Alle Beiträge von Michael Drewniok

Ian Fleming – James Bond 007: Leben und sterben lassen

Das geschieht:

Buonaparte Ignace Gallia, genannt „Mr. Big“, ist der farbige Al Capone von New York. In Afrika geboren und auf Haiti aufgewachsen, hat sich der charismatische Mann zum Herrn der Unterwelt aufgeschwungen. Handlanger findet er unter der schwarzen Bevölkerung, die er sich mit Terror und Schwarzer Magie gefügig macht. Die Behörden blieben bisher machtlos, aber jetzt mischt sich der Geheimdienst ein: Mr. Big verdingt sich als Agent der Sowjetunion und lässt seine Organisation für die roten Feinde der freien Welt arbeiten.

Außerdem hat Mr. Big, der auch in der Karibik einen Stützpunkt unterhält, auf der Insel Jamaica offenbar den Schatz des Piratenkapitäns Morgan gefunden. Große Mengen wertvoller Goldmünzen aus dem 18. Jahrhundert tauchen seit einiger Zeit in den USA auf; ihr Verkauf mehrt das Kapital, das Mr. Big zur Agitation gegen den Westen einsetzen kann. Ian Fleming – James Bond 007: Leben und sterben lassen weiterlesen

Feist, Raymond E. – Elfenhügel

Pittsville, wir kommen! – die amerikanische Bilderbuch-Familie Hastings nämlich: Vater Phil, geachteter Schriftsteller, aber des gemeinen Volkes nicht entrückt, weil außerdem Drehbuch-Autor für rabaukige Hollywood-Blockbuster; Mutter Gloria, einst Schauspielerin ebendort, aber längst Hausfrau & Mutter und glücklich am heimischen Herd, wo ihre Familie sie am liebsten sieht; Sean & Patrick, die achtjährigen Zwillinge, laut aber lieb, dem Baseball-Spiel zugeneigt und somit zwei richtige Jungens, die das Herz jedes braven Bürgers im Leibe lachen lassen, sowie Gabrielle, rollig erblühte Spät-Teenager-Tochter Phils aus einer ersten Ehe (gescheitert, weil die verworfene Ex ihre Karriere mehr liebte als die Familie, weshalb sie von ihrem Kind auch verstoßen wurde – recht so!).

Haben wir noch jemanden vergessen? Richtig! Bad Luck, der nicht besonders kluge, aber ulkige & tapfere Labrador-Familienhund, und Ernie, der Kater, komplettieren das Fleisch gewordene Quintett uramerikanischer Tugenden, das gerade in das kleine Städtchen Pittsville irgendwo dort im Staate New York gezogen ist, wo es noch ländlich und ehrlich zugeht. Phil ist des lockeren Hollywood-Daseins überdrüssig geworden (nachdem er ordentlich abkassiert hatte), besinnt sich tugendhaft auf seine schriftstellerischen Wurzeln und sucht sich ein ruhig gelegenes Haus, um dort endlich wieder ein Buch zu schreiben. Ganz wie im richtigen Leben folgt ihm die Familie freudig ins Exil, das sich als Idylle mit einem gewaltigen Haken entpuppt.

Denn es spukt tüchtig in und um Old Kessler Place, unter der alten Trollbrücke und auf dem Erlkönig-Hügel. Der alte Barney Doyle hat’s gesehen, und da er in Irland geboren ist (und deshalb einem guten Schluck nicht abgeneigt, wie ja die Iren überhaupt fröhliche, meist rothaarige Zecher sind, die gern zur Geige tanzen, wie der gute Amerikaner über dieses Volk weiß), wo die Kobolde seit jeher des Nachts über die Kartoffelfelder klabautern, weiß er sofort, was vorgeht: Die Weiße Königin der Feen hat sich mit ihrem übernatürlichen Hofstaat heuer ausgerechnet in Pittsville niedergelassen! Jeweils in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November – Happy Halloween! – schlägt dieser irgendwo auf der Welt sein Lager auf, um dort seinen übernatürlichen Geschäften nachzugehen. Weil im Geisterreich öfter mal ein Fenster zum Diesseits offen steht, stolpert immer wieder überraschtes Menschenvolk (siehe B. Doyle) in die Feenrunde, was ihm meist nicht gut bekommt.

Dieses Mal ist es sogar schlimmer als sonst, denn der trotz seines Namens eher finster gesonnene „Leuchtende Mann“, das dunkle Gegenstück zur Weißen Königin, hat das auf die Nacht beschränkte Spukdasein satt. Wie wir nach und nach erfahren, lebten Menschen und Elfen einst in wenig friedlicher Nachbarschaft auf dieser Welt, bis nach einem schrecklichen Krieg Erstere die Letzteren ins Exil (bzw. in die Märchenbücher) zwangen, das sie seither nur beschränkt verlassen dürfen. Besiegelt wurde der Vertrag durch ein Pfand – einen gewaltigen Goldschatz, der mit dem Hofstaat reist und folglich in diesem Jahr auf dem Erlkönig-Hügel verborgen wurde. Der Leuchtende Mann lenkt listig die Aufmerksamkeit der Hastings auf diesen Hort, der froh gestimmt – wer könnte es ihnen verdenken – aus dem Erdreich gebuddelt wird. Leider gilt dadurch der besagte Vertrag als gebrochen, was dem Leuchtenden Mann das Recht gibt, seine Herrschaft nunmehr auf das Diesseits auszudehnen. Unterstützt von seinem gruseligen Helfershelfer, dem Bösen Ding, aber immer noch unterworfen den Gesetzen der Feistschen Holzhammer-Dramatik, muss der böse König erst die Hastings aus dem Weg räumen, bevor ihm dies gelingen kann. Ganz souveräner Fürst der Finsternis, raschelt er zunächst Unheil verkündend im Unterholz umher, killt dann die Katze und entführt schließlich, als trotzdem niemand recht von ihm Notiz nehmen mag, einen der Zwillinge, um ihn gegen ein Wechselbalg – ein spukhaftes Ebenbild – auszutauschen. Dass man so vielleicht mit bangbüxigen Franzosen und anderen Europäern (sowie vielleicht noch Kanadiern), aber keineswegs mit echten Amerikanern umspringen kann, muss der Erlkönig auf die harte Tour lernen, als Zwilling Zwei und der erboste Vater im Geisterreich auftauchen, um ihn und seine Spießgesellen Mores zu lehren …

… und wenn sie nicht gestorben sind, dann wird es langsam Zeit, wie einst ein bekannter deutscher Komiker kalauerte, den ebenfalls die Zeit einholte und der inzwischen mindestens ebenso tot wie der Erlkönig ist. Mythen sind empfindliche Pflänzchen, die nur auf Humus, aber nicht auf Mist gedeihen. Da Raymond E. Feist den Unterschied nicht zu kennen scheint, wuchert sein „Elfenhügel“ schnell zu einem entarteten Bastard aus Instant-Fantastik, Rotkäppchen-Grusel und Seifenoper heran, der den Leser in Verdruss und Langeweile zu ersticken droht. Die Ausgangsidee ist eigentlich einfach, aber gut und entwicklungsfähig: Neu ist es zwar nicht, auf den Spuren Shakespeares zu wandeln und den „Mittsommernachtstraum“ in neuen Kulissen zu inszenieren. Feen, Elfen, Kobolde und andere Märchenwesen mit der realen Welt des inzwischen 21. Jahrhunderts zu konfrontieren, funktioniert aber immer noch – wenn man mit einem Mindestmaß Talent und Inspiration gesegnet ist. Beides geht Feist offensichtlich ab. Sollte das wundern bei einem Mann, dessen Ruhm und Ruf sich auf ein ebenso endloses wie mittelmäßiges Tolkien-Abklatsch-Fantasy-Epos namens „Midkemia“ gründet?

Dabei sind die echten fantastischen Elemente dem Verfasser noch am besten gelungen. Als das Hastings-Rollkommando das Elfenreich erreicht, merkt man Feist die Erleichterung an, wieder vertrautes literarisches Terrain erreicht zu haben. Die hier spielenden Szenen sprühen zwar ebenfalls nicht vor Originalität, aber sie überzeugen wenigstens und verraten vor allem endlich, wieso Feist ein so beliebter Autor von Unterhaltungsromanen ist. Aber bis es so weit ist, muss der Leser ein weites, bitteres Ödland durchqueren. Der „Elfenhügel“ erhebt sich nicht in der völlig dem Hier & Jetzt enthobenen Fantasy-Welt Midkemias, sondern in der realen Welt der Gegenwart (bzw. des Jahres 1988, denn so ganz taufrisch ist dieser Roman nicht mehr). Damit begibt sich Feist freiwillig aufs Glatteis, denn er muss hier, wo sich seine Leser mindestens genauso gut auskennen wie er, der Realität deutlich stärker Tribut zollen als dem Wunschdenken. Sein Unvermögen in dieser Hinsicht macht „(Der) Elfenhügel“/“Der Märchenhügel“ geradezu erschütternd offenbar.

Die Kritik muss sich noch mehr als am Plot an der Personenzeichnung entzünden. Feist ist Amerikaner; ein Punkt, den es sehr wohl zu berücksichtigen gilt, weil er erklärt, was primär den lesenden Europäer irritiert. Besonders gut lässt sich das am „deutschen“ Handlungsstrang der Geschichte erläutern. Den Elfenspuk und die Einhaltung des Friedens überwacht nämlich ein geheimer, uralter, geheimer Geheimbund freimaurerischer Tempelritter-Illuminaten. Er ist zuletzt in „Süddeutschland“ aktiv geworden, und das muss man in Anführungsstrichen schreiben, denn Feists Vision von Deutschland im Jahre 1905 ist die eines grotesk-pseudomittelalterlichen Märchenlandes, bevölkert von furchtsamen, abergläubischen Bauern, die von der in diesem Landstrich zwei Jahre nach dem ersten Motorflug der Gebrüder Wright offenbar immer noch aktiven Inquisition brutal ausgerottet werden, als sie damit beginnen, den Alten Göttern Menschenopfer zu bringen … Kommentar wohl überflüssig.

Feist hat zwar durchaus begriffen, dass es nicht so ohne Weiteres möglich ist, die Geisterwelt von der Alten in die Neue Welt zu verpflanzen; während die Menschen zu Millionen über den Großen Teich reisten, blieben die Elfen lieber in Europa. Sie wussten schon, wieso sie dies taten, denn Feist konfrontiert sie dort jetzt mit einer kaum erträglichen Bande pappiger Popanze, dem US-Kino oder -Fernsehen dort entsprungen, wo es am verlogensten ist, schrecklicher als jeder Leuchtende Mann und jedes Böse Ding: mit der amerikanischen Durchschnittsfamilie!

„Heim ist, wo das Herz ist“, heißt das Sprichwort, aber nicht nur Al Bundy selig hat es in „…, wo der Horror ist“ abgewandelt. Feist versagt spektakulär, wo Steven Spielberg und Stephen King trotz allen Kitsches regelmäßig an unser Herz rühren: in der Beschreibung jenes seltsamen, ebenso fragilen wie unverwüstlichen, schrecklichen, wunderbaren, unersetzlichen Phänomens, das wir „Familie“ nennen. Die Hastings sind keine Familie. Sie verkörpern stattdessen jenes grässliche Zerrbild (mitsamt treudoofem Hund), wie es bevorzugt konservative Politiker, reaktionäre Kirchenfürsten oder psychisch derangierte Tugendbolde propagieren. Man fiebert und bangt nicht mit den Hastings, sondern wünscht ihnen schon sehr bald einige kräftige Trolle mit scharfen Schwertern auf den Hals. Unter der Schlangenhaut aus Affenliebe und Leutseligkeit tritt eine oberflächliche, engstirnige Gesinnung und die unbarmherzige Diktatur des manisch Tüchtigen zu Tage. Wenn das Elfengold geborgen wird, bewundert man nicht seine Schönheit, sondern taxiert aufgeregt Münze für Münze nach Dollar und Cent. Phil Hastings hält gern weitschweifige Predigten gegen Hollywood-Babylon, das er zum Frommen seiner Familie und um der hehren Kunst willen verlassen hat – um im Finale fürstlich bezahlt für einen weiteren IQ-Null-Blockbuster dorthin zurückzueilen. Der zum scheußlich schäumenden Wechselbalg zitierte Wunderarzt erläutert den gebrochenen, aber zahlungskräftigen Eltern sachlich, wie sie den scheinbar wahnsinnig und damit wertlos gewordenen Sohn in einem weit entfernten Pflegeheim entsorgen können.

Solche Passagen lassen sich viele finden in diesem an Ärgernissen reichen Werk, aber den einsamen Gipfel der Lächerlichkeit erklimmt Feist mit der Schilderung eine Plänkelei zwischen Gabrielle, der überreifen Hastings-Tochter, und Puck, dem fröhlich-geilen Luft- und Lustgeist. Zweifellos als Höhepunkt knisternder Erotik gedacht, produziert der Verfasser einen schier endlosen Schwall schwülstig-verklemmter Schweinigeleien, der peinlich gekrönt wird durch den abrupten Abbruch des Liebesspiels, als es wirklich ernst wird: Im Mutterland der frömmlerischen Doppelmoral muss sich auch ein Puck mit Petting begnügen, wenn ihm ein anständiges Mädchen gegenüberliegt.

Die deutsche Ausgabe aus dem Jahre 2000 prunkt zwar mit einem für ein Taschenbuch recht pompösen Äußeren (für das man aber seinen Preis zu zahlen hat, was unter den beschriebenen Umständen doppelt schmerzt), stützt sich aber leider immer noch auf die Übersetzung der Erstausgabe von 1991 (deren Existenz im Impressum aus unerfindlichen Gründen unterschlagen wird; sie sei an dieser Stelle bzw. weiter unten enthüllt). Diese ist weniger schlampig als schlicht und ergreifend ungenügend, weil hölzern, dilettantisch und heftige Schmerzen auf dem eigentlich kurzen Weg zwischen Sehnerv und Hirn erzeugend. Der gesellt sich dann zu der schrecklichen Leere in der Geldbörse und rundet den unerfreulichen Eindruck ab, gar zu viel kostbare Lebenszeit dem Versuch geopfert zu haben, eine ziemlich taube Nuss zum Keimen zu bringen.

Severin, Tim – weiße Gott der Meere, Der

Wer kennt ihn nicht – Moby Dick, den weißen Pottwal, ein arger Wüterich, der vom rachsüchtigen Kapitän Ahab, welchem er einst ein Bein abbiss, kreuz und quer über die Ozeane gejagt wird, bis er sich seinem Verfolger endlich stellt und ihn samt Schiff und Mannschaft auf den Grund des Meeres schickt? Hermann Melville gelang 1851 ein literarischer Klassiker erster Güte – ein Abenteuerroman mit psychologischer Tiefe, abgerundet durch ein profundes Wissen über die See. Seit mehr als anderthalb Jahrhunderten liest man [„Moby Dick“; 1144 es gibt mindestens drei Verfilmungen, Hörspiele, Comics und andere multimediale Inkarnationen.

Natürlich war Tim Severin nicht der erste Leser, der sich die Frage stellte, ob denn in Melvilles Geschichte ein wahrer Kern stecken könnte. Deshalb weiß man schon länger, dass in den Weltmeeren tatsächlich permanent missgestimmte Pottwale hausen, welche es denen, die sie mit der Harpune jagen, zu allen Zeiten ordentlich heimzahlten, indem sie deren Fangboote zerschmetterten und die Insassen zerkauten. Unvergesslich ist auch der Untergang des Walfangschiffes „Essex“, das 1820 von einem Pottwal planvoll gerammt und versenkt wurde.

Doch gab es auch einen weißen Pottwal – den wahren Moby Dick? Wie könnte Melville auf den Gedanken gekommen sein, Ahabs Nemesis zu bleichen? Tim Severin ist ein Mann, den man als Berufsabenteurer bezeichnen könnte. Also packte er wieder einmal seine Sachen und beschloss, vor Ort der Sache buchstäblich auf den Grund zu gehen. Herman Melville war mit Fakten nicht geizig. Er ließ die Jagd auf Moby Dick in den bekannten Fanggründen für Pottwale stattfinden. Die sind noch heute bekannt, zumal die Wale ihnen treu blieben. Ahabs „Pequod“ hat es irgendwo im Südpazifik erwischt. Genau dort begann Severin seine Suche. Auf malerischen Inseln mit Fernweh weckenden Namen wie Nuku Hiva, Pamilacan, Tonga und Lamalera stieß er auf wagemutige Männer, die seit Urzeiten Wale und große Fische mit kleinen Booten jagen. Unter Einsatz ihres Lebens springen sie wagemutig gigantischen Walhaien, Mantarochen und Walen ins Kreuz, um ihnen die Harpune direkt in den Leib zu rammen.

Severin erfährt relativ wenig über weiße Wale, umso mehr jedoch über den harten Alltag auf einsamen Inseln, die sich als recht lebensfeindliche Orte entpuppen, die zwar viel Sonne und Sand, aber wenig Nahrung oder Zukunftsperspektiven zu bieten haben. Die kühnen Meeresjäger sind ein aussterbender Menschenschlag; ihre Beute ist durch Überfischung und Umweltverschmutzung fast verschwunden. Mit den letzten Booten fährt Severin mit hinaus aufs Meer und fühlt sich zurück in die Zeit von Herman Melville versetzt. Er erlebt vieles, das von der Forschung anders oder noch gar nicht zur Kenntnis genommen wurde. Schließlich gelingt es ihm sogar, dem weißen Wal zumindest auf die Spur zu kommen …

Moby Dick ist natürlich vor allem ein Chiffre, eine Symbolgestalt, in die sich allerhand interpretieren lässt. Ihn als reales Lebewesen zu betrachten, ist deshalb ungewöhnlich; selbst Melville hat das nur innerhalb bestimmter Grenzen getan. Trotzdem ist die Suche nach dem weißen Wal als Aufhänger für eine Reise in die Ferne gut genug. Tim Severin muss schließlich Sponsoren finden, die ihm den Trip finanzieren … Der Erfolg steht in den Sternen, denn in den 150 Jahren, seit Melville seinen Klassiker schrieb, wurde nie ein weißer Pottwal entdeckt bzw. gefangen oder fotografiert und auf diese Weise unbestreitbar gemacht.

So ist es kein Wunder, dass Severin den vermeintlichen Grund seiner Reise oft aus den Augen verliert. Er lernt stattdessen eine hoch entwickelte Kultur am Ende ihres Weges kennen. Die Fischer und Jäger des Südpazifiks stellen sich ihrer riesenhaften Beute buchstäblich im Kampf Mann gegen Monster. So haben es die Walfänger zu Melvilles Zeiten auch getan. Nur in dieser Konstellation konnte ein Moby Dick zur mythischen Gestalt werden; hundert Jahre später hätten ihn die modernen Walschlächter mit der Harpunenkanone in Stücke geschossen.

Severin ist fasziniert und das teilt sich seinen Lesern auch mit, denn er besitzt die Gabe sowohl zu informieren als auch zu unterhalten. Da stört es nicht, dass er den roten Faden immer wieder aus den Augen verliert, denn er hat immer etwas Interessantes zu erzählen. Für sein Buch hat er ausgiebige Hintergrundrecherchen betrieben. Deshalb weiß er das, was er vor Ort beobachtet, in seinen historischen oder kulturellen Kontext einzuordnen.

Seine Fragen nach dem weißen Wal irritieren die Menschen, die er trifft. Sie haben Wichtigeres zu tun als sich müßig akademischen Fragen zu widmen. Stattdessen stehen sie im Lebenskampf. Severin ist überrascht, als ihm eher beiläufig bestätigt wird, dass es offenbar weiße Pottwale gibt. Sie gelten den Jägern als tabu, weil sie angeblich ihre schwarzen Artgenossen verteidigen oder sogar rächen, gelten aber trotzdem nicht als Sensation, sondern gehören zu einem insgesamt mühseligen Alltagsleben.

Severin kehrt in einem Ringschluss zu seiner Ausgangsfrage zurück: Streitbare Pottwale gab und gibt es, aber ein Moby Dick wie in Herman Melvilles Schilderung hat wohl nicht existiert. Weiße Pottwale mag es geben; Severin hat zwar keine Fotos vorzuweisen, doch es gelang ihm, durchaus überzeugende Berichte von Augenzeugen zusammenzutragen. Im Mittelpunkt seines Reiseberichts stehen indes Menschen, die er als Individuen in ihrer eigenen Lebens- und Glaubenswelt vorstellt, statt sie als glückliche Naturkinder zu verkitschen. Auch die Jagd auf den Wal, der eindeutig intelligent ist und recht grausam zu Tode kommt, wird für die Radikalen unter den Tierschützern nicht eindeutig genug verdammt. Severin sagt, wie es ist: Der Wal bietet den Menschen Nahrung in einer Region, in der es sonst kaum etwas zu essen gibt bzw. man es sich nicht leisten kann. Das ist eine zweckgebundene, archaische Philosophie, die jedoch in diesem Winkel der Welt noch ihre Berechtigung hat.

Nebenbei gelingt es dem Verfasser, dem großen Melville einige allzu menschliche Mogeleien nachzuweisen. Der Autor von „Moby Dick“ hat die Weltmeere befahren, aber er war niemals der große Abenteurer, der selbst mit der Harpune in der Hand Wale jagte oder vor den wilden Menschenfressern der Marquesas flüchten musste. Für solche und andere wüste „Erlebnisse“ hat er eigene Erfahrungen kräftig übertrieben, frühere Reise- und Expeditionsberichte tüchtig ausgeschlachtet und seine Fantasie spielen lassen. Severin betont freilich, worauf es wirklich ankommt: Melville nahm das, was er fand, und schuf daraus mit seinem schriftstellerischen Talent etwas Neues, Originäres. (Er hätte aus heutiger Sicht nur ein wenig offener mit den Quellenangaben sein müssen …)

Wie gesagt gibt es keine Fotos von weißen Walen. Severin hat dennoch seine Kamera mit auf die Reise genommen. „Der weiße Gott der Meere“ liefert in seinem Bildteil Beweise dafür, dass es tatsächlich Menschen gibt, die mit der Harpune in der Hand auf einen Riesenhai oder Wal springen, um ihn auf diese Weise an die Fangleine zu nehmen. Das ist mehr als verblüffend genug und rundet ein angenehmes Lektüreerlebnis ab.

Tim Severin, geboren 1940 und oxfordstudierter Berufsreisender, Autor, Dokumentarfilmer und Lektor, wusste seit jeher, sein Hobby (oder seine Berufung) geschickt zum Beruf zu machen. Klappern gehört zum Handwerk, dieses Motto berücksichtigt er bei der Planung seiner diversen Abenteuer. Seine [Website]http://www.timseverin.net listet sie auf und macht Severins Talent für PR deutlich. So ist er in einem nach zeitgenössischen Quellen rekonstruierten Lederhautboot durch den Atlantik geschippert, um auf diese Weise nachzuprüfen, ob der Hl. Brendan, ein Mönchsmissionar des 6. Jahrhunderts, womöglich schon lange vor den Wikingern und Columbus Amerika entdeckt hat. Von Oman nach China segelte Severin auf den Spuren Sindbads, des Seefahrers aus 1001er Nacht. Weitere Fahrten unternahm er in den Fußstapfen Jasons und Odysseus’, suchte nach dem Grab des Dschinghis Khan, fand die Insel des wahren Robinson Crusoe. Zu jeder Fahrt erschien ein Buch, so dass weitere Unternehmungen der beschriebenen Art folgen werden.

Für seine Taten wurde Severin u. a. mit der Goldmedaille der „Royal Geographical Society“ und der Livingstone Medaille der „Royal Scottish Geographical Society“ ausgezeichnet. Inzwischen ist er auch als Belletrist tätig geworden und hat die „Viking“-Trilogie veröffentlicht, die von den kühnen Taten kerniger Wikinger erzählt.

Radke, Reinhard – Krokodile. Expeditionen zu den Erben der Dinosaurier

Sie sind beileibe nicht nur die Erben der Dinosaurier, sondern bereits deren Zeitgenossen. „Schauplatz Mara“ beschreibt in einer Momentaufnahme, wieso Krokodile so erfolgreich in der Evolution waren und sind. Eindrucksvolle Bilder informieren über eine Stelle am Mara, einem afrikanischen Fluss, wo die Panzerechsen ihre Fähigkeiten als Jäger unter Beweis stellen.

„Komplexe Echsen“ zeigt dann Tiere, die weitaus mehr als Furcht erregende Tötungsmaschinen sind, sondern über ein komplexes „Gesellschaftsleben“ verfügen und durchaus gewisse soziale Kompetenzen unter Beweis stellen. Dazu gehört auch die Sorge um den Nachwuchs, wie die Kapitel „Wiegen im Sand“ und „Mutterpflichten“ belegen.

In „Saurier gegen Säuger“ kehren wir an den Mara zurück. Nun ist der Blick bereits geschärft, was uns Lesern hilft zu verstehen, dass auch Krokodile mit bestimmten Schwierigkeiten zu kämpfen haben, für die ihre besondere Physis verantwortlich ist – sie sind halt „Archaische Jäger“, die aber aus dem, was die Natur ihnen zur Verfügung stellte, das Beste gemacht haben. Insofern sind sie tatsächlich die „Erben der Dinosaurier“, weil sie mehr als 60 Millionen Jahre Zeit hatten, bei aller Urtümlichkeit auf dem aktuellen evolutionären Stand zu bleiben und beileibe nicht identisch mit den Krokodilen der Erdfrühzeit sind.

Das größte Problem entsteht diesen Tieren ohnehin von anderer Seite. „Der Fänger der Echsen“ beschreibt die Jagd auf Krokodile, die trotz ihrer wundersamen Lebenstauglichkeit dem Menschen nicht wirklich etwas entgegenzusetzen haben. Dies vertieft Verfasser Radke später im Kapitel „Mensch und Krokodil“, wo wir erfahren, dass hier und da Echsen doch den Spieß umdrehen und für ihre menschlichen Opfer wahrlich Albträume wahr werden – böse Überraschungen inklusive, denn wie Radke in „Tödliche Tümpel“ zeigt, sind Panzerechsen auch an Land beweglicher, als man ihnen zugestehen möchte, wenn man sie gemächlich an Flussufern watscheln sieht.

Dennoch sind es primär die Krokodile, für die es hier und heute und in Zukunft um „Sein oder Nichtsein“ gehen wird, denn eines ist sicher: Eine enge Nachbarschaft zwischen Mensch und Krokodil ist ganz sicher nicht möglich, da Letzteres als Hausgast oder gar -tier absolut untauglich ist.

Das Werk schließt mit einer kurzen, aber erschöpfenden Systematik aller Krokodilarten, die es auf dieser Erde gibt. Die erstaunliche Vielfalt überrascht; weder Salzwasser noch Frost oder wüstenhafte Trockenheit können Krokodile dauerhaft aufhalten. Wir erfahren von Siebenmeter-Monstern, die wie Delfine aus dem Wasser springen – keine Erfahrung, die man als Passagier auf einem flachbordigen Boot machen möchte – oder bizarren Fischfängern mit Pinzettenkiefern.

Noch heute sieht man sie im B-Movie baumstammgleich und scheinheilig unauffällig vorzugsweise in afrikanischen Flussläufen treiben, bis sie urplötzlich unter den Nebendarstellern aufzuräumen beginnen: Krokodile, hässlich, unheimlich und folgerichtig heimtückisch und böse, wenn auch als Ledermantel oder -tasche wohl gelitten in der Damenwelt. Beides war und ist gar nicht bekömmlich für die großen Panzerechsen, die tatsächlich nur wollen, was wir alle uns wünschen – in Ruhe gelassen zu werden.

Gönnt man ihnen dies und beobachtet sie womöglich dabei, erschließt sich dem interessierten Betrachter die fremde, aber faszinierende Welt einer Lebensform, die seit stolzen 230 Jahrmillionen auf dieser Erde weilt und noch alles überstand, was diese in Form herabstürzender Riesenmeteore oder Sintfluten traf und immer wieder für |tabula rasa| sorgte. Wieso schafften die Krokodile, woran die ungleich weiter entwickelten Dinosaurier scheiterten? So „primitiv“ (weil doch so alt) können sie wohl nicht sein. Aber wie passen sie ins Darwinsche Evolutionskonzept, nach dem bekanntlich nur die Harten in den Garten kommen, d. h. die Schnellsten, Klügsten, sich ständig fortentwickelnden Lebewesen überdauern?

Solchen und vielen anderen Fragen (auf die man meist nicht kommen würde, die einen aber trotzdem interessieren) geht der Biologe und TV-Tierfilmer Reinhard Radke in diesem beispielhaften Sachbuch nach. Es liest sich wie ein Roman, obwohl es sich an die Fakten hält. Da diese nicht gerade allgemein bekannt sind – wer wusste denn beispielsweise, dass Krokodile sich wie Wale oder Elefanten per Infraschall verständigen können? -, faszinieren sie auch den biologischen Laien, der (oder die) wenigstens ein wenig Interesse für die Umwelt aufzubringen in der Lage ist. Krokodile sind (wie wir schließlich wissen) gut zu Fuß und gar nicht blöd, sie kennen und respektieren gesellschaftliche Regeln und dort, wo man ihnen wenigstens ein bisschen kugelfreien Raum belässt, praktisch so unverwüstlich, dass wie wahrscheinlich auch die Menschen überleben werden.

„Krokodile“ ist in der Präsentation ein sehr modernes Sachbuch. Reinhard Radke versucht das eigentlich Unmögliche: Er verbindet Information mit Unterhaltung. Anders als im Privat-TV ist das Ergebnis nicht „Infotainment“ (= vergnügliches Pseudo-Wissen für die Dummen & Denkfaulen), sondern – welches Risiko in heutiger Zeit! – eine sorgfältig aufeinander abgestimmte Kette lehrreicher Lektionen, die ohne vorsätzliche Infantilisierung, aber auch ohne erhobenen pädagogischen Zeigefinger ihr Thema zum Leben erwecken.

Fazit: Ein nicht ganz preisgünstiger Bild-/Textband mit (über 100) sensationellen Farbfotos, der umfassend über die „Zeugen der Urzeit“ (wie das einleitende Kapitel überschrieben ist) informiert und jeden Cent wert ist.

Dave Barry – Dave Barry erklärt, was ein echter Kerl ist

Es gibt Männer und es gibt Kerle – dies ist die Prämisse, von der Dave Barry ausgeht. Während Erstere relativ unauffällig daherkommen, sind es Letztere, die als politisch unkorrekte Quertreiber gegen die Regeln einer auf Gleichberechtigung und Gleichbehandlung ausgerichteten Gesellschaft auftreten. Kerle sind geistig einfach gestrickt – wortkarg, wenn es um Gefühle geht, aber offen in der Präsentation diverser Körperfunktionen; sie haben eine eigenwillige Auffassung von körperlicher Hygiene, zwischenmenschlichen Beziehungen und ehelicher Treue. Sport steht bei ihnen zuzeiten höher im Kurs als die Bedürfnisse ihrer Familie, sinnlose Wetten mit vorprogrammiert peinlichem Ausgang locken sie an wie das Licht die Motten.

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Charles Palliser – Die schwarze Kathedrale

Palliser Kathedrale 2005 kleinIn einer englischen Kleinstadt lebt 1881 ein alter Skandal nach einem neuen Mord wieder auf. Geblieben ist das Bestreben des örtlichen Domkapitels, die Wahrheit um jeden Preis unter Verschluss zu halten, wogegen sich ein auswärtiger Historiker stemmt … – Mischung aus Historienroman und Thriller, wobei letzterer auch Treibriemen einer Handlung ist, die unter nie aufdringlicher Wahrung des zeitgenössischen Lebensalltags eine vergangene Welt aufleben lässt: großartig.
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Rolf Giesen/Manfred Hobsch – Hitlerjunge Quex, Jud Süss und Kolberg. Die Propagandafilme des Dritten Reiches

Böser Anfang ist schwer

Die nationalsozialistische „Machtergreifung“ zielte 1933/34 nicht nur auf Politik und Wirtschaft. Wie alle Bereiche des deutschen Lebens wurde auch die Kultur in den Dienst der „Partei“ gestellt. Der Film stellte keine Ausnahme dar. Im Gegenteil: Propagandaminister Joseph Goebbels besaß ein außerordentliches Faible für das Kino. Das betraf nicht nur seine Vorliebe für hübsche Nachwuchsschauspielerinnen. (Seine spezielle Fürsorge verschaffte ihm den Spitznamen „Bock von Babelsberg“.) Für Goebbels war das Kino ein Instrument: Spielerisch und unaufdringlich sollte die nationalsozialistische Botschaft den deutschen Zuschauern eingeträufelt werden.

Geprobt wurde dies schon in den letzten Jahren der Weimarer Republik, sodass pünktlich zu Hitlers Machtübernahme die ersten Filme eines ‚neuen‘ Deutschlands gestartet werden konnten. Sie demonstrierten freilich, wie richtig Goebbels lag, als er darauf drang, die Propaganda stets der Unterhaltung unterzuordnen. „Hans Westmar – Einer von vielen“ oder „SA-Mann Brand“ boten pathetische Massenszenen und braune Aufmärsche in einer dürftigen Spielhandlung und wurden keine Erfolge, denn der deutsche Kinobesucher lehnte Holzhammer-Propaganda ab. Rolf Giesen/Manfred Hobsch – Hitlerjunge Quex, Jud Süss und Kolberg. Die Propagandafilme des Dritten Reiches weiterlesen

Viktor Arnar Ingólfsson – Das Rätsel von Flatey

Das geschieht:

Flatey ist eine kleine Insel an der Nordwestküste Islands. Im Jahre 1960 leben hier 40 Menschen, die als Fischer, Vogelfänger und Seehundjäger ihr bescheidenes Auskommen haben. Jeder kennt jeden, Geheimnisse gibt es scheinbar nicht. Doch eines Junitages wird auf dem unbesiedelten Inselchen Ketilsey die fast vollständig skelettierte Leiche des dänischen Historikers Gaston Lund entdeckt. Er hatte Flatey besucht, um dort das in skandinavischen Forscherkreisen berühmte Rätsel des Flateyjarbóks zu lösen. Dies stammt aus dem 14. Jahrhundert und sammelt isländische Sagen und Legenden aus noch älterer Zeit. Das Rätsel ist jünger; seine Lösung ergibt sich aus dem Inhalt des Flateyjarbóks. Noch jeder ist daran gescheitert. Lund sah sich auf einer heißen Spur.

Wieso wurde er auf einer einsamen Insel ausgesetzt, wo er verhungerte und erfror? Der für Flatey zuständige Bezirksamtmann schickt seinen Angestellten Kjartan nach Flatey, einen jungen Mann mit dunkler Vergangenheit, die er sorgsam zu verbergen trachtet. Kjartan ist kein Ermittler und folglich unerfahren in seinem Versuch, Lunds letzte Tage auf Flatey zu rekonstruieren. Die Inselbewohner sind freundlich, aber in ihrer entlegenen Welt ticken die Uhren anders. Es ist die Natur, die ihr Leben bestimmt. Wind, Wasser, die Jahreszeiten – das sind Faktoren, die zählen. Kjartan muss sich dem Rhythmus von Flatey erst anpassen. Viktor Arnar Ingólfsson – Das Rätsel von Flatey weiterlesen

Antal Szerb – Die Pendragon-Legende

Das geschieht:

Historiker János Báthoy hat seine Zelte in London aufgeschlagen. Dort lernt er Owen Pendragon, Earl of Gwynedd, kennen, einen walisischen Hochadligen, der als Mäzen der Künste und nobler Mensch berühmt aber als Nachfahre des Alchimisten und Hexenmeisters Asaph Pendragon auch berüchtigt ist. Der Earl lädt Báthoy auf sein Schloss Llanvygan ein, was dieser freudig annimmt.

Damit gerät er in ein Komplott, das bereits seit Monaten das Haus Pendragon bedroht. Drei Mordanschläge wurden auf den Earl verübt. Verantwortlich ist wohl eine Gruppe, die sich um das Erbe eines reichen Mannes sorgt. Dieser hatte sein Vermögen mit Hilfe des Earls gemacht. Es soll ihm zufallen, wenn sich herausstellt, dass es beim Tod des reichen Mannes nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Obwohl der Earl vorgibt, nicht an dem Erbe interessiert zu sein, wird er scharf beobachtet. Auch Báthoy wird anonym gewarnt, sich nach Llanvygan zu begeben. Er reist trotzdem, begleitet von Osborne Pendragon, dem Neffen des Earls, sowie vom undurchsichtigen Abenteurer Maloney.

Das Reiseziel stellt sich als einsamer, unheimlicher Ort dar. Des Nachts schleichen merkwürdig gewandete Gestalten durch die Gänge. Ein Ritter in voller Rüstung galoppiert um das Schloss. Geheimgänge werden entdeckt. Maloney übt sich als nächtlicher Fassadenkletterer. An einem See wird ein riesenhafter, altmodisch gekleideter Greis gesichtet. Geht etwa der alte Asaph um? Er heißt, er sei im Besitz okkulter Geheimnisse der Rosenkreuzer gewesen. Ein Elixier dieses mysteriösen Ordens soll ihm das ewige Leben verliehen haben. Sein Grab ist jedenfalls leer, wie unsere drei Freunde feststellen. Sie geraten gleich doppelt in Bedrängnis, als sich sehr diesseitige Gangster auf Schloß Llanvygan zu tummeln beginnen. Bis zum ersten Mord dauert es nicht mehr lange. Die Spannung steigt, denn auch die Geister im Schloss intensivieren ihre Attacken …

Eine angenehme Wiederentdeckung

Viel Mystery-Bockmist wird in den Buchläden der westlichen Welt verstreut; der Fahrer auf dem Traktor heißt Dan Brown. Er kann nicht plotten, kann nicht schreiben, ist aber immens erfolgreich und hat eine Unzahl noch erbärmlicherer Kopisten nach sich gezogen, die das Grundkonzept – ein historisches Rätsel wird mit viel Thrill und einem Hauch Phantastik verquirlt – treulich aufgreifen.

Nun ist diese Konstellation beileibe nicht neu, sondern in der Unterhaltungsliteratur schon seit Urzeiten in Verwendung. Der Erfolg der gegenwärtigen Schreibautomaten hat zumindest den einen Vorteil, dass sich dies am praktischen Beispiel überprüfen lässt: Auf der Suche nach ihrem Stück vom Kuchen suchen Buchverlage verzweifelt nach Titeln, die sich irgendwie in den Hype einschleusen lassen. Es kann nicht ausbleiben, dass unter dem ganzen Schutt, der dabei aufgewühlt wird, hier und da ein Goldkorn zu Tage tritt.

„Die Pendragon-Legende“ ist kein Korn, sondern ein richtiger Nugget. Bereits 1934 entstanden, zeigt hier ein echter Schriftsteller, wie man aus den genannten Einzelelementen eine stimmungsvolle, durchgängig spannende, immer überraschende Geschichte spinnt. Der Grundton ist überaus heiter bzw. ironisch, was keinen Deut daran ändert, dass der Leser sehr ernstgenommen wird.

Keine Furcht vor ungelösten Rätseln

Gibt es für ein solches klassisches Garn einen stimmungsvolleren Hintergrund als das ‚alte‘ England mit seinen von Geistern heimgesuchten Burgen und Schlössern? Kunstvoll treibt es Szerb auf die Spitze, verstärkt die altertümlichen Besonderheiten des Schauplatzes, verwandelt Schloß Llanvygan und Umgebung in eine von der realen Gegenwart (des Jahres 1933) isolierte Enklave, in der die Vergangenheit lebendig blieb. Dies kommt der Story durchaus entgegen, aber vor allem verleiht es ihr jene nostalgische Patina, die bereits zu Szerbs Zeiten bei der Leserschaft gut ankam.

Völlig unaufdringlich und deshalb umso wirksamer konstruiert der Verfasser das phantastische Fundament, auf dem seine Geschichte bombenfest steht. Dieses Mal sind es nicht die üblichen Verdächtigen – totgeschwiegene Evangelisten, Templer, Nazis usw. -, die im Hintergrund ihr Unwesen treiben. Die Rosenkreuzer gab es tatsächlich, sie hielten sich wie alle ‚geheimen‘ Orden – schon wegen der stets misstrauischen Staatsgewalt – sorgsam verborgen und trieben okkulte ‚Studien‘.

Unsere Geschichte erfährt ein zufriedenstellendes Ende, doch die Rätsel bleiben ungelöst. Die „Pendragon-Legende“ mündet – zumindest soviel sei verraten – in ein phantastisches Finale. Es kann real sein, muss aber nicht. Die Sehnsucht nach und die Furcht vor dem Wunder stellte eine immer wieder literarisch aufgegriffene Konstante im Leben des Antal Szerb dar, wie sein Landsmann György Poszler in einem nicht gerade leicht verständlichen aber informativen Nachwort deutlich macht. Nur selten gelingt es so gut wie in diesem Fall, das ‚Reale‘ mit dem ‚Irrealen‘ zu verknüpfen. Der Leser bleibt leicht ratlos und trotzdem zufrieden zurück. Die sorgsam aufgebaute Spannung verpufft nicht durch ein allzu profanes Ende. Darüber hinaus hat Szerb dafür Sorge getragen, dass wir auch am Schicksal der auftretenden Figuren interessiert sind.

Wissen ist durchaus handfeste Macht

Der unbedarfte Bücherwurm als Held wider Willen, begabt mit einschlägigem Fachwissen und erfüllt vom heimlichen Wunsch nach einem zünftigen Abenteuer: Diese Figur verkörpert János Báthoy nahezu perfekt. Glücklicherweise rettet der Autor ihn vor dem drohenden Klischee. Von der vor allem in Hollywood gern kultivierten Frauenfurcht des ‚intellektuellen‘ Helden gibt es beispielsweise keine Spur. Báthoy nutzt die Chancen, die sich ihm eröffnen. Die aufkeimende Liebe zur hübschen Earls-Nichte ist da kein Hindernis.

Der aufgestörte Büchernarr zeigt sich in der Krise zwar in der Regel hilflos aber nie ohne Ideen. Vor allem ist es sein Fachwissen, das sich nicht als Hindernis, sondern als nützliches Instrument im Ringen um die Rätsel von Schloß Llanvygan erweist. Außerdem hilfreich ist Báthoys Herkunft, die ihn die Hürden einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft quasi überspringen lässt und ihm die Absurditäten derselben in Vertretung der Leserschaft vor Augen führt. (Persönlich kann dieser Rezensent eine Figur nur lieben, die den gemeinsamen Berufsstand so – und schon auf Seite 6! – definiert: „Ich bin Doktor der Philosophie, ein Gelehrter überflüssiger Wissenschaften, und ich beschäftige mich zudem mit Dingen, um die sich kein normaler Mensch mehr kümmert.“).

Auch sonst ist der Leser vor Überraschungen nie sicher. Szerbs Personal scheint sich aus der Klamottenkiste klassischer Kriminalromane zu bedienen. Doch stets gibt es Brüche, die aus Klischeegestalten echte Persönlichkeiten werden lassen. Dabei löst die Gestaltung der weiblichen Darsteller besonderes Erstaunen aus: Sie sind ebenso selbstständig wie ihre männlichen Zeitgenossen, denken und handeln ohne deren ‚Schutz‘ und im positiven Sinn modern. Von allen auftretenden Figuren zeigt sich eine Frau, Lene Kretzsch, als praktische Gefährtin der Geister- und Gangsterjäger. Ihr fällt immer noch ein ungewöhnlicher Ausweg ein, wenn die anderen schon verzagen. Diese Gleichberechtigung im eigentlichen Sinn des Wortes schließt den Kreis, der „Die Pendragon-Legende“ eine uneingeschränkt lesenswert gebliebene Lektüre bleiben ließ.

Autor

Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Antal Szerb ist in seinem Heimatland Ungarn einer der meist gelesenen Autoren des 20. Jahrhunderts. Sein kurzes Leben war geprägt von der Liebe zur europäischen Kultur und Literatur. Geboren wurde Szerb am 1. Mai 1901 in Budapest als Sohn eines assimilierten jüdischen Kaufmanns. Er machte 1919 sein Abitur, studierte in Graz klassische, später moderne Philologie. Ab 1920 wechselte er nach Budapest und zu den Fächern Hungarologie und Germanistik, später auch Anglistik. 1924 promovierte Szerb über Ferenc Kölcsey, den Dichter der ungarischen Nationalhymne. Anschließend arbeitete er als Lehrer für Ungarisch und Englisch an einer Vorstadtschule sowie an einer höheren Lehranstalt für kaufmännische Berufe.

Als Schriftsteller wurde Szerb Mitte der zwanziger Jahre tätig. Er verfasste Rezensionen, Essays und Erzählungen, die in den führenden literarischen Zeitschriften erschienen. Mehrfach reiste er nach Italien, Paris und England; seine Erfahrungen schlugen sich in den ersten beiden Romanen „A Pendragon legenda“ (1934; dt. „Die Pendragon Legende“) und „Utas és holdvilág“ (1937; dt. „Reise im Mondlicht“) nieder. Daneben war Szerb als Literaturwissenschaftler aktiv. 1934 – Szerb war inzwischen Vorsitzender der Literarischen Gesellschaft Ungarns – erschien seine ungarische Literaturgeschichte „A magyar irodalomtörténet“, 1941 eine Geschichte der Weltliteratur („A világirodalom története“).

Obwohl christlich getauft, blieben dem erfolgreichen Schriftsteller und Forscher wegen seiner jüdischen Herkunft die Tore der Universität verschlossen. Immerhin gelang es ihm, sich 1937 mit der Unterstützung einflussreicher Gönner an der Universität Szeged zu habilitieren. Bis 1943 lehrte Szerb dort. Im März 1944 besetzten deutsche Truppen Ungarn. Die faschistischen „Pfeilkreuzler“ übernahmen die Macht. Auch in Ungarn begann der organisierte Judenmord. Antal Szerb wurde im Sommer 1944 zum ‚Arbeitsdienst‘ eingezogen. Im westungarischen Lager Balf bei Ödenburg hat man ihn am 27. Januar 1945 ermordet und in einem Massengrab verscharrt.

Taschenbuch: 311 Seiten
Originaltitel: A Pendragon legenda (Budapest : Révai 1934)
Übersetzung: Susanna Großmann Vendrey
http://www.dtv.de

Hörspiel-CD: 108 min. = 2 CDs
Sprecher: Andreas Pietschmann, Matthias Habich u. a.
ISBN-13: 978-3-8996-4383-1
http://www.audiobuch.com

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (10 Stimmen, Durchschnitt: 1,40 von 5)

Rankin, Ian – Wolfsmale

Typisch Rebus: Weil er seinen Chef in angeheitertem Zustand mit dessen ungeliebten Spitznamen konfrontiert hat, schickt dieser seinen Detective Inspector aus Edinburgh als angeblichen „Experten für Serienmorde“ nach London. Dort geht der „Wolfsmann“ um, ein irrer Serienmörder, der seine Opfer nicht nur grausam verstümmelt, sondern ihnen auch noch wütende Bauchbisse versetzt. Vier Leichen in drei Monaten hat man so aufgefunden. Detective Inspector George Flight von der London von der Metropolitan Police und seine Leute haben Hilfe bitter nötig. Trotzdem sind sie wenig erbaut darüber, dass ausgerechnet ein „Jock“, den sie nicht einmal richtig verstehen, wenn er den Mund aufmacht, ihnen zeigen soll, wie sie ihren Job zu machen haben.

Rebus, der schon immer mehr Einzelkämpfer als Teamspieler war, braucht erwartungsgemäß wenig Zeit, sich den Zorn der englischen Kollegen zuzuziehen. Während er damit kämpft, sich in der ungewohnten Umgebung zurechtzufinden, geht er daran, den Wolfsmann-Fall auf seine eigene, oft unkonventionelle Weise anzugehen. Als Außenstehender fällt es ihm leichter, neue Wege einzuschlagen. Auch gegen Hilfe hat Rebus nichts einzuwenden. Daher leiht er der Psychologin Lisa Frazer von der Universität London gern sein Ohr, als sie ihm vorschlägt, ein Profil des Wolfsmanns zu entwerfen; dass bei ihr Kompetenz mit gutem Aussehen einhergeht, ist Rebus, der sich in der fremden Stadt doppelt einsam fühlt, nicht entgangen. Binnen kurzer Zeit ist der Inspector schwer verliebt und übersieht gar zu gern die Anzeichen dafür, dass Lisa nicht diejenige ist, die sie zu sein vorgibt.

Aber Rebus ist auch anderweitig abgelenkt. Im Wolfsmann-Fall drängt die Zeit: Die Abstände zwischen den einzelnen Morden werden kürzer; der Mörder beginnt die Kontrolle über sich zu verlieren und agiert zusehends blindwütiger …

Nach „Verborgene Muster“ und „Das zweite Zeichen“ ist „Wolfsmale“ der dritte Band der fabelhaften Inspektor-Rebus-Reihe, die Ian Rankin seit einem Jahrzehnt zuverlässig Zutritt zu den Bestsellerlisten diesseits und jenseits des Großen Teiches verschafft. Erneut wird rasch klar, wieso dies zu ist: Rankins Thriller sind nicht ’nur‘ spannend, sondern seine Figuren lebendig, sein Talent als Erzähler außerordentlich (was in der Übersetzung erfreulicherweise fortlebt). Darüber hinaus schildern sie bewegend, aber niemals sentimental oder gar rührselig die Tücken des modernen Großstadtlebens.

Dabei kann „Wolfsmale“ allerdings mit dem furiosen Vorgängerband nicht ganz mithalten. Es ist, als ob Rebus in der ‚Fremde‘ mehr als nur ein wenig hilflos ist. In Edinburgh sticht er, der die dunklen Seiten der unheilvoll verschlungenen Allianz aus Politik, Wirtschaft, Kirche und Verbrechen seiner Heimatstadt genau kennt, regelmäßig in Hornissennester; in London vergräzt er nur ein paar Polizistenkollegen.

Zu weit in den Hintergrund lässt Rankin zudem die eigentliche Thriller-Handlung rutschen. Stattdessen erzählt er hauptsächlich die Abenteuer eines Schotten in London. Weil er ein so hervorragenden Autor ist, macht er dies höchst unterhaltsam. Außerdem weiß hierzulande zwar wohl jede/r um das schwierige Verhältnis zwischen Engländern und Iren. Aber dass die Schotten noch immer auf den Spuren Maria Stuarts wandeln und nach einer vorausgegangenen, sehr nationalistisch geprägten Volksabstimmung 1999 sogar ein eigenes Parlament erhielten, ist wahrscheinlich weniger bekannt. Die dicht unter der Oberfläche lauernden Ressentiments zwischen Engländern und Schotten – Rebus bleibt seinen Gastgebern in diesem Punkt nichts schuldig – tragen zur Dramatik der Handlung entscheidend bei.

Weniger gelungen ist eine Nebenhandlung, die Rebus’ kompliziertem Familienleben gewidmet ist und ihn bei dem Versuch zeigt, seine in London lebende Tochter aus den Klauen eines Kleinkriminellen mit allzu großen Ambitionen zu befreien. Zum eigentlichen Geschehen trägt dies immerhin insofern bei, als Rankin sehr schön zeigt, wie Rebus’ sprunghafter Geist arbeitet, und ihn zufällige Begebenheiten und Beobachtungen, die mit dem Wolfsmann-Fall unmittelbar nichts zu tun haben, dessen Lösung dennoch näher bringen (auch wenn Rankin die Macht des Zufalls hier ein wenig zu oft beschwört).

Der Wolfsmann selbst bleibt über die gesamte Distanz recht blass. Vielleicht haben wir Krimifreunde in den letzten Jahren einfach zu viele Serienkiller über uns ergehen lassen müssen. Selbst wenn sie nicht nur als mörderische Bestie Grusel-Schwung in einen Thriller bringen sollen, sondern mit einer glaubwürdigen und auch tragischen Vita ausgestattet werden, kennen wir sie zumindest in ihrer literarischen Inkarnation zu gut, als dass sie uns noch fesseln könnten. „Wolfsmale“ entstand allerdings bereits 1992, d. h. recht kurz nach „Das Schweigen der Lämmer“, mit dem der Blut-und-Bodycount-Boom 1989 begann. Rankin ist nicht für die Erstarrung des Genres (mit-)verantwortlich zu machen, aber „Wolfsmale“ leidet dennoch darunter, dass heute jeder regelmäßige Krimileser automatisch zum Feierabend-Profiler geworden ist.

Zu guter Letzt laufen sowohl Rebus als auch Rankin aber wieder zur Höchstform auf. Der Inspektor liefert sich mit dem endlich entlarvten Übeltäter eine wilde Auto-Verfolgungsjagd, die einerseits sehr spannend ist, aber andererseits vielfach ironisch gebrochen wird. Rebus ist wahrlich nicht Dirty Harry, doch wie wir nun erfahren, hat er schon immer heimlich davon geträumt, einen Fall nicht nur durch eintönige, zermürbende Fahndungsarbeit, sondern in einem spektakulären Finale zu lösen. Freilich muss er die Erfahrung machen, dass sich dies im Kino wesentlich einfacher realisieren lässt als in der ‚Realität‘, die von der Tücke des Objektes regiert wird!

Fazit: „Wolfsmale“ bietet dieses Mal ’nur‘ gehobene Thriller-Unterhaltung, dies jedoch gemessen an jener Latte, die Rankin selbst aufgelegt hat – und er gehört als Schriftsteller eindeutig in die Olympia-Riege! Mit der Rückkehr ins traditionsreiche, aber gewiss nicht ehrwürdige Edinburgh kehrt Rankin im vierten Rebus-Roman („Ehrensache“/“Strip Jack“) zur alten Form zurück. Es tut gut, zwischen 1001 pfiffigen Mönchlein, weisen Krankenschwestern, knallharten Großstadtcops und übersinnlich begabten Pathologinnen den eigensinnigen Rebus beobachten zu können.

Ian Rankin wird 1960 in Cardenden, einer Arbeitersiedlung im Kohlerevier der schottischen Lowlands, geboren. In Edinburgh studiert er ab 1983 Englisch, zunächst mit dem Schwerpunkt Amerikanische, später Schottische Literatur. Schon früh beginnt er zu schreiben. Zunächst hoffnungsvoller Poet, wechselt er als Student zur Prosa. Nach zahlreichen Kurzgeschichten versucht er sich an einem Roman, findet aber keinen Verleger. Erst der Bildungsroman „The Flood“ erscheint 1986 in einem studentischen Kleinverlag.

Nachdem sein Stipendium ausgelaufen ist, verlässt Rankin 1986 die Universität und geht nach London, wo er u. a. als Redakteur für ein Musik-Magazin arbeitet. Nebenher veröffentlicht er den Kolportage-Thriller „Westwind“ (1988) sowie den Spionageroman „Watchman“ (1990). Unter dem Pseudonym „Jack Harvey“ verfasst Rankin in rascher Folge drei actionlastige Thriller. 1991 greift Rankin eine Figur auf, die er vier Jahre zuvor im Thriller „Knots & Crosses“ (1987; dt. „Verborgene Muster“) zum ersten Mal hat auftreten lassen: Detective Sergeant (später Inspector) John Rebus. „Knots & Crosses“ war 1987 weniger als Kriminalroman, sondern eher als intellektueller Spaß im Stil Umberto Ecos gedacht, den sich der literaturkundige Autor mit seinem Publikum machen wollte. Schon die Wahl des Namens, den Rankin seinem Helden gab, verrät das Spielerische: Um Bilderrätsel – Rebusse – dreht sich die Handlung.

Mit John Rebus gelingt Rankin eine Figur, die im Gedächtnis seiner Leser haftet. Als man ihn immer wieder auf das weitere Schicksal des Sergeanten anspricht, wird er sich dessen Potenzials bewusst. Die Rebus-Romane ab „Hide & Seek“ (1991; dt. „Das zweite Zeichen“) spiegeln das moderne Leben (in) der schottischen Hauptstadt Edinburgh wider. Rankin spürt seither den dunklen Seiten nach, die den Bürgern, vor allem aber den (zahlenden) Touristen von der traulich versippten Führungsspitze aus Politik, Wirtschaft, Medien und Kirche gern vorenthalten werden. Daneben lotet Rankin die Abgründe der menschlichen Psyche aus. Simple Schurken, deren möglichst malerisches, weil „gerechtes“ Ende bejubelt werden kann, gibt es bei ihm nicht.

Ian Rankins Rebus-Romane kommen nach 1990 in Großbritannien, aber auch in den USA stets auf die Bestsellerlisten. Die renommierte „Crime Writers‘ Association of Great Britain“ zeichnet ihn zweimal mit dem „Short Story Dagger“ (1994 und 1996) sowie 1997 mit dem „Macallan Gold Dagger Award“ aus. 1992 ehrt man ihn in den USA mit dem „Chandler-Fulbright Award“ als „Nachwuchsautoren des Jahres“. Rankin gewinnt im Jahre 2000 weiter an Popularität, als die britische BBC beginnt, die Rebus-Romane zu verfilmen.

Ian Rankins [Website]http://www.ianrankin.net ist höchst empfehlenswert; über die bloße Auflistung seiner Werke verwöhnt sie u. a. mit einem virtuellen Gang durch das Edinburgh des John Rebus.

Die John-Rebus-Romane …
… erscheinen in Deutschland im Wilhelm Goldmann Verlag (Stand: Sommer 2005):

01. [Verborgene Muster 956 (1987, Knots & Crosses) – TB-Nr. 44607
02. [Das zweite Zeichen 1442 (1991, Hide & Seek) – TB-Nr. 44608
03. Wolfsmale (1992, Wolfman/Tooth and Nail) – TB-Nr. 44609
04. [Ehrensache 1894 (1992, Strip Jack) – TB-Nr. 45014
05. Verschlüsselte Wahrheit (1993, The Black Book) – TB Nr. 45015
06. Blutschuld (1994, Mortal Causes) – TB Nr. 45016
07. [Ein eisiger Tod 575 (1995, Let it Bleed) – TB Nr. 45428
08. [Das Souvenir des Mörders 1526 (1997, Black & Blue)
09. Die Sünden der Väter (1998, The Hanging Garden) – TB Nr. 45429 (noch nicht erschienen)
10. Dead Souls (1999, noch kein dt. Titel)
11. Der kalte Hauch der Nacht (2000, Set in Darkness) – TB Nr. 45387
12. Puppenspiel (2001, The Falls) – TB Nr. 45636
13. [Die Tore der Finsternis 1450 (2002, Resurrection Man)
14. Die Kinder des Todes (2003, A Question of Blood)
15. [So soll er sterben 1919 (2004, Fleshmarket Close)

Darüber hinaus gibt es zwei Sammlungen mit Rebus-Kurzgeschichten: „A Good Hanging & Other Stories“ sowie „Beggars Banquet“. Hinzu kommt „Rebus’s Scotland“, ein Fotoband mit Texten von Rankin, der hier jene Orte aufsucht, die ihn zu seinen Romanen inspirierten.

Andrew Huebner – Rache für Little Bighorn

huebner-little-bighorn-cover-kleinDie Schlacht am Little Bighorn hebt den Krieg zwischen den indianischen Ureinwohnern und der ‚weißen‘ Bevölkerung auf eine neue, grausame Ebene. Nur wenige Beteiligte bemerken, wie sie kontinuierlich verrohen, ohne sich dem verhängnisvollen Sog indessen entziehen zu können … – Am Beispiel dreier junger Männer zeichnet der Verfasser diesen fatalen Weg literarisch nach. Während der deutsche Titel teilweise irreführend die Rache in den Vordergrund stellt, geht es primär um ein (weiteres) blutiges Kapitel im Werden der US-Nation, dessen Nachwirkungen längst nicht Geschichte sind.
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Michael Pearce – Im Schatten des Feigenbaums

Das geschieht:

Kairo, Nordägypten, in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts: Vor dreißig Jahren rief ein vom Thronsturz bedrohter Khedive (so lautet der Titel des Monarchen, der königlich über das Land herrscht) die Briten zur Hilfe. Freudig nutzten diese ihre Chance, ihrem Empire ein Sahnestück einzuverleiben, ohne zuvor einen Großteil der einheimischen Bevölkerung abzuschlachten. Das uralte Wüstenland am Nil hätten sich auch die Franzosen gern unter den Nagel gerissen; in Afrika gehören sie zu den ärgsten kolonialen Konkurrenten, die es tunlichst nicht zu brüskieren gilt. Daher ist Ägypten offiziell keine britische Kolonie; die Regierung lässt sich von den Briten nur ‚beraten‘.

Selbstverständlich weiß jeder um die wahren Verhältnisse. Die Briten halten das Heft fest in der Hand. Die örtlichen Herrscher sind mehr oder weniger Marionetten. Es herrscht zwar Ruhe im Land, aber nationalistische Gruppe schüren immer wieder und seit einiger Zeit verstärkt Unruhen. Dafür zu sorgen, dass diese nie offen ausbrechen, obliegt dem britischen Geheimdienst, der in der ägyptischen Hauptstadt stark präsent ist. Gareth Owen steht ihm vor, ein besonnener Mann, der die komplexen politischen und vor allem religiösen Verhältnisse vor Ort kennt. Offiziell arbeitet er für den Khedive, aber jeder Bürger Kairos weiß, dass tatsächlich der „Mamur Zapt“ – so Owens Amtstitel – das Sagen hat.

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Dash, Mike – Tulpenwahn. Die verrückteste Spekulation der Welt

Eine kleine Blume, hübsch anzusehen, als Bote des Frühlings geschätzt und selbst ohne grünen Daumen leicht zum Erblühen zu bringen: Das ist die Tulpe, die in ihrer farbenprächtigen Unschuld vergessen macht, dass sie vor knapp drei Jahrhunderten eine ganze Nation in den Ruin zu reißen drohte.

So verzaubert waren die Niederländer einst von der noch seltenen Blume, dass in den Jahren 1633 bis 1637 ein regelrechter Tulpenwahn ausbrach, der Reich und Arm, Bürger, Bauer, Kauf- und Edelmann in den Handel mit Blumenzwiebeln investieren und spekulieren ließ, bis schließlich Preise von umgerechnet bis zu 1,5 Mio. Euro pro Knolle erzielt werden konnten!

Noch spektakulärer war der anschließende Zusammenbruch des Zwiebel- und Schwindel-Imperiums. Wie eine Seifenblase zerplatzte der Traum vom schnellen Geld ohne Arbeit und Risiko und hinterließ nicht nur Katzenjammer, sondern eine Gesellschaft, die vor dem Ruin stand.

Der Historiker Mike Dash erzählt diese seltsame Geschichte vom großen Tulpenwahn. Weil sich später sogar die Betroffenen fragten, wie es so weit hatte kommen können, holt der Verfasser weit aus. „Tulpenwahn“ ist auch eine Geschichte der Tulpe. Wer weiß schon, dass sie, die heute in jedem europäischen Frühlingsbeet zu finden ist, aus den Steppen und Hochtälern Zentralasiens kommt? Ausgerechnet die kriegerischen turkmenischen Nomaden, die zum Erobern und Plündern nach Asien kamen, fanden Gefallen an den damals noch schlichten, aber schon bunten „Ur-Tulpen“. Sie nahmen sie mit, um 1050 wurden sie schon in persischen Gärten gezogen, und dann rückten sie mit den Osmanen (oder Türken) über Kleinasien nach Nordafrika und Südeuropa vor.

Den gewickelten Turban – oder „dulbend“ – auf dem Kopf, kultivierten und veredelten türkische Gärtner die nun benamte Blume. Reisende aus dem Abendland fanden Gefallen an ihr. 1559 wuchsen Tulpen im bayrischen Augsburg. Drei Jahre später hatten sie Antwerpen in den Niederlanden erreicht – und dort beginnt unsere eigentliche Geschichte …

Die soll an dieser Stelle nicht vorab erzählt werden. Stattdessen rät Ihr Rezensent eindringlich, sie selbst nachzulesen. Sie beginnt trügerisch harmlos und entwickelt rasch eine Dynamik, der man sich schwer entziehen kann. Der Tulpenwahn ist ein Exempel, wie sich bodenständige und vernünftige Menschen in eine Lemminghorde verwandeln, die ihr Vermögen und ihre Zukunft auf Gedeih und Verderb an eine zerbrechliche Blumenzwiebel ketten, ohne die geringste Ahnung von dem zu haben, was sie da in Gang setzen.

Mike Dash gelingt das Kunststück, die scheinbar trockene Materie zum Leben zu erwecken. Geld verdient man gern, aber wenige Menschen verstehen wirklich, wie dies funktioniert, und kaum jemand interessiert sich dafür. Deshalb ist es dem Verfasser hoch anzurechnen, dass er ein Kapitel Wirtschaftsgeschichte in ein Kriminalstück verwandeln kann, ohne darüber die Fakten zu vernachlässigen. „Tulpenwahn“ ist ein rundum überzeugendes Sachbuch. Es legt die Fakten schlüssig und spannend dar, räumt mit überlieferten Irrtümern auf (Die Niederländer überwanden den Wahn schneller als dies den Moralaposteln und Sensations-Historikern lieb war), erklärt und begründet, wieso ein solcher Irrwitz beinahe unvermeidlich war, überrascht mit historischen Parallelen vom „Hyazinthenwahn“ bis zum Run auf eine eher exotische Blume, die noch im 20. Jahrhundert diverse chinesische Landstriche erfasste.

Ein Abbildungsteil hilft dem Leser, den Tulpenwahn zu verstehen. So macht der Anblick wunderschön abgemalter Tulpen deutlich, dass die Zucht damals einen Standard besaß, der heute längst nicht mehr erreicht wird. Die niederländischen Tulpen des 17. Jahrhunderts waren Meisterwerke einer vergessenen Blumenzuchtkunst.

Weitere Bilder zeichnen den Siegeszug der Tulpe durch das Osmanische Reich nach, zeigen zeitgenössische Gemälde und Stiche, die verraten, wie präsent diese Pflanze nicht nur im Alltag, sondern auch in der Kultur war. Faszinierend auch die Kommentare der Künstler, als der Tulpenwahn in sich zusammenbrach. Wer den Schaden hatte, musste schon damals für den Spott nicht sorgen – das übernahmen jene, die sich „klüger“ dünkten bzw. nicht den Mut aufgebracht hatten, sich an der Zwiebel-Spekulation zu beteiligen und nun gut Moralpredigen halten oder lachen konnten.

Immer wieder flicht Dash historische Anekdoten ein, die seine Darstellung meisterhaft kommentieren. Der Obergärtner am osmanischen Herrscherhof ist traditionell auch der Henker; ein hungriger Unglückswurm wird vor Gericht gezerrt, weil er eine Ladung unbezahlbarer Tulpenzwiebeln verspeist hat; vorsichtige Blumenhändler übernachten in ihren Beeten: Das sind die Randbemerkungen, die ein informatives Sachbuch zusätzlich veredeln.

Ian Rankin – So soll er sterben

Das geschieht:

Das Revier St. Leonard‘s im schottischen Edinburgh wurde umstrukturiert, die Kriminalpolizei ausquartiert. Detective Inspector John Rebus hat es nach Gayfield Square verschlagen. Dort ist er im Grunde überflüssig, denn seine Vorgesetzten möchten den querköpfigen Ermittler, der innerhalb der traulichen Filzokratie der Stadt immer wieder für Unruhe sorgt, endlich loswerden und aus dem Job ekeln. Wenigsten ist Detective Sergeant Siobhan Clarke, Rebus‘ Vertraute, mit ihm versetzt worden.

Sein aktueller Fall bringt Rebus nach Knoxland, ein heruntergekommenes Stadtviertel von Edinburgh. Die Ärmsten der Armen hausen in verkommenen Betonbauten. Noch weiter unten in der gesellschaftlichen Hackordnung stehen die Einwanderer und Asylanten, die von einer überforderten und gleichgültigen Verwaltung mit Rassisten und Fremdenhassern zusammengepfercht werden. Einen der ungeliebten Fremdlinge hat es erwischt: Stef Yurgii, ein kurdischer Regimekritiker, der vor der Ausweisung stand, wurde erstochen. Niemand hat etwas gesehen, will der Polizei etwas sagen oder wagt dies zu tun. Ian Rankin – So soll er sterben weiterlesen

Reginald Hill – Das Dorf der verschwundenen Kinder

Das geschieht:

Dendales in der englischen Grafschaft Yorkshire, Sommer 1982: In dem abgelegenen entsteht ein Staudamm; in dem See wird der kleine Ort untergehen. Die Einwohner haben sich lange gewehrt, mussten letztlich aufgeben. Ihr Unmut wird jedoch nebensächlich, als in kurzem Abstand drei junge Mädchen spurlos verschwinden und ein viertes angegriffen wird. Angst und Misstrauen wachsen zu Panik und offenem Zorn, als es der Polizei nicht gelingt, die Kinder zu finden.

Für die Dorfbevölkerung ist der Schuldige bald gefunden: Benny Lightfoot, ein eigenbrötlerischer, wunderlicher junger Mann, der sich abseits der Gemeinschaft hält. Die Polizei vernimmt ihn, kann ihm aber nichts nachweisen. Wieder in Freiheit, setzt Benny sich ab. Niemand hat ihn seither gesehen. Dendales wird wie geplant geflutet. Die Einwohner ziehen in den Nachbarort Danby. Langsam gerät die Tragödie in Vergessenheit. Reginald Hill – Das Dorf der verschwundenen Kinder weiterlesen

Ellery Queen – Das Geheimnis der weißen Schuhe

Queen Geheimnis kleinDas geschieht:

New York City in den „Roaring Twenties“ des 20. Jahrhunderts: Das „Dutch Memorial Hospital“ zählt zu den modernsten Krankenhäusern der Stadt, weil eine reiche Frau vom geradezu unamerikanischen Drang zur Nächstenliebe beseelt wird. Abigail Doorn, seit einigen Jahren Witwe, schaut oft und gern in ‚ihrem‘ Hospital nach dem Rechten. Dort schätzt man die freundliche Gönnerin, auch wenn sie manchmal ein wenig launisch ist.

Daher ist die allgemeine Bestürzung groß, als Abigail bei einem Sturz im „Dutch Memorial“ schwer verletzt wird. Zufällig anwesend ist Ellery Queen, Berater der Kriminalpolizei von New York sowie Verfasser gern gelesener Kriminalromane. Eigentlich wollte er nur einen alten Freund besuchen, aber der führt Ellery als Ehrengast in den OP. Aus der blutigen Vorstellung wird freilich nichts, denn als Abigail Doorn hineingerollt wird, ist sie bereits mausetot: erdrosselt mit einem Stück Blumendraht. Ellery Queen – Das Geheimnis der weißen Schuhe weiterlesen

Arthur Conan Doyle – Der Hund der Baskervilles [Sherlock Holmes]

Für ein vor Jahrhunderten begangenes Unrecht wird das Geschlecht der Baskervilles von einem mörderischen Geisterhund gejagt. Nun soll der berühmte Detektiv Sherlock Holmes den Spuk bannen. Mit seinem treuen Gefährten Dr. Watson macht er sich auf in das Moor von Devonshire, wo des Nachts freilich nicht nur der Hund umgeht … – Berühmtester und mit Abstand bester der vier Holmes-Romane, gelungen in der Handlung, spannend, atmosphärisch unerhört dicht: jede Zeile mit Recht ein Klassiker des Kriminalromans.
Arthur Conan Doyle – Der Hund der Baskervilles [Sherlock Holmes] weiterlesen

Carl Hiaasen – Dicke Fische

Das geschieht:

R. J. Decker, einstiger Starfotograf in der Sinnkrise, versucht er als Privatdetektiv einen Neuanfang im sonnigen US-Staat Florida. Aktuelle hat ihn Millionär Dennis Gault angeheuert, der sich sein süßes Leben im Müßiggang als Wettkampffischer versüßt. Der Kampf um den größten Maulbarsch ist nicht nur ein amerikanischer Breitensport geworden, lernt der erstaunte Decker, sondern hat eine lukrative Industrie für Zubehör aller Art hervorgebracht. Die Fänger der dicksten Fische gelten als Idole, die Preisgelder erreichen schwindelerregende Höhen. Bisher war Gault der Hecht in diesem Barschteich. Nun macht ihm ein Konkurrent seinen Status streitig. Dickie Lockhart hat es sogar zu einer eigenen Angel-Show im Fernsehen gebracht.

Aber er betrügt und hängt offenbar gefrorene Dickfische an den Haken, wenn niemand hinschaut. Das soll Decker beweisen. Dafür winken ihm 50.000 Dollar Honorar, was ihn eventuelle Vorbehalte rasch vergessen lassen. Er ahnt nicht, dass er sich das Geld sauer wird verdienen müssen. Just ist im Lake Jesup die Leiche des Anglers Robert Clinch aufgetaucht. Angeblich ist er ertrunken, aber Decker wird nachdenklich, als er auf der Beerdigung dessen Geliebte kennenlernt. Lanie Gault – Dennis‘ Schwester – erzählt ihm, dass Clinch Deckers Vorgänger auf der Jagd nach Lockhart war. Carl Hiaasen – Dicke Fische weiterlesen

Rankin, Ian – Ehrensache

Der Plan: Um sein von der Auflösung bedrohtes Polizeirevier Great London Road und natürlich die eigene Person den Medien, dem Steuerzahler und vor allem der Politik zu empfehlen, ordnet Chief Superintendent Watson eine Razzia in Edinburghs einzigem Bordell an. Leider stellt wie schon so oft der Zufall dem armen „Farmer“, wie ihn seine Untergebenen respektlos zu nennen pflegen, ein Bein: Unter den sündhaften Gästen, die unter großem Hallo der Presse das lasterhafte Haus verlassen müssen, befindet sich auch Gregor Jack, allseits beliebter Abgeordneter des schottischen Parlaments.

Dass dieser mächtige Freunde hat, denen diese Bloßstellung gar nicht gefällt, wird Watson bald schmerzlich bewusst. Trotzdem steckt Jack in einem peinlichen Dilemma. Zwar dürfte ihm die Gunst der meisten Parteifreunde und Wähler erhalten bleiben, doch ob dies auf seine Gattin, die unberechenbare Elizabeth, und ihren nicht zur Nachsicht mit dem Schwiegersohn neigenden Vater, den einflussreichen Geschäftsmagnaten Sir Hugh Ferrie, ebenfalls zutrifft, steht in den Sternen.

Oder hat man dem allzu beliebten und erfolgreichen Parlamentarier etwa eine Falle gestellt? Das ist die Theorie, der Inspector John Rebus anhängt. Der eigensinnige Polizist schätzt den Politiker Jack und beginnt, auf eigene Faust Recherchen anzustellen. Dabei entdeckt er, dass nicht Gregor, sondern Elizabeth das schwarze Schaf in dieser Ehe ist, schätzt sie doch ausschweifende Partys, die oft in lupenreine Orgien ausarten. Interesse erregt auch die Liste der Gäste, die im Hause der Jacks ein und aus gehen. Darunter befinden sich illustre Persönlichkeiten wie der Schauspieler Rab Kinnoul und seine Ehefrau Cathy, aber auch eher zwielichtige Gestalten wie der Antiquar Ronald Steele, den Rebus schon früher kennen gelernt hat, als er in einem Fall von Bücherdiebstahl ermittelte. Notgedrungen nur im Geiste kann ein weiterer Jugendfreund an den Zusammenkünften teilnehmen: Andrew Macmillan hat vor Jahren seiner Gattin den Kopf abgesägt und sitzt seitdem in einer Anstalt für geisteskranke Kriminelle ein.

Seltsame Leute sind sie alle, die sich überdies gegenseitig belügen und betrügen, wie Rebus offen legt. Er kann er sich dem Fall Gregor Jack nun offiziell widmen. Rückendeckung erhält er ausgerechnet von „Farmer“ Watson, dem der Druck von oben zu schaffen macht. Gern hätte er jetzt einen Beweis für Jacks Unschuld, den Rebus ihm beschaffen soll. Stattdessen identifiziert Rebus eine Leiche: Im Fluss unterhalb der Kinnoulschen Villa treibt mit zerschmettertem Schädel die allseits vermisste Elizabeth Jack – und entdeckt hat sie Cathy Kinnoul. Ein eigenartiger Zufall, findet Rebus, der sich allmählich fragt, wie lieb und teuer die Verblichene ihren Freunden eigentlich wirklich war, die sie offenbar gern gemeinsam mit einigen unschönen Geheimnissen tief begraben wüssten …

Die Welt ist schlecht – der Lektion vierter Teil. Eine eigentlich bitter schmeckende Medizin, würde sie nicht so formvollendend verabreicht wie in diesem neuen-alten Abenteuer des schottischen Querkopf-Polizisten John Rebus. „Ehrensache“ erschien hierzulande mit mehrjähriger Verspätung, aber das ist unwichtig, da Ian Rankin stets gültige Wahrheiten (oder Binsenweisheiten) zu einem ebenfalls nicht gerade neuen, doch immer wieder gern gelesenen Plot verknüpft: Reichtum und Einfluss korrumpieren quasi automatisch, und Gesetze und Regeln gelten primär für jene, deren Machtlosigkeit sie zur Befolgung zwingt. Immerhin macht Geld allein offenbar tatsächlich nicht glücklich.

Glücklicherweise ist es John Rebus, der die Fäden fester in der Hand hält, als dies seine immer offener zur Schau gestellte Überdrüssigkeit vermuten ließe. Inzwischen hat er den Gedanken an eine Karriere im Polizeidienst endgültig ad acta gelegt und macht sich einen (freilich selbstzerstörerischen) Spaß daraus, unfähige oder allzu ehrgeizige Vorgesetzte zu piesacken. Alkohol im Dienst ist für Rebus schon lange kein Tabu mehr, und auch den Feierabend genießt (oder erträgt) er lieber ein wenig angesäuselt. Wie nebenbei wird dem Leser deutlich, dass dieser John Rebus endgültig in ein schwarzes Loch zu fallen droht. Der Polizeidienst ist ihm wichtiger als er sich selbst zugestehen mag, denn sein Privatleben ist inzwischen ein kaum mehr existentes Desaster. Zwar lebt Rebus nicht mehr solo, aber es braucht keinen Wahrsager, um zu erkennen, dass diese Beziehung keine Zukunft hat.

Erwartet uns also eine recht schwerblütige Lektüre? Nicht im Geringsten, denn Ian Rankin versteht die Kunst, das Tragische immer wieder durch (keltischen?) Humor aufzulockern. Noch stärker als in den ersten drei Bänden der Rebus-Serie nutzt er die Tücke des Objektes als Element der Handlung. Zuverlässig regiert das Chaos in den baufälligen Mauern des Reviers Great London Road, und es scheint auf die dort arbeitenden Beamten abzufärben. „Farmer“ Watson agiert, von Alkohol und Koffein gleichermaßen angefeuert, wirrköpfiger denn je und muss von Rebus, seinem liebsten Feind, immer wieder unauffällig auf den halbwegs rechten Pfad zurückgelotst werden, denn schon sägt der schleimige Superintendent „Fart“ Lauderdale an des Farmers Stuhl, und den möchte nicht nur Rebus auf keinen Fall dort sehen. Der geheime Kleinkrieg hinter den Kulissen von Great London Road gehört zu den Höhepunkten dieses Romans und sorgt auch für den wunderbaren (hier nicht verratenen) Schlussgag, der Rebus einmal mehr als Opfer eines boshaften, aber immerhin sehr einfallsreichen Schicksalsgottes zeigt.

Die eigentliche Kriminalhandlung funktioniert, kann aber nicht durch Überraschungen oder wirklich Unerwartetes glänzen – oder gibt es unter uns Leser, die nicht davon überzeugt sind, dass jeder Politiker zum Lumpen prädestiniert ist? Deshalb hält sich das Mitleid in Grenzen, wenn der Himmel über der Welt des Gregor Jack einstürzt und er nach den Regeln des alten Kartenspiels „Strip Jack“ (hierzulande angeblich „Bettelmann“ genannt) Stück für Stück seiner Würden und seines Ansehens entkleidet wird. Es ist das wunderbare Ensemblespiel, das „Ehrensache“ wieder mit deutlichem Abstand über die Latte des Durchschnitt-Thrillers hievt.

Reaves, Michael / Pelan, John [Hg.] – Sherlock Holmes: Schatten über Baker Street

Arthur Conan Doyle meets H. P. Lovecraft: 18 neue Storys um Sherlock Holmes, der dieses Mal keinen Kriminellen das Handwerk legt, sondern mit den Umtrieben des außerirdischen Kraken-Gottes Cthulhu konfrontiert wird. Das Crossover funktioniert erstaunlich gut & vor allem dann, wenn sich die Autoren von den ursprünglichen Erzählmustern frei machen und den jeweiligen Mythos interpretieren: Insgesamt ein ungewöhnlicher und ungewöhnlich unterhaltsamer Lese-Spaß für Krimi- und Horrorfans.
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