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Iggulden, Conn – Imperator: Das Feld der Schwerter (3)

Das Jahr 60 vor Christi Geburt: Ein Mann in der Blüte seines Lebens, den Kopf voller Träume, Ziele und Ideologien, verlässt mit tausenden von Männern die spanischen Küsten. Gaius Julius Cäsar hält nichts mehr in dem Land am Mittelmeer. Als Prätor wurde er in die römische Provinz entsandt, um mit seinen Männern den Einfluss des Stadtstaates in westlicher Ausdehnung zu sichern und die Mächtigen des römischen Senats mit spanischem Gold zu speisen. Doch seine Ideen haben Flügel, erheben sich weit über die Grenzen Spaniens und die ihm dort gegeben Möglichkeiten. Er will etwas verändern, die Gedanken des Revolutionärs Marius aufgreifen und in seinem Rom verwirklicht sehen.

Doch die grausame Ermordung seiner Frau erstickt jeden Funken von Leidenschaft im Herzen des Cäsar. Schließlich hatte er durch sein Amt in Spanien Abstand zu diesem Schicksalsschlag gewinnen können, doch genau wie sein Gut und seine Familie hatte er auch seinen Enthusiasmus in Rom zurückgelassen. Bis zur Erschöpfung hatte er sich der Verwaltung Spaniens verschrieben, sich ein unmenschliches Maß an Arbeit aufgebürdet, doch Bedeutung hatte es nur wenig für ihn. Gemeinsam mit seinem besten Freund Brutus und seinem Neffen Octavian hatte er wenigstens die Trauer über den grausamen Mord an seiner Frau in Rom verdrängen können und Abstand zu den immer wiederkehrenden Bildern in seinem Kopf geschaffen.

Schließlich hat er in den Weiten Spaniens sogar den Funken für neuen Lebensmut in den Armen einer Frau wiederentdeckt. Eine tüchtige Geschäftsfrau namens Servilia, die Mutter des Brutus, fasziniert ihn vom ersten Augenblick an und eine knisternde Spannung liegt zwischen den beiden. Ihre Leidenschaft und Hingabe schaffen es, die Mauern des später größten Mannes Roms einzureißen und seine Begeisterung freizusetzen.

Er setzt sich zum Ziel, seinem Vorbild Alexander dem Großen nachzueifern und den Ruhm des Römischen Reichs zu mehren, neue Welten zu entdecken und Gerechtigkeit zur Maxime der Politik zu machen. Diesen ehrgeizigen Ambitionen steht in erster Linie der Machthunger der römischen Optimaten entgegen. Sie fürchten Einbuße an Einfluss, sollten die Popularen, die Volksfreundlichen, die Entscheidungsgewalt im Staat innehaben.

So muss sich Cäsar, nach Rom zurückgekehrt, in den wenigen Tagen bis zur Wahl der Konsuln an allen Fronten behaupten: Einerseits will er das Volk mit Ehrlichkeit von sich überzeugen, andererseits um die Unterstützung der scheidenden Amtsinhaber buhlen, denn mit Crassus und Pompeius stehen ihm der Wohlhabendste und Einflussreichste Roms gegenüber. Während Crassus sich fast ein wenig zu schnell zu Cäsar bekennt, hadert Pompeius lange, und selbst als er ihm seine Unterstützung zusichert, ist er dem aufstrebenden Mann aus dem Geschlecht der Julianer nicht besonders zugetan. Mit Schwertkämpfen, der Zerschlagung der Verschwörung des Catilina, Reden vor dem Volk, Gerichtsfällen und seiner dominanten Präsenz schafft es Cäsar letztlich, für das nächste Jahr das Amt des Konsuls zu gewinnen.

Noch vor der ersten Senatssitzung beschließen Pompeius, Crassus und Cäsar in einer geheimen Vereinbarung die Aufteilung der Macht und der größtmöglichen Durchsetzung der Ziele jedes Einzelnen. Zum einen erhält der geldgierige Crassus das Handelsmonopol Roms, Pompeius kann seine vorherige Macht als Konsul weiterhin geltend machen und auch Cäsar zieht folgenschwere Vorteile aus diesem Triumvirat: Nach der halben Amtszeit, in der er grundlegend verändernde Beschlüsse durchsetzen will, beendet er seine Tätigkeiten in Rom und erhält das Recht, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen mit seinem Heer Gallien zu erobern. Nie zuvor hatte in der römischen Geschichte ein Feldherr so freie Hand gegenüber dem Senat. Die Verwirklichung der jeweiligen Ziele ist den drei Männern nur möglich, da Cäsar die pikanten Vorlieben seines Amtskollegen Bibulus nicht verborgen bleiben und er ihn so vollkommen in der Hand hat.

Der Reise über die Alpen in das vollkommen unbekannte Gebiet im Norden steht nun nichts mehr im Weg. In beeindruckender Weise erobert er die Regionen Galliens und es dauert nicht lange, bis ganz Gallien in Aufruhr ist. Die gallischen Stämme sind verzweifelt und fürchten, von dem eindrucksvollen Heer aus Rom überrannt zu werden. Diese Furcht ist keineswegs unbegründet, doch erst der Stammesführer der Arverner, Vercingetorix, wagt es, Cäsar die Stirn zu bieten. In einem eindrucksvollen, lang währenden Gefecht kämpfen nicht nur Armeen gegeneinander, sondern vor allem auch zwei stolze Männer. So ist es auch Vercingetorix, der Cäsar erstmals gefährlich nah an den Rand einer totalen Niederlage führt …

Spätestens zu diesem Zeitpunkt im Buch meint man, die Gallischen Kriege, die Wahlen der Konsuln oder Cäsars Verwaltungszeit in Spanien am eigenen Leib miterlebt zu haben, so bildgewaltig präsentiert Autor Conn Iggulden die Ereignisse im ersten Jahrhundert vor Christus. Es ist nicht nur ein historischer Schmöker, es ist ein Roman voller Abenteuer, Liebe, Freundschaft und Politik, so ansteckend mitreißend und lebendig, obwohl die Helden der Vergangenheit angehören.

Der Leser fühlt sich mit dem größten Imperator aller Zeiten menschlich verbunden und erlebt Geschichte hautnah, anstatt nur darüber zu lesen. Dies liegt insbesondere auch daran, dass der Autor auf die Erwähnung von Daten verzichtet und die Ereignisse nicht mit Begriffen der Geschichtsforschung belegt. Beim Lesen spürt man die ungehaltene Freude des Autors an dem historischen Stoff. In mancherlei Hinsicht hat Iggulden sicherlich die Lücken der Geschichte mit den Freiheiten eines Autors ausgefüllt, aber dies stärkt nur den Charme des Buches. Dort, wo in den Lexika der Bibliotheken nichts über das Liebesgeflüster zwischen Cäsar und seiner geliebten Servilia steht, wo die Feste im Kreise der Freunde nicht dokumentiert wurden, dort verbindet Iggulden meisterlich Fiktion und Fakt.

© _Stefanie Borgmann_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.X-Zine.de/ veröffentlicht.|

Jean M. Auel – Ayla und der Stein des Feuers (Erdenkinder 5)

Vorgeschichte in vier Akten:

30000 Jahre mag es her sein, da wird an der Küste des Schwarzen Meeres Ayla, ein kleines, halb verhungertes, durch ein Erdbeben eltern- und stammeslos gewordenes Mädchen vom Menschenschlag der Cro-Magnons – Sie und ich gehören ihm noch heute an – von einer Horde Neandertaler (der leicht vormenschlichen Konkurrenz), dem „Clan der Höhlenbären“, gefunden und aufgenommen – recht widerwillig, entspricht doch die Neue mit ihrem schlanken, geraden Wuchs, den blauen Augen, der hohen Stirn und den blonden Haaren so gar nicht den Schönheitsidealen ihrer krummbeinigen, wulstbrauigen und wortkargen Gastgeber. Das hässliche Schwänlein muss unter vielen stolzen Enten denn auch ein an Zuneigung armes aber an Knüffen und Püffen umso reicheres Dasein fristen, das durch die Feindschaft zwischen den „Anderen“, wie die Neandertaler Aylas Leute nennen, und den „Flachköpfen“, wie diese wiederum ihre urtümlichen Nachbarn schimpfen, nicht eben einfacher wird. Trotzdem arrangiert man sich, und Ayla schenkt sogar einem Sohn das Leben, der sich zwar schon im Vorschulalter rasieren müsste aber trotzdem von seiner Mutter heiß geliebt wird, bevor diese ihn dem fiesen, intriganten Kindsvater überlassen muss, als der Clan der Höhlenbären sie schnöde verstößt. („The Clan of the Cave Bear“, 1980; dt. „Ayla und der Clan des Bären“)

Es schließen sich einsame Lehr- und Wanderjahre eines Engels auf (vorzeitlicher) Erden an, der viel zu edel für diese Welt ist sowie dank eines schamanischen Crash-Kurses bei erwähntem Höhlenbären-Clan einen guten Draht zu Mutter Natur und ihren übersinnlichen Kindern besitzt. Diese sitzen irgendwo auf Wolke Sieben und lenken von dort die Geschicke derer, die da unter ihnen k(r)euchen und fleuchen. Einen Odem purer Güte und Nächstenliebe ausdünstend und im absoluten Wissen um die Heilkraft jedes Kräutleins, das da blüht, gelingt es Ayla, a) den bösen Wolf zum braven Haushund, b) das wilde Pferd zum geduldigen Reittier und c) den edlen Löwen zum Kingsize-Kätzchen zu zähmen. Nachdem sie diese Künste zur Vollendung gebracht hat, naht auch Mr. Right: der Werkzeugmacher Jondalar, wohlgestaltet, einfühlsam, liebevoll und – nicht zu vergessen – ein toller Liebhaber. Dieses Gottesgeschenk an die moderne Frau von Vorgestern hat auf einer kühnen Reise, die Jondalar aus seiner weit entfernten Heimat, der südfranzösischen Dordogne, den Fluss Donau – hinabführte, buchstäblich Schiffbruch erlitten und muss von Ayla zusammengeflickt und gepflegt werden, bevor man sich näherkommen und die gemeinsame Rückkehr in Jondalars Heimat beschließen kann. („The Valley of Horses“, 1982; dt. „Das Tal der Pferde“)

Gar lang ist die Reise, dazu hart und beschwerlich, und sie wird nicht einfacher dadurch, dass Ayla und Jondalar immer wieder warten müssen, während die Große Geistin dieser Urzeit-Welt – vulgo Jean M. Auel genannt – ihrer Neigung frönt, jedem Grashalm, jedem Pilz und jedem Kleintier, der oder das am Wegesrande sichtbar wird, aus- und abschweifende Exkurse zu widmen („essbar“ – „heilend“ – „kleidsam“). Kein Wunder, dass es gar nicht mehr vorwärtsgeht, als unser Paar auf Menschen trifft. Die Mamutoi oder Mammut-Jäger des Löwenlagers pirschen den großen Urzeit-Elefanten hinterher. Ayla ist angetan von diesem Stamm, und diese Zuneigung wird erwidert: Der schwarzhäutige Ranec ist‘s, der hier der blonden Fremden nachzusteigen beginnt. Für den armen Jondalar brechen harte Zeiten an, denn der Rivale ist fast so ein guter Frauenversteher wie er, sodass Ayla über 800 Seiten hin- und hergerissen wird, bevor man wieder zusammenfindet und die Reise nach Frankreich fortsetzt. („The Mammoth Hunters“, 1985; dt. „Mammutjäger”)

Die nächsten Tage und Wochen verbringen Ayla und Jondalar damit, ihre angeschlagene Beziehung wieder zu kitten. Spannungen, die trotz wertvoller & endloser Frau-Mann-Gespräche zurückbleiben, werden vorzeitlich unbekümmert in den Feuern der „Wonne“ verbrannt. Nachdem man sich so die Donau-Auen hinaufdiskutiert und -gebumst sowie zwischenzeitlich hustende Neandertaler oder bauchwehkranke Cro-Magnon-Genossen mit selbstgebrauter, ökologisch einwandfreier Medizin kuriert hat, wird es noch einmal dramatisch: Amazonen (!) verschleppen Jondalar in ihr Lotterlager, wo er für kräftige Nachkommen sorgen soll. Die kluge Ayla kann ihn vor diesem schrecklichen Schicksal retten, und man setzt die Reise auf die oben beschriebene Weise fort. Dann gilt es noch einen Gletscher zu überwinden, und im Finale ist das Ziel zum Greifen nahe. („The Plans of Passage“, 1990; dt. “Ayla und das Tal der Großen Mutter“)

Das geschieht dieses Mal:

Home at last! Zwölf reale Jahre nach Beginn ihrer ausgedehnten Lust- und Studienreise erreichen Ayla und Jondalar endlich die Dordogne und die Zelandonii der Neunten Höhle. Der Empfang ist allerdings nur partiell herzlich, denn die freigeistige Ayla eckt wieder einmal an. Das geht schnell in dieser höchst komplexen, von schier unendlich vielen, bekannten und ungeschriebenen Regeln, Protokollen und Kodizes bestimmten Gemeinschaft, die selbst das englische Könighaus vor Neid erblassen ließe. Ayla kann Tiere zähmen und Feuer mit Hilfe von Steinen entfachen: Talente, die von den Priesterinnen des Clans mit Misstrauen und Konkurrenzängsten zur Kenntnis genommen werden.

Aber Ayla spuckt grazil in die Hände und beginnt beherzt, ein weiteres Land unserer Ahnen im Sturm zu erobern. Mit gnadenloser Freundlichkeit und Herzenswärme sucht Mrs. Supertüchtig Höhle um Höhle heim, heilt alles Sieche nieder, beschämt dumme, geile Kerle und gewinnt die Herzen der weisen Frauen. Schließlich stürmt sie sogar die letzte Klippe, auf der lange unbezwingbar Marthona hockte, die gestrenge Schwiegermutter, der nicht gefällt, was Sohn Jondalar da aus fernen Landen in Höhle Nr. Neun geschleppt hat.

Doch von ebendiesem Jondalar empfing Ayla in einem wahren Pandämonium der Liebe, des Glücks und des geschriebenen Kitsches inzwischen ein Kind, das nach knapp tausendseitiger Schwangerschaft endlich das Licht der Welt erblickt und im bereits angedrohten sechsten Teil der „Erdenkinder“-Saga mit seinen Eltern, Freunden und Feinden sicherlich noch viele gute Zeiten, schlechte Zeiten durchleben und durchleiden wird.

„The same procedure as every year”

Da ist sie also wieder – die blonde Ayla, Schamanin, Super-Mom, Klassefrau & Mutter Theresa der Steinzeit. Dabei schien endlich Ruhe zu sein im Steinzeit-Karton, als sich Ayla und Jondalar in Band 4 zwölf Real-Jahre zuvor verabschiedet hatten. Im Schlusskapitel winkten schon die Zelandonii: ein durchaus taugliches Ende für eine Saga, die sich längst in Agonie dahinschleppte. „Ayla und das Tal der Großen Mutter“ war eine Zumutung; eine geschwätzige, kitschige Seifenoper im pseudo-exotischen Gewand, künstlich über jede Lesbarkeit hinaus aufgeblasen durch ausufernde Landschaftsbeschreibungen, peinliche Folkloredarbietungen und vor allem durch die zum Wahnwitz geronnene Manie der Verfasserin, ihre Leser noch über die Herstellung der letzten Haarnadel exakt ins Bild zu setzen.

Die Rekonstruktion des Steinzeit-Alltags war Jean M. Auel immer ein Herzensanliegen, zumal die Darstellung der Ergebnisse entsprechender Recherchen die Autorin einer Verpflichtung enthob, der sie mangels Talent oder Disziplin selten nachkommen konnte: Spätestens seit „Das Tal der Pferde“ erzählte Auel keine Geschichten mehr, sondern betätigte sich als Schreibautomat, bei dem nach jeweils tausend niedergeschriebenen Seiten die Batterie gewechselt wurde.

Zwölf Jahre Pause – man sollte meinen, Auel habe mehr als genug Zeit gehabt, sich endlich Neues einfallen zu lassen. Stattdessen mutet sie uns üblichen Quark zu, nur dass dieser noch ein gutes Stück breiter getreten wird. Schlimmer: „Der Stein des Feuers“ ist eine dreiste Neuauflage von „Der Clan des Bären“ – dieses Mal ohne Neandertaler.

Dass die Zelandonii stattdessen der Sprache mächtig sind, erweist sich als zusätzliches Manko: Kein Mund will stillstehen in ihren Höhlen, und was wir hören, erinnert fatal an die Endlos-Seifenopern des Fernsehens. Mag sein, dass sich die Menschen seit 30000 Jahren nicht grundsätzlich verändert haben und Intrigen, Klatsch und üble Nachrede auch den Alltag in den Höhlen der Dordogne bestimmten. Das möchte ich jedoch nicht unbedingt in epischer Breite nachlesen – und falls doch, dann bitte so, dass mir ob der unter dem Gewicht der ihnen aufgeladenen Klischees neandertalerkrumm daherkommenden Figuren, der Dämlichkeit der Dialoge oder des absoluten Leerlaufs der weitgehend durch Abwesenheit glänzenden Story nicht ständig die Tränen kommen.

In einem ist Auel allerdings konsequent: Immer wenn man glaubt, nun könne es einfach nicht schlimmer kommen, widerlegt sie dies mit Leichtigkeit. Dieses Mal lässt sie ihren Röntgenblick nicht nur über jeden Stein und jeden Strauch in und um die Zelandonii-Höhlen schweifen; wir können den Ort des langweiligen Geschehens anschließend quasi aufzeichnen. Zusätzlich wird ausführlich wiederholt, was in den vorangegangenen vier Bänden der „Erdenkinder“-Saga geschehen ist. Sicherlich muss die lange Pause nach Teil 4 irgendwie überbrückt werden. Wieso dies nicht in einer Zusammenfassung vor dem Einsetzen der eigentlichen Handlung geschehen konnte, bleibt rätselhaft. Stattdessen nerven Ayla und Jondalar die Leser, die ohnehin die Vorgängerbände kennen, mit uferlosen „Weißt-Du-noch?“-Histörchen.

Wenn der Höhlensegen schiefhängt

Unterhaltungsfeindlich sind darüber hinaus Auels ebenso hartnäckige wie vergebliche Versuche, neben der Alltags- auch die Geisteswelt der Steinzeit zum Leben zu erwecken. Historiker und Archäologen kennen eine scherzhafte Faustregel, nach der jeder Fund, der sich nicht anderweitig deuten lässt, dem Kultisch-Religiösen zuzuordnen ist. Gleichzeitig wird sich jeder Wissenschaftler, der diese Bezeichnung verdient, heftig hüten, Aussagen über Kult und Riten lange versunkener Kulturen zu treffen, die über Theorien hinausgehen.

Auel hat als Schriftstellerin freie Bahn, und diese Chance nutzt sie: nur leider nicht besonders einfallsreich. Ihre Geisterwelt wird von allerlei Muttergottheiten bevölkert, die im Einklang mit der Natur (und Gott ist für Auel definitiv eine Frau) schwingen und stets wissen, was am besten ist für Mensch und Tier. Hinter der Dunstwolke aufwändig geschilderter (und breit ausgewalzter) Zeremonien treten allerdings keine kosmischen Wahrheiten, sondern hausbackene Binsenweisheiten zutage: Vertragt euch; hört auf eure Mütter/Frauen/Priesterinnen; seid nett zu Kindern, Tieren und Neandertalern.

Wenn‘s dann trotzdem nicht klappt mit Friede, Freude & Eierkuchen, tragen ganz gewiss die nicht unbedingt bösen, sondern eher ignoranten und nie ganz erwachsenen (oder zurechnungsfähigen) Männer die Schuld: Die „Ayla“-Saga startete 1980 und ist in gewisser Weise selbst inzwischen zur historischen Quelle geworden: als (allerdings vielfach gebrochenes und trivialisiertes) Spiegelbild einer feministischen Weltsicht, wie sie einst en vogue war. „Die Vernichtung der weisen Frauen“ hieß ein typischer Sachbuch-Bestseller dieser Zeit, der die europäischen Hexenverfolgungen des 13. bis 18. Jahrhunderts als Verschwörung missgünstiger und um ihre Macht fürchtender Patriarchen gegen ein Netzwerk starker, kluger, heilkundiger, vor allem aber selbstständiger Frauen deutete. Diese Theorie hat sich inzwischen erledigt, und der Feminismus hat sich weiterentwickelt

Zurück blieb Ayla, die weiterhin die Fackel hochhalten muss, die Auels Leser/innen ins matriarchalische Utopia leiten soll, wie es in den 1970er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts beschworen wurde. Immerhin: Hübsch anzuschauen durfte Ayla trotzdem immer sein; so weit ging Auels schwesterliche Solidarität doch nicht, ihrem Publikum eine vierschrötige Höhlen-Walküre als realistische Heldin zu präsentieren. Den Rest erledigt popularisiertes New Age-Gewaber US-amerikanischer Prägung. Was sich in den Höhlen der Zelandonii abspielt, erinnert stets verdächtig an die Zeremonien, die sich die Medizinmänner (oder hier besser -frauen, die es ja auch gegeben hat) diverser Indianerstämme in der Vergangenheit ausgedacht haben. Erst hat man die nordamerikanischen Ureinwohner für Hollywood vom Pferd geschossen, nun werden sie von zivilisationsmüden Heilssuchern verkitscht, die sich aus dem reichen Mythengut herauspicken, was den Weg ins Nirvana angeblich abkürzt und dabei auch noch spannend unterhält.

Der Fluch des Erfolgs

Aber kann ausschließlich Jean M. Auel verantwortlich für das „Ayla“-Elend gemacht werden, das über die lesende Welt kommt? Die Verfasserin steht in einer langen, langen Reihe von Autoren, die eine Schnulze durch eine exotische Kulisse aufwerteten. Vor vielen Jahren gab Auel ihr Bestes als hoffnungsvolle Neu-Autorin und traf mit einem im Rückblick allenfalls mittelmäßigen aber durchaus lesenswerten Werk den Geschmack eines Publikums, das zu diesem Zeitpunkt auf „Ayla und der Clan des Bären“ gewartet zu haben schien. Binnen eines Monats ging dieser Titel mehr als 100000 Mal über die Ladentische. Ein Star war geboren, einem Stephen King oder einer Joanne K. Rowling durchaus vergleichbar – auch finanziell: 34 Millionen verkaufte Exemplare später kassierte Auel als Vorschuss (!) für die Ayla-Romane 4 bis 6 25 Mio. Dollar; nicht schlecht für eine Hobby-Autorin, die erst im Alter von 42 Jahren zum Schreibtisch fand.

Das Honorar ist wohl der eigentliche Schlüssel zu Aylas Wiedergängertum: 2002 spürte Auel nach zwölf aylalosen Jahren offenbar den Druck ihrer Geldgeber, endlich den versprochenen Nachfolgeband zu liefern. Diese Theorie würde das traurige Ergebnis jedenfalls erklären. Der Verlag bekam, was er wollte: kein Buch, das man einen Roman nennen dürfte, aber einen dicken Stapel beschriebenen Papiers, das sich unter dem eingeführten Markenzeichen „Auel“ als „Ayla V.“ prächtig vermarkten lassen würde.

Lesen würden diesen Schinken alle Ayla-Fans, aber kaufen sollten ihn noch viele, viele weitere Menschen. Die Strategie ist bekannt: Hinter dem multimedial begleiteten „Event“ kann der Anlass ruhig verschwindet. So wurde die Buchpremiere von „Ayla und der Stein des Feuers“ 2002 in Les Eyzies im Herzen Frankreichs als gigantisches Pressespektakel inszeniert. Hier lebten, liebten und litten einst Auels Hollywood-Cro-Magnons. Über 150 Journalisten fielen ein, um die Starautorin zu treffen. Diese erzählte die stets gern gehörten Geschichten ihrer Recherche-Touren, die sie nicht nur auf Aylas und Jondalars Spuren durch Russland, die Ukraine, Tschechien, Ungarn, Österreich, Deutschland und Frankreich führte, sondern die pflichtbewusste Autorin auch dazu animierten, Tiere in Fallen zu fangen, Steinwerkzeuge zu basteln, Matten zu knüpfen und natürlich Archäologen, Anthropologen oder Biologen zu befragen.

Elend mit Epilog

Das Buch hatten diese und andere Steigbügelhalter wohl nie gelesen, es war nicht erforderlich, da Veranstaltungen wie die in Les Eyzies ihren eigentlichen Zweck glänzend erfüllten. Die Schlagzeilen ebneten „Ayla V.“ den Weg zu neuerlichem Bestseller-Ruhm und Rekord-Auflagen. In Deutschland ging trotzdem lieber kein Risiko ein. Noch bevor sich womöglich jene Spielverderber zu Worte meldeten, die „Ayla und der Stein des Feuers“ tatsächlich lesen & für mies befinden würden, ließ man das Werk in einer Hauruck-Aktion von zwei simultan arbeitenden Übersetzern in unsere Muttersprache. Das Risiko war allerdings kalkulierbar gering: „Ayla V.“ wurde von 34 Verlagshäusern weltweit gleichzeitig in die Buchhandlungen gepresst!

Diese Prozedur wiederholte sich mit „Ayla VI.“ und wurde durch das Internet ergänzt. Abermals hatte Auel sich viele Jahre Zeit gelassen. „Ayla und das Lied der Höhlen“ wurde 2011 zum Offenbarungseid einer sichtlich ausgeschriebenen, kranken, alternden Autorin, die endlich zu Ende bringen wollte, wozu sie sich verpflichtet hatte. Selbst Hardcore-Auel-Fans konnten und wollten ihren Unmut über ein ‚Buch‘ nicht unterdrücken, das die bekannte Ayla-Rezeptur noch einmal aufkochte und dabei endgültig in Esoterik-Schwurbel versandete.

Seltsamerweise hielten sich Kino und Fernsehen bisher zurück mit der Verfilmung von Auel-Abenteuern. Zwar gibt es „Ayla und der Clan des Bären“ von 1985, ein unfreiwillig komisches B-Movie, in dem unsere Heldin durch Daryl Hannah zumindest optisch kongenial verkörpert wurde. Aber vielleicht sind wenigstens dieses Mal die oft und gern geschmähten Medienspezialisten die Klügerin, weil sie erkennen, dass sich aus einem 1000-seitigen Roman manchmal höchstens das Drehbuch für einen 30-Minuten-Kurzfilm destillieren lässt.

Zur Serie gibt es u. a. diese Website.

Taschenbuch: 984 Seiten
Originaltitel: The Shelter of Fire (New York : Crown Publishing Group 2002)
Übersetzung: Maja Ueberle-Pfaff u. Christoph Trunk
http://www.randomhouse.de/heyne

eBook: 1494 KB
ISBN-13: 978-3-641-07921-5
http://www.randomhouse.de/heyne

Hörbuch-Download: 2064 min. (ungekürzt, gelesen von Hildegard Meier)
ISBN-13: 978-3-8371-1091-3
http://www.randomhouse.de/randomhouseaudio/

Der Autor vergibt: (0.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (10 Stimmen, Durchschnitt: 2,00 von 5)

Loewe, Elke – Sturmflut

Nach der Veröffentlichung ihres dritten Kriminalromans [„Engelstrompete“, 1055 welcher von den Ereignissen in der kleinen idyllischen Stadt Augustenfleth erzählt, legt die deutsche Autorin Elke Loewe nun mit „Sturmflut“ einen Roman vor, der sich der großen Flut von 1717 widmet, bei der Tausende von Menschen ihr Leben verloren haben. Dass die Autorin selbst in der Ostemarsch beheimatet ist und ihr die Deichlandschaften daher besonders am Herzen liegen, kann man dabei aus jeder einzelnen Zeile herauslesen.

Im Zentrum der Geschichte aus „Sturmflut“ stehen Joenes Marten und seine gesamte Familie. Joenes‘ Frau Geeske ist hochschwanger und erwartet ihr fünftes Kind, welches schließlich an Weihnachten während der Flut geboren werden soll. Zusammen haben Joenes und Geeske bereits zwei Töchter und zwei Söhne und scheinen eine glückliche Ehe zu führen. Doch da gibt es auch noch Joenes‘ blinden Bruder Claus, mit dem Joenes sich gar nicht gut versteht. Die beiden verbindet ein schicksalhafter Unfall, über welchen wir erst im weiteren Verlauf der Romanhandlung mehr erfahren.

Catharina vom Moor erschreckt kurz vor Weihnachten die Marschbewohner mit ihren unsäglichen Voraussagen von Tod und wildem Wasser. Die wunderliche Frau ist mit dem zweiten Gesicht ausgestattet und daher bei den Deichbewohnern nicht sehr beliebt. Doch Joenes glaubt an ihre Vorhersagen und nimmt sich vor, zusammen mit seinem Bruder Claus das Familienboot auf Vordermann zu bringen. Als jedoch Claus anreist, schiebt Joenes seine Pläne auf, bis es zu spät ist. Genau an Weihnachten im Jahr 1717 nämlich, als bei Geeske die Wehen einsetzen, steigt auch das Wasser an. In den Wassermassen werden die beiden Brüder getrennt, Joenes flüchtet sich mit seinen Kindern, Claus entkommt mit Geeske. Er kann der hochschwangeren Frau gerade noch bei ihrer Geburt assistieren, da versinkt die erschöpfte Frau auch schon in den Fluten. Und auch die beiden Mädchen überleben diese Nacht nicht. Als der Morgen kommt, ist Joenes Witwer und ein verlorener Mann. Er kann seine neue Tochter nicht annehmen und sucht sein Glück in anderen Dingen …

An und für sich erzählt Elke Loewe somit eine tragische und im Grunde packende Familientragödie, die viel Potenzial enthält. Umrahmt wird die Familiengeschichte von der großen Flutkatastrophe, bei der viele Todesopfer beklagt werden mussten und etliche Menschen ihr gesamtes Hab und Gut verloren haben. Im ersten Teil ihres Buches legt Loewe viel Wert auf die Vorstellung der Familie Marten. In vielen Einzelheiten lernen wir die Menschen kennen, wohlwissend, dass ihnen ein furchtbares Schicksal bevorsteht. Ungefähr auf der Hälfte der Erzählung steigt schließlich das Wasser an und führt zu einer dramatischen Wendung in der Romanhandlung. Haben wir die Familie Marten vorher noch als glücklich und zufrieden kennen gelernt, so verlieren drei geliebte Menschen in nur einer einzigen Nacht ihr Leben, sodass am Morgen nichts mehr ist wie zuvor. Auf nur wenigen Seiten wird die Nacht der Flut abgehandelt, im weiteren Verlauf widmet sich Elke Loewe ausgiebig den Folgen der Überschwemmung, denn nach dem Deichbruch schaffen es die Menschen nicht, die Löcher im Deich zu stopfen und das Wasser loszuwerden. Viele Jahre soll es dauern, bis hier erste Erfolge verbucht werden können.

In der Deichreparatur sieht Joenes Marten nach der Flut den Sinn seines Lebens; wie besessen widmet er sich den Aufräumarbeiten und verlässt dafür seine restliche Familie. Seine beiden Geschwister müssen sich fortan um die Kinder kümmern, seine neue Tochter Maria Magdalena will Joenes nicht einmal sehen. Doch obwohl Joenes eine wichtige Rolle bei den Reparaturen des Deiches spielt, rückt die Familie Marten in den Hintergrund. Leider führt dies zu einem deutlichen Spannungsabfall, denn die intensive Vorstellung der Familie hatte in mir die Erwartung hervorgerufen, dass Elke Loewe auch nach der schicksalhaften Nacht die Familiengeschichte weitererzählen würde. Während somit auf den ersten hundert Seiten durch die Ahnung der bevorstehenden Katastrophe stetig Spannung aufgebaut wird, erzählt die Autorin in der zweiten Hälfte ihres Buches viel zu viel über die Deichreparatur und die damit verbundenen Probleme. Viel mehr hätte mich das Familienschicksal interessiert, obwohl Joenes durch sein absonderliches Verhalten immer mehr Minuspunkte beim Leser sammelt. Sein Verhalten ist mir nicht verständlich geworden, selbst seinen Kindern gegenüber ist Joenes rücksichtslos und lässt sie einfach bei seinem blinden Bruder zurück. Schade, dass Elke Loewe im zweiten Teil des Buches den Schwerpunkt auf die Deicharbeiten gesetzt hat und Joenes Marten eine so wenig nachvollziehbare Wendung vollzogen hat; hierdurch wird viel Potenzial verspielt.

Sprachlich mutet das Buch gewöhnungsbedürftig an, der Satzbau ist ziemlich altmodisch und entspricht nicht den heutigen grammatikalischen Regeln, so haben Nebensätze oft den gleichen Aufbau wie Hauptsätze, worüber man beim Lesen immer wieder stolpert. Auch die Wortwahl ist ungewohnt und dadurch teilweise etwas ungeschickt. Insbesondere Metta mit ihrem ewigen „nützt nichts“ strapaziert auf Dauer sehr die Nerven der Leser.

Punkten kann Elke Loewe auf der anderen Seite durch ihre eindrucksvollen Landschaftsbeschreibungen, denen man anmerkt, wie sehr das Herz der Autorin an ihrer Heimat hängt. Hierdurch wird eine sehr dichte Atmosphäre aufgebaut, die durchaus zu überzeugen weiß, allerdings die Schwachpunkte der Romanhandlung nicht ausbügeln kann.

Insgesamt verfügt das Buch über gute Ansätze. Die Familientragödie mitten in der Naturkatastrophe hätte viele Möglichkeiten eröffnet, aber die Verwicklungen zwischen Joenes, Claus und Geeske sind dann doch zu klischeebesetzt und durchsichtig, als dass sie wirklich für Spannung hätten sorgen können. Die erste Hälfte des Buches ist recht gut gelungen und lässt auf eine spannende zweite Hälfte hoffen, die dann aber leider nicht kommt. Am Ende langweilt das Buch schließlich mehr, als es dem Leser lieb sein kann, sodass ein eher mittelmäßiger Eindruck zurückbleibt sowie der Wunsch, dass Elke Loewe als nächstes lieber wieder einen Augustenfleth-Kriminalroman schreiben möge.

O’Brian, Patrick – Manöver um Feuerland (Master & Commander)

Im Kielwasser des Kinofilms und des letztes Jahr stattgefundenen DVD-Releases, erfreute sich nun auch die literarische Vorlage von „Master & Commander“ steigender Verkaufszahlen. Ein recht später Ruhm. Das Buch ist erstmals 1984 veröffentlicht worden und hat somit immerhin schon über 20 Jahre auf dem Buckel, dennoch überschlugen sich Anno 2004 die Lizenz-Verlage (etwa |Club Bertelsmann| und |Weltbild|), möglichst auf der Welle mitzuschwimmen, und verpassten dem Reprint gleich ein neues Cover – meist passend zum Film.

Der eingedeutschte Titel „Manöver um Feuerland“ alleine reichte augenscheinlich wohl nicht aus, um zu verdeutlichen, dass es sich um die Romanfassung der Verfilmung handelt. (Bei der angloamerikanischen Originalfassung ist dies nicht nötig, da Buch- und Filmtitel „The Far Side Of The World“ identisch sind.) Das Schaffen des im Jahr 2000 verstorbenen Autors Patrick O’Brian rund um die Hauptfiguren Kapitän Aubrey und Doktor Maturin auf der britischen Fregatte HMS „Surprise“ umfasst insgesamt 20 Bände, das hier vorgestellte Buch ist als Band 10 (international) bzw. als Band 11 (in Deutschland) erschienen.

_Zur Story_

Mittelmeer. Wir schreiben das Jahr 1812. Kapitän Jack Aubrey hat die Befürchtung, dass er demnächst als Arbeitsloser auf „Halbsold“ gesetzt wird – und das bei seiner prekären finanziellen Lage. Im Laufe der Zeit hat der wackere und wagemutige Kapitän privat einen Stapel Schulden angehäuft. Es sieht jedoch so aus, als würde sein treues Schiff „Surprise“ demnächst aus Altersgründen abgewrackt werden und sich die aufeinander eingeschworene Mannschaft in alle Winde zerstreuen. Die großen Seekriege der Epoche sind längst vorüber und Aubrey hat dementsprechend nach halbwegs erfolgreicher Ausführung seines letzen, mehr diplomatischen Auftrags immer noch kein neues Kommando zugesprochen bekommen.

So befindet sich die „Surprise“ auf ihrer vermeintlich letzten Fahrt nach Gibraltar, wo Aubrey Rapport beim Admiral erstatten soll, um dann ihn und das Schiff nach England in eine ungewisse Zukunft zu überführen. Doch das Schicksal will es anders. Aubrey erhält unerwartet noch einmal Aufschub für sich, Schiff und Mannschaft in Form eines neuen Marschbefehls. England befindet sich derzeit im Clinch mit den Amerikanern, die sich von Europa und somit von der Kolonialmacht unabhängig machen. Dazu gehört auch, dass die USA Kaperfregatten entsenden, um die britischen Walfänger und Handelsschiffe aufzubringen.

Eins dieser Schiffe ist die im Gegensatz zur „Surprise“ recht moderne „Norfolk“, welche Aubrey mit günstigem Wind noch im Atlantik schätzungsweise vor der Küste Brasiliens abfangen könnte. Zumindest theoretisch und wenn die Geheimdienstinformationen stimmen. Der Auftrag der „Surprise“ ist es, die amerikanische Fregatte aufzuspüren und nach Möglichkeit zu verhindern, dass die „Norfolk“ um Feuerland / Kap Horn herum in den Pazifik entschlüpft, um dort die britischen Schiffe aufzumischen. Dieses Primärziel der Engländer schlägt fehl. Die „Surprise“ wird bei einem Sturm vor Südamerika stark beschädigt, sodass sie die gesichtete „Norfolk“ erst einmal ziehen lassen müssen. Nach der Reparatur jedoch nimmt Aubrey die Verfolgung auf – wie der (deutsche) Buchtitel verrät, um Feuerland herum in den Pazifik.

_Meinung_

Wie man anhand der kurzen Inhaltsangabe bereits ersehen kann, bestehen schon einmal frappante Unterschiede zur Storyline des Films. Hier sind es Amerikaner und keine Franzosen, die gejagt werden. Zudem ist der Film natürlich um einiges eingekürzt worden, viele Handlungsstränge und Charakterisierungen aus dem Buch sind dabei entweder massiv abgeändert worden oder komplett entfallen. Der Roman ist selbstverständlich wesentlich akribischer in seiner Personenbildung, was deren Beschreibung, deren Background und ihre Funktion an Bord angeht. Schiffsarzt Dr. Stephen Maturin ist nicht nur der beste Freund des 100-Kilo-Kolosses Aubrey, sondern gleichzeitig auch noch Geheimdienstagent seiner Majestät und … latent drogensüchtig.

Mehr als einmal spricht er dem „Laudanum“ (einem Opiat) zu, welches er sonst für gewöhnlich bei den häufig fälligen (Not-)Operationen an Bord seinen Patienten als Betäubungsmittel einflößt. Seine Figur ist neben der Aubreys natürlich am detailliertesten ausgeführt, wobei es sich O’Brian – politisch korrekt – nicht verkneifen kann, ihm Selbstzweifel über seinen Drogenmissbrauch anzudichten. Gemeinhin wird angenommen, dass O’Brian mit Maturin so etwas wie ein Alter-Ego in der Geschichte geschaffen habe; inwieweit das zutrifft kann man nicht mit Sicherheit sagen, fragen kann man ihn ob seines toten Zustands auch nur noch schwerlich.

Maturin als gelehrter Wissenschaftstyp ist jedenfalls in diesem Duo der Gegenpol zum etwas raubeinigen Aubrey, der zwar ein waschechter Kapitän der britischen Marine, aber kein Leuteschinder ist. Vielmehr ein brillanter Taktiker, doch alles andere als eine Leuchte in Sachen Allgemeinwissen, dafür aber mit dem Herz am rechten Fleck, dem das Wohlergehen des Schiffes und seiner Besatzung über alles geht. Von den gelegentlichen Saufgelagen und dem Musizieren in der Offiziersmesse mal abgesehen. Ein ehrgeiziger, ziemlich schrulliger Kauz, dieser Aubrey – und vermutlich deshalb so sympathisch, weil er als Offizier nicht aus dem Adel, sondern aus dem Volk stammt. Er beachtet natürlich die Regeln und den Kodex der britischen Kriegsmarine, beugt sie aber gelegentlich und lässt auch mal Fünfe gerade sein.

Im Vorwort weist Patrick O’Brian darauf hin, dass Kenner der Materie Parallelen zu einer realen, historisch belegten Verfolgungsjagd wieder erkennen werden: HMS „Phoebe“ versus USN „Essex“. Aus der Luft gegriffen ist der Stoff also nicht. Das gilt auch für einige der Begebenheiten an Bord, die auf zeitgenössischen Schilderungen beruhen, allenfalls die Figuren und die Zusammenhänge sind fiktiv. Zum Teil hat sich O’Brian auch Versatzstücke aus anderen Logbüchern und Reiseberichten aus der entsprechenden Zeitperiode zusammengesucht und sie hier mit eingeflochten. Das hat er so geschickt gemacht, dass man kein Flickwerk argwöhnt, sondern die Handlung fast für eine historisch korrekte Überlieferung halten könnte.

_Fazit_

Wer den Film schon für zu detailreich und langatmig empfand, den wird das Buch lehren, was Detailtreue wirklich bedeutet. Im positiven Sinne ist O’Brian hier höchst akkurat bei seiner spannenden Verfolgungsjagd auf See. Insbesondere maritim interessierte Leser werden den Roman ob seiner exakten Darstellung der alten Windjammer-Zeit in ihr Herz schließen und verschlingen. Weniger Genre-Beschlagenen wird der Konsum erschwert, da sie ständig in den Appendices oder der Schemazeichnung des Schiffes nachblättern müssen, was beim Klaubautermann all die ihnen unbekannten Begriffe bedeuten. Das bremst speziell diese Leserschaft aus. Wenn man sich darauf aber einlässt, lernt man eine Menge darüber, Was-Wer-Wie-und-Warum an Bord eines Schiffes dieser Ära funktioniert. Nautisch, technisch sowie soziologisch.

_Die Buchdaten auf einen Blick:_
Originaltitel: „The Far Side Of The World“
Ersterscheinungsjahr: 1984, Harper Collins
Deutsche Übersetzung: Andrea Kern
Erschienen: 2002 Econ Ullstein List / München
420 Seiten Hardcover, Vorsatz illustriert, ISBN: 3-5482-5837-9
478 Seiten Taschenbuch, broschiert, ISBN: 3-5482-5443-8

Riebe, Brigitte – Straße der Sterne

Regensburg, 1245: Die 17-jährige Kaufmannstochter Pilar Weltenburger ist blind, lebt aber wohlbehütet im Hause ihres Vaters Heinrich, der seine Tochter über alles liebt. Die Mutter Rena hatte die Familie zehn Jahre zuvor ohne Erklärungen verlassen – ein Verlust, den sowohl Pilar als auch der Kaufmann nie verkraftet hatten.

Als aufgrund von Intrigen das Familiengrundstück in Flammen aufgeht und Heinrich stirbt, beschließt Pilar, der „Straße der Sterne“ zu folgen – der Straße, die den Pilgern den Weg zum Grab des heiligen Jakobus weist. Zusammen mit ihrem maurischen Diener Tariq, den ihre Mutter aus dem fernen Frankreich mitgebracht hatte, verlässt Pilar Regensburg, um im spanischen Santiago de Compostela den Heiligen zu bitten, ihr das Augenlicht wiederzugeben.

Tariq selbst trägt seit jenem Morgen, an dem seine Herrin die Stadt verließ, Renas Aufzeichnungen mit sich. Die Bitte, ihr Vermächtnis der Tochter zu geben, sobald diese alt genug sein würde, konnte er nicht mehr erfüllen, da Pilars Krankheit ihm zuvor gekommen war. Selbst unfähig, die Erinnerungen zu ertragen, die ihn dann überrollen würden, brachte er es nicht über sich, dem Mädchen die Seiten vorzulesen.

Der Weg der Pilger war seit jeher gefährlich, aber eine blinde junge Frau in Begleitung eines Nicht-Christen stellt eine allzu leichte Beute dar und so beschließen die beiden, die Hauptstraßen zu meiden. Trotzdem treffen sie nach und nach auf andere Pilger, die alle eins gemeinsam haben: dunkle Geheimnisse, die niemand außer dem heiligen Jakobus erfahren soll. Der Tempelritter Camoni, der seiner großen Liebe nachtrauert und Pilar zu kennen scheint; die Reisende Moira, die nie über ihre Familie redet und sich in Camoni verliebt; der Mönch Armando, der den Heiligen Gral sucht und an seiner Berufung zu zweifeln beginnt; und schließlich das Mädchen Estrella, das Tarot-Karten legt, um an Geld zu kommen, und als Einzige dem Heiligen uninteressiert gegenübersteht. Eine mächtigere Hand als der Zufall hat diese Menschen zusammengeführt und ihr Schicksal liegt sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. Auf dem Weg nach Spanien erfüllt es sich unbarmherzig Stück für Stück.

Brigitte Riebe ist hier ein etwas anderer historischer Roman gelungen, der nichts von dem allseits beliebten „Gut-und-Böse-Schema“ beinhaltet. Die Geschichte lebt von den großartig ausgearbeiteten Charakteren, die ganz natürlich aus ihrem Leben erzählen und den Leser in ihre persönlichen Tragödien einblicken lassen. Hier gibt es keine Superhelden-Action, die den Leser am Wahrheitsgehalt der Geschichte zweifeln lassen, es handelt sich vielmehr um einen faszinierenden Reisebericht.

Jeder Charakter ist nachvollziehbar, verletzlich und ergreifend geschildert, und der Leser wartet ungeduldig auf die Auflösung all dieser Rätsel. Sieben Menschen ergeben sieben einzelne und eine gemeinsame große Geschichte – Brigitte Riebe versteht es, einen vielschichtigen Plot zu entwickeln und diesen dann großartig umzusetzen! Abwechselnd gerät der Leser in die Wirren der Pilgerreise und in die Wirren der Vergangenheit, die die Autorin geschickt Stück für Stück – dem Weg der Reisenden angepasst – aufdeckt. Und auch wenn dem aufmerksamen Leser die Lösungen der kleinen und großen Rätsel schnell klar werden, klingt der Roman nicht langweilig aus. Das Ende passt sich, einer logischen Konsequenz folgend, dem Rhythmus der vorangegangenen Seiten an und lässt im Leser das Gefühl nachhallen, das er von Beginn an hatte: ein ruhiges, aber ergreifendes Buch!

Im Anhang findet der Leser historische Daten über die „Straße der Sterne“ und Pilger, aber auch Anmerkungen zu dem damaligen Stand der Papierherstellung. Sehr interessant!

Brigitte Riebe, vollständig Dr. Brigitte Leierseder-Riebe, wurde 1953 in München geboren, wo sie auch heute noch als freie Schriftstellerin lebt. Sie ist promovierte Historikerin, war zunächst als Museumspädagogin tätig und hat später lange Jahre als Verlagslektorin gearbeitet, bevor sie selbst begann, Romane zu schreiben. Unter ihrem Pseudonym Lara Stern veröffentliche sie u. a. die Sina-Teufel-Romane, mit denen sie auch bekannt wurde. Seit März 2005 ist der Roman [„Die Hüterin der Quelle“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=2190 im Handel erhältlich.

Homepage der Autorin: http://www.brigitteriebe.de

Charles Palliser – Die schwarze Kathedrale

Palliser Kathedrale 2005 kleinIn einer englischen Kleinstadt lebt 1881 ein alter Skandal nach einem neuen Mord wieder auf. Geblieben ist das Bestreben des örtlichen Domkapitels, die Wahrheit um jeden Preis unter Verschluss zu halten, wogegen sich ein auswärtiger Historiker stemmt … – Mischung aus Historienroman und Thriller, wobei letzterer auch Treibriemen einer Handlung ist, die unter nie aufdringlicher Wahrung des zeitgenössischen Lebensalltags eine vergangene Welt aufleben lässt: großartig.
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Tilman Röhrig – Die Ballade vom Fetzer

Mathias Weber war das, was man heute wohl unter dem Begriff ‚mieses Schwein‘ einsortieren würde. Zu Lebzeiten war er im Rheingebiet einer der gefürchtetsten Räuber, der vor keiner Brutalität zurückschreckte, um an sein Ziel zu gelangen.
Tilman Röhrig fasziniert die Geschichte des Mannes, der sich damals schnell den Beinamen ‚Fetzer‘ einhandelte, von jeher so sehr, dass er irgendwann beschloss, das kurze Leben des Mathias Weber bzw. den Lebensabschnitt, in dem er vom Tagedieb zum Anführer einer Räuberbande wurde, in einem Buch aufzurollen und den in Vergessenheit geratenen ‚Fetzer‘ der heutigen Generation vorzustellen. Die Arbeit des Autors stellte sich dabei als äußerst schwierig und langwierig vor. Nach intensiver Recherche, die fast schon aussichtslos erschien, fand er unter dem Namen ‚Schinderhannes‘ schließlich erste Informationen zu Weber, die er später in einem 61-seitigen Bericht näher intensivieren konnte. Eine halbe Ewigkeit hat Röhrig schließlich damit verbracht, Daten zu sortieren, Informationen zu bündeln, Einzelheiten im Detail zu erforschen und das Leben einer Person, die gerade mal 25 Jahre alt geworden war, lückenlos darzustellen – was ihm schließlich auch hervorragend gelungen ist!

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Andrew Huebner – Rache für Little Bighorn

huebner-little-bighorn-cover-kleinDie Schlacht am Little Bighorn hebt den Krieg zwischen den indianischen Ureinwohnern und der ‚weißen‘ Bevölkerung auf eine neue, grausame Ebene. Nur wenige Beteiligte bemerken, wie sie kontinuierlich verrohen, ohne sich dem verhängnisvollen Sog indessen entziehen zu können … – Am Beispiel dreier junger Männer zeichnet der Verfasser diesen fatalen Weg literarisch nach. Während der deutsche Titel teilweise irreführend die Rache in den Vordergrund stellt, geht es primär um ein (weiteres) blutiges Kapitel im Werden der US-Nation, dessen Nachwirkungen längst nicht Geschichte sind.
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Szerb, Antal – Halsband der Königin, Das

Der bekannte ungarische Literaturprofessor Antal Szerb feiert zur Zeit international seine Wiederentdeckung. Nachdem mit Erfolg seine beiden Romane „Die Pendragon-Legende“ und „Reise im Mondlicht“ wieder aufgelegt worden sind, veröffentlicht der |dtv| nun Szerbs Geschichtszeugnis „Das Halsband der Königin“, in welchem der Autor seinen Lesern in eigenen Worten die damalige [Affäre]http://de.wikipedia.org/wiki/Halsbandaff%C3%A4re mitsamt seinen Protagonisten vorstellt.

Zunächst spricht uns Antal Szerb persönlich an und teilt uns seine Absichten mit, er möchte mit seinem Buch nämlich nicht allein die inzwischen geklärte Skandalgeschichte um das berühmte Kollier erzählen, sondern diese nur als Ausgangspunkt nehmen, um uns mehr zu berichten vom damaligen Leben kurz vor der Französischen Revolution. So passt es auch wunderbar ins Bild, dass sich Szerb zunächst ausführlich den Hauptfiguren der zu erzählenden Geschichte widmet. In langen Kapiteln stellt er uns den Kardinal Rohan vor, der am Ende eine wenig glückliche Figur in der Affäre abgeben wird, aber auch die Hochstaplerin Jeanne de Valois erhält genug Raum, damit sich ihre Handlungsweise und ihr Charakter für uns erschließen. Selbst der zwielichtige Magier [Cagliostro]http://de.wikipedia.org/wiki/Alessandro__Cagliostro wird uns von Antal Szerb präsentiert, obwohl er in der eigentlichen Angelegenheit nur am Rande eine Rolle spielt.

Natürlich vergisst Szerb auch nicht, sich umfassend der französischen Königin [Marie Antoinette]http://de.wikipedia.org/wiki/Marie__Antoinette zu widmen, die im Volk nicht sonderlich beliebt war, allein schon, weil sie in Österreich geboren wurde. Die Halsbandaffäre schließlich brachte sie noch mehr in Verruf, da damals nicht genau geklärt werden konnte, ob sie wirklich nur das unwissende Opfer war, oder ob sie diesen Vorfall selbst inszeniert hat, um Kardinal Rohan in Misskredit zu bringen und in die Bastille sperren zu lassen. Im vorliegenden Buch wird uns Marie Antoinette als Modekönigin geschildert, die sich aber auch leidenschaftlich für Theater und Opernbälle erwärmen konnte, sie war laut Szerb darüber hinaus eine spöttische und kritische Königin mit einem destruktiven Geist.

Nach einer sehr umfassenden Präsentation der Hauptcharaktere, die schon ein wunderbar farbenfrohes Bild der damaligen Zeit entwirft, widmet sich Antal Szerb der eigentlichen Halsbandaffäre, die ihren Lauf nimmt, als die beiden Juweliere Boehmer und Bassenge das besagte Kollier nicht verkaufen können. Auch Marie Antoinette lehnt den Kauf ab, weil ihr der Preis zu hoch erscheint. Einige Zeit später ersinnt Jeanne de Valois ihre Intrige und redet Kardinal Rohan ein, die Königin wolle durch seine Vermittlung das Kollier heimlich erwerben. Stattdessen behält Jeanne es selbst, zerlegt es in seine Einzelteile und verkauft die Steine mit Hilfe ihres Mannes, um von dem dadurch gewonnenen Reichtum in Saus und Braus zu leben.

Als der Skandal auffliegt, werden einige hochrangige Persönlichkeiten in die Bastille gebracht. Der darauf folgende Prozess erregt großes allgemeines Interesse in der Bevölkerung und macht nochmals deutlich, wie sehr die Franzosen ihre Königin verachtet haben.

Gut recherchiert und von offenkundiger eigener Faszination motiviert, erzählt uns Antal Szerb von der Halsbandaffäre, die für ihn Sinnbild der Zeit kurz vor der Französischen Revolution ist. Er nimmt diesen Skandal als Aufhänger für seine Erzählung, hat aber darüber hinaus noch so viel mehr zu berichten. So nutzt Antal Szerb die Gelegenheit, um uns vor allem die Hauptcharaktere so ausführlich vorzustellen, dass sie uns fast wie lebendige Menschen vor Augen stehen. Viele ihrer Eigenarten erfahren wir und auch Dinge und Handlungen, die sie ausgezeichnet und berühmt gemacht haben. In diesen Vorstellungen werden auch bereits Lesersympathien verteilt, obwohl der Autor sich bemüht, alle Figuren möglichst neutral zu charakterisieren. Dennoch wird schnell deutlich, dass die geldgierige Jeanne de Valois zwar gerissen und schlau war, aber auch verlogen und hinterhältig. Am Ende steht sie als die Hauptschuldige da, was historisch durchaus auch erwiesen ist.

Zunächst empfand ich diese lange Vorstellung der wichtigen Personen als unnötig und anstrengend, da Szerb mir zu viel Zeit brauchte, um zum Punkt zu kommen. Am Ende muss aber auch ein skeptischer Leser wie ich einsehen, dass dies mehr als beabsichtigt ist und notwendig erscheint, wenn man ein derart ausführliches und umfassendes Bild des ausklingenden 18. Jahrhunderts entwerfen will. Erst auf der Hälfte des Buches widmet der Autor sich der eigentlichen Affäre, und auch diese Erzählung unterbricht er, um weitere Figuren auf den Plan zu bringen. Doch obwohl es über weite Strecken eigentlich nicht um das Kollier geht, geschehen so viele Dinge, dass Szerbs Bericht nicht langweilig wird. Zudem bemüht der Autor sich, uns die Fakten und Ereignisse so einfach wie möglich zu schildern, auch wenn dies angesichts der Fülle von Informationen nicht immer gelingen kann. Historisch weniger bewanderte Leser werden ihre Schwierigkeiten haben, die Übersicht zu behalten, da Szerb viele Fakten, Personen und Episoden nennt, doch lernen wir hierbei ganz nebenbei auf unterhaltsame Weise etwas über französische Geschichte.

„Das Halsband der Königin“ ist ein Abbild der Zeit Ludwig des XVI. Szerb bringt uns das damalige Hofzeremoniell, die Sitten und Gepflogenheiten näher, er berichtet umfangreich von den handelnden Personen, sodass sie im Laufe der Geschichte immer plastischer werden und sich in das Gesamtbild einfügen. Er nimmt sich Zeit, um etwas über Musik und Kunst zu erzählen und sorgt auf diese Weise dafür, dass wir das Gefühl bekommen, als wären wir mittendrin in der Halsbandaffäre und würden Kardinal Rohan und Jeanne de Valois auf ihrem Weg begleiten. Dieses Buch ist kein Roman im eigentlichen Sinne, da Szerb sich auf die bekannten Fakten stützt und es hierbei belässt, er dichtet keine eigene Geschichte um die früheren Geschehnisse herum. Dies führt dazu, dass sich „Das Halsband der Königin“ nicht so leicht lesen lässt wie beispielsweise Szerbs Erfolgsromane, auch finden wir keine wörtliche Rede, da es sich lediglich um eine Nacherzählung handelt. Für historisch interessierte Leser gibt es in diesem kleinen Werk allerdings viel zu entdecken. Ich bin mir sicher, dass man auch bei mehrfachem Lesen immer neue Informationen aufsammeln kann, wenn man sich auf Szerbs Erzählweise einlässt und sich von ihm in die Zeit der Halsbandaffäre entführen lässt.

Weitere Rezensionen zu Antal Szerbs Werken bei |Buchwurm.info|:
[„Die Pendragon-Legende“ 955
[„Reise im Mondlicht“ 1292

Wolf Serno – Hexenkammer

Der Autor:

Wolf Serno hat lange als Werbetexter in großen Agenturen und 20 Jahre lang als Creative Director in einer großen Hamburger Agentur gearbeitet. 1997 beschloss Wolf Serno, nicht mehr für andere, sondern für sich selbst zu schreiben. Das Ergebnis war der Bestseller „Der Wanderchirurg“, dem später noch der Folgeband „Der Chirurg von Campodios“ und ganz aktuell „Die Mission des Wanderchirurgen“ folgen sollten. Der Autor lebt heute mit seiner Frau und seinen Hunden in Hamburg.

Die Geschichte:

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Schacht, Andrea – Werk der Teufelin, Das

Mit „Das Werk der Teufelin“ liegt mir nun der zweite Teil der historischen Krimiserie der deutschen Autorin Andrea Schacht vor. Altbekannte Charaktere, allen voran die etwas vorlaute Serienheldin Almut Bossart, eine junge Begine, und der leicht mürrisch wirkende Benediktiner Pater Ivo, geben sich ein chaotisches Stelldichein im Köln des Jahres 1376. Der Auftakt der Serie, [„Der dunkle Spiegel“, 369 haute mich seinerzeit nicht vom Hocker und ich war nun gespannt, ob das neuere Werk einiges mehr zu bieten hatte.

Eingeführt in die Story werden wir dann auch gleich durch einen neuen Vertreter des Kirchenvereins, den Domherren Sigbert von Antorph, dem die Mannbarkeit durch für ihn unglückliche Umstände abgenommen wurde und der sich nun rasend vor Wut auf der Jagd nach der Übeltäterin befindet. Relativ schnell ist klar, dass dieser Herr nicht gerade ein Ausbund an Tugend und religiöser Demut ist, und Mitleid kommt daher gar nicht erst auf.

Die Bewohnerinnen des Beginenkonvent am Eigelstein in Köln sind allerdings für ihre Wohltätigkeit und ihre Hilfsbereitschaft gut bekannt, und so finden sich innerhalb weniger Tage auch drei neue Hausbewohner, die natürlich von der firmeneigenen Seherin Rigmundis in einer düsteren Vision mit Feuer und Unheil angekündigt werden: eine kleine schwarze Katze, Teufelchen getauft, die ehemalige Bademagd Johanna und das „Lämmchen“ Angelika, eine geflohene Nonne und dazu nicht einmal die hellste, wie sich schnell herausstellt. Während die Katze mit Almut noch am wenigsten Probleme hat, bringen die beiden Mädchen die Begine doch ins Grübeln, denn so wie das Lamm erst gar nicht den Mund aufbekommt und sich auch nicht nützlich in der Gemeinschaft machen möchte, bekommt sie auch aus Johanna kein Wort heraus, sobald es um deren Vergangenheit geht. Und dass beiden ein äußerst unangenehmer Schuh drückt, ist bald mehr als offensichtlich.

Pater Ivo indessen hat seine eigenen Problemchen, denn sein Novize Ewald ist verschwunden, anstatt seine ihm aufgetragene Buße zu entrichten. Und ausgerechnet dort, wo die Strafe abgebüßt werden sollte, bricht ein Feuer aus, und der Domherr Sigbert von Antorph wird von der herabstürzenden Glocke erschlagen – oder wäre er jedenfalls, wenn der blutverschmierte Dolch neben ihm nicht andeuten würde, dass er ermordet wurde. Und ärgerlicherweise flüstert der Domherrn in seinem letzten Atemzug dem Benediktiner auch noch zu, er solle die Teufelin bei den Beginen am Eigelstein suchen.

Noch ärgerlicher wird der Priester über die Tatsache, dass drei mögliche Kandidaten für die Entmannung in Frage kommen: die beiden Neuankömmlinge, Angelika – die erstens über ihre Herkunft eine saftige, nett ausgeschmückte Geschichte präsentiert, zweitens auf dem Weg zu den Beginen dem Domherrn begegnet sein könnte und drittens sowieso nur lammfromm tut -, Johanna – die als Bademagd oft genug das zweifelhafte Vergnügen hatte, den Domherrn zu Gnaden zu sein – und die schon alteingesessene Begine Thea – das Klageweib, die zu der fraglichen Zeit von einem Besuch ihrer Schwester nach Köln zurückkehrte und seitdem sehr, sehr missgelaunt durch die Gemeinschaft läuft.

Und für den Mord kommen diese drei auch in Frage, keine mehr oder weniger als die andere. Noch verzwickter wird die Sachlage, als zwischen den Resten der zerstörten Kirche noch ein halb verkohlter Leichnam gefunden wird, der sich als der Mann einer Weberin herausstellt, dessen Vater dem Domkapitel sein gesamtes Vermögen hinterlassen hatte. War er vielleicht der Mörder? Ein unbeherrschter, rachsüchtiger Bruder des Domherrn bringt den Vogt dann schließlich dazu, die Meisterin des Konvents in Haft zu nehmen, damit diese die Übeltäterin ausliefert. Almut findet sich daraufhin plötzlich in der Rolle der Chefin wider, die nun gezwungen ist, die Aufgaben der Meisterin und die Lösung des Falles zu koordinieren. Erschwerend kommt hinzu, dass sie sich offensichtlich eine Feindin unter den Beginen gemacht hat, die auch vor hinterhältigen Anschlägen nicht zurückschreckt – und natürlich kommen auch hierfür die drei äußerst verdächtigen Frauen in Frage. Wie gut, dass Almut wenigstens auf Pater Ivo, ihre Schwester Aziza, die taubstummen Trine und den Apotheker Meister Krudener vertrauen kann. Ach ja, und natürlich auf die Heilige Mutter Gottes Maria, die doch immer dafür sorgt, dass ihr loses Mundwerk nicht allzu viel Schaden anrichtet … Nun ja, fast immer!

Insgesamt ist die Story sehr turbulent; die Charaktere sind freudig begierig, der Auflösung des Rätsels holprige Steine in den Weg zu werfen und den Leser auch zwischendurch mit kleinen Plänkeleien zu beglücken, die natürlich in gewohnter Art und Weise hauptsächlich zwischen Almut und Pater Ivo stattfinden. Schade nur, dass die Weisheiten von Sirach – zitiert aus dem Buch Jesus Sirach, das ca. 132-117 v. Chr. entstand (Anm. d. Verf.) –, wohl als „running gag“ gedacht, nach einiger Zeit auf den Nerv schlagen, der Überreiztheit signalisiert. Ein bisschen weniger ist manchmal mehr.

Ist die Fortsetzung nun lesenswerter als sein Vorgänger? Diese Frage muss ich mit einem klaren Jein beantworten, denn während die erste Hälfte des Romans wie ein müdes, lustloses Bächlein dahinplätschert und die Protagonisten noch nicht wissen, wo sie eigentlich hinwollen, überschlagen sich die Ereignisse zum Ende der Story in einem fast schon zu rasanten Tempo. Ab da macht das Lesen richtig Spaß!

Die besondere Beziehung zwischen der Begine und dem Benediktiner kommt endlich langsam aber sicher ins Rollen, und Meister Krudener darf seinen etwas modrigen Humor – sehr zu meiner Freude – öfter zum Besten geben, wobei er leider ein wenig an Farbe verloren hat. Es wird deutlich, dass sich die Nebencharaktere der Zügel der Autorin wohl leicht entzogen haben, denn war der „Pitter“ – ein Straßenbube, der sich mit Botengängen und Stadtbesichtigungen für Fremde über Wasser hält – im ersten Buch eben nur ein Straßenbube, so avanciert dieser jetzt zu einem Lebensretter und Helfer im Notzustand. Nicht gerade unsympathisch, der Bursche, und von daher auch sehr gern gesehen. Die taubstumme Trine, die ihre Lehre beim Meister Krudener angetreten hat, darf nun ebenfalls öfter und dabei sehr geschickt bei der Ermittlung helfen.

Frau Schacht ist es gelungen, den handelnden Personen die benötigte Tiefe und ja, auch Ecken und Kanten zu verleihen, um für Sympathie und Antipathie beim Leser zu sorgen. Schade, dass dafür diesmal der Anfang der Geschichte leiden musste, denn für mich war es ausgesprochen mühselig, mich durch diese Passagen zu beißen. Doch immerhin legte ich das Buch mit dem Wunsch zur Seite, bald erfahren zu können, wie die Beziehungen der Dauermitspielenden weitergeht, denn der dritte Teil „Die Sünde aber gebiert den Tod“ wartet bereits auf mich und alle anderen Interessierten im Handel. Nun denn, eine Steigerung ist zu erkennen und somit gebe ich diese Serie noch nicht auf!

Rebecca Gablé – Die Hüter der Rose

„Die Hüter der Rose“ ist der fünfte historische Roman der deutschen Bestsellerautorin Rebecca Gablé (* 25.09.1964), die sich mit dem Roman „Das Lächeln der Fortuna“ und ihren weiteren historischen Werke einen Namen gemacht hat. Sie studierte nach mehrjähriger Berufstätigkeit als Bankkauffrau Anglistik und Germanistik mit Schwerpunkt auf Mediävistik, wobei ihr besonderes Interesse offenkundig den englischen Königshäusern galt. Denn um das Haus Lancaster und die von ihr erfundene Familie des Robin of Waringham, der ihren Fans bereits aus „Das Lächeln der Fortuna“ bekannt ist, dreht sich in dieser direkten Fortsetzung der Familiengeschichte der Waringhams alles.

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Perry, Anne – Feinde der Krone

Die Inspektor-Pitt-Reihe von Anne Perry nimmt mittlerweile schon recht voluminöse Ausmaße an. „Feinde der Krone“ ist der 22. Band der Reihe und schließt sich direkt an die finalen Ereignisse des Vorgängerbandes [„Die Verschwörung von Whitechapel“ 1175 an. Vorkenntnisse sind also durchaus empfehlenswert, auch wenn Perry gelegentlich auf Vorangegangenes zurückgreift, um den roten Faden herzustellen.

Eines der Grundelemente der Inspektor-Pitt-Reihe ist eine Verschwörergruppe namens „Der innere Kreis“. Gut getarnt, sitzen Vertreter dieser Gruppe in den allen Bereichen von Verwaltung, Justiz und Gesellschaft und streben als oberstes Ziel eine Beseitigung der Monarchie an, um sich selbst zur regierenden Macht des britischen Empires aufzuschwingen. Der Titel des vorliegenden Bandes „Feinde der Krone“ deutet schon an, dass diesem Thema auch hier wieder eine tragende Rolle zukommt.

In „Die Verschwörung von Whitechapel“ gelang es Inspektor Pitt, das Bestreben des Inneren Kreises, die Krone zu stürzen, zu vereiteln. Am Ende wurde der vermutlich wichtigste Mann der Verschwörergruppe, Charles Voisey, in den Adelsstand erhoben – eine bittere Pille für jemanden, der so vehement gegen die Monarchie arbeitet. Für Pitt war es die einzige Möglichkeit, Voisey unschädlich zu machen.

Doch der holt nun mit seinem frisch erworbenen Adelstitel zum Gegenschlag aus. Er kandidiert für die Unterhauswahl und will nun auf diesem Wege die Ziele des Inneren Kreises verwirklichen. Pitt wird im Auftrag des Sicherheitsdienstes darauf angesetzt, Voisey im Auge zu behalten und zu verhindern, dass dieser mit Hilfe krimineller Machenschaften und Intrigen die Abstimmung vor seinem Gegenkandidaten, dem Liberalen Aubrey Serracold, gewinnt.

Als dann die berühmte Spiritistin Maude Lamont ermordet aufgefunden wird, ist es wiederum Pitt, der mit den Ermittlungen betraut wird. Als Pitt herausfindet, wer die Gäste von Lamonts letzter Séance waren, vermutet er gleich einen Zusammenhang zu Charles Voisey und dem Inneren Kreis, denn die letzten Gäste waren Rose Serracold, die Gattin von Voiseys Gegenkandidat und General Kingsley, der in Leserbriefen ein glühender Verfechter von Voiseys Anliegen zu sein scheint. Doch wer war der dritte Gast an diesem Abend, der in Maude Lamonts Notizbuch nur durch ein Symbol verewigt ist? Pitt versucht es herauszufinden und kommt dabei einem Skandal auf die Spur. Doch seine Zeit wird knapp, denn mit jeden Tag rücken die Unterhauswahlen ein Stückchen näher …

Wieder einmal nimmt Anne Perry sich in ihrem Roman zwei Themenkomplexe vor, die innerhalb der Handlung in einem Zusammenhang stehen. Die Verschwörung um den Inneren Kreis, die sie mit Fortschreiten der Romanreihe immer weiter ausbaut, und einen Mordfall, in dem Pitt ermittelt und der innerhalb des Buches abgeschlossen wird. Der Innere Kreise ist, ebenso wie die in jedem Band wieder auftauchenden Hauptfiguren, der rote Faden der Reihe. War der Zusammenhang zwischen den beiden thematischen Ebenen Kriminalfall und Verschwörung in „Die Verschwörung von Whitechapel“ noch ein recht nachvollziehbarer, deutlicher und ausgewogener, so wird er in „Feinde der Krone“ zunehmend abstrakter und dadurch leider auch nicht unbedingt überzeugender.

Pitt stellt sofort einen Zusammenhang zwischen dem Mord an der Spiritistin und Charles Voiseys Bestrebungen, einen Unterhaussitz zu ergattern, her. Für den Leser wird dies nicht unbedingt bis ins letzte Glied nachvollziehbar erklärt. Der Zusammenhang bleibt recht diffus und Pitts Erklärungsversuch weitestgehend spekulativ und abstrakt. So kommen auch die Ermittlungen in der Mordsache nicht so recht voran. Perry wendet sich zwischendurch immer wieder anderen Handlungsfäden und Personengruppen zu. Sie berichtet von Dinners der feinen Gesellschaft, die im Vorfeld der Wahlen von eben diesem Thema beherrscht werden. Damit gibt sie zwar sehr nachvollziehbar die politische Stimmung Englands zur damaligen Zeit wieder und macht ihren Roman gerade auch aus historischer Sicht interessant, dennoch gerät der Kriminalfall neben diesen Ausführungen manchmal schon ein wenig ins Hintertreffen.

Mit fortschreitenden Ermittlungen konzentriert Perry sich zunehmend auf den etwas mühsam bemühten Zusammenhang zwischen dem Mordfall und dem Inneren Kreis. Der Innere Kreis beginnt die Handlung zu dominieren. Alles läuft auf ein Duell zwischen Pitt und Voisey hinaus, der nach seiner Niederlage in „Die Verschwörung von Whitechapel“ darauf aus ist, es Pitt heimzuzahlen. Der Mord an der Spiritistin wird dabei schon fast ein wenig nebenbei aufgeklärt. Nachdem es Kapitel für Kapitel zunächst kaum voranging, nehmen die Dinge zum Ende hin einen recht rasanten Verlauf. Der anfangs noch etwas schleppende Spannungsbogen kommt dann ganz ordentlich in Fahrt, so dass die Lektüre zumindest im letzten Buchdrittel doch noch recht fesselnd verläuft.

Doch das macht den etwas schleppenden Start nicht vergessen. So abrupt wie „Die Verschwörung von Whitechapel“ endete, so abrupt beginnt „Feinde der Krone“. Die beiden Bände scheinen in der Tat darauf ausgelegt zu sein, dass man sie direkt nacheinander liest. Dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass Annes Perry das Niveau des Vorgängerromans nicht zu halten vermag. Hier wirken die verschiedenen Handlungsebenen etwas unausgewogen, so dass auch der Spannungsbogen sich nicht so kontinuierlich aufstrebend entwickelt, wie man es beim Vorgängerroman erlebt hat.

Ein Grund dafür ist auch der etwas farblos bleibende Erzählstrang um Pitts Familie. Vor allem Pitts Frau ist in der Inspektor-Pitt-Reihe immer eine wichtige Zutat gewesen. Sie trug auf ihre Art zu den Ermittlungen bei, hatte sie doch Zugang zu gesellschaftlichen Bereichen, die Pitt selbst verschlossen blieben. In „Feinde der Krone“ tritt sie zusammen mit den beiden Kindern und dem Hausmädchen Gracie alleine die Urlaubsreise nach Devon an, auf die auch Pitt eigentlich mitkommen sollte. Nur gelegentlich blendet Perry diesen Handlungsstrang ein, und so richtig zu Ende geführt wird er gar nicht erst. Die Figuren rund um Inspektor Pitt – in „Die Verschwörung von Whitechapel“ noch ein echter Pluspunkt – verschenken hier ein Menge Potenzial, indem sie kaum zum Tragen kommen.

Das erweckt den Eindruck, als müsse Anne Perry ähnlich wie andere nicht minder aktive Vielschreiber auch, der Vielzahl ihrer Romane allmählich Tribut zollen. Bei dem Tempo, in dem Perrys Romane auf den Markt drängen, ist es kein Wunder, dass irgendwann auch in Sachen Qualität Einbußen zu erwarten sind. Sie scheint durchaus ehrgeizige Ziele zu haben, indem sie Kriminalfall, Verschwörung sowie gesellschaftliche und politische Zeitstudie vermischt, aber in diesem Fall fehlt der Mischung einfach die Ausgewogenheit.

Was die Lektüre immerhin noch ganz angenehm macht und dafür sorgt, dass man das Buch dennoch ohne Mühe zu Ende bringt, ist neben der einfließenden Zeitstudie auch Perrys Schreibstil. Perry kommt weitestgehend ohne Action aus und hält den Leser dank ihrer routinierten Erzählweise auch so bei der Stange. Ihr Stil ist nicht sonderlich ausschmückend, aber auch nicht zu nüchtern. Schlichte Kost, die sich leicht und flüssig konsumieren lässt. Sicherlich nichts Herausragendes, aber dennoch äußerst solide Unterhaltungsliteratur.

Alles in allem kann „Feinde der Krone“ nicht so ganz die Erwartungen erfüllen, die der Vorgängerroman „Die Verschwörung von Whitechapel“ geweckt hat. Etwas unausgewogene Erzählebenen und ein Kriminalfall, der im Laufe der Handlung ein wenig ins Hintertreffen zu geraten droht, trüben genauso die Freude wie liebgewonnene Hauptfiguren, deren Anteil an der Handlung einfach zu mager und zu wenig überzeugend ausfällt. Zwar durchaus solide Kost für Freunde historischer Krimis, da eben auch die historischen Schilderungen des viktorianischen Zeitalters sehr lesenswert sind, aber man hat von Anne Perry eben auch schon Besseres gelesen.

Köster-Lösche, Kari – Mit der Flut kommt der Tod

Liebhaber historischer Romane dürften mit dem Namen Kari Köster-Lösche einiges verbinden: „Die Hakima“, „Die Heilerin von Alexandria“, „Die Wagenlenkerin“, um nur drei ihrer aktuell am meisten gefragten Werke zu nennen. Spielen manche ihrer Geschichten an fernen Schauplätzen, in längst vergangenen Zeiten, so findet die gebürtige Lübeckerin auch immer wieder direkt vor ihrer Haustür Stoff für spannende Erzählungen. Hexenwahn und Pestilenz im Tondern des 17. Jahrhunderts beispielsweise, oder die Konflikte zwischen Aberglaube, Fortschritt und der Naturgewalt der Meeres, spannend in Szene gesetzt in der Novelle „Das Deichopfer“. Es zeigt sich also, auch das norddeutsche Land besitzt narratives Potenzial. Mehr noch, die einzigartige Region Friesland, seit Jahrhunderten bestimmt durch das Ringen zwischen Mensch und Meer, scheint auch exotischen Örtlichkeiten, wie zum Beispiel dem antiken Griechenland, als Romanbühne den Rang ablaufen zu können. Mit ihrer aktuellen Erzählung (im August 2005 erschien noch „Mit Kreuz und Schwert“, der Abschluss ihrer Sachsen-Trilogie) widmet sich Kari Köster-Lösche nun ihrer ganz persönlichen, neuen Heimat. „Mit der Flut kommt der Tod“ spielt auf der Hallig Langeneß – ein von Watt und Wasser umschlossenes Stück Land, zwischen Föhr, Pellworm und der schleswig-holsteinischen Küste. Seit über zehn Jahren schon wohnt die Autorin zusammen mit ihrem Mann auf der lang gestreckten Marschinsel, sammelt Spuren der Inselhistorie, malt Aquarelle, erforscht das Watt und betreibt ein eigenes Museum. „Eigenes Erleben ist besser als jede Recherche“, sagt sie und man spürt die Wahrheit dieser Worte deutlich in jeder Zeile ihres neuen Romans. Authentisch und lebendig tritt dem Leser das Halligleben von vor über hundert Jahren vor Augen.

Erzählt wird die Geschichte des Husumer Wasserbauinspektors Sönke Hansen. Im Jahr 1894 wird er auf eine heikle Mission geschickt: Er soll auf der Hallig Nordmarsch-Langeneß die Voraussetzungen für den Bau eines Steindamms ausloten, womit die Insel dauerhaft vor dem nagenden Zahn der Nordsee geschützt werden könnte. Dabei ist die Frage des Deichbaus von politischer Brisanz, denn auf dem Festland steht man den Halligen durchaus skeptisch gegenüber. Die Bewohner seien rückständig, der Unterhalt der Halligen würde nur Kosten verursachen und nichts einbringen und obendrein stellten die vorgelagerten „Inseln“ ein militärisches Hindernis für die deutsche Flotte dar. Nichtsdestotrotz besteht Berlin darauf, dass die Sache in Augenschein genommen wird. Hansen selbst sieht die Bredouille schon früh auf sich zukommen: Seinen Vorgesetzten war er schon immer ein Ärgernis, zu unpatriotisch, zu unpreußisch. Dass er mit der Tochter eines Optanten – Bewohner von Nordschleswig, die sich nach der Übernahme Schleswig-Holsteins durch Preußen in Folge des deutsch-dänischen Krieges von 1864 für die dänische Staatsbürgerschaft entschieden – verlobt ist, macht die ganze Angelegenheit nur komplizierter. Obendrein sympathisiert er mit den eigenwilligen Halligbewohnern und denkt nicht daran, sie dem Schicksal der Nordsee zu überlassen. Doch der Oberdeichgraf erwartet, dass Hansen auf seiner Mission scheitern wird und die störenden Inseln den Fluten der See überlassen werden. Noch bevor Sönke Hansen überhaupt einen Fuß auf die Hallig Nordmarsch-Langeneß gesetzt hat, steht er bereits am Scheideweg: Den Zorn seiner Vorgesetzten riskieren und für den Deichbau plädieren, oder die Hallig und ihre Bewohner sich selbst und somit dem Untergang überlassen und dadurch seinen Herren nach dem Munde reden? Als Hansen schließlich auf Nordmarsch anlangt, wird die ganze Sache durch das skeptische Verhalten der Einheimischen noch weiter verkompliziert. Niemand will etwas mit den Bürokraten vom Festland zu tun haben und ein Steindeich würde nur Scherereien verursachen! Als die Flut eines Tages auch noch eine Leiche an den Strand spült, nimmt Hansens Mission langsam bedrohliche Züge an. Zumal der Tote dem Wasserbauinspektor auf den ersten Blick wie aus dem Gesicht geschnitten scheint. Was geht hier draußen vor, in den grauen Weiten des Watts? Was hat es mit dem merkwürdigen Segler auf sich, den einige Halligbewohner des Nachts erspäht haben wollen? Und was ist mit Gerda – Hansens Verlobte –, die seit seinem Aufbruch aus Husum spurlos verschwunden ist? Sönke Hansen muss all sein Können in die Wagschale werfen, um Licht ins Dunkel zu bringen, welches die Hallig langsam beschleicht.

Kari Köster-Lösche erzählt in „Mit der Flut kommt der Tod“ eine spannungsgeladene Geschichte vor einem ganz besonderen Hintergrund. Liebevoll wird das Leben auf der Hallig skizziert, so dass man sich als Leser bald selbst in der von Wind und Wellen umschlungenen Weite der nordfriesischen Vorküste wähnt. Haupt- wie Nebencharaktere kommen allesamt als Unikate daher und bereichern die Erzählung mit ihren eigenen, individuellen Facetten. Als historischer Roman verwendet die Geschichte einige Begriffe, die den meisten Lesern wohl eher unbekannt sind, doch ein ausführliches Glossar am Ende des Buches verschafft hier zügig Abhilfe. Desweiteren erleichtert eine Liste der auftretenden Personen die handlungsinterne Übersicht, während zwei Karten für geographische Orientierung in der friesischen Küstenregion sorgen. Insgesamt ein sehr empfehlenswerter Roman, der eine faszinierende Atmosphäre heraufbeschwört. Meer und Mensch und Mehr.

_Michel Bernhardt_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de/ veröffentlicht.|

Tim Binding – Inselwahn

Das geschieht:

Etwa auf halber Strecke zwischen der englischen Hauptinsel und dem kontinentalen Frankreich liegt dort, wo sich der Ärmelkanal zum Atlantik weitet, die Insel Guernsey. Zwar mit der britischen Krone verbunden aber politisch nicht Teil Großbritanniens, hat sich hier ein eigenwilliger Menschenschlag angesiedelt, der gern unter sich bleibt. Die Außenwelt erreichte Guernsey lange höchstens in Gestalt der Touristen, bis im Sommer 1940 nazideutsche Truppen die Insel stürmen.

Seit drei Jahre halten die Deutschen Guernsey nunmehr besetzt. Weiter ist die Eroberung der britischen Inseln allerdings nicht gediehen, denn das Kriegsglück begann sich gegen die Deutschen zu wenden. Auf Guernsey ist davon jedoch nichts zu spüren. Im Gegenteil: Hitler ist mehr denn je vom „Inselwahn“ besessen und lässt die Insel zur Festung gegen die Alliierten und zum Brückenkopf für eine Invasion Englands ausbauen. Tim Binding – Inselwahn weiterlesen

Elrod, P. N. – maskierte Tod, Der (Jonathan Barrett 3)

Jonathan Barrett ist echt ein Netter: gut aussehend, ausgesucht höflich, gebildet und mit reicher Familie. Eine gute Partie also, und das, obwohl er andere, weniger begehrte Charaktereigenschaften besitzt. Jonathan ist nämlich ein Vampir, auch wenn er für seinen Zustand selbst keinen Namen hat. Er verschläft den Tag, trinkt das Blut seiner Haustiere, kann Menschen durch Hypnose beeinflussen und sich praktischerweise in Luft auflösen. Diesen Zustand verdankt er der Affäre mit der geheimnisvollen Nora Jones, die er während des Studiums in England kennen und lieben gelernt hat. Zurück in Long Island, wurde er jedoch während des Unabhängigkeitskriegs erschossen und stand eine Nacht später prompt als lebender Toter wieder auf. Nachdem er seine neue Existenzform ausgiebig erprobt und einige Abenteuer bestanden hat, will er nun unbedingt Nora Jones wiederfinden, damit er ihr all die Fragen stellen kann, die ihn zu seinem Zustand plagen.

So weit zu dem, was bisher geschah, „Der maskierte Tod“ ist nämlich schon der dritte Band um Jonathan Barrett (nach „Der rote Tod“ und „Der endlose Tod“) und schließt, wie man das mittlerweile von P. N. Elrod gewohnt ist, nahtlos an seine Vorgänger an. Jonathan ist mehr als frustriert mit seiner Suche nach Nora Jones. Sein in London wohnender Cousin Oliver kann die ehemalige Geliebte einfach nicht ausfindig machen, dazu kommt noch, dass die Post Monate braucht, um die Kolonien zu erreichen. Und so beschließt Jonathan, selbst nach London zu reisen, um dort Nachforschungen anzustellen.

Aber da Jonathan ein Familienmensch (Familienvampir) ist, reist er nicht allein. Seine Schwester Elizabeth besteht darauf, mitzukommen und auch sein Sklave Jericho darf natürlich nicht fehlen. Als auch noch eine stolze Anzahl Rinder als Blutration für die Überfahrt auf dem Schiff verstaut sind, ist die Reisegesellschaft komplett. Doch Jonathan hat nicht mit seinem Vampirismus gerechnet – fließendes Wasser hat Untoten nämlich noch nie gut getan. So wird er von einem bösen Anfall von Seekrankheit heimgesucht, der schlussendlich dazu führt, dass P. N. Elrod sich nicht lange mit der Überfahrt nach England aufhalten muss …

Dass das ein Vorteil ist, wird schnell klar. Wie auch schon im ersten Band, ist der in London spielende Teil der Höhepunkt des Romans. Im Gegensatz zum provinziellen und verschlafenen Long Island kann sich Autorin Elrod im großstädtischen London so richtig austoben und große Gesellschaften beschreiben. Darüberhinaus trifft Jonathan seinen Cousin Oliver wieder, der schon in „Der rote Tod“ ein großer Symapthieträger war.

Doch was wird aus der Suche nach Nora Jones? Die bleibt zunächst unerfolgreich, denn Jonathan wird bald mehr als abgelenkt. So hat die Londoner Gesellschaft offensichtlich beschlossen, dass es sich bei ihm und seiner Schwester um Heiratskandidaten erster Güteklasse handelt und darüberhinaus muss sich Jonathan bald mit so einigen Intrigen herumschlagen.

Nach dem etwas schwächelnden „Der endlose Tod“, ist P. N. Elrod in „Der maskierte Tod“ nun offensichtlich wieder in Hochform, was mit Sicherheit auch am veränderten Schauplatz der Handlung liegt. Auch kann sie nun einige neue Figuren einführen, die der Handlung mehr Esprit und Richtung geben. So hat der Leser bei der sich flott entwickelnden Handlung kaum Zeit, sich darüber zu wundern, dass Jonathan seine Suche nach Nora nur halbherzig zu verfolgen scheint. Bald schon ist er so in Duelle und alte Liebschaften und Auseinandersetzungen mit hysterischen Tanten verwickelt, dass es für Jonathan nur von Vorteil sein kann, dass er nicht zu atmen braucht – er hätte sowieso keinen Augenblick Muße, um Luft zu holen.

„Der maskierte Tod“ ist für einen Vampirroman schon recht außergewöhnlich. Jonathan ist vermutlich der humanistischste Vampir, den die literarische Welt je gesehen hat. Er ist so in seiner menschlichen Umwelt verankert, dass sein Vampirismus dahinter zurückstehen muss. Das wird noch verstärkt dadurch, dass er in einer durch und durch menschlichen Welt agiert: In London scheint es keine anderen Vampire zu geben. Daher kann man nur hoffen, dass er in absehbarer Zukunft auf andere Vampire (vielleicht sogar seine geliebte Nora Jones) trifft, die ihm ein wenig vampirisches Selbstbewusstsein verschaffen können. Denn wie auch schon im Vorgänger, kränkelt der Roman etwas an Jonathans tapsiger Natur. Er scheint eine Nase dafür zu haben, in brenzligen Situationen zu landen, aus denen er sich nur mit Not – und aus mehreren Wunden blutend – befreien kann. So schafft er es auch in diesem Roman wieder, zweimal fast um die Ecke gebracht zu werden. Natürlich nicht wirklich, schließlich ist er schon tot. Doch auch wenn er mittlerweile begriffen zu haben scheint, dass man ihn nicht einfach so töten kann, so ist er doch vor Panikattaken nicht gefeit, wenn ihm mal wieder ein Bösewicht an die Gurgel will. Dieses sich ständig wiederholende Schema wird für den Leser bald ermüdend (schließlich zieht es sich nun schon über drei Romane hin) und man kann nur hoffen, dass Jonathan bald Vertrauen zu seinem Zustand fasst.

Ansonsten ist „Der maskierte Tod“ ein uneingeschränktes Lesevergnügen: kurzweilig, unterhaltsam und mit vielen sympathischen Charakteren ausgestattet. Vor allem die gut ausgearbeiteten Nebencharaktere (Elizabeth, Jericho, Oliver) tragen viel dazu bei, dass man sich bei der Lektüre nie langweilt. Und doch hat Jonathan seine Nora wieder nicht gefunden; man hofft, P. N. Elrod spannt ihren Protagonisten und ihre Leser nicht mehr allzu lange auf die Folter und gestattet den beiden ihre lang verdiente Wiedervereinigung!

Auf Jonathans weitere Abenteuer muss man zumindest nicht mehr lange warten: Die Veröffentlichung des vierten Teils der Reihe, „Der tanzende Tod“, ist für Herbst 2005 geplant.

|P. N. Elrod bei Buchwurm.info:|

[„Der rote Tod“ 821

[„Der endlose Tod“ 863

[„Vampirdetektiv Jack Fleming“ 432

Kraus, Susanne – Knochenpoet, Der

Mit „Der Knochenpoet“ brachte die 1966 geborene Autorin Susanne Kraus im April dieses Jahres ihren ersten historischen Roman auf den Markt. Die „Autorin zum Angreifen“ – ein Versprecher bei einer ihrer Lesungen brachte diesen Ausspruch zu Wege, den sich die Schriftstellerin dann humorvoll aneignete – studierte Osteuropäische Geschichte, Französische Philologie und Slawistik und schloss 1993 als Magistra Artium ab. Es folgte Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, u. a. in einer diakonischen Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung und in der Pressestelle der Stadtverwaltung Kaiserslautern. Seit 2004 arbeitet sie für die Stadtbibliothek Kaiserslautern und ist derzeit mit der Fortsetzung von „Der Knochenpoet“ beschäftigt.

Der Roman entführt uns ins Lautern vor ca. 850 Jahren, als das Flüsschen Lauter noch munter an der Erdoberfläche entlang plätscherte und in dem Ort wohl noch nicht mehr als hundert Menschen wohnten. Mit dem heutigen Kaiserslautern also nicht zu vergleichen. Die Ankunft des Kaisers Friedrich, auch Barbarossa genannt, steht für den nächsten Tag an und in der Burg Beilstein herrscht helle Aufregung. Eine Truhe mit Knochen wurde gefunden, aber wer ist der oder die Tote?
Um böse Eventualitäten auszuschließen, erfindet das Burgfräulein Rotrund von Saulheim die passende Geschichte einer Heiligen, deren Knochen nun ein durchgereister Mönch als Dank für Speis und Trank dagelassen hatte, und verfrachtet die Truhe kurzerhand aus der Reichweite unangenehmer Fragen.

Bereits am selben Tag taucht der Spielmann Trushard Scharfzunge aus Köln in der Burg auf und wird wie erwartet von Rotruds Vater, dem Ministerialen (unfreie Dienstleute, d. Verf.) Merbodo von Beilstein, umgehend abgewiesen. Spielleute sind rechtloses, unsittsames und unerwünschtes Pack, das kein anständiger Burgherr beherbergen möchte. Doch der Vater hat nicht mit seiner ungehorsamen Tochter gerechnet, deren Herz für den Künstler entflammt ist und die ihn ungeniert zum Bleiben auffordert. Als waschechte Dame in der Burg zwingt sie den „Knochenpoeten“, wie er aufgrund seiner knochendürren, hochgewachsenen Gestalt betitelt wird, zu einem ausgiebigen Bad, bei dem sie die Geschichte seines von Wunden bedeckten Rückens erfährt. Wibald von Turme ist der Schänder – ein Name, der ihr wohl vertraut ist, hatte dieser brutale Zeitgenosse doch fünf Jahre zuvor ihre Schwester vergewaltigt und damit in den Selbstmord getrieben.
Doch die schlimmste Nachricht folgte: Wibald befand sich im Gefolge des Kaisers und damit auf dem direkten Weg zu ihrem Vater, der die Schmach und den Verlust seiner Tochter nie verwunden hatte. Wie sollte sie verhindern, dass die beiden aneinander gerieten und ihr Vater sie und ihren fünfjährigen Bruder ins Unglück stürzte?

Am nächsten Tag sieht sie ihre Befürchtungen Realität werden. Ihr Vater schlägt Wibald in einem Anfall von Raserei und nur mühsam gelingt es ihr, ihn von weiteren Handgreiflichkeiten abzubringen. Barbarossa, der über den unerfreulichen Zwischenfall natürlich informiert wird, setzt für den nächsten Morgen ein klärendes Gespräch zwischen den beiden Kampfhähnen an. Doch dazu soll es nicht kommen.
Rotrud, wild entschlossen, ein öffentliches Duell zu verhindern, um nicht zur Waisen zu werden, sieht in einem privaten Gespräch mit Wibald die Rettung. Sie will ihn überzeugen, sich unter vier Augen bei ihrem Vater zu entschuldigen, stattdessen wird sie Ohrenzeuge seines Todes und vom Mörder, den sie leider nicht gesehen hatte, verfolgt. Als Wibald erwartungsgemäß nicht zum Gespräch vor dem Kaiser erscheint und der Mord diesem gemeldet wird, stellt Barbarossa ihren Vater unter Arrest. Doch diesem gelingt prompt die Flucht und er versteckt sich erstmal erfolgreich. So bleibt Rotrud nichts anderes übrig, als sich Trushard zu schnappen und auf Spurensuche zu gehen. Verdächtige gibt es glücklicherweise genug, zu denen aber unglücklicherweise auch der Knochenpoet gehört…

Tja, und nun? Um es vorweg zu nehmen: Eigentlich finde ich den Roman gut. Für ein Debüt auf dem historischen Grund und Boden auch ganz standfest. Zwei verschiedene Handlungsstränge – der Mord an Wibald und das Rätsel um die Knochentruhe – eignen sich hervorragend, um den Leser neugierig werden zu lassen. Ein flüssiger Schreibstil, eine treue Personencharakterisierung und zwielichtige Gestalten sind auch immer gut und leider nicht immer vorhanden. Aber im Großen und Ganzen hätten wir die Vorteile damit auch schon erschöpft.

Was mich am meisten stört, sind die Charaktere selbst. Warum sind es immer junge Frauen, die nicht in ihre Zeit gehören wollen, weil sie sich der männerdominanten Mittelalterzeit nicht anpassen möchten? Weil es sonst zu langweilig wäre, schon klar. Aber können sich unsere Autoren nicht mal etwas Besseres einfallen lassen als eine zu selbstständige und zu gebildete Heldin, die sowieso immer solo ist, damit sie sich zu allem Übel noch in einen unpassenden Zeitgenossen verlieben kann? Als eine Abenteurerin, die ihren Mund nicht halten kann, sich ritter- und heldenhaft in Detektivgeschichten verwickeln lässt, um ihre kleine Welt zu retten, in der sie ja ohnehin nicht leben möchte? Gut, in einem Punkt hat mich Rotrud nicht enttäuscht: Mit ihr wurde endlich mal eine Heldin geboren, die Mut zur Hässlichkeit beweist. „Ich hingegen besaß nur die Sturheit eines Esels und die Attraktivität eines Suppenhuhns.“ Dieser Satz bezauberte mich! Mehr davon!

Der „Knochenpoet“, immerhin Titelgeber des Romans, ist ein typischer Vertreter des „Heldin-verliebt-sich“-Volkes: Ihres Standes unwürdig, dafür sanft und verständnisvoll, humorvoll und geistig erhellt, zärtlich und verspielt – also der perfekte Mann, denn Geld und Ehre sind ja nicht alles. Okay, das mag ja auch stimmen, nur habe ich es ihm nicht abgekauft, erst recht nicht, wenn er einige Seiten später als Hauptverdächtiger dargestellt wird. Meine Phantasie erwacht ja sofort bei der Vorstellung, er wäre wirklich der Täter – wie reagiert unsere tapfere Heldin bei dieser Unmöglichkeit?

Auch leichte Logikschwächen ließ die Autorin nicht aus: Zum einen fürchtet Rotrud, ihren Vater bei einem Duell zu verlieren, zum anderen will sie dessen Widersacher zu einer Entschuldigung zwingen, weil dieser im Kampf wohl unterliegen würde. Was denn nun?
Als sie vom Tatort des Mordes wegläuft und den Atem des Mörders in ihrem Nacken spürt, will uns die Autorin weismachen, dass sich das Mädchen so unter Kontrolle hat, keinen Blick über die Schulter zu werfen. Für mich nicht gerade realistisch, aber nun gut, sei die Heldin eben so diszipliniert in einer dermaßen lebensbedrohlichen Situation.

Aber das ist alles gar nicht so schlimm, wie es sich anhört, denn wie eingangs erwähnt, ist der Roman trotz aller Schwächen durchaus lesenswert und unterhaltsam. Die Geschichte der Knochentruhe entschädigte mich für die kleinen Logikpatzer voll und ganz, die Kabbeleien zwischen dem Liebespaar kamen mir auch sehr bekannt vor und riefen bei mir stellenweise ein breites Grinsen hervor – Männlein und Weiblein können eben nicht mit- und auch nicht ohne einander – und die Story an sich war spannend und fließend aufgebaut. Der Schreibstil war ebenmäßig und las sich komplett ohne Stolpersteine und Grammatikfallen, und das Nachwort von Susanne Kraus erklärt dann die historischen Fakten über Barbarossas Besuche in Lautern. Für die Fortsetzung wünsche ich mir einfach nur etwas mehr Tiefgang bei den Protagonisten, eine Prise mehr Realitätssinn und eine Messerspitze weniger Widersprüche, dann einmal kräftig umrühren und um die schriftstellerische Karriere der Autorin müssen wir uns keine Sorgen machen.

Homepage der Autorin: http://susanne-kraus.homepage.t-online.de

Weber, Wolfgang H. – Vindepos der Barde. Ein Keltenroman

Vindepos wächst in Vindelica auf, einem Gebiet, das vom Bodensee bis zum Inn und vom Alpenrand bis an die Donau reicht. Sein Onkel ist der Fürst der Ambronen, sein Vater ein berühmter Barde. Dementsprechend erhält Vindepos eine sehr gute Erziehung zusammen mit seinem Vetter, wenngleich man sagen muss, dass Vindepos ganz offensichtlich nicht zum Krieger geboren ist. Wie sehr sich Vindepos tatsächlich von seiner Familie unterscheidet, wird erst klar, als er eines Tages anfängt, Albträume zu haben. Zuerst ist es nur einer, den er immer wieder träumt, dann kommt ein zweiter dazu, und schließlich ein dritter, der nicht wirklich ein Albtraum ist. Vindepos weiß nicht, mit wem er darüber reden soll, also schweigt er.

Da geschehen zwei Dinge:
Ein brutales Gewitter überrascht die Fischer des Dorfes auf dem See. Das Boot des Fürsten, an Bord auch Vindepos Vater, läuft aus, um die Männer des gekenterten Boote zu retten, doch ein Blitz schlägt in den Mast ein. Das Schiff sinkt. Nur ein einziger Mann überlebt.
Bald darauf erhält die Festung seines Onkels Besuch von Raitorix, einem Sohn des obersten Fürsten Vindelicas. Raitorix hat einen Druiden in seinem Gefolge, der sofort erkennt, dass Vindepos ein besonderes Kind ist. Er schlägt der Mutter vor, ihn auf dem Rückweg seiner Reise mit in die Hauptstadt zu nehmen, um ihn dort ausbilden zu lassen. So folgt Vindepos einige Zeit später dem Druiden Queiragnos nach Cambodunon. Schon bald wird er in Rivalitäten und Intrigen hineingezogen.

„Vindepos, der Barde“ wirft den Blick auf einen Geschichtsabschnitt, der schon allein deshalb interessant ist, weil es so wenig darüber zu lesen gibt. Es gibt nicht viele Romane, die sich mit dem vierten Jahrhundert vor Christus beschäftigen, und wenn, dann erzählen sie in der Regel vom Mittelmeerraum, von Griechenland oder Ägypten. Der Ort der Handlung findet sich hauptsächlich in Romanen über die Eroberung Germaniens durch die Römer wieder, und das Volk der Kelten bringt der Leser zunächst einmal mit Irland, Großbritannien und Artus in Verbindung.
Tatsächlich siedelten die Kelten davor bereits im süddeutschen Raum, im Alpengebiet, in Norditalien und in Frankreich. Diese frühere Keltenkultur ist die Basis für die Geschichte von Vindepos.

Vindepos ist ein intelligentes Kind von eher ruhigem Naturell. Der Verlust des Vaters trifft den Jungen tief, vor allem, weil er sich Vorwürfe macht. Er glaubt, er hätte seinen Vater retten können, denn die Ereignisse des Schiffsunglücks waren Gegenstand seines ersten Albtraumes. Sein Verdacht, dass diese stets wiederkehrenden Träume mehr sind als einfache Nachtmahre, wird schließlich durch den Druiden Queiragnos bestätigt. Doch noch versteht Vindepos zu wenig vom Wirken der Götter, um die Bedeutung dessen ganz zu begreifen. Seine Ausbildung ist vor allem die zum Barden, auch wenn der Druide des Hochfürsten, Dannorix, darauf besteht, ihm noch eine Menge anderer Dinge beizubringen. Selbstredend wird Vindepos auch noch eine weiter gehende Ausbildung brauchen. Zuvor jedoch muss er einen Reifeprozess durchlaufen, dessen Katalysator die diesseitige Welt ist.

Vonatorix, der eheliche Sohn des Hochfürsten und sein designierter Nachfolger, hat mit Vindepos gemeinsam Unterricht. Er liebt es, gemeinsam mit seinem Klüngel ausgiebig auf Vindepos herumzuhacken. Als die Jungen älter werden, werden sie außerdem zu Rivalen um die Gunst der hübschen Bardala. Vonatorix, gewohnt, alles zu bekommen, was er will, reizt Vindepos bis zur Weißglut und liefert sich sogar eine Schlägerei mit ihm. Als Bardala sich letztlich doch für Vindepos entscheidet, speit Vonatorix Gift und Galle.

Raitorix ist der älteste Sohn des Hochfürsten, allerdings ein Bastard. Von seinem Vater in der Thronfolge nicht berücksichtigt zu werden, wurmt ihn gewaltig. Raitorix ist ein guter Krieger und versteht es außerdem, Leute für sich zu gewinnen. Dass er noch weit mehr ist als das, wird dem Leser im Laufe der Erzählung nur zu bald klar. Vindepos und sein Lehrmeister scheinen allerdings die Einzigen zu sein, die etwas davon bemerken. Raitorix scheint fest entschlossen, Vindepos‘ Förderer zu werden. Vindepos gefällt das gar nicht, und spätestens als Raitorix beginnt, ihm nachzustellen, ist der Bruch absehbar.

Queiragnos ist der undurchsichtigste Charakter des Buches. Zu Anfang ist er Vindepos durchaus eine Hilfe, im weiteren Verlauf jedoch wird seine Handlungsweise immer zwiespältiger. In seiner Eigenschaft als Druide und mit einer gewissen Fähigkeit des Sehens begabt, lässt er sich nicht so einfach beurteilen. Seine Gedanken bleiben vage, sein Mienenspiel undeutbar. Über seine Gefühle und Beweggründe wird nichts verraten. Der Leser wird sich wohl bis zum bitteren Ende mit der unbeantwortbaren Frage herumschlagen müssen, wer Queiragnos wirklich ist: der Druide, der nur den Willen der Götter vollzieht, die ihn zum Judas bestimmt haben, oder der Mann, der aus eigener Überzeugung handelt. Wie weit ist er bereit zu gehen?

Aus diesen gekonnt und glaubhaft geschilderten Personen und vor dem Hintergrund der altertümlichen Keltenkultur hat Wolfgang H. Weber einen gelungenen Roman konstruiert. Die Handlung ist eher ruhig gehalten, Charaktere und Intrigen nehmen einigen Raum ein, trotzdem passiert noch genug, um keine Langeweile aufkommen zu lassen, angefangen bei dem erwähnten Gewittersturm, über Krieg und Schlacht bis hin zu Entführung und Mord. Beide Seiten hat der Autor gekonnt ausbalanciert.

Die Lebensumstände der Menschen, manchmal lediglich im Detail angedeutet, kommen dennoch sichtbar zum Ausdruck. Rechtsprechung, Währung, Kleidung, Bräuche, Religion, das alles fügt sich zum Bild einer durchaus komplexen Kultur zusammen. Um dies zu unterstützen, hat der Autor an vielen Stellen Wörter aus der keltischen Sprache eingefügt. In Bezug auf religiöse Begriffe oder Worte, die Charakteristisches der damaligen Kultur beschreiben, wie den Kriegerbund des Raitorix, war das durchaus gelungen, als es dann aber an Begriffe ging, die lediglich Verwandtschaftsverhältnisse darlegten, wurde es etwas übertrieben. Immerhin war das Glossar vorbildlich aufgebaut, sodass es beim Nachschlagen keine Probleme gab, und mit der Zeit erübrigte sich das auch.

Abgesehen von besagtem Nachschlagen liest das Buch sich leicht und flüssig. Nebensätze in den Hauptsatz einzubetten, anstatt sie hintendran zu hängen, ist inzwischen zwar nicht mehr allzu üblich und zwingt deshalb zu etwas mehr Konzentration, das schadet aber nichts. Das Lektorat war ausnehmend gut!

Da Vindepos bisher „nur“ bis zum Barden gekommen ist, steht die Religion noch eher im Hintergrund, was sich im zweiten Band aber ändern dürfte, denn der trägt den Titel „Vindepos der Seher“. Das Bedauerliche ist nur, dass dieser Folgeband offenbar noch nirgendwo erschienen ist, obwohl der erste bereits im Jahr 2000 veröffentlicht wurde und der dritte Teil „Vindepos der Druide“ auch schon geschrieben ist! Der Homepage des Autors ist zu entnehmen, dass er offenbar keinen Verlag finden kann.

Vielleicht hat der erste Band nicht die erwarteten Verkaufszahlen gebracht. Das hätte das Buch in der Tat nicht verdient! Mag sein, dass der Grund dafür in dem schlichten, unauffälligen Cover zu suchen ist, das ich persönlich als edel und recht passend empfinde. Im Gros der bunten Umschläge dürfte es durchaus auffallen, ob es aber auch zum Kauf animiert … Manch einer fühlt sich eventuell auch durch den Preis abgeschreckt, der mit 14,00 Euro für nicht mal dreihundert Seiten doch ziemlich hoch liegt.

Trotzdem: Ich fand das Buch auf jeden Fall äußerst lesenswert, eine angenehme Abwechslung für jemanden, der sich für diese Kultur interessiert, von den Massen an Artus-Literatur aber allmählich genug hat.

Wolfgang H. Weber studierte Germanistik und Geschichtswissenschaft und schreibt bereits seit 15 Jahren, nicht nur Historienromane, sondern auch Science-Fiction. „Vindepos der Barde“ ist das einzige seiner Bücher, das bisher verlegt wurde. Äußerst schade! Nicht nur, weil ich gerne wüsste, wie Vindepos‘ Geschichte weitergeht, auch einige andere Titel aus seiner Liste klingen sehr vielversprechend!

http://www.wolfganghweber.de/romane.htm
http://www.wolfganghweber.de/einleitu.htm

Matthew Kneale – Englische Passagiere

England im Jahre 1857. Seit zwei Jahrzehnten sitzt Königin Victoria auf dem Thron des britischen Reiches, das sich in dieser Zeit ständig ausdehnt. Das wird sich in den folgenden Jahrzehnten (Victoria herrscht 64 Jahre!) praktisch ungehindert fortsetzen, bis über einem guten Viertel der Landfläche unseres Planeten die britische Flagge weht.

Zu den aktuellen „Neuerwerbungen“ gehört Van Diemen´s Land, eine große Insel vor der Südspitze Australiens. Die Briten haben sie vor Jahren den Holländern abgenommen und werden sie bald „Tasmanien“ nennen. Derzeit sind sie damit beschäftigt, Tasmanien ins Empire zu integrieren. Die Aussicht, sein Glück „in den Kolonien“ zu machen, erzeugt eine Art Goldgräberstimmung und lockt eine bunte Mischung aus unternehmungslustigen jungen Männern, gestrengen Kolonialbeamten, Pflanzern, Händlern, Missionaren und Glücksrittern an. Auch als Ort der Verbannung für Sträflinge eignet sich das vom Mutterland angenehm ferne Eiland vorzüglich.

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Wilkinson, Paul – Pompeji: Der letzte Tag

Ein Blick in die Alltagsgeschichte der beiden kampanisch-antikrömischen Hafenstädte Pompeji und Herculaneum, ermöglicht nach deren Konservierung durch eine viele Meter dicke Schicht aus Lava, Geröll und Staub, ausgeschüttet vom Vulkan Vesuv. Die Zeit blieb buchstäblich stehen am 24. August des Jahres 79 n. Chr., Straßen, Gebäude, Inneneinrichtungen, sogar die Bewohner erstarrten im Augenblick des Endes: eine Momentaufnahme der Vergangenheit, eine archäologische Schatzkammer, die schier unergründlich ist.

„Einführung“ (S. 7-21): Pompeji und Herculaneum blickten vor der Katastrophe auf eine mehrhundertjährige Geschichte zurück. Gegründet schon lange vor Entstehung des Römischen Reiches, hatten sie sich – günstig am Golf von Neapel gelegen – zu Drehscheiben im Handel zwischen Italien, Griechenland und Ägypten entwickelt. Um 62 n. Chr. lebten in Pompeji etwa 10.000 bis 15.000 Menschen. In diesem Jahr wurde die Region von einem Erdbeben heimgesucht, das Herculaneum vollständig und Pompeji teilweise zerstörte: eine erste, freilich unverstandene Warnung der Natur, dass man hier auf schwankendem Grund gebaut hatte.

„Kapitel Eins: Das Leben vor dem Tode“ (S. 22-51): Der letzte Tag vom Pompeji – ein minuziöses Protokoll der letzten Stunden, zugleich eine Schilderung typischer Tagesabläufe in einer römischen Provinzstadt. Aufstehen nach der Nachtruhe, Toilette, Frühstück; Hausarbeit, Berufsalltag, Markthandel, Verwaltung, Justiz, Politik; emsiges Schuften der Sklaven, fleißiges Arbeiten der Handwerker, Händler und sonstigen Dienstleister, müßiges Repräsentieren der Oberschicht; in ihrer Kaserne trainieren die Gladiatoren für ihren Kampf in der Arena, Schauspieler proben für den abendlichen Theaterauftritt, in diversen Tempeln leisten Priester Gottesdienste: Der Verfasser schildert das Funktionieren einer alten, aber gar nicht so fremden, sichtlich in sich ruhenden, lebendigen und stabilen Welt.

„Kapitel Zwei: Göttergewalten“ ‚(S. 52-73): In den Mittagsstunden des 24. August 79 n. Chr. kommt es zur Apokalypse. Der Vulkan Vesuv liegt zehn Kilometer von Pompeji und sieben Kilometer von Herculaneum entfernt. So lange die Bewohner zurückdenken können, ist er ruhig geblieben; man hält ihn für erloschen. Doch nun bricht er urplötzlich und mit vernichtender Gewalt aus. Plinius der Ältere, Admiral der römischen Flotte im Hafen von Misenum und der berühmteste Naturwissenschaftler seiner Zeit, lässt sich bis ins Zentrum des Geschehens bringen. Er wird zum Opfer seiner Wissbegier, aber sein gleichnamiger Neffe, der ihn begleitet hat, kann entkommen und liefert einen eindrucksvollen und präzisen Augenzeugenbericht, der inzwischen durch Forschungen ergänzt wurde. Sechs vulkanische Feuer- und Schuttwalzen ebnen Herculaneum völlig ein und begraben Pompeji. Die Bürger haben keine Chance zu entkommen.

„Kapitel Drei: Die Freilegung der versunkenen Städte“ (S. 74-97): Fast ein Dreivierteljahrtausend lagen Pompeji und Herculaneum in ihrem grotesken Dornröschenschlaf und gerieten in Vergessenheit. Kurz nacheinander wurden sie im frühen 18. Jahrhundert „wiederentdeckt“ – und zunächst grob ausgeplündert. Erst allmählich und parallel zur Entwicklung der Archäologie als Wissenschaft bildete sich ein Bewusstsein für den historischen Wert der beiden Städte, der den finanziellen weit übertraf. Allein der Bestand bisher unbekannter Buchwerke der Antike ist eine einmalige Bereicherung des Wissens über diese Zeit. Bis heute werden die systematischen Ausgrabungen fortgesetzt, während die Verfeinerungen der archäologischen Methoden den Erkenntnisstand sprunghaft anwachsen lassen. Pompeji überstand inzwischen auch eine dritte Katastrophe: 1943 wurden seine Ruinen von der US-Luftwaffe bombardiert, die hier deutsche Soldaten verschanzt wähnten …

„Kapitel Vier: Die öffentlichen Gebäude“ (S. 98-139): Etwa sechzig Prozent der sechzig Hektar umfassenden Stadtfläche von Pompeji sind inzwischen freigelegt. Während sich die Ausgräber früher auf die Einzelfunde konzentrierten, weitet sich heute der Blick auf Pompeji in seiner Gesamtheit. Dieses Kapitel beschreibt das Stadtbild mit seinen Straßen, Toren, der Stadtmauer, dem Bewässerungs- und Abwassersystem, informiert über das verwendete Baumaterial, um sich dann den wichtigsten öffentlichen Bauten – Forum, die Tempel des Jupiter, des Apollon, des Vespasian, das Handelshaus der Oberpriesterin Eumachia, der Fisch- und Fleischmarkt, die Thermen (nicht zu vergessen über dreizig Bordelle …) usw. – zu widmen.

„Kapitel Fünf: Die Wohnhäuser“ (S. 140-159): Selten ist es möglich, sich so gut wie in Pompeji oder Herculaneum ein Bild darüber zu machen, wie der „Privatmensch“ in antiken Zeiten wohnte und lebte. In den versunkenen Städten blieben die Innenausstattung – Möbel, Haushaltsgegenstände, Schmuck etc. – und die wunderbaren Wandmosaiken sowie –malereien bewahrt. Für viele Wohnhäuser und Villen ließen sich sogar die Namen ihrer Bewohner ermitteln. Ebenfalls erhalten haben sich eindrucksvolle Gartenanlagen mit Zierbassins und Springbrunnen.

„Kapitel Sechs: Ein Rundgang durch Pompeji“ (S. 160-184): Noch einmal greift der Autor die besonders bedeutenden, schönsten und tragischen Stätten Pompejis auf. Mit kurzen Kommentaren versehen, stellt er sie zu einem Rundgang zusammen, der den heutigen Besucher mit allen Aspekten der antiken Stadtgemeinde vertraut macht. Dazu gibt es einen doppelseitigen Plan, der ein Bild der Topografie insgesamt vermittelt. Abschließend macht ein Glossar mit wichtigen römischen Fachtermini der römischen Stadtgeschichte vertraut. Wer sich intensiver informieren möchte, kann dies mit Hilfe einer Bibliografie tun. Ein Register erleichtert es, bestimmte Namen, Orte und Sachverhalten noch einmal nachzuschlagen.

„Pompeji – The Last Day“ ist das Buch zur gleichnamigen [BBC-Fernsehreihe]http://www.bbc.co.uk/history/programmes/pompeii von 2003, einem jener bemerkenswerten TV-Sachspektakel, die dieser Sender ebenso publikumswirksam wie themenbezogen immer wieder zu entfesseln weiß. Während die Sendung mit perfekter Tricktechnik und enormem Schauspielereinsatz „Geschichte live“ zu bieten versucht, geht das Buch einen anderen Weg: Es beschränkt sich auf die echten Relikte von Pompeji, die sich sehen und anfassen lassen.

Die sind so reich an Zahl, Form und Farbe, dass sich mit ihnen problemlos ein Buch wie dieses nicht nur illustrieren lässt. Stattdessen wird das antike Pompeji wieder lebendig – und zwar als Ort, an dem Menschen lebten, arbeiteten, sich amüsierten. Normalerweise wirken Relikte aus alter Zeit steril, weil sie nur schmale Ausschnitte der Vergangenheit rekonstruierbar machen. In Pompeji ist jedoch jeder Aspekt noch fassbar, wird das (allzu) Menschliche offenkundig.

Auf den Hauswänden stehen Namen, Warnungen („Hüte dich vor dem Hund!“) Wahlkampfparolen, Werbesprüche, anzügliche Graffitis („Netzkämpfer Crescens ist der Herr, der den Mädchen ihre Medizin für die Nacht verabreicht.“), in den Tavernen stehen Trinkgefäße und Knabberzeug noch auf den Tischen – und überall liegen die erschlagenen, verbrannten, erstickten Menschen: Asche und Schutt haben die Hohlformen ihrer verwesten Körper so perfekt erhalten, dass man diese mit eingefülltem Gips dreidimensional im Moment ihres Todes neu erstehen lassen kann; ein beklemmender Anblick, Männer, Frauen und Kinder nach zwei Jahrtausenden noch mit dem letzten Stück Brot, dem Geldbeutel oder dem Enkelkind in den Händen zu erblicken.

„Pompeji – Der letzte Tag“ ist ein hervorragender Einstieg in die Materie. Auf 192 Seiten wird Kompaktwissen vermittelt, ohne dass sich der Leser überfordert fühlt. Dazu trägt die sichtbare Einheit von Wort und Bild bei: Die Abbildungen sind fotografisch und in der Wiedergabe großartig; das gesamte Buch besteht aus qualitätvollen Kunstdruckpapier. Der Verfasser befleißigt sich jenes leichten Erzähltons, der allgemein verständlich ist, ohne darüber die grundsätzlichen Infos jemals vermissen zu lassen. Für veranschaulichende Episoden und Anekdoten ist immer Raum. Aktuell ist das Werk natürlich auch. Es berücksichtigt den derzeitigen Forschungsstand.

(Dr.) Paul Wilkinson ist Klassischer Archäologe. Nach seiner Promotion ging er zwei Jahre nach Pompeji und Herculaneum, um an den dortigen Ausgrabungen und Forschungen teilzunehmen. Da es mit den Berufsaussichten „im Fach“ nicht zum Besten stand, machte sich Wilkinson selbstständig. Er leitet die [Kent Archaelogical Field School]http://www.sedwards.demon.co.uk/kafs/index.html und führt archäologische Reisen und Kurse durch, wobei sich Letztere vor allem mit der praktischen Seite der Archäologie beschäftigen. Ansonsten schreibt Wilkinson für das „BBC History Magazine“, „History Today“ oder die „Sunday Times“ und ist Redakteur von BBC-TV-Serien wie „Time Team“ oder „Pompeji – The Last Day“.