worf sind aus dem Geschehen verschwunden, neue Charaktere wurden eingeführt.

Dieser Neubeginn bot eine Chance, die jedoch nicht wirklich genutzt wurde: Die Abenteuer der ’neuen‘ „DS9“-Crew entsprechen ziemlich genau denen der alten Haudegen. So musste es wohl auch kommen, da die „achte Staffel“ im bekannten „Star-Trek“-Universum spielt und deshalb deren fiktive Historie berücksichtigen muss. Diese ist jedoch Segen und Fluch zugleich.

|Alles bleibt, wie es war|

Der Trekkie liebt Nachrichten aus der ihm oft bis in ihre Details bekannten „Star Trek“-Welt. Freilich ist diese nach vier Jahrzehnten in ihren grundsätzlichen Strukturen stark verkrustet, was der Hauptgrund für den Relaunch mit „Star Trek XI“ war. „Der Abgrund“ könnte dagegen die Vorlage für eine TV-(Doppel-)Folge aus jeder der letzten zwei oder drei „DS9“-Staffeln sein. Der Plot ist die x-te Auflage einer vielfach durchgespielten Situation.

In einem Nachwort zur deutschen Ausgabe erläutert Julian Wrangler die Brisanz des Themas „Genetische Aufwertung“ für die „Star-Trek“-Historie, die von den „Eugenischen Kriegen“ und der Tyrannei des Khan Noonien Singh und seiner Spießgesellen geprägt wurde. „Star Trek“-Übervater Gene Roddenberry, Zeitgenosse der realen Pervertierung des Eugenik-Gedankens durch die Nazis sowie Zeuge einer Naturwissenschaft, die in den 1960er Jahren vor einer Zukunft zu stehen schien, in der auch die Manipulation des menschlichen Genoms möglich wirkte, hatte das allgemeine Unbehagen trivialisiert bzw. ihm mit der „Star-Trek“-Episode „Der schlafende Tiger“ („Space Seed“) eine allgemein verständliche Form verliehen. Die ‚Aufrüstung‘ des Menschen durch die Manipulation seines Genmaterials und vor allem die daraus resultierenden Risiken und Missbräuche wurden Teil des „Star-Trek“-Kanons und in den folgenden Jahrzehnten in allen Serien aufgegriffen.

„Star Trek“-typisch führte dies zum endlosen Wiederkäuen längst bekannter Argumente vor höchstens variierten Hintergründen. „Der Abgrund“ bildet leider keine Ausnahme. Dass Julian Bashir genetisch getunt ist, wurde bereits in der TV-Ära von „DS9“ umfassend thematisiert. Nun setzt man ihn auf einen Mann an, der sich selbst „Khan“ nennt und bereits auf diese Weise signalisiert, dass mehrfach gedroschenes „Star-Trek“-Stroh noch einmal durchgewalkt wird. Könnte Dr. Bashir schwach werden, wenn Ethan Locken ihn umgarnt? Gattin Ezri Dax mag dies fürchten, der Leser lässt sich jedoch nicht aufs Glatteis führen, zumal Locken zwischendurch allzu leicht in einen TV-typischen, d. h. lächerlich übertriebenen Wahnsinn abgleitet. Die aus der Konfrontation zwischen Meister und Schüler resultierende Spannung wird nicht erzeugt, sondern vor allem behauptet.

|Philosophie mit Action-Beiwerk|

Im „Star Trek“-Universum wird gern und viel geredet; „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ dürfte dort als Sprichwort in Vergessenheit geraten sein. Ein Problem taucht auf? Lasst uns darüber sprechen – ausgiebig, lange und am besten mit tragischer Musik im Hintergrund! Unaufhörlich kreist man um sich selbst, um gemäß der roddenberryschen Zukunftsvision dabei zu reifen und die Schwächen der Vergangenheit zu überwinden.

Diese Haltung ist naiv, überholt und wurde sogar in der „Star-Trek“-Historie vorsichtig außer Kraft gesetzt. Diskutiert oder besser: debattiert wird dennoch mit ungebrochener Energie. Weil dies irgendwann selbst den langmütigsten Trekkie langweilt, wird die Weisheit des Wortes regelmäßig durch Action-Einlagen aufgelockert. Deshalb fliegen die eher handfest als geistreich gepolten Ro Laren und Taran’atar mit nach Sindorin, wo sie sich im Untergrund (aber zunächst ebenfalls ausgiebig redend) mit geknechteten Planetenbewohnern verbünden und eine SF-Standard-Revolte anzetteln, in der die Ingavi die Rolle der Ewoks übernehmen.

Das Geschehen endet in einer Mischung aus Gewalt und Tragik; auch dies ist „Star Trek“: Wenn geschossen und gestorben wird, so soll der Zuschauer/Leser wenigstens dadurch lernen. Die Naivität der auf diese Weise verbreiteten Botschaften hat nicht grundlos den Spott der Nicht-Trekkies beflügelt.

|Trekkies in guten Händen|

Obwohl „Der Abgrund“ alles andere als gute, d. h. originelle Science-Fiction darstellt, gehört der Roman nach „Star Trek“-Maßstäben zu den gelungenen Serien-Beiträgen. Das Autoren-Duo Lang & Weddle kennt sich perfekt im „Star Trek“-Kosmos aus, den vor allem Weddle als Autor zahlreicher Drehbuch-Vorlagen für die TV-Serie „Deep Space Nine“ aktiv mitgestaltet hat. Der schematischen Handlung zum Trotz liest sich „Der Abgrund angenehm vertraut, weil der Grundton stimmt: Die bekannten Figuren handeln und denken serienkonform, die „Star-Trek“-Atmosphäre ist spürbar.

Diese Stimmung lässt sich schwer beschwören. Wie der regelmäßig lesende Trekkie aus leidvoller Erfahrung bestätigen kann, begnügen sich die meisten Autoren von „Star Trek“-Romanen mit dem Versuch der möglichst deckungsgleichen Kopie – und scheitern. In diesem Punkt haben Lang & Weddle gute Arbeit geleistet. Wer also ’nur‘ einen „Star Trek“-Roman lesen möchte, der die TV-Ära wieder aufleben lässt, ist mit „Der Abgrund“ gut bedient. Da diese Zufriedenheit in einer Flut drittklassiger „Star Trek“-Abenteuer keineswegs selbstverständlich ist, wird an dieser Stelle eigens darauf hingewiesen …

_Autoren_

David Weddle gehört nicht zum Söldner-Heer jener Autoren, die primär „tie-ins“, also Romane zu Filmen und TV-Serien, fabrizieren. Er schreibt vor allem Drehbücher für das Fernsehen. Auf der eindrucksvollen Liste seiner verfilmten Vorlagen finden sich Erfolgsserien wie „Star Trek: Deep Space Nine“, „Kampfstern Galactica“ oder „CSI Las Vegas“.

Sein Handwerk lernte Weddle buchstäblich von der Pike auf. Er besuchte die USC School of Cinematic Arts in Los Angeles. Hier lernte er seinen späteren Autoren-Partner Bradley Thompson kennen. Hilfreich erwies sich zudem die persönliche Bekanntschaft mit dem Regisseur Sam Peckinpah (1925-1984), dessen Autobiografie Weddle 1994 veröffentlichte.

Über Jeffrey Lang, der für einen „tie-in“-Autoren relativ wenig schreibt, ist nur bekannt, dass er mit seiner Familie in Bala Cynwyd im US-Staat Pennsylvania lebt und arbeitet.

|Die „Sektion-31“-Serie:|

(2001) S. D. Perry: Der dunkle Plan („Cloak“)
(2001) David Mangels/Michael A. Martin: Die Verschwörung („Rogue“)
(2001) Jeffrey Lang/David Weddle: Der Abgrund („Abyss“)
(2001) Dean W. Smith/Kristine Kathryn Rusch: Der Schatten („Shadow“)

|Taschenbuch: 279 Seiten
Originaltitel: Section 31 – Abyss (New York : Pocket Books 2001)
Dt. Erstausgabe: 2002 (Wilhelm Heyne Verlag/TB Nr. 06/5729)
Übersetzung: Andreas Brandhorst
ISBN-13: 978-3-453-21367-8
Diese Neuausgabe: April 2010 (Cross-Cult Verlag/Star Trek – Deep Space Nine 8.03)
Übersetzung: Christian Humberg
ISBN-13: 978-3-941248-53-3|
[www.cross-cult.de]http://www.cross-cult.de
[www.startrekromane.de]http://www.startrekromane.de

_“Star Trek“ bei |Buchwurm.info|:_
[„Sternendämmerung“ (Star Trek) 673
[„Sternennacht“ (Star Trek) 688
[„Star Trek Voyager – Das offizielle Logbuch“ 826
[„Star Trek V – Am Rande des Universums“ 1169
[„Jenseits von Star Trek“ 1643
[„40 Jahre STAR TREK – Dies sind die Abenteuer …“ 3025
[„Star Trek Deep Space Nine: Neuer Ärger mit den Tribbles“ 4171
[„Star Trek Voyager: Endspiel 4441
[„Star Trek – Vanguard 1: Der Vorbote“ 4867
[„Star Trek – Titan 1: Eine neue Ära“ 5483
[„Star Trek – Next Generation: Tod im Winter“ 6051
[„Star Trek – Next Generation: Widerstand“ 6141
[„Star Trek – Next Generation: Quintessenz“ 6199

Paffenroth, Kim – Dying to Live 1: Vom Überleben unter Zombies

_Das geschieht:_

Vor einem Jahr brach eine Seuche aus, die Menschen zu Zombies werden ließ. Die Untoten breiteten sich in rasender Geschwindigkeit über die ganze Erde aus, weil sie in immer größerer Zahl über die Lebenden herfielen, sie fraßen und in Ihresgleichen verwandelten. Sämtliche Eindämmungsversuche scheiterten, die Zivilisation brach zusammen.

Die wenigen Menschen, die der Epidemie bisher entkamen, führen wie Jonah Caine ein Leben in ständiger Angst und auf der Flucht. Die Untoten sind überall, sie haben keine Angst, kennen keine Erschöpfung oder Müdigkeit, nur Hunger. Caine hat das unstete und einsame Leben abseits der zu Todesfallen gewordenen Städte satt. Als er auf der Suche nach Lebensmitteln trotzdem wieder einmal eine Geisterstadt betritt, entkommt er nur, weil ihn Überlebende heraushauen.

Ehemalige Soldaten und versprengte Bürger haben sich in einer von Mauern umgebenen und zusätzlich gesicherten Museumsanlage verbarrikadiert und organisiert. So halten sie den auf sie eindrängenden Untoten stand. Dabei stützen sie sich stark auf die Hilfe des ehemaligen Forschers Milton, der den Biss eines Zombies überlebte und seitdem nicht nur immun gegen ihr Gift ist, sondern auch von ihnen ignoriert und sogar gemieden wird.

Caine schließt sich der Gruppe an. Er findet eine neue Lebensgefährtin, und er ist es, der bei einem Außeneinsatz auf dem Dach des städtischen Krankenhauses einen funktionstüchtigen Hubschrauber entdeckt. Dieser würde den Aktionsradius der Gruppe, zu deren Mitgliedern eine Pilotin zählt, enorm steigern, doch um das Fluggerät zu erreichen, muss sich ein Kampftrupp durch ein wahres Heer von Zombies schlagen. Dabei werden Caine und einige Gefährten versprengt und geraten in die Gewalt von Ex-Sträflingen, die in ihrem gut gesicherten Gefängnis ein Terrorregiment installiert haben …

_Sie kamen, bissen & faulten_

Der Zombie: Eine untote Karikatur des lebenden Menschen, dem er nur noch entfernt ähnelt. Eigentlich ist er hirntot, fußlahm und planlos, aber leider ist er gleichzeitig nimmermüde, hartnäckig und vor allem in der Überzahl. Man kann den Untoten zwar ausweichen, doch wohin man auch geht, es warten nur weitere hungrige Zombies.

Bevor der Begriff „Pandemie“ an die breite Öffentlichkeit gelangte, vermittelten die lebenden Toten einen Eindruck davon, was eine weltweite Seuche anrichten könnte. Der Mensch ist auch Jahrzehnte, nachdem George A. Romero die Untoten zurückkehren ließ, auf eine Katastrophe, die alle Grenzen möglicher Präventionen sprengt, nicht vorbereitet. Deshalb stehen im Zombie-Genre überlebende Menschen immer in der Minderzahl gegen ein Heer von Untoten, die sich mit den bekannten und bewährten Methoden nicht kontrollieren lassen.

Am Zombie erschrecken sein Aussehen und seine Kommunikationsunfähigkeit. Ist der Mensch tot, wird er zwar betrauert aber auch auf den Friedhof verbannt: Aus den Augen und aus dem Sinn gerät, was sich im Kreislauf der Natur in ein hässlich anzusehendes und noch schlimmer riechendes Zerrbild des lebendigen Menschen verwandelt. Hinzu kommt die Schweigsamkeit einer Kreatur, mit der man nicht diskutieren und einen Frieden aushandeln kann. Der Zombie verkörpert die pure Zerstörung. Kein Wunder, dass er immer wieder als Sinnbild der biblischen Apokalypse beschworen wird.

|Wenn gerade keine Schädel bersten|

Das Bild der Toten, die sich in Massen aus ihren Gräbern erheben, besitzt für christlich orientierte Zeitgenossen besondere Symbolkraft. |“Die Toten aber wissen nichts …, denn bei den Toten, zu denen du fährst, gibt es weder Tun noch Denken, weder Erkenntnis noch Weisheit”|, heißt es in der Bibel (Prediger 9,5.10). Der Apostel Paulus fügt hinzu: |“Was ich damit sagen will, liebe Brüder, ist, dass Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht erben können“| (1. Korinther 15,44. 49-50). Wenn dereinst die Posaunen des Jüngsten Gerichts erschallen, kehren die Toten zwar zurück (Offenbarung 20). Dann sind es allerdings keine Zombies, die aus den Gräbern gerufen werden, sondern |“unverwesliche“| und |“geistige Körper“|.

Wer sich wundert, was solche theologischen Reminiszenzen in der Rezension eines Horroromans verloren haben, sei darauf hingewiesen, dass Autor Kim Paffenroth in seinem ‚richtigen‘ Beruf als Professor für Religionswissenschaften lehrt. Er kennt die christlichen Mythen und beschäftigt sich auch in seinen Romanen mit ihnen. „Dying to Live“ bildet keine Ausnahme. Vor allem im Mittelteil werden dem Leser lange Passagen auffallen, in denen Jonah Caine – dessen Namen bereits zweifach auf die Bibel (Jonas bzw. Kain) verweist – und Milton (der wiederum an John Milton erinnert, dessen Versepos „Paradise Lost“ 1665 das Ringen zwischen den Mächten des Himmels und der Hölle beschreibt) über einen möglichen Sinn der Zombie-Plage diskutieren.

Später schildert Paffenroth den verrohten Mikrokosmos eines in die Barbarei zurückgefallenen Gefängnisses. Hier stützt sich der Autor zusätzlich auf eigene Forschungen zum Werk des antiken Kirchenlehrers und Philosophen Augustinus (354-430), der sich viele Gedanken über das Böse im Menschen gemacht und diese niedergeschrieben hat. Zusätzlich greift Paffenroth auf William Shakespeare und Herman Melville („Moby Dick“) zurück, wenn es darum geht, die Bestie Mensch gebührend schauerlich darzustellen.

|Zurück zu den Anfängen|

Diese philosophischen Erörterungen kann der Leser entweder als Mehrwert betrachten oder muss sie ertragen. Glücklicherweise stellt Paffenroth den genannten Geistesgrößen den Schöpfer des modernen Zombieversums an die Seite: In einem Nachwort bezieht er sich ausdrücklich auf George A. Romero, der zum Thema alles Grundsätzliche gesagt habe. Dem stimmen wir zu, wobei wir nur „Night of the Living Dead“ (1968), „Dawn of the Dead“ (1978) und „Day of the Dead“ (1985) gelten lassen und über „Diary of the Dead“ (2007) und „Survival of the Dead“ (2010) den Mantel gnädiger Vergessenheit breiten.

Folgerichtig ist auch Paffenroth nichts wirklich Neues eingefallen. „Dying to Live“ fällt gegenüber anderen Zombie-Geschichten immerhin durch formale Qualitäten auf, die das Genre allzu oft vermissen lässt. Der Zerfall der wandelnden Leichen scheint zumindest auf die Hirne jener Autoren überzugreifen, die sich den Untoten in Serien widmen. Brian Keene, David Wellington oder Jonathan Maberry haben es mit ihren simpel gestrickten Krawall-und-Ekel-Spektakeln inzwischen auch nach Deutschland geschafft.

Paffenroth beherrscht den groben Quast ebenso wie den Feinhaarpinsel. „Dying to Live“ bietet spannende, gewaltvolle und splatterreiche Massenszenen, neben denen gut ‚beobachtete‘ und beschriebene Miniatur-Dramen für feiner ziselierten Schrecken sorgen. Das erste Kapitel stellt einen gelungenen Einstieg und ein gutes Beispiel dar: Statt über viele Seiten und in allen Details zu beschreiben, wie die Welt zum Zombieland degenerierte, schildert Paffenroth Caines Kampf mit einem Zombie als ganz alltägliches Geschehen.

|Das Leben ist zäh|

„Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Lichtlein her“: Dieses alte Sprichwort beschreibt ein grundlegendes Element des Zombie-Horrors. In der Allgegenwärtigkeit des Todes scheint der Mensch den endgültigen Untergang höchstens verzögern zu können. Doch so dramatisch diese Hoffnungslosigkeit auch dargestellt wird: Irgendwann wird deutlich, dass sich das Leben seinen Weg bahnen wird. 99,9% der Menschheit mögen tot über die Erde wandern; die wenigen Überlebenden haben sich auf die Situation eingestellt. Sie werden sich vermehren und in einer Welt der Zombies den Neuanfang wagen.

Auch Kim Paffenroth mochte sich dieser tröstlichen Entwicklung nicht verschließen. „Dying to Life: Life Sentence“ (dt. 2011 als „Die Traurigkeit der Zombies“) spielt zwölf Jahre nach den Ereignissen des ersten Teils und in einer Welt, die zwar auf allen Ebenen von der Gegenwart der Untoten geprägt ist, in welcher der lebende Mensch sich jedoch behaupten konnte.

_Autor_

Kim Paffenroth wurde 1966 in Syosset, einem kleinen Ort nordöstlich von New York City, geboren. Er wurde in den US-Staaten New York, Virginia und New Mexico auf und studierte an mehreren Universitäten Religionswissenschaften, bevor er 1995 seinen Doktor an der University of Notre Dame in Indiana machte.

Paffenroth lebt mit seiner Familie in New York. Seit 2001 lehrt er am Iona College Department of Religious Studies, wobei er sich die Untersuchung religiöser Ideen und Ideologien spezialisiert hat.

Parallel dazu interessierte sich Paffenroth für phantastische Literatur und Horrorfilme. Seit 2006 verfasst er Sachbücher und Artikel, wobei er gern die Verbindung zwischen der universitären Lehre und der Populärkultur sucht und findet. 2007 erschien mit „Dying to Live: Vom Überleben unter Zombies“ auch ein erster Roman, der seitdem regelmäßig weitere Werke folgen.

Über sein Werk informiert Kim Paffenroth [in seinem Blog.]http://gotld.blogspot.com

|Kartoniert: 256 Seiten
Originaltitel: Dying to Live: A Novel of Life Among the Undead (Mena/Arkansas : Permuted Press 2007)
Übersetzung: Doris Hummel
ISBN-13: 978-3-86552-091-3|
[www.festa-verlag.de]http://www.festa-verlag.de

Queen, Ellery – Schatten über Wrightsville

_Das geschieht:_

Seinen neuen Roman möchte Krimi-Schriftsteller und Amateur-Detektiv Ellery Queen nicht in New York, sondern in der Ruhe der Provinz schreiben. Er entscheidet sich für Wrightsville, ein uramerikanisches Städtchen irgendwo im Mittelwesten. Hier scheint die Zeit vor Jahrzehnten stehengeblieben zu sein. Fremde werden ungeniert neugierig beäugt, sodass Queen sich das Pseudonym „Smith“ zulegt, um unerkannt zu bleiben.

Als Gast einer prominenten Familie wird Queen in ein schwelendes Drama gezogen. John F. Wright, Präsident der Wrightsville Nationalbank, hat drei Töchter, von denen nur Patricia, die Jüngste, ohne Skandal blieb. Lola, die Älteste, schloss sich vor Jahren einem Wanderzirkus an und kehrte später geschieden = entehrt nach Wrightsville zurück. Nora wurde vor drei Jahren von ihrem Verlobten Jim Haight verlassen und ist seitdem schwermütig.

Jetzt kehrt Haight plötzlich zurück. Nora nimmt ihn wieder auf, die ausgefallene Hochzeit wird nachgeholt. Das junge Glück ist allerdings überschattet: Nora findet drei vordatierte Briefe, in denen ihr Gatte seiner Schwester Rosemary über eine Krankheit berichtet, der Nora am 1. Januar des kommenden Jahres erliegen wird bzw. soll, denn diese Briefe – sie stecken zudem in einem Fachbuch über tödliche Gifte – deuten darauf hin, dass Jim seine Ehefrau ermorden will.

Während Nora die Bedrohung ignoriert, wollen Queen und Patricia das Komplott verhindern. Dann taucht Rosemary Haight unerwartet in Wrightsville auf, wo sie am Neujahrstag einen mit Arsen versetzten Cocktail trinkt, den ihr Bruder offenbar für seine Gattin gemixt hatte. Selbst Ellery Queen findet lange keine Beweise, die Haight entlasten. Es gelingt ihm erst, ein nicht nur kriminelles Drama aufzudecken, als dieses bereits seinen tragischen Abschluss gefunden hat …

_Unsere kleine, nette, abscheuliche Stadt_

|“Es gibt keine Geheimnisse und kein Zartgefühl, wohl aber sehr viel Grausamkeit in den Wrightsvilles dieser Welt.“| Diesen Satz lesen wir auf einer der letzten Seiten dieses 15. „Ellery Queen“-Romans; er könnte ihm auch als Motto vorangestellt werden. Die Vorstellung vom Dorf oder der Kleinstadt als Hort traditioneller = gesunder = in der Großstadt längst verschwundener, Werte geistert seit jeher durch die Kultur- und Geisteswelt. Der nicht nur geografisch isolierte Kleinstadt-Alltag symbolisiert eine Gesamtheit, deren Elemente sich harmonisch ineinanderfügen, weil sie einander kennen und wissen, wie (und dass) sie zusammengehören.

Doch nicht grundlos kam bereits im 19. Jahrhundert eine Gegenbewegung auf, deren meist gebildeten und ‚fortschrittlich‘ denkenden (sowie in der Stadt lebenden) Vertreter auf die Schattenseiten dieser Idylle hinwiesen: Privatsphäre ist ein kostbares Gut, das dort, wo jeder jeden kennt, nicht zu gewährleisten ist. Folgerichtig weist das Bild Wrightsvilles, das auf den ersten Seiten des vorliegenden Romans nachgerade ironisch als unschuldiges Paradies beschrieben wird, bereits auf den zweiten Blick diverse Flecken auf, um sich nach und nach in einen bodenlosen Sumpf zu verwandeln: Wrightsville wird zur „Calamity Town“, zur „Stadt des Unheils“.

Diesen Prozess setzt das Schriftsteller-Duo Frederic Dannay und Manfred Bennington Lee (= Ellery Queen) ebenso meisterhaft wie gnadenlos um. Es widmet ihm ebenso viel Raum wie dem Kriminalfall, der vor allem im Mittelteil an den Rand der Handlung rutscht. Auch von den ‚Unschuldigen‘ kommt niemand ungeschoren davon. Hinter harmloser Klatschsucht lauert eine Aggression, die schließlich in einem kollektiven Anfall von Lynchjustiz gipfelt.

|Die Zeiten ändern sich|

Dannay & Lee scheuten sich in ihrer großen Zeit – die erst in den frühen 1960er Jahren endete – nie, ihre Figur Ellery Queen teilweise gravierenden Änderungen zu unterziehen. Dies war riskant, denn der Fan ist ein scheues Wild, das höchstens vorsichtige Variationen des Bekannten und Geschätzten gestattet. Dannay & Lee passten sich den Zeitläufen an. Ellery Queen startete 1929 als typische „Denkmaschine“, die passenderweise einen Kriminalfall löste, der wie eine komplizierte Maschine konstruiert wurde. Zwischenmenschliche Aspekte blieben Nebensache und der Deduktion jederzeit untergeordnet.

In den 1930er Jahren geriet der klassische „Whodunit?“ in seiner reinen Form allmählich auf ein Nebengleis. Auch der Kriminalroman entdeckte die psychologischen Untiefen der menschlichen Seele als Quelle krimineller Taten. Ellery Queen wurde in „Halfway House“ (1936; dt. „Das Haus auf halber Strecke“/“Der Schrei am Fluss“) erstmals ‚menschlich‘ gezeichnet. Natürlich blieb er ein begnadeter Kriminologe, doch er dominierte die Handlung ’seiner‘ Romane nicht mehr so stark wie zuvor, und er zeigte sich oft macht- und ratlos dort, wo das Handwerk des Ermittlers an seine Grenzen stieß. Auch in „Schatten über Wrightsville“ erkennt Queen zu spät die Hintergründe einer Tat, deren Dimensionen weit über das hinausreichen, was ein Detektiv zu meistern vermochte.

Freilich erweist sich die neue psychologische Tiefenschärfe aus heutiger Sicht als deutlicher Schwachpunkt: Sie wirkt veraltet. Dannay & Lee übertreiben es mit den Gefühlen. Vor allem das weibliche Wesen ist durch Schwäche, Weinkrämpfe und Hysterie gekennzeichnet. Durch die Betonung zeitgenössisch akuter, doch inzwischen von der Zeit überholter gesellschaftlicher Konventionen – was auch die männlichen Figuren einschließt – gerät „Schatten über Wrightsville“ noch altmodischer, während die klassischen „Whodunits?“ gerade wegen ihrer künstlichen Altertümlichkeit zeitlos blieben bzw. durch das Alter noch an Reiz hinzugewannen.

|Back to basics|

Verlassen kann man sich glücklicherweise auf Dannay & Lee als Plot-Schneider. Während sie Ellery Queen behutsam neu gestalteten, unterzogen sie auch das Krimi-Element ihrer Romane einer Modernisierung. Die Fälle wurden nach 1939 zunehmend straffer, die überbordende Exotik mancher Auflösung wurde auf ein realistisches Maß zurückgefahren. Die Plots waren eleganter, weil das Autorenduo sich nicht mehr in fantastische Tricks flüchten konnte und wollte.

Spannung erzeugten sie quasi filmisch, d. h. durch Tempo und rasche Szenenwechsel. Ein gutes Beispiel ist die als „court drama“ dargestellte Gerichtsverhandlung gegen Jim Haight. Dannay & Lee ziehen alle Register des Spannungsaufbaus. Sie lassen Humor und Sarkasmus einfließen, um im nächsten Moment tragisch zu werden. In diesen Passagen haben die Autoren ihre Leser fest im Griff, hier kann sich auch der ’neue‘ Ellery Queen erfolgreich entfalten. Auch historischer Realismus hat in diesem Umfeld Platz; mehrfach findet Erwähnung, dass die USA zum Zeitpunkt des Geschehens just in den II. Weltkrieg eingetreten sind und eine „Heimatfront“ im Aufbau ist.

Wrightsville diente Dannay & Lee als Mikrokosmos, in dessen Höllenfeuer sie ihre Plots schmieden konnten, bis sie die gewünschte Härte erreicht hatten. In „Schatten über Wrightsville“ kam Ellery Queen zum ersten Mal nach Wrightsville. Noch dreimal reiste er in Sachen Mord dorthin; 1945 in „The Murderer Is a Fox“ (dt. „Der Mörder ist ein Fuchs“), 1948 in „Ten Days Wonder“ (dt. „Der zehnte Tag“) und 1950 in „Double, Double!“ (dt. „… und raus bist du!“). Anschließend versuchten Dannay & Lee wieder etwas anderes mit ihrem wandelbaren Detektiv.

|“Schatten über Wrightsville“ – der Film|

Kurioserweise erregte der 15. „Ellery Queen“-Thriller trotz des hübschen, viel versprechenden Originaltitels und seiner dramatischen Story nie das Interesse Hollywoods. Als „Calamity Town“ 1979 doch verfilmt wurde, geschah dies in Japan. „Haitatsu sarenai santsu no tegami“ – „The Three Undelivered Letters“ – hieß das 130-minütige, vom Drehbuchautoren Kaneto Shindô adaptierte Werk, zu dessen Premiere (laut [Autorenhomepage]http://www.elleryqueen.us Frederic Dannay, die überlebende Hälfte des Autorenduos Ellery Queen, nach Tokio reiste.

|Anmerkung zur deutschen Übersetzung|

„Schatten über Wrightsville“ gehört zu den Krimis, denen in der Übersetzung Böses geschah: Während die erste deutschsprachige Ausgabe bereits 1949 und ungekürzt erschien, geriet der Titel für die Neuauflage in den unter Krimi-Freunden berüchtigten Ullstein-Häcksler, dem er nur um 100 Seiten gefleddert entkam. Diese Fassung sollte der Leser deshalb mit Missachtung strafen.

Die Erstausgabe aus dem Scherz Verlag ist allerdings antiquarisch nur schwer und dann teuer zu bekommen. Es gibt jedoch eine kostengünstige Alternative: Die Übersetzung von 1949 erschien 1966 als Teil eines Sammelbandes im Eduard Kaiser Verlag. Dieses Buch wird recht häufig angeboten. Wer „Schatten über Wrightsville“ eher lesen als sammeln möchte, ist mit diesem Dreifachband gut bedient, der zudem zwei weitere lesenswerte (und ungekürzte) Krimi-Klassiker enthält: „Die warnenden Affen“ (von Mignon G. Eberhart) und „Mord in der Klinik“ (von Ngaio Marsh). An die doch sehr angestaubte, von halb oder gänzlich vergessenen Ausdrücken wimmelnde Alt-Übersetzung – wer sagt heute noch „stieläugig“ statt „betrunken“ oder wagt es, ein Mitglied des weiblichen Geschlechts als „Frauenzimmer“ zu bezeichnen? – kann man sich gewöhnen; sie ist ein geringer Preis für ein vollständiges Lektüre-Vergnügen!

_Autoren:_

Mehr als vier Jahrzehnte umspannt die Karriere der Vettern Frederic Dannay (alias Daniel Nathan, 1905-1982) und Manfred Bennington Lee (alias Manford Lepofsky, 1905-1971), die 1928 im Rahmen eines Wettbewerbs mit „The Roman Hat Mystery“ als Kriminalroman-Autoren debütierten. Dieses war auch das erste Abenteuer des Gentleman-Ermittlers Ellery Queen, dem noch 25 weitere folgen sollten.

Dabei half die Fähigkeit, die Leserschaft mit den damals beliebten, möglichst vertrackten Kriminalplots angenehm zu verwirren. Ein Schlüssel zum Erfolg war aber auch das Pseudonym. Ursprünglich hatten es Dannay und Lee erfunden, weil dies eine Bedingung des besagten Wettbewerbs war. Ohne Absicht hatten sie damit den Stein der Weisen gefunden: Das Publikum verinnerlichte sogleich die scheinbare Identität des ‚realen‘ Schriftstellers Ellery Queen mit dem Amateur-Detektiv Ellery Queen, der sich wiederum seinen Lebensunterhalt als Autor von Kriminalromanen verdient!

In den späteren Jahren verbarg das Markenzeichen Queen zudem, dass hinter den Kulissen zunehmend andere Verfasser tätig wurden. Lee wurde Anfang der 1960er Jahre schwer krank und litt an einer Schreibblockade, Dannay gingen allmählich die Ideen aus, während die Leser nach neuen Abenteuern verlangten. Daher wurden viele der neuen Romane unter der mehr oder weniger straffen Aufsicht der Cousins von Ghostwritern geschrieben.

Wer sich über Ellery Queen – den (fiktiven) Detektiv wie das (reale) Autoren-Duo – informieren möchte, stößt im Internet auf eine wahre Flut einschlägiger Websites, die ihrerseits eindrucksvoll vom Status dieses Krimihelden künden. Vielleicht die schönste Homepage findet man [hinter diesem Link]http://neptune.spaceports.com/~queen . Eine Fundgrube für alle möglichen und unmöglichen Queenarien.

|Originaltitel: Calamity Town (Boston : Little, Brown, and Company 1942/London : Victor Gollancz 1942)
Deutsche Erstausgabe: 1949 (Scherz Verlag/Die schwarzen Kriminalromane 24)
Übersetzung: N. N., 239 Seiten, [keine ISBN]

Bisher letzte Ausgabe: 1977 (Ullstein Verlag/Ullstein-Krimi Nr. 1809)
Übersetzung: N. N., 143 Seiten, ISBN-13: 978-3-548-01809-6|
[www.ullsteinverlag.de]http://www.ullsteinverlag.de

_“Ellery Queen“ bei |Buchwurm.info|:_
[„Chinesische Mandarinen“ 222
[„Der nackte Tod“ 362
[„Drachenzähne“ 833
[„Das Geheimnis der weißen Schuhe“ 1921
[„Die siamesischen Zwillinge“ 3352
[„Der verschwundene Revolver“ 4712
[„Der Giftbecher“ 4888
[„Das Haus auf halber Straße“ 5899
[„Und raus bist du!“ 6335

Clifford D. Simak – Als es noch Menschen gab

simak-menschen-cover-2010-kleinIn neun Geschichten erzählt der Verfasser vom Ende der Menschheit, das hier ohne Krieg und Gewalt stattfindet, sondern einerseits evolutionär begründet ist und andererseits gesteuert wird, wobei alte Untugenden immer wieder durchschlagen und schließlich einen radikalen Neubeginn erforderlich machen … – Geprägt von der Furcht vor einem III. und atomaren Weltkrieg, stellt der Verfasser grundsätzliche Fragen über das menschliche Wesen; er kommt zu eher pessimistischen Schlüssen, ohne darüber zu verzweifeln: Was verdächtig nach philosophischem Bierernst klingt, liest sich leicht melancholisch aber sehr unterhaltsam.
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Cyril Hare – Der Tote von Exmoor

Hare Exmoor Cover kleinDas geschieht:

Ungute Kindheitserinnerungen beschleichen den ältlichen Ex-Anwalt Francis Pettigrew, als ihm seine deutlich jüngere Gattin Eleanor als Urlaubsort ausgerechnet den Flecken Sallowcombe am Rand des großen Exmoors nahe der englischen Westküste vorschlägt. Vor einem halben Jahrhundert hatte er dort als Kind am Hang von Bolter’s Tussock eine Leiche gefunden, aber im Schreck nie davon erzählt.

Nun kehrt er zurück. Wider Erwarten gefällt es ihm, obwohl der Joliffe-Hof, auf dem das Ehepaar unterkommt, kein glücklicher Ort ist. Der alte Joliffe ist ein Tyrann, seine Tochter Edna wurde von ihrem nichtsnutzigen Gatten John Gorman mit zwei Töchtern sitzen gelassen. Die Gormans selbst sind ein hart am Rande der Legalität versippter Groß-Clan, dessen liebste Beschäftigung das gegenseitige Verklagen ist. Die Feindschaft ist schlimmer denn je, denn der alte Gilbert Gorman, der als reicher Mann gilt, liegt im Sterben. Seine Verwandtschaft lauert auf die Erbschaft.

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Upfield, Arthur W. – Ein glücklicher Zufall

_Das geschieht:_

Windee Station, eine Farm im Südwesten des australischen Bundesstaates Neusüdwales; mehr als eine halbe Million Hektar von der Sonne verbranntes, ausgedörrtes Land, das nichtsdestotrotz 70.000 Schafe ernährt und den Besitzer Jeffrey Stanton zu einem reichen Mann gemacht haben. Jeff, wie ihn sogar seine Arbeiter zu nennen pflegen, ist ein harter, aber gerechter Selfmade-Mann, ein Witwer, mit einer tüchtigen Tochter gesegnet und mit einem trinkfesten Sohn geschlagen.

Vor etwa zwei Monaten hat sich auf Windee Station Seltsames zugetragen. Ein Mann, der sich Luke Marks nannte, hatte Stanton, angeblich ein alter Freund, besucht. Einige Tage später fand man seinen Wagen in einem öden Landstrich – leer, vom Fahrer keine Spur. Eine ausgedehnte Suche blieb erfolglos, Marks verschwunden.

Dem aufmerksamen Inspektor Napoleon Bonaparte von der Polizei in Queensland ist dieser Fall zu Ohren gekommen. Der Sohn eines weißen Vaters und einer Aborigines-Mutter ist ein ausgezeichneter Kriminalist und Spurenleser, der auch dort seinen Fall zu lösen pflegt, wo seine Kollegen – in diesem Fall der eifrige aber überlastete Sergeant Morris – aufgeben müssen. „Bony“, wie der eigenwillige Bonaparte genannt wird, reist nach Windee Station. Er entdeckt, dass Marks ein korrupter Beamte der Gewerbepolizei von Neusüdwales mit Namen Green war, der sich davongemacht hatte, weil der Boden zu heiß für ihn wurde.

Dass Green nicht mehr lebt, ist Bony rasch klar. Dort, wo sein Wagen gefunden wurde, haben Eingeborene ein Zeichen hinterlassen: „Hütet Euch vor bösen Geistern; hier wurde ein weißer Mann getötet.“ Bony lässt sich vom ahnungslosen Stanton als Farmarbeiter anstellen. So lernt er Windee Station und seine Bewohner kennen. Die Spur wird heiß, als ihm am Tatort eine Ameise einen Diamanten vor die Füße wirft. Dann bekommt Bony es plötzlich mit drei Mördern, einer verzweifelten Braut und einer heißblütigen Erpresserin zu tun und ist fast dankbar, mit einem Buschfeuer auf den Fersen in die Wüste fliehen zu können …

_Die von allen Ablenkungen befreite Kulisse_

Eine sehr einfache Kriminalgeschichte, eingebettet in ein fremdes Land mit einer exotischen Kultur, das Ganze kenntnisreich und gekonnt erzählt: Dies ist das Geheimnis des Erfolgs, der die „Bony“-Romane des Arthur W. Upfield unsterblich werden ließ. „Ein glücklicher Zufall“ bildet keine Ausnahme. Lakonisch und unsentimental, dabei genau beobachtend, schreibt jemand über eine Welt, die er versteht. Genretypische Effekte wie Verfolgungsjagden und Schießereien fehlen gänzlich, die Bluttat ist längst geschehen, als die Handlung einsetzt. Den Hintergrund des Finales bildet stattdessen ein gewaltiges Buschfeuer, das einen wahrlich eindrucksvollen Rahmen für die sehr versöhnliche Auflösung dieses Falles liefert.

Dass Windee Station und die winzige Ortschaft Mount Lion auch im Wilden Westen der Vereinigten Staaten stehen könnten, ist natürlich auch dem Verfasser aufgefallen. Er treibt seine Späße damit, dass hier Schafe statt Rinder getrieben und nicht Bisons, sondern Kängurus gejagt werden. Die stantonschen Arbeiter geben sich wie Cowboys, nur dass sie auf ihrer nachmittäglichen Teestunde bestehen. Sogar Indianer gibt es in dieser Geschichte: Sie werden von den Aborigines vertreten, die mit den weißen Herren ihres Heimatlandes immerhin in friedlicher Koexistenz leben.

Die ruhige, aber niemals betuliche Handlung lässt Raum für schnurrige Episoden mit handfesten Gottesleuten oder unkonventionellen Gastwirten, erzählt vom geheimen oder geheimnisvollen Leben der Aborigines und lässt bei so viel Staub und Hitze die Kehle schon beim Lesen trocken werden.

|Polizist zwischen zwei Welten|

|“Von seiner Mutter hatte er das Nomadenblut, die scharfen Augen und die Jagdleidenschaft geerbt, seinem Vater verdankte er die Beherrschtheit seines Wesens und die Fähigkeit, logisch zu denken.“|

So wird uns Napoleon Bonaparte, kurz „Bony“ genannt, vom Verfasser vorgestellt. Ein wenig verunglückt ist ihm dies aus heutiger Sicht, da inzwischen nur mehr Rassisten und Dummköpfe in Frage stellen, dass auch ‚reinblütige‘ Aborigines über die Gabe des logischen Denkens verfügen. Dabei war Upfield sicherlich kein verkappter Kolonialherr, der die „Nigger“ Australiens – als solche bezeichnet sie der honorige Stanton, ohne sich groß etwas dabei zu denken – als Menschen zweiter Klasse betrachtete, sondern kann nach den Maßstäben seines Zeitalters durchaus als aufgeklärt gelten.

Bony ist ein selbstbewusster Mann, der sich nicht in die „Ja, Massa!“-Ecke abdrängen lässt. Er hat sich trotz seiner unkonventionellen Vorgehensweisen als Kriminalist einen Namen bei Weiß und Schwarz gemacht, beauftragt sich notfalls selbst mit einer Ermittlung und ist mit sich und seiner Herkunft im Reinen; Sergeant Morris springt jedenfalls rasch vom Pferd als er merkt, wer da vor ihm steht, und auch Bony lässt keine Zweifel aufkommen, wer hier das Sagen hat. So war es ein kluger Schachzug Upfields, Bony in beiden australischen Welten zu verankern. Es erweitert den Spielraum möglicher Handlungen beträchtlich und fügt dem Krimi eine buchstäblich menschliche Komponente bei.

|Die Zeiten ändern sich – hoffentlich|

Wenn die Schilderung der Aborigines trotzdem hier und da unangenehm aufstößt, so liegt das primär an der Übersetzung. Sie liest sich nicht nur unter politisch korrekten Aspekten anachronistisch, sondern klingt auch dem nicht moralisch zwangserregten Zeitgenossen heute beleidigend im Ohr. Pidgin-Englisch lässt Aborigines nicht so radebrechen: |“Nein, nein Boß. Schwarzer all right. Guter Kerl. Du Mehl geben, ja?“| Aber so klang es halt, wenn im deutschen Unterhaltungsroman der 1950er Jahre „Neger“ und andere „Wilde“ zu Wort kamen.

Ob oder in welchem Maße die übrigen Bewohner von Windee Station oder Mount Lion überzeichnet sind, ist heute schwer zu entscheiden, nachdem sich im Gefolge von Crocodile Dundee eine Flut grausiger Aussie-Klamotten über die Bewohner der nördlichen Erdhemisphäre ergossen hat. Es müssen jedenfalls außergewöhnliche bzw. außergewöhnlich verschrobene Zeitgenossen sein, die sich – nicht immer freiwillig, wie Upfield deutlich zu machen versteht – in ein solches Leben voll Hitze, Einsamkeit und Öde fügen.

_Autor_

Arthur William Upfield wurde 1888 im südenglischen Gosport geboren. Das schwarze Schaf seiner Familie wurde von dieser 1902 Jahren nach Australien geschickt. Dort streifte Upfield als Gelegenheitsarbeiter durch das Outback. Pelztierjäger war er, Schafzüchter, Goldsucher und Opalschürfer – ohne besonderen Erfolg dies alles, aber reich an Erfahrungen geworden, die Upfield ab 1929 in 28 Kriminalromanen um Inspektor Napoleon „Bony“ Bonaparte nutzen konnte.

Zu seinen Lebzeiten war Upfield erfolgreich, aber bei der Kritik nicht gut angesehen. Das hat sich grundlegend und zu Recht geändert. Heute zählen Upfields „Bony“-Romane mit ihren grandiosen Landschaftsschilderungen und dem sichtlichen Hintergrundwissen über die Kultur der australischen Ureinwohner zu den Klassikern des ‚ethnologischen‘ Kriminalromans. Das mag zu der in Deutschland ansonsten seltenen, für den Leser aber erfreulichen Tatsache beitragen, dass die „Bony“-Romane immer wieder neu aufgelegt werden.

An seinen zweiten „Bony“-Roman sollte Upfield übrigens noch lange denken. Er hatte Ende der 1920er Jahre auf einer Farm gearbeitet und dabei mit den Arbeitern des Feierabends ausgiebig über den perfekten Mord diskutiert. Die Lösung entsprach dem späteren Ende des Luke Marks. Als einer der Farmarbeiter 1932 in die Tat umsetzte, was er gelernt hatte (ohne freilich gründlich genug zu sein), wurde Upfield vor Gericht gestellt. Man versuchte ihn wegen Beihilfe dranzukriegen, was jedoch misslang. (Der eigentliche Schurke musste trotzdem hängen.)

Arthur W. Upfield starb 1964. Im Internet ist der Verfasser u. a. [auf dieser Homepage]http://homepage.mac.com/klock/upfield/upfield.html vertreten.

|Taschenbuch: 221 Seiten
Originaltitel: The Sands of Windee (London : Hutchinson 1931)
Aus dem Englischen von Heinz Otto
ISBN-13: 978-3-442-01044-8
Deutsche Erstausgabe: 1958 (Wilhelm Goldmann Verlag/Goldmanns Krimi K 215), 181 Seiten, keine ISBN|
[www.randomhouse/goldmann-verlag.de]http://www.randomhouse/goldmann-verlag.de

Rayne, Sarah – Todeskammer, Die

_Das geschieht:_

Seit 1790 steht Calvary Goal auf einem Hügel unweit des Dorfes Thornbeck in der englischen Grafschaft Cumbria. Das große Gefängnis wurde berühmt und berüchtigt durch seine fleißig genutzte Todeskammer, in der mehr als 800 Schwerverbrecher gehängt wurden. Schon lange steht der alte Bau leer, ist baufällig und soll verkauft werden. Um die Werbetrommel für Calvary Goal zu rühren, hat man dem Dokumentarfilmer C. R. Ingram gestattet, mit einigen Studenten ein fragwürdiges Experiment zu inszenieren: Der blinde Schriftsteller Jude Stratton soll eine Nacht in der Todeskammer verbringen und herausfinden, ob es dort womöglich umgeht.

Anderenorts bekam Georgina Grey gerade Post von der „Caradoc-Gesellschaft“, die sich nach fast einem Jahrhundert der Erforschung übersinnlicher Phänomene auflösen will. Ihr Urgroßvater Walter Kane, Gefängnisarzt in Calvary Goal, hatte die Arbeit der Gesellschaft durch ein finanzielles Legat gefördert. Die verbliebenen Mittel sollen nun an Georgina als letzte Erbin zurückfließen. Von ihrem Lebensgefährten verlassen und ruiniert, käme ihr dieses Geld Georgina gerade recht, sodass sie sich umgehend nach Thornbeck begibt.

Dort hütet Vincent Meade, Sekretär der Gesellschaft, ängstlich die Geheimnisse einer turbulenten Vergangenheit, in der Calvary Goal immer wieder von Skandalen und kriminellen Umtrieben erschüttert wurde. Da Meade selbst Teil dieser unterdrückten Geschichte ist, will er Georgina, die diverse entlarvende Papiere erben wird, notfalls mit Gewalt mundtot machen. Eine weitere Nacht, die Jude Stratton mit der inzwischen zum Fernsehteam gestoßenen Georgina unter dem Galgen von Calvary Goal verbringen wird, verschafft Mead die ideale Ausgangsposition …

_Schauerliche Komödie auf diversen Zeitebenen_

Manches Buch liest man, während und obwohl man sich von Seite zu Seite lauter fragt, was um Himmels willen der Verfasser (oder in unserem Fall die Verfasserin) uns da vorsetzt. „Todeskammer“ – das sind 550 Seiten einer absurden Krimi- und Schauermär, die man weder ernst nehmen mag noch kann, obwohl Sarah Rayne in diesem Punkt möglicherweise gänzlich anderer Meinung ist, denn sie hat sich sichtlich Mühe gegeben mit ihrem Plot, der parallel auf vier Zeitebenen spielt, die im Verlauf des Geschehens immer dichter miteinander verschränkt werden. Calvary Goal wird Dreh- und Angelpunkt einer Geschichte, die 1917 beginnt, 1938 ihre rasante Fortsetzung findet, 1958 gewaltsam auflebt und im 21. Jahrhundert in einem vor Mord & Spuk & Schwachsinn förmlich berstenden Höhepunkt gipfelt.

Eigentliches Zentrum der Geschichte ist der Hinrichtungstrakt des alten Gefängnisses. Wenn Rayne das Zeremoniell der staatlich legalisierten Menschentötung schildert, läuft sie zur Hochform auf. Die Autorin hat ausgiebig recherchiert. Ihre Darstellungen sind präzise, und sie verfügt durchaus über das schriftstellerische Talent, um Schrecken und Komik des Alltags in der Todeszelle auszumalen.

Beide Emotionen sind enge Verwandte. Zwar werden in Calvary Goal Menschen quasi in Serie umgebracht. Trotzdem hat sich hier eine sehr lebendige und farbenfrohe Gesellschaft mit dem Tod eingerichtet. Es wird intrigiert, die Ehe gebrochen und das Gesetz sabotiert, dass es die reine Freude ist. Zum idealen Sendboten des Unheils mutiert der verlotterte, verfressene, moralisch marode Wärter Saul Ketch, der stets zur falschen Zeit am richtigen Ort auftaucht und als griechischer Ein-Mann-Chor die Ereignisse auf unnachahmliche Weise kommentiert.

|Der Zufall macht viele Überstunden|

Dass Ketches komische Eskapaden sich wenig harmonisch in das Gesamtgefüge dieser Geschichte integrieren, darf nicht weiter stören, da „Todeskammer“ zwar eine Story und einen roten Faden, aber keine stringente Struktur besitzt. Von einem Kapitel zum nächsten kann die Stimmung zwischen Dramatik und Slapstick changieren, wobei wie schon angedeutet fraglich ist, ob Rayne dies so gewollt hat. Als Kitt dient den Szenen eine gewisse Gefühlsduseligkeit, da Rayne ein Faible für ‚tragische‘ Liebesgeschichten hat, die im Umfeld der „Todeskammer“ (glücklicherweise) nur selten funktionieren.

Die Komik – sei sie nun echt oder unfreiwillig – wirkt auch deshalb, weil die Verfasserin quasi schreibt, ohne eine Miene zu verziehen. Der Grundton bleibt bierernst, was die bizarren Plot-Kapriolen erst recht glänzen lässt. So gibt es kaum eine Hauptfigur ohne mindestens zwei Identitäten. Der Leser findet es ebenso grandios wie abstrus, wenn Rayne wieder einmal Lebensläufe miteinander verschmilzt, wobei sie die Gesetze der Wahrscheinlichkeit völlig ignoriert. Der Zufall triumphiert mit einer Dominanz, die ihm jeden Ernst raubt. Todeszelle und Hinrichtungskammer verwandeln sich in das Bühnenbild einer Boulevardkomödie. Wo sich dort heimliche Liebhaber in Schränken verstecken, kommt es hier unter dem Galgen zu Verwechslungen und Verwirrungen. Ständig wird der oder die Falsche gehängt, überleben Todeskandidaten, flüchten und kehren in anderer Gestalt zurück.

Die Grenzen zwischen ehrbaren Gesetzesdienern und -brechern sind jederzeit fließend. Aus Patrioten werden Serienmörder, während unschuldige Schönheiten den Wahnsinn unverdünnt vererben. Ein Arzt mutiert zum „mad scientist“, der unbedingt das Gewicht der menschlichen Seele ermitteln will, eine gramgebeugte Adelsfrau verfällt dem Spiritismus, der sich als Sammelbecken dreister aber ebenfalls übergeschnappter Betrüger entpuppt.

Die Gegenwart ist keineswegs ruhiger. Das Fernsehen schickt eine primär von sich selbst überzeugte Gruppe von ‚Dokumentarfilmern‘ nach Thornbeck, die mit der Wahrheit wenig am Hut haben und um des Sensationseffektes u. a. einen blinden Ex-Journalisten ‚ermitteln‘ lassen. Eine ziemlich dumme Frau schließt sich ihnen an und gerät ahnungslos auf die Spuren alter Geheimnisse, die exakt jenen einen Menschen aktiv werden lassen, der sich von ihnen bedroht fühlen muss. Dies setzt eine neue Lawine obskurer Untaten in Gang, die den weiter oben bereits erwähnten Zufall höchstens völlig betrunken am Werk zeigen. Weil Sarah Rayne einst Liebesromane produzierte, kann sie nicht widerstehen und zimmert eine Holzhammer-Romanze hinzu, die womöglich erneut satirisch gemeint ist.

|Geister kommen auch vor|

Um der bösen Geißel „Glaubwürdigkeit“ endgültig den Garaus zu machen, verschneidet Rayne das hoch kriminelle Treiben grob mit diversen Elementen des Schauerromans. Grundsätzlich ist dies eine ehrwürdige Tradition im klassischen Krimi, der sich u. a. John Dickson Carr (1906-1977) gern und gut bediente (und in „Hag’s Nook“, dt. „Tod im Hexenwinkel“, 1933 ebenfalls ein aufgelassenes Gefängnis, in dem es zu spuken scheint, als Schauplatz nutzte). Rayne entwirft liebevoll eine an Grausigkeiten reiche Gefängnis-Geschichte, die Geister eigentlich produzieren _muss_. Ganz in der Tradition der Klassiker fügt sie ihrem Roman einen Übersichtsplan bei, mit dessen Hilfe man verfolgen kann, wo Gut und Böse durch Flure und Zellen tappen. (Dort findet man u. a. einen kleinen aber für die Handlung wichtigen Schuppen, in dem der Ätzkalk-Vorrat der Anstalt lagert, über dessen Verwendung Rayne viel Interessantes zu berichten weiß …) Wundert sich jemand, dass sich aller Spuk letztlich als Humbug erweist? Einmal mehr wirft Rayne eifrig Nebelkerzen. Dabei kann ihr auch ohne Geister beim besten Willen kein Leser im wüsten Gewirr ihrer Gefängnis-Mär auf die Schliche kommen.

„Todeskammer“ ist somit Krimi-Trash pur. Das Lektüre-Vergnügen ist dennoch erheblich, weil die Autorin das Handwerk des Schreibens versteht und ihr diesbezügliches Können auch die Übersetzung überstanden hat. (Oder verdanken wir etwa der Übersetzerin dieses seltsame Schillern zwischen dramatischem Ernst und markerschütternder Komödie?)

_Autorin_

Sarah Rayne wurde am 12. April 1947 als Bridget Wood geboren. Nach eigener Auskunft begann sie als Tochter eines irischen Komödienautors bereits als Teenager zu schreiben. Sie besuchte eine Klosterschule; anschließend begann die, für später erfolgreiche Schriftsteller offenbar obligatorische, Odyssee durch unzählige Kurzzeit-Jobs.

Erst 1982 gelang Wood die Veröffentlichung ihres Romanerstlings. „Mask of the Fox“ erschien unter ihrem Geburtsnamen, den sie als Autorin bis 1994 beibehielt. In dieser Phase veröffentlichte sie Fantasy- und Gruselgeschichten, die sie mit jenen romantischen Einlagen verschnitt, die vor allem Leserinnen schon schätzten, bevor Stephenie Meyer & Co. die Schreckensherrschaft der saft- und kraftlosen Bellas und Edwards einläuteten. Hervorzuheben ist die vierteilige „Wolfking“-Serie, die in einem postatomaren Irland spielt und allerlei ‚keltische‘ Plump-Klischees bedient.

Ab 1994 wechselte Wood zum Pseudonym „Frances Gordon“, doch ihr Programm blieb unverändert; höchstens der Schmalz-Anteil ihrer romantischen, von Uralt-Flüchen und reinkarnierten Finsterbolden wimmelnden Horror-Schinken stieg. 2003 wechselte Wood abermals das Pferd bzw. ihr Pseudonym. Als „Sarah Rayne“ schreibt sie nunmehr „psychologische Thriller“, die jedoch – die Leserinnen seien beruhigt – weiterhin tief in der weiblichen Seele gründeln.

|Taschenbuch: 544 Seiten
Originaltitel: The Death Chamber (London : Simon & Schuster UK Ltd. 2008)
Übersetzung: Ursula Bischoff
ISBN-13: 978-3-442-47033-4

eBook: April 2010 (Wilhelm Goldmann Verlag), ISBN-13: 978-3-641-04377-3|
[www.randomhouse.de/goldmann]http://www.randomhouse.de/goldmann

Sigler, Scott – EarthCore

_Das geschieht_

Der alte Prospektor Sonny McGuiness kann sein Glück kaum fassen, als er in den Bergen der Wah-Wah-Moutains tief in der Wüste des US-Staates Utah auf die legendäre Jessup-Mine stößt. Anderthalb Jahrhundert war sie verschollen, und noch länger gilt sie bei den Ureinwohnern der Region als verflucht, da Goldgräber und später Höhlenforscher hier beunruhigend regelmäßig spurlos verschwanden. Zuletzt ereilte 1942 drei Studenten dieses Schicksal, aber zuvor bargen sie ein seltsames, viele Jahrtausende altes Messer aus purem Platin, das für Menschenhände untauglich wirkt. Die Archäologin Veronica Reeves hat ein gussgleiches Messer in Argentinien entdeckt; offenbar gab oder gibt es im Inneren der Erde eine uralte, mächtige Kultur, die den „oben“ lebenden Menschen feindlich gesonnen ist.

Eine wissenschaftliche Untersuchung der Fundstätte in Utah ist allerdings nicht möglich. Der mächtige, sowohl rechtlich als auch moralisch außerhalb der Norm agierende EarthCore-Konzern ist McGuiness auf die Schliche gekommen und hat ihn zur „Zusammenarbeit“ erpresst. Modernste Technik wird heimlich zur Mine geschafft, die sich als gewaltiges, künstlich geschaffenes Höhlensystem entpuppt, dessen Zentrum ein gewaltiger, unermesslich wertvoller Block puren Platins bildet. Diesen Schatz will EarthCore-Manager Connell Kirkland mit wirklich allen Mitteln sowohl geheim halten als auch heben. Dazu bedient er sich notfalls der psychopathischen Killerin Kayla Meyers, die freilich längst das Lager gewechselt hat und das Wissen um die Mine an EarthCores Konkurrenz verkaufen will.

Fünf Kilometer dringt die Bohrfräse in die Erdkruste vor. In ewiger Dunkelheit stören die (neu-) gierig dorthin vorrückenden Menschen, zu denen sich inzwischen Veronica Reeves gesellt hat, Kreaturen auf, die spinnefeind auf die Gäste aus der Helligkeit reagieren. Entschlossen, die Eindringlinge auszurotten, strömen sie aus der Tiefe, um ihre planvoll von der Außenwelt abgeschnittenen Opfer zu zerschnetzeln …

_Schatten und Dinge, die in ihnen lauern_

Uralte Furcht und Hightech-Wissen: Theoretisch sollte das Wissen den meisten Ängsten den Garaus machen. Doch das menschliche Reptilien-Gehirn ist noch präsent, und es greift nach wie vor steuernd in die Angriffs- und Verteidigungs-Aktivitäten seines Trägers ein, dessen Bauplan nie wirklich grundlegend modernisiert wurde. Gespeichert blieben und abgerufen werden deshalb Reize und Reaktionen, die dem urzeitlichen Höhlenbewohner angemessener sind als dem selbstbewussten Herrn oder der Dame der Schöpfung.

Wer dies auf die Probe stellen möchte, begebe sich im Einklang mit der Handlung dieses Romans in eine Höhle und schalte tief in deren Inneren das Licht ab. Selbst der Skeptiker wird nach kurzer Zeit erleben, wie die Vernunft mit archaischer Beklemmung zu kämpfen beginnt. Dass Ohren, Nase und Haut die Sinnesaufgaben der Augen zu übernehmen beginnen, bietet dabei keinen Trost, da der Mensch der Jetztzeit solche Signale nicht mehr korrekt auszuwerten weiß. Unbeeinträchtigt bleibt jedoch seine Vorstellungskraft. Diese stimuliert besagtes Reptilien-Gehirn, und das drückt den Alarmknopf.

Somit bietet eine Höhle ideale Voraussetzungen für spannende Geschichten, obwohl die thematische Spannbreite beschränkt bleibt: Es kann im Grunde immer nur darum gehen, dass in der Dunkelheit jemand hockt, der sich besser orientieren kann als das zitternde Opfer. Dieser Plot funktioniert jedoch prächtig. Wir wissen, dass hinter der nächsten Biegung kein Höhlenbär mehr auf uns wartet. Trotzdem stellen sich unsere Haare immer noch auf, selbst wenn wir über eine Expedition ins düstere Innere der Erde nur lesen.

|Das Angst-Eisen schmieden, bis es heiß wird|

Das Vergnügen steigt, wenn sich ein Autor wie Scott Sigler des Jobs annimmt, seine Leser in Angst & Schrecken zu versetzen. Literarische Ehren wird er zwar kaum jemals beanspruchen dürfen, doch in Sachen Unterhaltung ist sein Talent außerordentlich. „EarthCore“ ist ein Weird-&-Science-Fiction-Thriller der trivialen Art: ein „No-Brainer“, wie Sigler selbst sein Werk nennt. Originelle Ideen wird der Leser nicht finden. Die Story ist – freundlich umschrieben – gut abgehangen, die Figuren wurden aus den Tiefen der Klischee-Kiste hervorgelockt, die noch unter dem Handlungsort zu orten sein dürften.

Dem Spaß tut dies keinen Abbruch, denn Sigler umgeht die daraus eigentlich automatisch resultierende Abklatsch-Ödnis, indem er die Kopie kräftig nachfärbt. „EarthCore“ ist reines, gelungenes Fabulieren. Sigler hat ein erstaunliches Gespür für Timing. Die Spannung wird klassisch langsam aufgebaut, wobei sorgsam vielversprechende Hinweise auf das sich anbahnende Grauen eingestreut werden. Selbstverständlich ist die alte Mine verflucht; für entsprechende Vorfälle gibt es „historische“ Quellen, die Sigler seine Protagonisten in stimmungsvoll verstaubten Archiven finden lässt.

Obwohl die Figuren dem Baukasten des trivialen Abenteuers entnommen wurden, bemüht sich Sigler um Ambivalenz. „Gut“ und „böse“ werden sorgfältig miteinander verwoben. Selbst die sadistische Kayla hat ihre schwachen Momente. Eine Figurenentwicklung ist ausdrücklich Element des Roman-Konzepts. Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, dass dies tatsächlich funktioniert. Zu allem erfreulichen Überfluss reibt uns der Verfasser solche emotionalen Momente nicht aufdringlich unter die Nase, sondern integriert sie geschmeidig in die Handlung, die dadurch keine Sekunde ins Stocken gerät – eine Talent, über das nicht gerade viele „No-Brainer“-Autoren verfügen.

|An alle Leser wird gedacht|

Für den historisch eher desinteressierten Leser bietet „EarthCore“ viel Technobabbel, denn schließlich ist es keine Kleinigkeit, ein Fünf-Kilometer-Loch in die Erdkruste zu bohren. Hightech überwindet zudem reale Hindernisse, die sich auf dir Handlung auswirken könnten; beispielsweise ist die enorme Abbildungskraft der beschriebenen Erdschichten-Tomografie reines Wunschdenken. Auch sonst bedient sich Sigler gern aus dem Fundus der Science Fiction. Den Leser stört dies nicht, denn er ist daran gewöhnt, dass man ihm naturwissenschaftliche und technische Superleistungen vorgaukelt – beschwert sich etwa jemand über die Märchen-Labors in den „CSI“-TV-Serien?

Allemal erweist sich „EarthCore“ als wahre Wundertüte. Aus einem Mystery- und Wissenschafts-Thriller wird eine Abenteuer-Geschichte, in der schließlich „echte“ SF-Elemente die Oberhand gewinnen. Genrereinheit war und ist weder Vorschrift noch Tugend, doch selten wirkt die Mixtur so harmonisch wie hier. Dabei erschien „EarthCore“ ursprünglich als Fortsetzungsroman. Die „Nähte“ zwischen den Episoden hat der Verfasser sauber kaschiert.

Selbst eine übliche und typische Enttäuschung hält sich in Grenzen: Ist die Katze aus dem Sack, entpuppt sie sich in der Regel als sehr gewöhnliche Kreatur. Auch die Silberkäfer und Felskraken aus „EarthCore“ können der zuvor aufgebauten Erwartungshaltung nicht standhalten. Mit seinem unbändigen Erzähldrang vermag Sigler dies zu überspielen. Er verzettelt sich nicht mit unnötigen Nebenschauplätzen, sondern hält die Story geradlinig und hart am Wind. Klug hält er immer neue Details parat, mit dem er unser Interesse entfachen kann. Es bleibt spannend bis zum Schluss; keine geringe Leistung bei einem Roman dieses Umfangs!

Mit „EarthCore“ schließt Scott Sigler nicht nur zu Science-Thriller-Autoren wie Michael Crichton oder Douglas Preston & Lincoln Child auf, sondern deklassiert sie, während grobschlächtige Fließband-Fabulierer wie James Rollins („Sub Terra“) oder Matthew Reilly („Ice Station“) sich schamvoll in noch tiefere Höhlen als Siglers Felskraken verkriechen sollten.

|Eine interessante Veröffentlichungsgeschichte|

Mit „EarthCore“ wollte Scott Sigler 2001 zum Pionier einer damals noch in den Kinderschuhen steckenden Publikationstechnik werden, denn dieser Roman war als eBook geplant. Der Plan zerschlug sich, und ein frustrierter Scott veröffentlichte sein Buch, dessen Rechte an ihn zurückgefallen waren, 2005 als Podcast. Dies hatte noch kein Autor gewagt. Scott setzte auf die Mund-zu-Mund-Propaganda seiner Leser und lag richtig. 2005 erschien „EarthCore“ als gedrucktes Buch in einem Kleinverlag, 2006 als kostenpflichtiger iTunes-Download. Der Erfolg bestärkte Sigler in dem Entschluss, auch zukünftig durch Podcast-„Erstveröffentlichungen“ auf seine Romane aufmerksam zu machen.

In Deutschland wurde Sigler erst 2008 und dann praktisch zeitgleich von zwei Verlagen „entdeckt“. „Infected“ (dt. „Infiziert“) erschien als Taschenbuch im Heyne Verlag, „EarthCore“ gebunden bei Otherworld. Nachdem „Infiziert“ zahlreiche Leser fand und Heyne weitere Titel veröffentlichen wollte, war klar, dass Sigler dorthin wechseln würde, wo man ihn besser bezahlen konnte. 2010 ging auch „EarthCore“ diesen (noch) seltenen Weg von einem deutschen Kleinverlag zu einer modernen Buchfabrik.

_Autor_

Scott Sigler wurde in Cheboygan, US-Staat Michigan, geboren. Hier wuchs er auf und studierte Journalismus und Marketing. Seine dabei erworbenen Kenntnisse kamen Sigler zupass, als er Ende der 1990er Jahre als Autor tätig wurde. Abseits ausgefahrener bzw. blockierter Wege zu den etablierten Printmedien setzte er von Anfang an auf digitale Vertriebswege. „Earthcore“, sein Romanerstling, erschien gratis als Podcast. Das Buch wurde zahlreich heruntergeladen und verschaffte Sigler ein festes Stammpublikum, das er bis heute hält, indem er seine Werke zunächst weiterhin ins Netz stellt; manche Romane und Siglers Kurzgeschichtensammlungen erschienen bisher sogar ausschließlich dort.

Auch mit seinen Fans hält Sigler online über [seine Homepage]http://www.scottsigler.com engen Kontakt. Er reagiert so auf einen Markt, in dem gedruckte Bücher nur mehr ein Segment des Gesamtangebotes bilden. Als literarische Vorbilder bezeichnet Sigler Stephen King und Jack London. Er ist verheiratet, lebt und arbeitet in San Francisco.

|Taschenbuch: 624 Seiten
Originaltitel: Earthcore (2001; als Buch Calgary : Dragon Moon Press 2005)
Aus dem Englischen übersetzt von Michael Krug
ISBN-13: 978-3-453-43507-0 (Hardcover: ISBN-13: 978-3-9026-0704-1)|
[www.otherworld-verlag.de]http://www.otherworld-verlag.de
[www.heyne.de]http://www.heyne.de

Carter, Chris – Kruzifix-Killer, Der

_Das geschieht:_

Robert Hunter gehörte zu den Ermittler-Stars der Polizei von Los Angeles, bis im Vorjahr sein Partner und bester Freund Scott bei einem Bootsunglück starb. An einen Unfall mag Hunter indes nicht recht glauben. Stattdessen ahnt er die Ränken seines schlimmsten Feindes: Vor zwei Jahren trieb der Kruzifix-Killer im Raum Los Angeles sein Unwesen. Mit infernalischem Geschick pflegte er seine Opfer heftig und so lange wie möglich zu foltern. Auf den Leichen hinterließ er sein Markenzeichen: ein doppeltes, in die Haut geschnittenes Kreuz. Schließlich nahmen Hunter und Scott einen Mann fest, der die Bluttaten gestand, verurteilt und später hingerichtet wurde. Schon damals hielt Hunter Farloe für unschuldig.

Der Tod von Scott raubt Hunter den Nachtschlaf, treibt ihn zum Alkohol und beeinträchtigt seine Polizeiarbeit. Darauf hat der echte, immer noch freie Kruzifix-Killer gewartet. Er entführt die Edel-Prostituierte Jenny Farnborough, der er die Haut vom Gesicht zieht, bis sie endlich stirbt. Am Telefon verhöhnt er Hunter und kündigt weitere Morde an. Da der Killer den Kontakt zu Hunter sucht, übernehmen dieser und sein neuer Partner Carlos Carcia den Fall.

Schnell lässt der Killer einen weiteren grässlichen Mord folgen. Daran koppelt er ein infames Spiel: Bevor er tötet, stellt er Hunter eine Aufgabe. Ist dessen Lösung korrekt, bleibt das Opfer am Leben. Allerdings sorgt der Killer dafür, dass dieser Fall möglichst nicht eintritt, sondern Hunter allmählich in den Wahnsinn getrieben wird.

Der ist lange mit kriminologischer Betriebsblindheit geschlagen und außerdem durch eine neue Liebe abgelenkt. Erst in letzter Sekunde findet Hunter heraus, was die Opfer eint, was sich als heiße Spur zum Kruzifix-Killer herausstellt, der allerdings genau jetzt zum blutigen Finale bläst …

_Nicht fabulieren, sondern konstruieren!_

Sie sind partout nicht totzukriegen. An sich kann man mit ihnen leben bzw. sie sogar unterhaltsam finden. Sie dürfen nur nicht alle auf einmal über uns herfallen: Gemeint sind die Klischees des Killer-Thrillers, der mit Hannibal Lecter seinen eigentlichen Beginn nahm, hier seinen Höhepunkt erreichte und bereits sein Ende einläutete. Begabten Autoren gelang es später höchstens, diverse Elemente der Lecter-Mixtur zu verfeinern, zumal auch die psychologische Forschung auf dem Gebiet des Serienmordes voranschritt und auf diese Weise einige Neuansätze bot. Die Trittbrettfahrer des Genres begnügten sich damit, die Zahl der möglichst blutig zu Tode geschundenen Opfer zu steigern.

Chris Carter ist ein solcher Trittbrettfahrer. „Der Kruzifix-Killer“ birst beinahe vor Action und Grauen und ist doch ein konventioneller und erschreckend langweiliger Roman. Nach eingehender Prüfung und selbst mit dem größten Wohlwollen kann dem Verfasser keine neue Idee nachgewiesen werden – wirklich keine einzige! Das darf man fast eine Leistung nennen; eine traurige Leistung allerdings.

Man könnte an dieser Stelle ausführlich die unverändert aufgegriffenen Elemente aus einschlägigen Filmen und Romanen auflisten, mit denen Carter sowohl die Handlung als auch die Figurenzeichnung bestreitet. Diese endlose und deprimierende Arbeit hat sich der Rezensent gespart; sie ist zudem überflüssig, weil sie einen Aspekt nicht berücksichtigt: „Der Kruzifix-Killer“ soll gar kein ‚guter‘ Roman mit frischer Geschichte und lebensechten Figuren sein. Geplant, konzipiert und umgesetzt wurde dieser Thriller als Harpune, mit dem sich sein Verfasser im Speck der modernen Buch-Industrie verankern wollte. Dieser Schuss war ein Volltreffer, was Carter auf seiner Website u. a. mit Schnappschüssen diverser Bestseller-Listen dokumentiert, die das Werk auf vorderen Plätzen zeigen.

|Retorten-Thriller des 21. Jahrhunderts|

Stromlinie bzw. der Verzicht auf Ecken und Kanten heißt der Schlüssel zum Erfolg einer Geschichte, die so lange abgeschliffen wurde, bis sie den Lesern der ganzen Welt gefallen kann. Carter greift außerdem nur Elemente auf, die sich bewährt haben, weil sie nie gegen den Strich gebürstet werden und so möglicherweise irritieren oder verärgern, sondern ausschließlich funktionieren. Was an sich legitim sowie in der Unterhaltungsliteratur üblich ist, ärgert hier durch die besonders kalte und lieblose Realisierung. Carter bemüht sich niemals, sein Recycling zu verschleiern. Er setzt voll und ganz darauf, durch bekannte Muster und quasi auf Knopfdruck das Kino im Kopf einer primär durch Film und Fernsehen geschulten sowie sehr anspruchsarmen Leserschaft in Gang zu setzen.

Darüber hinaus ist „Der Kruzifix-Killer“ ein Buch, das vor allem für Nachwuchs-Leser geschrieben wurde. Sie werden mit einem maßgeschneiderten Thriller bedient. Cop jagt Killer, das Tempo lässt nie nach, und zwischendurch wird es garantiert immer wieder herrlich eklig. Dass die Geschichte altbacken ist, ihre ‚Auflösung‘ durch eine willkürlich ins Geschehen geschnittene Nebenhandlung dreist verzögert und letztlich übers Knie gebrochen wird, die Figuren flach und die Effekte plump und billig sind, interessiert diese Klientel nicht, zumal sie die heiße Nadel (noch) nicht erkennt, mit der Carter sein fadenscheiniges Garn strickt.

|“Se7en“ + „Saw“ = „Der Kruzifix-Killer“|

Blut allein kann den abgebrühten Leser heute nicht mehr schockieren. Das gilt erst recht, wenn der optische Verstärker fehlt, den Film und Fernsehen bieten. Möglichst viele Körperflüssigkeiten müssen strömen und die Opfer dabei leben, zittern und schreien, damit sich der ersehnte Ekel-Effekt einstellt. „Torture Porn“ nennt man dies im Kino; ein ungeliebter Ausdruck, weil er an Seelen-Saiten der Zuschauer rührt, die diese lieber nicht interpretiert wissen möchten.

Immerhin darf man Carter nicht den Vorwurf machen, die Lust am plakativen Grauen zu bemänteln. Er bricht die Realität auf oder gerade in diesem Umfeld bewusst aufs Triviale herunter. Während im wahren Leben der Serienkiller eine niemals charismatische Kreatur ist, wird der Kruzifix-Killer zum dämonischen Übermenschen stilisiert. Tatsächlich bleibt er ein eindimensionaler Buhmann ohne echte seelische Abgründe. Als es ins Finale geht, will Carter Tiefe nachliefern, doch da ist es längst zu spät. Der Killer ist und bleibt nur ein weiterer „Jigsaw“-Klon, der sein sadistisches Handeln mit pseudo-philosophischem Nonsens zu ‚begründen‘ versucht.

Da befindet er sich in perfekter Gesellschaft. Auch Robert „Nomen-est-Omen“ Hunter ist kein Mensch, sondern nur eine Schablone. Taffer Cop mit psychischen Problemen: Banaler geht es wirklich nicht! Auch hier demonstriert Carter jedoch nicht nur glatte Routine, sondern investiert in die Zukunft: „Der Kruzifix-Killer“ ist Auftakt einer (inzwischen fortgesetzten) Reihe von Hunter-Thrillern. Wie es erneut das Fernsehen perfekt vorgibt, zeichnet sich die typische Serienfigur durch wenige aber kennzeichnende Eigenschaften bzw. Eigenheiten aus, die nur sparsam verändert werden: Der Verzicht auf das Unerwartete sichert die Serienbindung. Der Fan liebt es, wie in einen alten Pantoffel in ’seine‘ Figur/en zu schlüpfen. Carter hilft ihm gern dort hinein. Der weitere Erfolg des cleveren Verfassers darf deshalb als gesichert gelten.

_Autor_

Als Sohn italienischer Einwanderer wurde Chris Carter 1965 in Brasilien geboren. Er wuchs in der Hauptstadt Brasilia auf und ging erst nach Abschluss der High School in die USA. Dort studierte er forensische Psychologie, spezialisierte sich also auf die kriminologische Seite dieser Wissenschaft. Folgerichtig arbeitete Carter nach seinem Abschluss als Kriminal-Psychologe.

Nach einigen Jahren wechselte Carter nicht nur nach Los Angeles, sondern änderte auch sein Leben radikal: Er wurde Rockmusiker, ging später nach London und spielte in einer Reihe einschlägiger Bands die E-Gitarre. Wieder einige Jahre später beschloss Carter, Schriftsteller zu werden. Sein Debütroman erschien 2009. „Der Kruzifix-Killer“ wurde gleichzeitig Auftakt einer Serie um den Polizisten Robert Hunter, der ausschließlich die übelsten Kriminellen jagt.

Über sein Werk (schmal) und seine Aktivitäten (eifrig) berichtet Carter auf [seiner Website.]http://www.chriscarterbooks.com

|Taschenbuch: 480 Seiten
Originaltitel: The Crucifix Killer (London : Simon & Schuster 2009)
Aus dem Englischen übersetzt von Maja Rößner
ISBN-13: 978-3-548-28109-4
[www.ullstein-taschenbuch.de]http://www.ullstein-taschenbuch.de

eBook: Juli 2009 (Ullstein Verlag), 480 Seiten, ISBN-13: 978-3-548-92003-0

Hörbuch: Juni 2009 (Hörbuch Hamburg), 4 CDs (gekürzte Fassung), gelesen von Armin Buch
ISBN-13: 978-3-8690-9030-6|
[hoerbuch-hamburg.de]http://hoerbuch-hamburg.de|

Queen, Ellery – Und raus bist du!

_Das geschieht_

Fast schon vergessen hat Kriminalschriftsteller und Amateurdetektiv Ellery Queen seine Zeit in Wrightsville. Nun erhält er anonym Zeitungsartikel zugeschickt, die ihn auf interessante Ereignisse in diesem kleinen Flecken im ländlichen Norden des US-Staates New York hinweisen, in dem die Zeit irgendwann vor dem I. Weltkrieg stehengeblieben zu sein scheint. Ein alter Sonderling ist gestorben und hat sein Vermögen einem mildtätigen Doktor vermacht; ein reicher Fabrikant wurde als Betrüger entlarvt und hat sich erschossen; der Säufer Tom Anderson ist in einem Sumpf verschwunden.

Den alten Tom hat Queen gekannt und gemocht. Als Rima, seine Tochter, in New York auftaucht und den Detektiv um Hilfe und Klärung des Verbrechens angeht, lässt dieser sich nicht lange bitten. In Wrightsville ermittelt Queen, dass alle seltsamen Vorfälle einen Faktor gemeinsam haben: Irgendwie war stets Dr. Sebastian Dodd beteiligt, der selbstlos die Armen und Alten behandelt und als wahrer Stadtheiliger gilt.

Rimas Vater hat er direkt vor dessen Verschwinden ein Darlehen gewährt. Das Geld ist fort, Andersons skurrile Freunde verneinen jegliches Wissen. Queen irrt kriminalistisch im Kreis, bis ihn die wenigen Spuren auf eine irrwitzige Theorie bringen: Hier sterben Menschen nach dem Muster eines alten Abzählreims für Kinder! Niemand will ihm das so recht glauben, selbst als der Tod Queens Hauptverdächtigen dahinrafft, wie er es vorausgesagt hatte. Und besagter Reim geht noch weiter, das nächste Opfer steht schon fest …

_Idylle mit dunklen Winkeln_

„… und raus bist Du!“ ist der letzte Queen-Krimi der „Wrightsville“-Serie. In „The Devil to Pay“ (1938, dt. „Des Teufels Rechnung“) hatte Ellery Queen New York verlassen und war nach Hollywood umgesiedelt. Dies ging mit in der Kriminalliteratur seltenen, aber konsequenten Veränderungen der Figur einher. Queen wurde „erwachsen“; er arbeitete nicht mehr als Berater für die Polizei. Seine Fälle als Privatdetektiv wurden komplizierter und vielschichtiger, psychologische Untertöne schlichen sich ein, aus der oft spielerischen Suche nach dem Mörder wurde nicht selten ein Drama, das unbarmherzig seinem tödlichen Finale entgegen strebte und Queen als wissenden, aber hilflosen und überforderten Zuschauer zurückließ.

1942 kam es zu einem weiteren Wechsel. Ellery Queen wurde in „Calamity Town“ (dt. „Schatten über Wrightsville“) zum ersten Mal nach Wrightsville gerufen. Noch dreimal reiste er in Sachen Mord dorthin (1945: „The Murderer Is a Fox“, dt. „Der Mörder ist ein Fuchs“; 1948: „Ten Days Wonder“, dt. „Der zehnte Tag“; 1950: „Double, Double!“).

Wrightsville ist scheinbar das gute, alte, intakte Amerika, gelegen idyllisch auf dem flachen Land, bevölkert von einfachen, freundlichen Menschen, die der Dekadenz der Großstadt noch nicht erlegen sind. Doch schon der zweite Blick lässt unerfreuliche Wahrheiten zu Tage treten. Die scheinbare Idylle wird durch einen von Abwässern verseuchten Fluss in eine strahlende Musterstadt und in einen Slum geteilt. Aber auch auf der „richtigen“ Seite sind Wohlanständigkeit und Reputation oft nur Fassade, hinter der das Verbrechen wohnt. Und auch mit der traulichen Verschlafenheit ist es vorbei: In Gestalt der Zeitungs-Zarin Malvina Prentiss ist die Moderne in und über Wrightsville hereingebrochen.

|Rätselspiel mit ernsten Nebenwirkungen|

„… und raus bist du!“ demonstriert den Unterschied zwischen Schein und Sein auf manchmal deprimierende Weise. Ist man die auf den Plot konzentrierte, quasi konstruierte Handlung der frühen Queen-Romane mit ihren eindimensionalen Charakteren oder besser Typen gewohnt, überrascht dieser neue Unterton. Dabei ist der Plot keineswegs unkomplizierter geworden. Im Gegenteil: Ellerys Fähigkeit, aus einer Reihe unzusammenhängender Todesfälle auf eine Mordserie nach Abzählreim zu schließen, lässt uns dieses Mal skeptisch zurück. Selbst für ihn ist das ein bisschen zu viel der genialen Deduktion.

Vergnügen bereitet der (nach dem Willen des zeitgenössischen Publikums) „erneuerte“ Ellery Queen aber doch, weil es reizvoll ist, ihn bei seiner Weiterentwicklung zu beobachten. Und das Goldene Zeitalter des klassischen „Whodunit?“-Krimis war 1950 vorbei; ein Held, der im Geschäft bleiben wollte, musste mit der Zeit gehen oder sich bewusst in einen Anachronismus verwandeln.

|Die Figuren gewinnen Tiefe|

Über Ellery Queen ist weiter oben das Grundsätzliche schon gesagt worden. Das „ausgestopfte Hemd“ der frühen Jahre hat sich in einen Menschen mit Ecken und Kanten verwandelt. Sogar Nacktbaden mit einer Klientin ist nun möglich, auch wenn selbstverständlich die Keuschheit des wahren Gentlemans (noch) obsiegt. Als Detektiv ist Queen weiterhin ein Naturtalent, aber gegen gravierende Irrtümer und Fehleinschätzungen ist er nicht mehr gefeit. Das belastet ihn einerseits, während es andererseits die eingeleitete Tragödie nicht beenden kann. Queen erreicht die Zielgerade erst, nachdem der Mörder sein Werk vollendet hat. Das wird ihm in späteren Abenteuern noch öfter passieren.

Rima Anderson ist – Volker Neuhaus erläutert es uns in seinem wie immer kundigen Nachwort – zunächst weniger eine Figur, sondern ein literarischer Scherz: die Inkarnation des Vogelmädchens Rima aus William Henry Hudsons romantischem Abenteuer-Klassiker „Green Mansions“ (dt. „Das Vogelmädchen“) von 1904. Aus dem unschuldigen Naturkind wird durch die Umstände (und Ellerys sanfte Nachhilfe) eine ganz „normale“ junge Frau, wobei es dem Leser überlassen bleibt zu entscheiden, ob sie das wirklich glücklicher werden lässt.

Die übrigen Bewohner Wrightvilles lassen in Verhalten und Gestalt zunächst den üblichen Dorftölpel des Kuschel-Krimis durchscheinen. Dahinter verbergen sich freilich manchmal seelische Abgründe unvermuteter Tiefe. Tom Anderson ist kein bunter Vogel, der lustige Sachen sagt, die den Leser zum Lachen bringen, sondern ein tragischer, psychisch kranker Säufer. Sein Freund, der „Philosoph“, verbirgt hinter schlauen Sprüchen latenten Wahnsinn und den Zorn über sein Dasein als lebenslanger Verlierer. Ein zweiter Freund entpuppt sich als Dieb, der den Gefährten noch im Tod betrügt. Der gute Dr. Dodd wird von Aberglaube und Todesfurcht beherrscht. So geht es weiter, eine Galerie gespaltener Persönlichkeiten, wie es der Roman-Originaltitel andeutet, in einem höchst spannenden und an wendungsreichen Kriminalroman.

_Autoren_

Mehr als vier Jahrzehnte umspannt die Karriere der Vettern Frederic Dannay (alias Daniel Nathan, 1905-1982) und Manfred Bennington Lee (alias Manford Lepofsky, 1905-1971), die 1928 im Rahmen eines Wettbewerbs mit „The Roman Hat Mystery“ als Kriminalroman-Autoren debütierten. Dieses war auch das erste Abenteuer des Gentleman-Ermittlers Ellery Queen, dem noch 25 weitere folgen sollten.

Dabei half die Fähigkeit, die Leserschaft mit den damals beliebten, möglichst vertrackten Kriminalplots angenehm zu verwirren. Ein Schlüssel zum Erfolg war aber auch das Pseudonym. Ursprünglich hatten es Dannay und Lee erfunden, weil dies eine Bedingung des besagten Wettbewerbs war. Ohne Absicht hatten sie damit den Stein der Weisen gefunden: Das Publikum verinnerlichte sogleich die scheinbare Identität des „realen“ Schriftstellers Ellery Queen mit dem Amateur-Detektiv Ellery Queen, der sich wiederum seinen Lebensunterhalt als Autor von Kriminalromanen verdient!

In den späteren Jahren verbarg das Markenzeichen Queen zudem, dass hinter den Kulissen zunehmend andere Verfasser tätig wurden. Lee wurde Anfang der 1960er Jahre schwer krank und litt an einer Schreibblockade, Dannay gingen allmählich die Ideen aus, während die Leser nach neuen Abenteuern verlangten. Daher wurden viele der neuen Romane unter der mehr oder weniger straffen Aufsicht der Cousins von Ghostwritern geschrieben.

Wer sich über Ellery Queen – den (fiktiven) Detektiv wie das (reale) Autoren-Duo – informieren möchte, stößt im Internet auf eine wahre Flut einschlägiger Websites, die ihrerseits eindrucksvoll vom Status dieses Krimihelden künden. Vielleicht die schönste findet sich unter [neptune.spaceports.com./~queen]http://neptune.spaceports.com/~queen Eine Fundgrube für alle möglichen und unmöglichen Queenarien.

|Taschenbuch: 301 Seiten
Originaltitel: Double, Double! (New York : Little, Brown, and Company 1950)
Deutsche Erstausgabe (unter dem Titel „Wer ist der Nächste?“): 1953 (Scherz Verlag/Die schwarzen Kriminalromane Nr. 55)
Übersetzung: Lola Humm-Sernau, 191 Seiten, [keine ISBN]
Neuausgabe: 1999 (DuMont Verlag/DuMonts Kriminalbibliothek Bd. 1085)
Übersetzung: Monika Schurr
ISBN-13: 978-3832148478|
[www.dumontverlag.de]http://www.dumontverlag.de

_Ellery Queen bei |Buchwurm.info|:_
[„Chinesische Mandarinen“ 222
[„Der nackte Tod“ 362
[„Drachenzähne“ 833
[„Das Geheimnis der weißen Schuhe“ 1921
[„Die siamesischen Zwillinge“ 3352
[„Der verschwundene Revolver“ 4712
[„Der Giftbecher“ 4888
[„Das Haus auf halber Strecke“ 5899

Connelly, Michael – So wahr uns Gott helfe

_Das geschieht:_

Vor vielen Jahren hatten sie sich in Los Angeles als Neulinge im Gericht kennengelernt. Michael Haller war damals Pflichtverteidiger, Jerry Vincent als Staatsanwalt sein Gegner. Doch als sich beide Juristen später selbstständig machten, arbeiteten sie immerhin so eng zusammen, dass sie sich gegenseitig in ihren Testamenten bedachten: Sollte dem einem etwas zustoßen, würde der andere dessen Praxis und Klienten ‚erben‘.

Nun ist dieser Fall eingetreten, denn Vincent wurde erschossen, als er nach einem langen Tag im Büro in seinen Wagen gestiegen war. Haller freut sich vor allem über den Fall des Filmproduzenten Walter Elliot, der beschuldigt wird, seine Gattin und deren Geliebten umgebracht zu haben. Als Klient ist Elliot gut bei Kasse aber anspruchsvoll. Vor allem ist er so fest vom Freispruch in seinem anstehenden Prozess überzeugt, dass Haller Korruption zu wittern beginnt. Basierte Jerry Vincents Taktik auf Bestechung – und fiel er einer unerwarteten Planänderung zum Opfer?

Trifft dies zu, steckt womöglich auch Haller in Gefahr. Dies hat der für den Mordfall Vincent zuständige Beamte nicht nur angedeutet. Detective Hieronymus „Harry“ Bosch vom Los Angeles Police Department ist ein fähiger Ermittler, und Haller fasst so viel Vertrauen zu ihm, wie dies einem Anwalt möglich ist, obwohl ihn Bosch durch Druck und Tricks zum Plaudern bringen will.

Der eigentliche Kampf um Recht oder wenigstens Wahrheit bricht dort los, wo Haller sich am wohlsten fühlt: Vor Gericht beginnt er mit List und Tücke dem gegnerischen Staatsanwalt das Wasser abzugraben. Vom Erfolg geblendet, erkennt Haller zu spät, dass man ihn nicht nur benutzt, sondern wie den unglücklichen Vincent aus einem Spiel zu nehmen gedenkt, das gänzlich anders läuft als vermutet …

_Der „Lincoln Lawyer“ ist zurück_

Fast drei Jahre machte er sich seit „Der Mandant“ rar. Wer Michael Haller in diesem Roman kennen gelernt hatte, fragte sich gespannt, was der rührige Winkeladvokat in dieser Zeit an den Gerichten seiner Heimatstadt Los Angeles getrickst und getrieben haben mochte. Tatsächlich beginnt Connelly wieder bei Null, denn nachdem Haller sich in „Der Mandant“ eine Kugel eingefangen hatte, geriet er zunächst an unfähige Ärzte und schließlich in die Abhängigkeit von Schmerzmitteln. Zwei Jahre hat er auf diese Weise verdämmert, bis er von der Sucht loskam. Jetzt können wir ihn bei seinen ersten neuen Schritten auf jener Bühne beobachten, die ihm alles bedeutet.

Wie es für Michael Connelly typisch ist, kehrt Haller nicht durch die Hintertür, sondern mit einem Donnerschlag zurück, um sogleich auf frontalem Konfrontationskurs mit der Justiz, der Polizei und diversen Dunkelmännern zu gehen, die Connelly zunächst in Reserve für das übliche Finale voll offensiver Gewalt hält, das hier vergleichsweise moderat ausfällt. Bis sich gleich mehrere Plot-Knoten raffiniert schürzen, sehen wir Haller glücklicherweise vor allem bei jenem seltsamen Tun, das in den USA als Rechtsprechung gilt.

|Wäre Justitia nicht bereits blind …|

|“Alle lügen. Polizisten lügen. Anwälte lügen. Zeugen lügen. Die Opfer lügen. Ein Prozess ist ein wahrer Lügenwettstreit. Und jeder im Gerichtssaal weiß das. Der Richter weiß es. Sogar die Geschworenen wissen es. Sie betreten das Gericht in der sicheren Erwartung, getäuscht zu werden.“| (S. 9)

Mit diesen prägnanten und provokativen Worten wird der Leser harmonisch auf die folgende Geschichte eingestimmt. Sogleich beginnt Connelly, diesen Worten (geschriebene) Taten folgen zu lassen. Haller hat einen dicken Fisch am Haken, der ihm viel Geld zahlen und Publicity einbringen wird. Dass dieser Walter Elliot sehr wahrscheinlich ein Doppelmörder ist, interessiert seinen Anwalt nicht, der höflich aber bestimmt ignoriert, dass sein Klient für unschuldig gehalten werden möchte.

Haller gliedert Elliots Geschichte in prozessrelevante Module. Er greift sich heraus, was ihm hilft, den großen Auftritt vor Gericht vorzubereiten, wo es nicht um die Feststellung von Tatsachen geht, sondern darum, die Gegenseite so kräftig wie möglich in die Pfanne zu hauen. Für Haller besteht die Herausforderung darin, argumentative Schwachstellen des Anklägers zu finden und darauf aufbauend Zweifel bei den Geschworenen zu säen.

|Die lästige Realität mischt sich ein|

In seiner abgeschotteten Welt blendet Haller das Wissen um die unerquicklichen Aspekte seiner Arbeit aus. Allerdings funktioniert dieser Selbstschutz-Mechanismus nicht mehr, seit ihn eine Kugel in den Bauch traf. Diese buchstäblich einschneidende Erfahrung machte ihm bewusst, dass er sich nicht hinter Schriftsätzen und Vorschriften verschanzen kann. Die Wirklichkeit kann und wird diese Barriere durchbrechen. Deshalb kennt der ’neue‘ Haller nicht nur Skrupel, sondern ist auch zur vorsichtigen Kooperation mit der Polizei bereit; ein Zugeständnis, das Connelly, der die tiefe Kluft zwischen der Justiz und der Polizei anschaulich beschreibt, als kleine Sensation präsentiert.

Anwälte wie Haller sind den Cops ein Dorn im Auge: Haben sie einen Strolch mühsam und oft unter Lebensgefahr festgesetzt, kommt dieser nicht selten durch die Finten seines Anwalts wieder frei. Folglich reagiert Detective Bosch auf die von Haller signalisierte Hilfsbereitschaft sehr misstrauisch: Er kann einfach nicht glauben, dass dieses Entgegenkommen keinen Preis hat, und er liegt richtig.

|Die Evolution des Connellyversums|

|“Mittler zwischen Hirn und Händen muss das Herz sein“|, lautet der finale Sinnspruch im Filmklassiker „Metropolis“. Was dort als schale Phrase abzulehnen ist, ergibt hier eher Sinn. Nicht ohne Grund kommen sich Michael Haller und Hieronymus Bosch, der Winkeladvokat und der Cop, trotz aller Querelen näher. Wieder knüpft Connelly die Fäden seines Roman-Universums enger. Schon oft und im Laufe seiner Schriftstellerjahre immer intensiver stellt er heraus, dass die Figuren seiner verschiedenen Krimi-Serien eine gemeinsame Welt teilen. FBI-Agentin Rachel Walling, Kriminalreporter Jack McEvoy, die Diebin Cassie Black sowie Harry Bosch und Michael Haller: Sie laufen einander über den Weg, arbeiten mit- oder auch gegeneinander, und manchmal sterben sie sogar wie der herzkranke Ex-Cop Terry McCaleb.

Einen echten Sinn gibt es für diese Crossover-Auftritte nicht. Connelly hat vermutlich selbst das größte Vergnügen daran. In „So wahr uns Gott helfe“ deckt er familiäre Beziehungen zwischen Bosch und Haller auf. Das ist interessant, verdeckt aber nicht ein gravierendes Problem: Bosch und Haller passen nicht gut zusammen. Treten sie solo auf, konzentriert sich Connelly auf die Stärken und Schwächen jeder Figur. In „So wahr uns Gott helfe“ liegt der Fokus auf Haller. Bosch kommt nicht wirklich zum Zug. Für den Hintergrund ist er jedoch nicht geschaffen. Eigentlich müsste Bosch Haller überrollen, ignorieren und ausmanövrieren. Dies würde der Haller-Figur schaden. Deshalb muss Bosch sich zurückhalten, was nicht zu dem Harry Bosch passt, den wir in 13 Romanen kennen gelernt haben.

Auch Haller hat sich gewandelt. In „Der Mandant“ war er ein windiger Advokat, der sich in den Grauzonen seines Berufes besonders wohl fühlte, für lukrative Klienten-Tipps Schmiergelder zahlte und auch deshalb seine Büroarbeit in einem fahrenden Auto erledigte, weil ihn dort wütende Polizisten, zornige Richter und andere Verfolger schlecht zu fassen bekamen. Haller ist reifer geworden – und langweiliger, wenn er jetzt süchtige Ex-Surfer rettet oder vor seinem Töchterlein als Gutmensch glänzen will.

|Drama vor und hinter Gerichtsschranken|

Immerhin erwacht Haller zum Leben, sobald die Verhandlung – das Herzstück der Handlung – beginnt. Connelly nimmt sich Zeit, seine Leser mit dem Prozedere des US-amerikanischen Schwurgerichts vertraut zu machen. Er beschreibt dies spannend und ohne damit die Spannung aus der Handlung zu nehmen. Schon die simple Auswahl der Geschworenen wird zum erbitterten Gefecht zwischen Anklage und Verteidigung. Was normalerweise nur für Eingeweihte sichtbar ist, bringt Connelly an die Oberfläche; zumindest der deutsche Leser kommt bei diesen Passagen aus dem Kopfschütteln nicht heraus.

Die Verhandlung wird zur Film- oder besser Zirkusvorstellung. Jetzt lässt sich Haller nicht mehr von seinem Klienten bremsen. Dies ist seine Show, und für die zieht er sämtliche Register. Obwohl auf den Gerichtshof fixiert, kann es die Handlung an Spannung und Tempo mit jeder Verfolgungsjagd aufnehmen. Wer das Genre kennt, wird natürlich typische „Einspruch, Euer Ehren!“-Plot-Routinen erkennen. Connelly poliert sie nicht nur auf, sondern verleiht ihnen eine Dramatik, die sogar Leser in ihren Bann zieht, die für Gerichtsdramen wenig übrig haben – kein Wunder, wenn der Autor Haller seinen Job so definieren lässt: |“Für einen Strafverteidiger besteht die Aufgabe vor allem darin, Geduld zu haben. Zu warten. Aber nicht auf irgendeine beliebige Lüge. Sondern auf eine, die man packen und wie ein glühendes Eisen zu einer scharfen Klinge schmieden kann. Und mit dieser Klinge schlitzt man dann den Fall auf und lässt seine Innereien herausquellen.“| (S. 9)

Aber auch diese Klientel wird bedient, um im Jargon zu bleiben. Außerhalb des Gerichts zieht Harry Bosch seine Bahnen. Wenn Waffen gezückt werden, ist er zur Stelle, während Haller wenigstens kurzfristig ins zweite Glied zurücktritt. Das Finale ist Connolly im Vergleich zum „Mandanten“ besser gelungen: Blieben dort die Versuche gleich mehrerer finaler Twist-Überraschungen bemüht, eilt die Handlung dieses Mal überzeugend von einer unerwarteten Lösung zur nächsten.

Wie es weitergeht mit Michael Haller, lässt Connelly offen. Der „Lincoln Lawyer“ hat abgedankt, aber dass er plötzlich brav geworden ist oder den Gerichtssaal dauerhaft aufgeben kann, mag der Leser nicht recht glauben. Dass es mit Haller weitergeht, steht fest: In „The Reversal“ erlebt er – wieder begleitet, unterstützt und ausgetrickst von Harry Bosch – neue Abenteuer im (faulen) Zauberreich der US-Jurisprudenz. (Und sicherlich wird man für die deutsche Übersetzung wiederum einen ähnlich dämlichen Phrasen-Titel wie „So wahr uns Gott helfe“ finden …)

_Autor:_

Michael Connelly wurde 1956 in Philadelphia geboren. Den Büchern von Raymond Chandler verdankte der Journalismus-Student der University of Florida den Entschluss, sich selbst als Schriftsteller zu versuchen. Zunächst arbeitete Connelly nach seinem Abschluss 1980 für diverse Zeitungen in Florida. Er profilierte sich als Polizeireporter. Seine Arbeit gefiel und fiel auf. Nach einigen Jahren heuerte die „Los Angeles Times“, eine der größten Blätter des Landes, Connelly an.

Nach drei Jahren in Los Angeles verfasste Connelly „The Black Echo“ (dt. „Schwarzes Echo“), den ersten Harry-Bosch-Roman, der teilweise auf Fakten beruht. Der Neuling gewann den „Edgar Award“ der „Mystery Writers of America“ und hatte es geschafft.

Michael Connelly arbeitet auch für das Fernsehen, hier u. a. als Mitschöpfer, Drehbuchautor und Berater der kurzlebigen Cybercrime-Serie „Level 9“ (2000). Mit seiner Familie lebt der Schriftsteller in Florida. Über das Connellyversum informiert stets aktuell [die zugehörige Website]http://www.michaelconnelly.com.

Die Michael-Haller-Serie erscheint gebunden bzw. als Taschenbuch im Wilhelm Heyne Verlag:

1. Der Mandant („The Lincoln Lawyer”, 2005)
2. So wahr uns Gott helfe („The Brass Verdict”, 2008)*
3. The Reversal (2010; noch kein dt. Titel)*

* Crossover mit Harry-Bosch-Serie

|Gebunden: 512 Seiten
Originaltitel: The Brass Verdict (New York : Little, Brown, and Company 2008/London : Orion Books 2008)
Übersetzung: Sepp Leeb
Deutsche Erstausgabe (geb.): Februar 2010 (Wilhelm Heyne Verlag)
ISBN-13: 978-3-453-26636-0|
[www.randomhouse.de/heyne]http://www.randomhouse.de/heyne

_Michael Connelly bei |Buchwurm.info| (in Veröffentlichungsreihenfolge):_

|Harry Bosch:|

[„Schwarzes Echo“ 958
[„Schwarzes Eis“ 2572
[„Die Frau im Beton“ 3950
[„Das Comeback“ 2637
[„Schwarze Engel“ 1192
[„Dunkler als die Nacht“ 4086
[„Kein Engel so rein“ 334
[„Die Rückkehr des Poeten“ 1703
[„Vergessene Stimmen“ 2897
[„Kalter Tod“ 5282 (Buchausgabe)
[„Kalter Tod“ 5362 (Hörbuch)
[„Echo Park“ 3917

[„Das zweite Herz“ 5290
[„Der Poet“ 2642
[„Im Schatten des Mondes“ 1448
[„Unbekannt verzogen“ 803
[„Der Mandant“ 4068
[„L.A. Crime Report“ 4418