Archiv der Kategorie: Horror & Unheimliches

del Toro, Guillermo / Hogan, Chuck – Saat, Die

Die Autoren des kürzlich im |Heyne|-Verlag erschienenen Romans „Die Saat“ sind uns wohlbekannt. Erster des Duos, Guillermo del Toro aus Mexiko, ist als Regisseur durch Filme wie „Pans Labyrinth“, „Blade II“, „Hellboy“ oder durch die derzeitige Verfilmung des Klassikers „Der kleine Hobbit“ nach dem Buch von J.R.R. Tolkien inzwischen in die Riege der bedeutendsten Filmemacher aufgestiegen.

„Die Saat“ ist der erste Roman einer geplanten Trilogie, die er zusammen mit Chuck Hogan, einem international erfolgreichen Autor („Mördermond“, „Endspiel“), verfasst hat.

_Inhalt_

Der John F. Kennedy International Airport in New York ist einer der größten der Welt. Eines Nachts landet auf der Rollbahn des Flughafen eine Boeing 777, eines der größten Passagierflugzeuge der Welt mit Platz für bis zu mehr mehr als 500 Passiere, mit über 200 Fluggästen an Bord. Flug 753 war planmäßig von Berlin gestartet, um Stunden später in seinem Zielort New York anzukommen.

Nach der ruhigen Landung geschieht Merkwürdiges: Auf Anfragen vom Kontrolltower reagiert der Pilot nicht und alle Lichter an der schweren Passagiermaschine erlöschen, keine Positionslichter an den Tragflächen, die Sonnenblenden an den ovalen Fenstern sind alle komplett heruntergezogen. Es ist so, als wäre ein toter Wal am Strand angespült worden. Die Fluglotsen und Sicherheitsmitarbeiter sind schockiert, niemand reagiert im Inneren der Maschine auf Funksprüche, auch gibt es kein Signal aus dem Flugzeug, das auf Probleme im Innenraum hinweist.

Auf dem Rollfeld in unmittelbarer Nähe der „toten“ Maschine herrscht Sorge bei den Sicherheitskräften. Ist das Flugzeug in der Hand von Terroristen und gab es in der Maschine ein schreckliches Blutbad? Entschlossen fällt die Entscheidung, sich gewaltsam Zugang zu verschaffen, denn alle Zu- und Notausgänge sind verriegelt, so dass nur die Alternative übrigbleibt, das Flugzeug mittels Schneidbrenner aufzuschneiden.

Ephraim Goodweather, Chef der Seuchenschutzbehörde CDC in New York, genießt gerade sein Wochenende mit seinem Sohn Zack, als sein Handy Alarm schlägt. Der Anrufer identifiziert sich mit der ID JFK QUARANTÄNE. Der Direktor des CDC teilt Ephraim mit, dass es sich um einen Ernstfall handelt, denn alle Passagiere an Bord der Boeing sind tot.

Als Ephraim und Nora, seine Assistentin, noch in der Nacht die Maschine betreten, präsentiert sich den beiden Ärzten ein gespenstisches und tragisches Bild. Vor ihnen sitzen angeschnallt in ihren Sitzen Leichen, ganze Reihen von Leichen, aber keine Anzeichen deuten auf einen gewalttätigen Tod hin, kein Zeichen von irgendwelchen Traumata zeigt sich. Handys klingeln gedämpft in Taschen und Jacken – die einzigen Töne, die in der Dunkelheit zu vernehmen sind. Offenbar sorgen sich die Angehörigen und versuchen verzweifelt, ihre Angehörigen im Flugzeug zu erreichen.

Währenddessen verfolgt ein alter Mann in seiner beengten Pfandleihe die Nachrichten. Abraham Setrakin, ein ehemaliger Professor für osteuropäische Literatur und überlebender des Holocaust, sitzt wie versteinert vor dem Fernseher und reist gedanklich in Vergangenheit, als er noch jung war, als ihm das Böse in Gestalt begegnete. Er ist hier … Er ist hier …

Ephraim und seine Kollegen von CDC sind inzwischen dabei, die vielen hundert Leichen auf die verstreuten medizinischen Institute zu verteilen. Eine Sektion soll die Rätsel um dieses Massensterben lösen und beantworten können. Aber doch gibt es Überlebende, ganze vier Personen haben nicht an Bord der Boeing den Tod gefunden, und diese werden zu den wichtigsten Zeugen der Katastrophe, aber zuerst werden die vier auf Isolierstationen untersucht.

Ephraim steht vor einer ganzen Anzahl von Fragen, aber langsam kriecht die Angst in ihm hoch, als würde er etwas spüren, das alle, wirklich alle bedroht. Die ersten Untersuchungsergebnisse weisen erschreckende Details an den Toten auf, denn trotz ihres physischen Todes verändern sich ihre inneren Organe und ihre Eigenschaften.

Als eine Sonnenfinsternis eintritt, wird das dumpfe Gefühl von langsam aufsteigernder Angst immer beklemmender, und als der Tag zur Nacht wird, wird Ephraim klar, dass das Böse bereit ist, New York heimzusuchen, und es könnte das Ende der Menschheit bedeuten …

_Kritik_

„Die Saat“ hat mit einer romantischen und erotischen Vampirgeschichte rein gar nichts zu tun. Die Autoren Guillermo del Toro und Chuck Hogan bedienen sich vornehmlich der düsteren, aber auch klassischen Elementen des Vampirismus und auch einiger geläufiger Klischees.

Der vorliegende Roman ist der Auftakt einer Trilogie, und schon nach den ersten Kapiteln wird dem Leser vor Augen geführt, dass es unmöglich bei diesem einen Buch bleiben wird. Vielmehr fungiert „Die Saat“ als Einleitung; hier wird das Grundgerüst um die Protagonisten aufgebaut, und es wirkt recht stabil, auch wenn manche Figuren eher stereotyp sind.

Besonders atmosphärisch gelungen ist dem Autorenduo das erste Drittel der Geschichte. Die Landung des ‚toten‘ Flugzeuges, das verzweifelte Nicht-verstehen-können der Fluggesellschaft und der Sicherheitskräfte vor Ort und schließlich die Beschreibung des gewaltsamen Öffnens und Erkundens der gestrandeten Boeing sind spannend und realistisch anmutend erzählt. Über New York bricht das Grauen ein, aber nicht auf erwartet dramatische Weise wird die Stadt überrollt, sondern die Autoren konzentrieren sich eher auf die langsame Entwicklung der Handlung.

Parallel zum Hauptplot kommen vielerlei andere Perspektiven zum Vorschein. Allen voran der ältere Professor, gefolgt von den vier Überlebenden und schließlich auch dem Architekten dieser vampirischen Pandemie. Ephraim Goodweather ist nicht der Schlüssel der Geschichte, vielmehr ist er der zweifelnde und einfache Charaktertyp, der erst noch zeigen muss, was er kann. Viel interessanter und vielschichtiger ist dagegen die Figur des Professors Abraham Setrakian, denn er kennt das Böse und dieses ihn. Eine Auseinandersetzung, die nur die Folgerung zulässt, dass einer den Kampf verlieren wird.

Die Einführung von Ephraim wirkt anfangs ein wenig verstörend, erst später wird dem Leser bewusst, warum einzelne Passagen mit viel Feingefühl eingestreut wurden. Del Toro sagt selber von sich in einem Interview, er wäre seit frühester Jugend ein begeisterte Leser von Vampirromanen, und genau das merkt man am Stil der Autoren, auch inhaltlich.

Bram Stokers „Dracula“ gilt als Urfassung der heutigen Vampirlitaratur, und wer diesen Roman gelesen hat, wird schnell feststellen, dass „Die Saat“ reichliche Parallelen aufweist. Jonathan Harker ist Ephraim Goodweather, ein naiver, in sich verlorener und manchmal unsicherer Charakter, auch in seinem privaten Umfeld, während an seiner Seite Professor Abraham Setrakian auftaucht, ein weiser, älterer und besonnener Charakter der vorbereitet und allwissend zu sein scheint, und der vor allem weiß, was oder wer New York einen Besuch abgestattet hat. Jedem ist sofort klar, dass hier die Inkarnation Dr. van Helsings zu sehen ist. Und selbst der frauliche Part ist abgedeckt mit einer Mina Harker oder einer Lucy, die Opfer von Dracula wurde.

Das sind nur die charakterlichen Verwandtschaften, aber kommen wir nun zu den anderen Punkten, die auch nicht wirklich viel Neues bereithalten. Die Boeing, die leblos und dunkel auf dem JFK liegt, war in Bram Stokers Roman das Segelschiff |Demeter|, deren Besatzung verschwunden war, und die als Gespensterschiff dennoch sicher in Londons Hafen einfuhr.

Die Vampire dagegen sind bösartige Kreaturen; jedenfalls im Anfangsstadium ihrer Entwicklung ist keinerlei menschliche Intelligenz zu finden, vielleicht Instinkte, angeborenes Verhalten, aber im Großen und Ganzen sind sie nichts anderes als hungrig.

Diese Beziehungen zu dem Urvater aller Vampirromane ist also offensichtlich, doch ist und bleibt „Die Saat“ ein origineller und überwiegend spannender Vampirroman, der den Horror um das Böse eher anfacht und entwickelt als verklärt oder romantisiert. Del Toro wird, so liegt die Vermutung nahe, „Die Saat“ auch verfilmen, und wie schon bei seinen anderen filmischen Werken wird es erschreckende Szenen geben, die uns ein Grauen entlocken werden. Somit hat das Autorenduo den netten Nebeneffekt geschaffen, neben einem Roman zugleich das Drehbuch konzipiert zu haben.

Vieles bleibt nach dem ersten Teil dieser Trilogie offen; zwischen Menschen und Vampiren ist ein Krieg entfacht worden, aber es wird noch eine dritte Partei in diese tödliche Konfrontation eingreifen, und es zeichnet sich klar ab, dass es noch spannender zugehen wird.

_Fazit_

„Die Saat“ ist ein solider Roman aus dem Genre Horror, der besonders im ersten Drittel spannend erzählt wird. Als Kritikpunkt sei vorrangig zu erwähnen, dass es zwar einige neue Ideen gibt, aber im Grunde vieles nicht neu ist. Das ist bedingt entschuldbar, denn welcher Roman schafft schon einen völlig neuen modernen Vampir? Auch wenn der Roman inhaltliche Längen aufweist und manches Mal die Perspektiven der Protagonisten allzu stark wechseln, die Neugierde auf den zweiten Teil, der wahrscheinlich nächstes Jahr erscheint, wird sehr groß sein.

„Die Saat“ ist überzeugend, wenn auch manchmal in seiner Konzeption angeschlagen, und so wird der Leser sich doch auf den nächsten Teil freuen.

|Originaltitel: The Strain
Originalverlag: Harper Collins
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger, Kathrin Bielfeldt
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 528 Seiten
ISBN-13: 78-3-453-26639-1|
http://www.heyne.de/diesaat

Wellington, David – Krieg der Vampire

Laura Caxton will nie wieder Vampire jagen. Die in [„Der letzte Vampir“ 4613 beschriebene Jagd auf Justinia Malvern und Lauras Zeit als unfreiwillige Vampirjäger-Azubine in den Diensten von Special Deputy Arkeley haben sie gezeichnet. Sie will nur noch gute alte – und vor allem normale – Polizeiarbeit leisten. Doch natürlich wird dieser Wunsch jäh vereitelt, als Arkeley wieder in ihr Leben tritt. Gesundheitlich ist er ruiniert, sein Kampf gegen Malvern hat ihn zum Krüppel gemacht. Und so hat er zwar die Vermutung, dass eine neue Vampirattacke kurz bevorsteht, doch wirklich tun kann er dagegen nichts mehr. Also tut er das einzig Logische und zitiert Laura heran, die davon naturgemäß alles andere als begeistert ist.

Und so findet sich Caxton bald in einer unterirdischen Höhle in Gettysburg wieder, in der sich 99 Särge mit 99 Vampirskeletten befinden. Allen fehlt das Herz, und so muss Laura herausfinden, was mit den Herzen passiert ist. Denn nur, wenn die Herzen zerstört werden, ist auch der Vampir unschädlich gemacht. Natürlich stellt sich auch die Frage, wie die Särge eigentlich dorthin gekommen sind. Die Höhle befindet sich unter einer Ausgrabungsstelle in Gettysburg und war ursprünglich ein Pulvermagazin während des Bürgerkriegs. Könnte es also sein, dass die Vampire irgendwie in den amerikanischen Bürgerkrieg verwickelt gewesen sein könnten?

Natürlich wird es nicht bei 99 Vampirskeletten bleiben. Wie Laura schon zu Beginn befürchtet, sieht sie sich bald einer ganzen Armee von wiederauferstandenen Vampir gegenüber, die nach über einhundert Jahren unter der Erde definitiv durstig sind und drohen, Gettysburg buchstäblich wieder in ein Schlachtfeld zu verwandelt.

David Wellington hat mit „Krieg der Vampire“ eine mehr als würdige Fortsetzung des 2007 auf Deutsch erschienenen Romans „Der letzte Vampir“ geschrieben. Er ist seinem Stil treu geblieben und liefert auch diesmal wieder brachiale Hardcore-Action mit Horrorelementen, die nichts für zarte Gemüter ist. Doch gleichzeitig hat er sich als Schriftsteller weiterentwickelt und versucht, neue Ideen in seine Handlung einzuarbeiten.

So ist Arkeley, der mehr als gewöhnungsbedürftige Protagonist des ersten Teils, hier hauptsächlich ein Stichwortgeber. Seine angeschlagene Gesundheit erlaubt es ihm nicht mehr, aktiv auf Vampirjagd zu gehen – eine Tatsache, die ihn naturgemäß wurmt. Er ist gezwungen, Lauras Hilfe zu erbitten. Die beiden sind keine Partner mehr; ganz klar ist Laura die handelnde Hauptfigur, auch wenn sie sich in ihrer Rolle als tonangebende Vampirjägerin unwohl fühlt und mehr als einmal versucht, Entscheidungen nach dem Motto „Was würde Arkeley tun?“ zu fällen. Die Dynamik zwischen den beiden hat sich also stark verändert. Zwar war sie schon in „Der letzte Vampir“ der Sympathieträger, der Charakter, mit dem der Leser sich am besten identifizieren konnte, doch in „Krieg der Vampire“ ist sie nun auch endlich die tatsächliche Hauptfigur und beginnt langsam, aus dem Schatten Arkeleys herauszutreten.

Auch seinen Vampirmythos hat Wellington leicht modifiziert. In „Der letzte Vampir“ waren die Untoten noch hirnlose Killermaschinen, deren einziger Gedanke bei der nächsten Blutmahlzeit lag. Sie waren brutal und vollkommen unmenschlich. In „Krieg der Vampire“ haben sie immer noch all diese Eigenschaften, immer noch sind sie gefährlich und kaum zu besiegen. Nun jedoch gibt ihnen Wellington eine Stimme. Plötzlich sind sie in der Lage zu planen oder sich in Gegenwart eines Menschen zu beherrschen. Ja, man kann unter Umständen sogar Konversation mit ihnen betreiben (bevor sie einen in Stücke reißen, selbstverständlich). Seine Vampire sind also nicht mehr komplett triebgesteuert und sind mittlerweile fähig, ihre eigene Existenz zu reflektieren. Diese Version 2.0 macht Wellingtons Vampire zu tragfähigeren Gegenspielern, als ihre tumben Vorgänger aus dem ersten Teil es hätten sein können.

Die wichtigste Neuerung ist wohl Wellingtons Versuch, diesmal zwei Handlungsstränge gleichzeitig ablaufen zu lassen. Denn natürlich ist es relevant, dass die Vampirsärge unter dem Schlachtfeld von Gettysburg gefunden wurden. Und um zu erklären, wie und warum Vampire in Gettysburg mitgemischt haben, unterbricht er regelmäßig Caxtons Erzählsstrang, um Briefe von amerikanischen Soldaten aus dem Bürgerkrieg einzustreuen, welche die Geschichte langsam aufklären und entwirren.

Dabei gelingt es ihm in beiden Erzählsträngen, eine glaubwürdige Atmosphäre aufzubauen: In den Briefen ist es der Wahnsinn des Krieges und im heutigen Gettysburg die Faszination der Nachgeborenen für diesen geschichtsträchtigen Ort. Gerade diese Stimmung versteht er einzufangen – die Neugierde, die sich immer auch mit Unverständnis paart, die Stadt, die gänzlich vom Mythos der Schlacht von Gettysburg lebt. Da ist es nur natürlich, dass es ein wissensdurstiger Historiker ist, der die Katastrophe ins Rollen bringt, weil er sich auf die Vampire einlässt, in der Hoffnung, endlich aus erster Hand mehr über den amerikanischen Bürgerkrieg zu erfahren. Und da ist es auch nur natürlich, dass der Bürgermeister von Gettysburg sich mit allen Kräften dagegen wehrt, seine Stadt zu evakuieren – und das, obwohl die blutrünstigen Vampire sich schon praktisch die Mäuler lecken. Zu groß ist seine Angst, diese Aktion könnte dem Tourismus – der wichtigsten Einnahmequelle der Stadt – nachhaltig schaden.

Letztendlich wird der Leser auch Justinia Malvern wiedertreffen. Und Arkeley wird zu drastischen Mitteln greifen, um die Vampirbedrohung zu beenden. Wellington lässt sich mit seinem Ende genügend Spielraum für eine weitere Fortsetzung (nämlich „Vampirfeuer“), in der Laura dann wohl ihrem bisher gefährlichsten Feind gegenübersteht.

|Originaltitel: 99 Coffins
Aus dem Amerikanischen von Andreas Decker
362 Seiten, kartoniert
ISBN-13: 978-3-492-26645-1|
http://www.brokentype.com/davidwellington/
http://www.piper-verlag.de
http://www.piper-fantasy.de

Außerdem auf |Buchwurm.info|:
[„Stadt der Untoten“ 4980

Lumley, Brian – Necroscope – Auferstehung

_Das geschieht:_

In den 1970er und 80er Jahren herrscht zwischen den Supermächten USA und UdSSR der Kalte Krieg. Die zeitgenössische Paranoia ermöglicht auch bizarre Experimente, wenn sie nur Erfolg versprechen. Deshalb konnte Ex-General Gregor Borowitz mit Billigung und Finanzierung des Kremls das „Psi-Dezernat“ gründen. Dort versammelt er Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten wie den „Seher“ Igor Vlady, der in die Zukunft blickt, oder den „Nekromanten“ Boris Dragosani, der mit den Toten sprechen kann.

Auch im Westen gibt es Bestrebungen, den Gegner mit übernatürlicher Nachhilfe auszustechen. Allerdings hinkt man den Sowjets weit hinterher; es fehlt an einschlägigen Talenten. In England bleibt der junge Harry Keogh deshalb unentdeckt; er muss sich selbst mit der Kunst des „Totenhorchens“ vertraut machen: Harry kann mit den Seelen der Verstorbenen in Kontakt treten. Dieser ‚Kanal‘ ist beidseitig offen: Die Toten können sich Harry anvertrauen, und dafür schätzen und fördern sie ihn.

Der Kalte Krieg wird zur Nebensache, als Boris Dragosani sich auf eine sogar dem Genossen Borowitz unbekannte Expedition begibt: Als Kind geriet er in der Walachei in den Bann des Vampirs Thibor Ferenczy. Der wurde zwar im Mittelalter überwältigt, gepfählt und in ein einsames Felsengrab verbannt, doch gestorben ist er trotzdem nicht. Dragosani wird sein Befreier – und Sklave, denn Ferenczy hat auch ihn in einen Vampir verwandelt. Tatkräftig beginnt Dragosani, die Macht über das „Psi-Dezernat“ an sich zu reißen. Gegen die potenziellen ‚Konkurrenten‘ im Westen schickt er Killer aus. Harry Keogh ist abgelenkt, denn endlich hat er mit Hilfe seiner toten Mutter deren Mörder gefunden: seinen Stiefvater, der jedoch seinerseits übersinnlich begabt ist …

_Das ganz große Spiel beginnt_

Auch die längste Reise beginnt mit einem ersten Schritt. Dieses Sprichwort ist für eine Charakterisierung dieses ersten „Necroscope“-Romans hilfreich, denn es verklammert das Wissen um eine inzwischen klassische Horror-Serie mit der Verwunderung über deren recht zähen Auftakt.

Einerseits geht es spannend und interessant los, und dieses Lektüregefühl stellt sich auch zwischenzeitlich immer wieder ein. Autor Lumley nimmt sich die Zeit, uns seine Protagonisten und ihre Welten vorzustellen. Er hat ein gutes Gespür für Atmosphäre, kann aber auch Splatter-Szenen gut, d. h. hübsch grässlich, in Szene setzen.

Andererseits geht der Geschichte viel zu oft die Puste aus. Lumley legt sie ungemein breit an. Angesichts der eindrucksvollen Zahl seitenstarker Bände, die inzwischen ein eigenes „Necroscope“-Universum mit eigener, sich über Jahrtausende erstreckender Historie bilden, wirkt „Auferstehung“ wie eine knapp 600-seitige Einleitung. Vieles geschieht, aber noch mehr wird nur angerissen, der Leser auf zukünftige Keogh-Abenteuer vertröstet.

Die episodische Struktur der Handlung soll den Sprung in ein intensives, längst in Gang gekommenes Hintergrundgeschehen suggerieren. Im schieren Umfang des Werkes verschwindet der rote Faden indes so gründlich, wie es der Verfasser kaum geplant haben dürfte. Längst nicht alle Ereignisse dienen dem „Necroscope“-Plot. Lumley legt sich keine erzählerische Disziplin auf. Viele Episoden gehen umständlich und unnötig in die Breite oder sie wiederholen gar, was bereits dargestellt wurde. „Auferstehung“ könnte mindestens um ein Drittel verschlankt werden.

Wenn es aufs Finale zugeht, gibt Lumley mächtig Gas. Das kommt der Geschichte sehr zugute. Jetzt wird nicht mehr nachgedacht oder geredet oder gehandelt, sondern nachgedacht, geredet und gehandelt, was durchaus gleichzeitig geht und in dieser Dreiheit wesentlich unterhaltsamer ist. Freilich verliert Lumley im letzten Akt jegliches Maß, poltert ungeschickt von Höhepunkt zu Höhepunkt, bis ihm die Handlung buchstäblich um die Ohren fliegt.

_Epos mit wohltemperiertem Rätselfaktor_

„Auferstehung“ ist trotz seiner vorgeblichen inhaltlichen Dichte ein einfach strukturierter Roman. ‚Epochal‘ wirkt er vor allem nachträglich und in dem Wissen um die Dimension, die das „Necroscope“-Geschehen in mehr als zwei Jahrzehnten gewonnen hat. Lumley zeigt sich vor allem als geschickter Routinier, der auch mit Klischees arbeiten kann, ohne diese allzu aufdringlich wirken zu lassen.

Die Verwurzelung der Saga in der ‚alten‘, noch zweigeteilten Welt vor dem Untergang der Sowjetunion erweist sich als erstaunlich solides Fundament. „Auferstehung“ wurde bereits 1986 veröffentlicht, liest sich aber erfreulich zeitlos. Die zeitgenössischen Bezüge unterfüttern die Ereignisse, die den Charakter einer fiktiven (und alternativen) Weltgeschichte annehmen. Die ist nicht annähernd so komplex wie die Realität, aber das muss und sollte sie zur Wahrung des Unterhaltungsfaktors auch gar nicht sein.

Die reale Geschichte wird Lumleys erzählerische Knetmasse. Er formt sie nach eigenem Gusto und mit Geschick: Nicht Vlad Dracul ersteht in Transsylvanien auf, sondern Thibor Ferenczy, ein ‚echter‘ Vampir, der für Vlad kämpfte und dessen Untaten später seinem Herrn angelastet wurden. Dieser ‚Lebenslauf‘ klingt authentisch, weil er nicht mit dem Ballast der klassischen Vampir-Geschichten befrachtet ist.

Dem entledigt sich Lumley rigoros, wobei er womöglich ein wenig zu ‚wissenschaftlich‘ wird. Natürlich ist er gut beraten, sich eigene Vampire (aus denen im späteren Verlauf der „Necroscope“-Saga die außerirdisch mutierten „Wamphyri“ werden) zu erschaffen, denn er hat viel mit ihnen vor. Schon in „Auferstehung“ wird deutlich, dass Lumley dem Übernatürlichen keine dunklen Schlupfwinkel zu gewähren gedenkt. „Necroscope“ besitzt eine deutliche (und in den späteren Bänden der Serie zunehmende) Schnittmenge mit der Science-Fiction. Ohnehin bedient sich Lumley grundsätzlich aller literarischen Genres, was mit den Reiz seiner Schöpfung ausmacht.

_Gefährten, Kampfgenossen, Gegenspieler, Verräter …_

Der Bodycount in „Auferstehung“ ist bemerkenswert hoch, und das schließt die Hauptfiguren ausdrücklich ein. Tatsächlich überlebt keine von ihnen das apokalyptische Final-Gemetzel. Allerdings ist das im „Necroscope“-Kosmos unerheblich. Sowohl Zeit und Raum als auch Leben und Tod sind hier keine fixen Konstanten. Harry Keogh lernt vom (1868 verstorbenen) deutschen Mathematiker August Ferdinand Möbius, wie man Reiseportale zu fremden Dimensionen öffnet und nach Belieben über den Zeitstrom kreuzt. Das sorgt für ein ‚logisches‘ Wiederkehren von Figuren, die eigentlich das Zeitliche gesegnet haben. Hinzu kommt Harrys ureigenes Talent – das „Totenhorchen“. Wer ins Grab gesunken ist, kann sich recht problemfrei mit ihm verständigen. Das nutzen sogar jene, die vor ihrem Ende Harry nach dem Leben trachteten. Auch tot bleiben sie der Handlung deshalb erhalten.

Schon in „Auferstehung“ ist das auf diese Weise entstehende Gemenge aus lebendigen, toten, zeitreisenden oder x-dimensionalen Figuren schwer zu durchschauen. Das wird sich deutlich steigern, denn der endlich obsiegende Harry stirbt, stürzt in den Zwischenraum und fährt als Geist in den eigenen Sohn, der zum Zeitpunkt des Finales nicht einmal geboren ist …

_“Necroscope“ im deutschen Neustart_

Man darf wohl den Erfolg des |Festa|-Verlags mit der Herausgabe der „Necroscope“-Serie verknüpfen. Ab 2000 erschienen die Abenteuer des Harry Keogh dort als Paperbacks, wobei die voluminösen Originalbände zwecks Profitmaximierung geteilt oder sogar gedrittelt wurden. Dass diese Teilbände über Jahre im Angebot blieben und immer wieder aufgelegt wurden, unterstreicht die Publikumswirksamkeit der Reihe.

Folglich könnte man die „Necroscope“-Bände als |Festa|s Tafelsilber bezeichnen. Offensichtlich musste es zu Geld gemacht werden. Seit 2009 erscheint die „Necroscope“-Saga im |Heyne|-Taschenbuch – in der gediegenen |Festa|-Übersetzung, ungeteilt und erheblich kostengünstiger als zuvor. Zeitgleich gibt auch der |Festa|-Verlag die Bände neu und ungeteilt heraus; fest gebunden und dermaßen hochpreisig, dass die Prognose leichtfällt, welchem Verlag das Gros der „Necroscope“-Leser zukünftig den Vorzug geben wird …

_Der Autor_

Dem jungen Brian Lumley (geb. 1937 in England) stand ein besonderer Mentor zur Seite: August Derleth (1909-1971), der Nachlassverwalter von H. P. Lovecraft (1890-1937) und Gründer des legendären Verlags |Arkham House| in Wisconsin/USA, veröffentlichte seine ersten Storys, die ab 1967 – Lumley war Militärpolizist und in Deutschland stationiert – entstanden. Nach Derleth‘ Tod blieb Lumley dem Cthulhu-Mythos verhaftet und schrieb zwischen 1974 und 1979 fünf Bände der |Titus Crow|-Saga. (Ein abschließender Band kam 1989 hinzu). Ebenfalls „lovecraftschen“ Horror bot Lumley mit der „Primal Lands“-Trilogie um Tarra Khasch sowie mit der „Dreamland“-Saga.

Sein Durchbruch als Schriftsteller gelang Lumley – der 1980 nach 22 Dienstjahren die Armee verlassen hatte – nach gewissen Anlaufschwierigkeiten mit der „Necroscope“-Reihe (ab 1986) um den „Totenhorcher“ Harry Keogh, die auch in Deutschland mit großem Erfolg veröffentlicht wird.

Brian Lumley lebt und arbeitet heute in Devon, England. Er lässt seine Website http://www.brianlumley.com sorgfältig pflegen und regelmäßig mit Neuigkeiten bestücken.

_Impressum_

Originaltitel: Necroscope (London : Grafton 1986)
Übersetzung: Andreas Diesel u. Rainer Marquardt, überarbeitet von Marcel Häußler

Deutsche Erstausgabe (in zwei Teilen: „Das Erwachen“ bzw. „Vampirblut“): 1999 bzw. 2000 (|BLITZ|-Verlag/Necroscope 2801 bzw. 2802)
176 bzw. 176 S.
ISBN 10: 3-932171-54-3 bzw. 3-89840-021-2

Neuausgabe (geb.): Mai 2009 (Festa Verlag)
448 Seiten
EUR 28,90
ISBN-13: 978-386552-101-9
http://www.festa-verlag.de

Als Taschenbuch: Mai 2009 (Wilhelm Heyne Verlag/TB Nr. 53307)
589 Seiten
EUR 9,95
ISBN-13: 978-3-453-53307-3
http://www.heyne.de
http://www.heyne-magische-bestseller.de

_Brian Lumley auf |Buchwurm.info|:_

|Necroscope|

Band 1: [Erwachen 779
Band 2: [Vampirblut 843
Band 3: [Kreaturen der Nacht 2371
Band 4: [Untot 2963
Band 5: [Totenwache 3000
Band 6: [Das Dämonentor 4368
Band 7: [Blutlust 4459
Band 8: [Höllenbrut 4610

|Titus Crow|

Band 1: [Sie lauern in der Tiefe 893

Anonymus – Buch ohne Namen, Das

_Spannender Horror-Western: Kampfmönche gegen Vampire_

Ein Buch ohne Autor oder Titel tötet jeden, der es liest. Ein geheimnisvoller blauer Stein ist plötzlich verschwunden – und alle suchen ihn, insbesondere zwei Karate-Mönche vom Tempel des Hubal, die die Welt retten wollen. Schon bald wird eine Sonnenfinsternis den Ort Santa Mondega in völlige Finsternis tauchen, und dann wird Blut fließen. Viel Blut. Denn ein Fremder ist (wieder) in der Stadt: The Bourbon Kid.

_Der Autor_

Anonymus ist ein Autor aus Großbritannien, der seinen Roman im Internet veröffentlichte und zahlreiche begeisterte Leserstimmen erhielt. Wer er ist und wo er lebt, weiß keiner. Höchstens sein Verleger, und der verrät es nicht.

_Handlung_

Santa Mondega ist eine Küstenstadt in den südlichen Breiten, vielleicht in Südkalifornien. Kein guter Mensch traut sich jedenfalls dorthin. Die schlimmsten Halsabschneider treffen sich in der Tapioca Bar, wo Sanchez ausschenkt – und es ist nicht immer Alkohol, was er auf den Tresen stellt. So wie jetzt vor dem Fremden, dessen Gesicht unter einer Kapuze verborgen ist. Niemand in der Tapioca Bar mag Fremde, am wenigsten Sanchez, der Wirt.

Als der Fremde von dem Gesöff kostet, schaut ihm Ringo, der Revolverheld gespannt zu. Denn es geht die Kunde, dass Bourbon Kid in der Gegend sei, und dass Bourbon Kid, wenn er ein Glas Bourbon getrunken habe, wahnsinnig werde und alle in einer Bar restlos abknalle. Der Fremde trinkt und nichts passiert. Kein Wunder, es ist ja auch Pisse. Ringo lacht herzlich – und vielleicht auch ein wenig erleichtert. Dann bestellt der Fremde einen richtigen Bourbon und hebt das Glas an den Mund. Alle halten den Atem an …

|Fünf Jahre später.|

Auf einer Insel vor der Küste, an der Santa Mondega liegt, steht der Tempel des Hubal, und Vater Ishmael Taos ist sein Hüter. Leider steht Vater Taos inmitten eines Bergs von Leichen, und das Dach des Tempels ist eingestürzt. Der Killer Jefe hat zugeschlagen, und es muss offensichtlich etwas geschehen, um Jefe zur Rechenschaft zu ziehen. Deshalb ruft Vater Taos seine zwei klügsten Mönche, Kyle und den Novizen Peto, zu sich und gibt ihnen einen wichtigen Auftrag. Sie sollen das Auge des Mondes suchen, einen wertvollen magischen Stein, und ihm bringen. Sollte dieser Stein in die Hände von Jefe oder El Santino geraten, würde dies den Untergang der Menschheit bedeuten.

Ihre Suche sollen sie in Santa Mondega beginnen, „Geld“ (sie wissen nicht, was das ist) mitnehmen und nach Bourbon Kid und dem Auge des Mondes fragen. Als Kyle und Peto unweigerlich in der Tapioca Bar landen, stellt Sanchez auch vor sie wieder je ein Glas Pisse hin. Schließlich mag er keine Fremden, und Fremde, die in orangefarbenen Jacken und schwarzen Pluderhosen mit Schnabelstiefeln herumlaufen, erst recht nicht.

Natürlich werden auch diese beiden Gestalten von den Halsabschneidern angemacht, doch sie erweisen sich als gewandte Karatekämpfer. Sie erfahren: Bourbon Kid war hier, und von einem Auge des Mondes hat man auch gehört. Ein Mann namens El Santino sei dahinter her. Leider weiß Peto nicht mit einem Revolver umzugehen, und so erfahren sie nie, was der andere Halsabschneider zu sagen gewusst hätte.

Kaum sind die zwei Kriegermönche weg, tritt der Kopfgeldjäger Jefe ein, nach dem sie gefragt haben. Jefe trägt den blauen Stein, den sie suchen, um den Hals und hat vor, ihn bis Mitternacht an El Santino zu verkaufen, dem er ihn versprochen hat. Doch Marcus das Wiesel macht Jefe so betrunken, das es ihm leichtfällt, ihm das Auge des Mondes abzunehmen und zu verduften. Als Jefe in einem schäbigen Bett und mit einem Mordskater aufwacht, bemerkt er den Diebstahl zu spät. Aber wenn er El Santino den Stein nicht bis Mitternacht bringt, ist er ein toter Mann. Marcus das Wiesel – was für ein passender Name – ist jetzt ebenfalls so gut wie tot.

|Die Hüter des Gesetzes|

Chief Detective Miles Jensen ist Inspector für Übernatürliche Ermittlungen. Die Zentrale in Washington hat ihn ausgeschickt, um in Santa Mondega fünf Ritualmorde aufzuklären, die sich hier vor dem Eintreffen der beiden Mönche ereignet haben. Jensen weiß Bescheid über die Mönche des Hubal, die normalerweise nie ihre Insel verlassen, und über das Auge des Mondes. Dass sie letzte Nacht einen Mann kaltblütig erschossen, sieht ihnen gar nicht ähnlich, findet er. Aber Captain Rockwell muss es wohl wissen, denn Santa Mondega ist seine Stadt.

Jensen passt es überhaupt nicht, dass ihm Rockwell einen Partner aufs Auge drückt, noch dazu ein ausgewiesenes Riesen-Arschloch wie Archibald Somers. Doch der Bürgermeister bestehe darauf, insistiert Rockwell. Na schön, dann will er mal mit Somers in der Tapioca Bar anfangen. Denn dort hat Bourbon Kid vor fünf Jahren sein Unwesen getrieben. Und Archibald Somers ist ein ausgewiesener Experte für The Bourbon Kid.

|Das Mädchen ohne Gedächtnis|

Sanchez, der Barmann, besucht seinen Bruder Thomas und dessen Frau Audrey. Doch als er vor deren Haus eintrifft, wird er keineswegs freundlich begrüßt; vielmehr herrscht eine unheilvolle Stille. Ihm schwant Böses. Vor fünf Jahren, nach dem Massaker, das Bourbon Kid anrichtete, fand er eine schwerverletzte junge Frau und versteckte sie hier in einem verborgenen Dachzimmer. Die junge Frau wurde von einem Arzt gepflegt, doch sie lag im Koma. Sanchez betritt das Erdgeschoss: Da liegen die Leichen von Thomas und Audrey, seltsamerweise ohne eine einzige Wunde. Aus der Mansarde ist das Mädchen, das er Jessica genannt hat, verschwunden. Als er nach unten geht, hört er ein Auto wegfahren: Es ist ein gelber Cadillac. Sitzt der Mörder darin?

Sanchez bittet den besten Killer von Santa Mondega, den gelben Cadillac ausfindig zu machen. Der Killer namens Elvis findet die Aufgabe fast zu leicht: Die Karre gehört El Jefe. Sanchez zahlt ihm tausend im Voraus, wenn er Jefe kaltmacht. Dummerweise ahnt Elvis nicht, dass Jefe mit El Santino, dem anderen besten Killer von Santa Mondega, unter einer Decke steckt. Das könnte ungesund werden …

|Die Ermittlung beginnt|

Miles Jensen entdeckt zu seiner Überraschung, dass Archibald Somers, sein künftiger Partner, zwar ein monomanischer Typ ist, der hinter jedem Mord in der Stadt den Bourbon Kid vermutet, aber sonst ein ganz anständiger Kerl. Und Somers entdeckt, dass Jensen zwar völlig monomanisch ist, wenn er hinter jedem Mord einen übernatürlichen Hintergrund vermutet, dass er mit ihm aber wenigstens in einer Sache übereinstimmt: Jack Nicholson ist der beste Schauspieler des Planeten. Zusammen machen sie sich auf, Santa Mondega vom Abschaum zu säubern. Gutes Gelingen, meine Herren! Es gibt viel zu tun …

_Mein Eindruck_

Es ist, als hätte sich Quentin Tarantino, Stephen King und Douglas Adams zusammengetan, um die ultimative Thrillerkomödie zu schreiben. Kämpfende Mönche, ein Boxer im Auftrag des Herrn, mordlustige Jungfrauen, zwielichtige Gesetzeshüter und viele Zutaten mehr sorgen dafür, dass der Leser konstant bestens unterhalten und vor allem auf die Folter gespannt wird. Ständig musste ich mich fragen, was hinter diesem und jenem Rätsel steckt.

|Ewige Wiederholung?|

Das größte Rätsel von allen ist natürlich die Frage, was eigentlich vor fünf Jahren geschah. Denn dies ist der Ausgangspunkt für eine Wiederholung jener Ereignisse. Wer ist dieser Bourbon Kid, der damals offenbar 300 Bewohner (nicht alle davon menschlich …) umlegte, es aber nicht schaffte, den Teenager Jessica mit einem Dutzend Kugeln zu töten? Und warum wiederholen sich die Ereignisse immer dann, wenn eine Sonnenfinsternis ansteht?

|Das Buch ohne Namen|

Einen kleinen Einblick in die Ursprünge dieses wiederkehrenden Verhängnisses verschafft uns das „Buch ohne Namen“, dessen Autor selbstredend ebenfalls Anonymus heißt – ein langlebiger und fleißiger Bursche, in der Tat. Jeder, der das Buch aus der Stadtbibliothek ausleiht, ist des Todes, wie Miles Jensen herausfindet. Und er findet zu seinem Leidwesen heraus, warum das so sein muss. Tja, auch unser sympathischer Miles wird eines Tages seinem Tod ins Auge sehen müssen. Denn die Vampire wollen während der Sonnenfinsternis die Herrschaft über Santa Mondega übernehmen.

|Makaber|

Der Autor spielt mit dem Schrecken Schabernack und weicht vor nichts zurück, solange es den Leser unterhält. Figuren werden reihenweise über den Haufen geschossen, von Vampiren ausgesaugt und geköpft (die weiteren Details erspare ich euch). Vampire lassen sich nur auf wenige Arten töten, und regelmäßig gehen sie in Flammen auf, um zu einem Häufchen Asche zu verbrennen. Allerdings gibt es einen Obervampir, der vor Jahrhunderten aus dem heiligen Gral das Blut Christi trank und folglich unverwundbar ist. Denkt er zumindest. Doch er wird eines Besseren belehrt, nicht zuletzt zu unserer Überraschung.

Das zweite Rätsel betrifft den mysteriösen Bourbon Kid. Er ist sozusagen der ultimative Schrecken für Santa Mondega, denn sobald er ein Gläschen besagten Alkohols intus hat, wird er unberechenbar. Aber wofür kämpft dieser Kerl und woher kommt er? Alle diese Fragen werden mit der Zeit beantwortet, und so bleibt das Buch bis zur allerletzten Zeile spannend.

|Showdown|

Wohin führen all die verschlungenen Pfade der Killer, Sucher, Steinefinder, der Gesetzeshüter, fragt sich der Leser konstant. Nun, es ist klar, dass mit dem Anbruch der Sonnenfinsternis etwas Schreckliches, etwas Entscheidendes passieren wird. Es kommt zu einem Showdown der schlimmsten und wichtigsten Mitspieler in der Handlung – natürlich in der verrufenen Tapioca Bar, wo sonst. Jeder hält eine Knarre an den Kopf des anderen, denn alle wollen den MacGuffin, hinter dem alle herjagen: das Auge des Mondes. Dieser Edelstein scheint tatsächlich magische Kräfte zu besitzen. Macht er seinen Besitzer wirklich unverwundbar? Man wird es gleich herausfinden. Die Sonne verdunkelt sich, als der Mond sie verdeckt, und die Schießerei geht los …

|Pastiche|

Ein wichtiger Aspekt ist das ironische Spiel mit kulturellen Vorbildern. Der Autor und seine Figuren zeigen sich mit ihren Lesern kulturell verbunden. Dass Jack Nicholson ein großartiger Schauspieler ist (war), dürfte meist unbestritten hingenommen werden. Aber es gibt noch viele weitere Anspielungen aus der Popkultur, so zahllose Filme, Cartoons und Songs. An einer Stelle (Seite 182) wird der Thriller „Copykill“ mit „Ring“ verglichen – wo liegen die Stärken und Schwächen der Filme und wie wird der jeweilige Serienkiller dargestellt? Hier quasseln Fachleute unter sich. Da wir die Filme kennen (sollten), können wir der Argumentation durchaus folgen. An anderer Stelle wird über den Lone Ranger gestritten.

Diese Zitate heben das Buch auf die Ebene eines Pastiches, das sich seiner Vorbilder sehr bewusst ist. Genauso wie etwa „Pulp Fiction“ und „Reservoir Dogs“ von Quentin Tarantino Gangsterfilme zitieren, um etwas Neues daraus zu drechseln. Man sollte solche Pastiches nicht ernstnehmen, aber es lohnt sich, sie zumindest unterhaltsam zu finden.

|Die Übersetzung|

Axel Merz hat dieses kurzweilige Buch möglichst stilgetreu ins Deutsche übertragen, was bedeutet, dass es auch jede Menge Redewendungen auf verschiedenen sprachlichen Ebenen gibt. Mal wird hochgestochen dahergelabert, dann wieder Gossensprache benutzt. Auf keinen Fall wird jedoch diese 08/15-Verlagssprache benutzt, deren sich arrivierte Autoren wie Dean Koontz oder Stephen King befleißigen müssen, wollen sie eine Story erzählen.

Auf solche Hemmschuhe hat der Autor durch die Publikation des Romans im Internet von vornherein verzichten können. Das bedeutet aber nicht, dass er über die Stränge schlägt und tut, was er will. Nein, er drückt sich aus, wie er es will, und das ist keinesfalls schlechter als die genannten Kollegen. Was er ausdrückt, ist wesentlich blutiger und makaberer als das meiste, was Koontz und King bislang vorgelegt haben. Die Explizitheit erstreckt sich nicht auf Erotik, denn da bleibt der Autor ganz dezent. Leserinnen werden also bestimmt nicht vergrault oder abgestoßen sein.

Aber es gibt auch Stilblüten und Fehler im Text.

„… eine ganze Wagenladung Extras in der Szene“, heißt es auf Seite 182. Hierzulande sagt man nicht „Extras“, sondern „Statisten“. Auf Seite 402 schreibt der Übersetzer: „Kein Zweifel der Bourbon Kid“. Richtiger wäre: „ohne Zweifel“, denn sonst müsste hinter „kein Zweifel“ ein Doppelpunkt stehen.

Auch ganz normale Vertipper finden sich. „In Dantes Augen sah es auf, als warteten …“ Es muss natürlich „aus“ statt „auf“ heißen. Auf Seite 402 muss es „Flasche“ statt „Flache“ heißen.

Auf Seite 434 wurde ein Satz korrigiert, aber der Anschluss vermasselt. „Somers betrat den Empfangsbereich des Polizeihauptquartiers von Santa Mondega. Er war eine Million Mal hier durch gegangen, aber SIE hatte noch nie so ausgesehen wie heute.“ Statt „sie“ (die ursprüngliche Lobby) muss es jetzt „er“ (der Empfangsbereich nämlich) heißen.

_Unterm Strich_

Man muss sich nur an die besondere Erzählweise – das Buch hat 65 Kapitel und wechselt ständig die Szene – und die klischeehaften Elemente gewöhnen, um schon bald viel Spaß an der Art und Weise zu finden, wie die sattsam bekannten Elemente so verdreht werden, dass sie etwas völlig Neues ergeben. Das Bewusstsein, dass man nie weiß, was als nächstes geschehen wird, macht neugierig und sorgt durch die vielen Rätsel bis zum Schluss für Spannung. Viele der Ereignisse sind makaber, aber auch ironisch und lustig. Wer hätte schon boxende Kämpfe und vampirhafte Jungfrauen erwartet? Auch die Identität des Obervampirs wird als totale Überraschung enthüllt. Sein grausiges Ende allerdings ebenfalls.

Die Übersetzung durch Axel Merz weist bemerkenswert und erfreulich wenige Fehler auf und liest sich sehr flott und unterhaltsam. Er nimmt wie der Autor kein Blatt vor den Mund, vergreift sich aber auch nicht im Ton. Bestimmte Grenzen des Geschmacks beachtet auch er. Dass die Kapitel in aller Regel so kurz sind – 440 Seiten sind auf 65 Kapitel verteilt -, fördert die Lesegeschwindigkeit. Denn in aller Regel beginnt das neue Kapitel mit einer neuen Seite, so dass manchmal halb leere und fast ganz leere Seiten zu finden sind. Ich habe 200 Seiten an einem Abend geschafft, bin aber überzeugt, dass man das gesamte Buch auch an einem einzigen Tag durchlesen kann.

|Originaltitel: The book with no name, 2007
Aus dem Englischen von Axel Merz
447 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-7857-6010-9|
http://www.luebbe.de

Hermanson, Marie – Mann unter der Treppe, Der

_Das geschieht:_

Für Fredrik Wennéus läuft das Leben beruflich und privat denkbar glatt. Als ehrgeiziger und arbeitseifriger Sekretär im Amt für Wirtschaftsförderung der kleinen schwedischen Stadt Kungsvik bei Göteborg ist er bei seinen Vorgesetzten gut angesehen. Verheiratet ist Fredrik mit der schönen Paula, einer Malerin, deren Werke allmählich das Interesse der Kunstwelt erregen. Das junge Paar hat zwei Kinder.

Fabian und Olivia sollen nicht in der Stadt, sondern auf dem Land aufwachsen. Fredrik und Paula suchen nach einem entsprechend gelegenen Haus, das sie schließlich tatsächlich finden. Der Preis, den die ins Altersheim umgezogene Vorbesitzerin fordert, ist erstaunlich niedrig. Bald sind die Verkaufsmodalitäten geregelt, und die Familie zieht in ihr neues Heim ein.

Dort muss Fredrik freilich eine unerfreuliche Entdeckung machen: Ein kleiner, verwilderter und unheimlicher Mann, der sich „Kwådd“ nennt, macht sein Wohnrecht als Untermieter geltend. Er lebe unter der Treppe und störe dort niemanden, so sein Argument, das Fredrik keineswegs gelten lassen möchte. Seine Nachforschungen ergeben, dass unter besagter Treppe ein unterirdischer Gang unter das Haus führt. Dort muss Kwådd sich verborgen halten, wenn er nicht durch Haus und Garten geistert.

Nur zu gern möchte Fredrik den ungebetenen Mitbewohner loswerden. Doch der ist schwer zu fassen. Maßlos überforderte ‚Mietgelder‘ zahlt er ohne mit der Wimper zu zucken. Als Fredrik nachdrücklich den Auszug fordert, reagiert Kwådd aggressiv. Er schießt Pfeile auf seinen Verfolger ab und zeigt ein ungutes Interesse an Paula und den Kindern. Bald eskaliert der Kampf zwischen Fredrik und Kwådd, was nicht ohne tragische Folgen – und Leichen – bleibt …

_Die Dinge sind nicht immer so, wie sie zu sein scheinen_

Das verfluchte Haus ist ein klassisches Motiv der phantastischen Literatur. Der Gedanke, dass sich das Grauen ausgerechnet dort manifestiert, wo wir Zuflucht vor den Anforderungen des Alltagslebens suchen, erschreckt uns maßlos. Wohin können wir noch gehen, wenn uns das Heim nicht gegönnt wird? Wohl oder übel müssen wir dort ausharren – wer kann es sich schon leisten, es umgehend per Umzug zu verlassen? – und uns dem Schrecken stellen. Nicht immer gelingt der Sieg, oft müssen Opfer gebracht werden. Nach dem Finale ist im besessenen Haus vielleicht wieder Ruhe eingekehrt, doch die dürfen nicht alle Bewohner genießen.

Fredriks Kampf mit dem „Mann unter der Treppe“ ist dafür ein Paradebeispiel. Die Geschichte beginnt so trügerisch harmonisch, dass nicht einmal der erfahrene Leser zweifelt, dass dies viel zu schön ist, um wahr zu sein. Wer zwischen den Zeilen liest, erkennt schon jetzt und noch vor dem ersten Auftritt Kwådds diverse Risse im scheinbar festen Gefüge der heilen Familie Wennéus.

Das wertet diesen Roman von einer Gruselgeschichte zum Psycho-Thriller um. Den liebt vor allem die Literaturkritik viel stärker als ein schnödes Grusel-Garn. Dafür gibt es (manchmal, aber nicht immer) Gründe: Der Psycho-Thriller ist anspruchsvoller; er zeigt ein Geschehen, das wie beschrieben nicht unbedingt stattfinden muss. Ins Spiel kommt stattdessen die Tatsache, dass die Welt, wie wir Menschen sie registrieren, eine Interpretation unseres Gehirns ist. Vermag dieses Organ aufgrund einer Störung nicht mehr zu entschlüsseln, was Augen, Ohren oder Nase als Input liefern, verschiebt sich der Fokus der Wahrnehmung in Bereiche, die gern mit dem Begriff „Wahn“ bezeichnet werden.

_Lautlose Lawine des Verderbens_

Womit der aufmerksame Leser dieser Zeilen vermutlich den Aha!-Effekt der Geschichte erfasst haben dürfte. (Und falls nicht, so stößt ihn der Klappentext gleich mehrfach mit der Nase darauf.) Aber gemach – so einfach ist die Sache nicht! In Sachen Kwådd hält Autorin Hermanson im Finale eine Überraschung parat. Faktisch kommt es auf den Mann unter der Treppe ohnehin nicht an. Kwådd ist vor allem Katalysator eines Prozesses, der wie schon erwähnt in Gang gekommen ist, bevor die Familie ihr neues Heim bezieht.

Parallel zum Kwådd-Strang der Handlung schildert Hermanson ebenso subtil wie routiniert den schleichenden Zerfall einer Persönlichkeit. Fast unmerklich nehmen die Indizien zu. Fredrik sieht sich zunehmend isoliert und unter steigendem Druck. Kwådd wird zu seiner fixen Idee und zum Symbol für das, was in seinem Leben schiefläuft. Sein Verhalten spiegelt sich in den Reaktionen seiner Mitmenschen wider. Der Leser beginnt zu begreifen, was da vor sich geht. War er bisher an Fredriks Seite, möchte er sich später von ihm lösen. Doch das gestattet Hermanson erst, als Fredriks Welt in Scherben liegt.

Nachträglich dechiffriert sie die rätselhaften Ereignisse. Wir erfahren, was realiter geschehen ist. Aber auch dieser Eindruck täuscht, die auf Fredriks Kosten tragisch zurückgewonnene Sicherheit wird mit dem letzten Absatz erneut und dieses Mal ohne Auflösung erschüttert.

_Unterhaltsam aber nicht originell_

„Der Mann unter der Treppe“ ist ein Roman, der sich zügig liest. Er unterhält, und Hermanson versteht ihr Handwerk. Sie bedient sich einer betont simplen Sprache und bleibt im Ton sachlich. Klassisches Spuken entfällt. Sentimentale Effekthascherei, sonst ein beliebter Bauernfänger-Trick nicht nur in der Phantastik, erspart sie uns. Fabian und Olivia werden nie vom bösen Troll gejagt oder von ihm besessen.

Diesen Kwådd charakterisiert Hermanson mit beachtlichem Geschick. Er ist an sich nicht bösartig, sondern pocht nur energisch auf sein Heimrecht. Erst Fredrik, der den Fremdkörper in seinem Vorzeige-Heim eliminieren will, weckt den Dämonen in Kwådd. Im Verlauf der einsetzenden Auseinandersetzung entzieht die Autorin sich der ‚Pflicht‘, die wahre Natur des Mannes unter der Treppe aufzudecken. Kwådd bleibt ein Mysterium, und das ist ein Pluspunkt.

Insgesamt hinterlässt „Der Mann unter der Treppe“ aber keinen nachhaltigen Lektüre-Eindruck. Zu glatt ist das Geschehen durchkonstruiert. Es läuft auf ein Ende zu, das wir in seinen Details zwar nicht kennen, aber deutlich vorahnen. Abweichungen gibt es nicht. Wem die gekonnte und elegante Variation des Bekannten genügt, wird sich unterhalten. „Aufregend“, „beunruhigend“ oder „ein richtiger Schauerroman“ (Zitate aus diversen schwedischen Rezensionen, die im Klappentext aufgelistet werden) ist „Der Mann unter Treppe“ jedoch nicht.

_Autorin_

Marie Hermanson wurde 1956 als Kind eines Lehrer-Ehepaares geboren. Sie wuchs in Sävedalen, am Rande von Göteborg auf, wo sie – inzwischen verheiratet Mutter zweier Kinder – weiterhin lebt und arbeitet.

Hermanson studierte Literaturwissenschaft und Soziologie an der Universität von Göteborg. Nebenbei arbeitete sie als Pflegekraft in einer psychiatrischen Klinik. Nach Abschuss ihres Studiums arbeitete Hermanson als Journalistin für verschiedene Tageszeitungen.

Als Erzählerin debütierte sie 1986 mit einer Sammlung von Erzählungen („Es gibt ein Loch in der Wirklichkeit“), die durch Märchen und Mythen geprägt wurden. Weitere Geschichten sowie Romane folgten, in denen sich ebenfalls Reales und Irreales unmerklich mischen.

_Impressum:_

Originaltitel: Mannen under trappan (Stockholm : Albert Bonniers Förlag 2003)
Deutsche Erstausgabe: Juli 2007 (Suhrkamp Verlag/TB Nr. 5875)
Übersetzung: Regine Elsaesser
269 Seiten
EUR 8,90
ISBN-13: 978-3-518-45875-4
http://www.suhrkamp.de

Wellington, David – letzte Vampir, Der

_Das geschieht:_

Der Krieg zwischen Mensch und Vampir schien 1983 mit dem Sieg der Lebenden über die lebendigen Toten beendet zu sein, als Special Deputy Jameson Arkeley den Schlupfwinkel des Vampirfürsten Piter Byron Lares aushob und diesen mitsamt seinen letzten Getreuen dem Feuertod überantwortete. Es ‚überlebte‘ nur die Vampirfrau Justinia Malvern, die seitdem in einer geheimen Forschungsstation gefangen gehalten wird.

Zwei Jahrzehnte später ruft man im US-Staat Pennsylvania State Trooper Laura Caxton an den Schauplatz einer spektakulären Fahrerflucht: Zurück blieb nur ein Arm, der vom Körper getrennt eindeutige Lebenszeichen zeigt. Das ruft Arkeley auf den Plan, der vampirisches Wirken erkennt und den Fall im Namen des FBI an sich zieht; Caxton ernennt er kurzerhand zu seiner Assistentin.

Offensichtlich flammt der Krieg mit den Untoten wieder auf. Es ist Malvinias Brut, die im Untergrund neue Kräfte geschöpft und sich mit Zombie-Sklaven umgeben hat. Nun sind die Vampire bereit für eine blutige Rückkehr. Arkeley haben sie dabei nie vergessen; sie fürchten, bewundern und hassen ihn nicht grundlos, denn ihr alter Feind reagiert nicht nur auf ihre Attacken, sondern trägt den Kampf unverzüglich in die Reihen der Blutsauger, um deren Aufstand möglichst im Keim zu ersticken. Dabei ist Arkeley jedes Mittel recht.

Wohl oder übel folgt ihm Caxton in immer neue Vampir-Schlupfwinkel, in denen das Grauen auf sie lauert. Gnadenlos formt Arkeley sie zu einer Kriegerin in ’seinem‘ Kampf. Schwäche und Widerspruch duldet er nicht, denn je näher Arkeley und Caxton den Vampiren kommen, desto härter schlagen diese zu, um sich endlich ihrem eigentlichen Ziel widmen zu können: Die Erde soll von ihnen beherrscht und die Menschheit als Schlachtvieh unterdrückt werden …

_Die Freiheiten des lebendigen Todes_

„Subtil“ ist zweifellos das falsche Attribut für dieses wahrlich monströse Vampir-Spektakel! Schon der (Original-)Titel gleicht einer Breitseite: 13 Kugeln fasst das Magazin der Pistole Marke Glock, die Vampirjäger Arkeley ausgiebig zückt. David Wellington scheint den Entschluss gefasst zu haben, möglichst das Gegenteil der derzeit so erfolgreichen und beliebten Schmuse-Vampir-Schmonzetten zu verfassen. Dabei schießt er zwar mehrfach über das Ziel hinaus, leistet aber insgesamt gute und gründliche Arbeit.

Vampire sind zwiespältige Gestalten. Das betrifft nicht nur ihren Status als lebende Tote bzw. Untote. In der Literatur stehen sie bereits im 19. Jahrhundert (und viele Jahre vor „Dracula“) für die Befreiung des Menschen von den Regeln und Zwängen, denen er sich im (lebendigen) Alltag ausgesetzt sieht. Der Vampir hat sich ihrer entledigt. Er muss sich nicht mehr vom Gesetz, vom schnöseligen Chef und von der Schwiegermutter gängeln lassen. Auch an Vorschriften in Liebesdingen hält er sich nicht mehr. Vampire greifen sich je nach Geschlecht Frauen und Männer, wenn es sie nach ihnen gelüstet.

Diese Freiheit geht nach dem Willen derer, die Vampir-Geschichten schreiben, mit Disziplinlosigkeit einher: Die Untoten bedienen sich ihrer besonderen Talente eigennützig. Bis zur Beanspruchung der Weltherrschaft ist es anschließend offensichtlich nur noch ein kurzer Schritt, den alle großen Vampire zu gehen pflegen; die Entwicklung eines psychotischen Cäsarenwahns scheint sogar integrales Element der Vampir-Werdung zu sein. Der Mensch ist dem Vampir nur Vieh, das ihm sein Blut bietet bzw. zu bieten hat. Dass dieses Verhältnis im Detail doch sehr viel fragiler und nuancenreicher ist, wird von zahlreichen Schriftstellern thematisiert und letztlich übertrieben: Der Vampir wird zum platonisch-skrupulösen Liebhaber zögerlicher Jung-Maiden, die ihm sogar den Blutgenuss verleiden.

_Hart aber herzlos_

Zu dieser zahnschwachen Vampir-Kategorie gehören die Blutsauger des David Wellington ganz sicher nicht. Sie verlieren mit dem Tod die Bedürfnisse und Bedenken ihrer menschlichen Erst-Existenz und verwandeln sich mit Haut und Haar in kluge, gierige, bösartige Nachtmahre. Man muss ihr Herz zerstören, um sie umzubringen; ansonsten kann man sie mit Kugeln spicken, ohne sie dadurch aufzuhalten. Silber, Kreuze, Knoblauch und andere tradierte Instrumente des Vampir-Tötens sind nutzlos, Licht schwächt die Blutsauger höchstens. Wer von ihnen getötet wird, kann von ihnen – eine Hommage an Pennsylvanias Horror-Großmeister George A. Romero? – in einen Zombie-Sklaven verwandelt werden. Der Kampf gegen diese Kreaturen wird zu einem Hauen, Stechen und Schlachten, wobei die daraus resultierenden Begleiterscheinungen vom Verfasser mit großer Liebe zum Detail beschrieben werden.

Ein solcher Gegner benötigt einen Verfolger, der sogar aus noch härterem Holz geschnitzt ist. Jameson Arkeley erfüllt diesen Anspruch. Er hat sein Leben der Jagd auf Vampire geweiht und sich darüber in einen Zeitgenossen verwandelt, der sich zumindest psychisch seinen Todfeinden stärker angenähert hat als ihm lieb sein kann oder von ihm zugegeben würde. Wie weit Arkeley auf diesem Weg bereits gegangen ist, verdeutlicht sein Umgang mit der neuen Partnerin Laura Caxton, für die das Hetzen von Vampiren Neuland bedeutet. Caxton sorgt nicht nur für das ‚menschliche‘ Element, indem sie Unsicherheit, Furcht, Verzweiflung und ähnliche Gefühle signalisiert. Sie repräsentiert außerdem den Leser, der sich Fragen zum Geschehen stellt, die Caxton an Arkeley weiterleitet.

_Ein Krieg im Zeitraffer-Tempo_

Der Kampf gegen die Blutsauger findet offensichtlich unter Zeitdruck statt. Wellington baut dies geschickt ein: Vampire gilt es rasch zu erwischen, bevor sie sich allzu stark vermehren. Tempo wird außerdem vorgelegt, weil sich die Vampire und ihre Verbündeten sehr nachdrücklich PS-starker Automobile und Motorräder bedienen. Zudem steht Arkeley auf dem Standpunkt, dass man sich in eine offensichtliche Falle stürzen muss, bevor diese sich planmäßig schließt. Diese aggressive Taktik ist erwartungsgemäß unsicher, was für neuerliche Stakkato-Gefechte und ein weiteres Emporschnellen des ohnehin eindrucksvollen Bodycount-Quotienten sorgt.

„Der letzte Vampir“ ist kein raffiniert gestricktes Garn. Stilistisch bleibt der Verfasser denkbar schnörkellos, wobei dies ein freundliches Urteil ist. Voran, voran, so lautet die Devise Wellingtons, der auf diese Weise den Ursprung seiner in Fortsetzungen entstandenen Romane als „serials“ enthüllt. Die dünne Charakterisierung erinnert an die „Underworld“-Filme, in denen ebenfalls der mit Action-Episoden gespickte Weg das Ziel ist. Trivial bis trashig setzt Wellington seine Mär in Szene. Auch deshalb ist „Der letzte Vampir“ ein Antipode zum aktuellen Romantik-Vampir, wie ihn u. a. Stephanie Meyer kreierte.

Während dieser vor allem als sexfreie Projektions-Figur über eine Schar pubertierender Jungmädchen kommt, liefert Wellington Alternativ-Stoff für die harten Jungs. Der Schrecken, der blutig wirkt, aber nicht ist, bleibt stets oberflächlich. Wellingtons Vampire weisen keine besondere Intelligenz auf, die allein sie wirklich einschüchternd machen könnte. Exakte Vorstellungen über eine untote Weltherrschaft scheinen sie nicht zu haben. Ihre Bösartigkeit ist vordergründig, ihre düsteren Drohungen wirken eher komisch, und ihre Zombie-Knechte sind es mit Sicherheit.

„Der letzte Vampir“ ist eine jederzeit leichte Lektüre. Autor Wellington hat sie so konzipiert und umgesetzt. Das wird durch die Geschwindigkeit bestätigt, mit der diesem ersten Roman zwei Anschlussbände folgen konnten, die das Konzept des Radau- und Action-Horrors aufnahmen, ohne ihm Anregungen geben zu können oder zu wollen. Wie Meyer & Co. findet Wellington ein bzw. ’sein‘ Publikum, das genau solche anspruchsarmen, aber unterhaltsamen Spektakel goutiert.

_Der Autor_

David Wellington wurde 1971 in Pittsburgh (US-Staat Pennsylvania) geboren. Er studierte an der Syracuse University (US-Staat New York) und an der Pennsylvania State University und arbeitete als Archivar in der Bibliothek der Vereinten Nationen.

Seine Schriftsteller-Karriere startete Wellington abseits der üblichen Verlagsschiene. Er postete erste Romane im Rahmen seines Blogs, setzte sie auf diese Weise dem Urteil seiner Leser aus und berücksichtigte Kritik für die letztlich erfolgende Drucklegung seiner Werke, die aufgrund des enormen Publikumsechos nicht lange auf sich warten ließ. Dieses Prozedere garantierte ihm den gewünschten Zugriff auf seine Stoffe, die ungleich rabiater und kompromissloser daherkommen als das Gros des modernen Mainstream-Horrors. Dabei sind Wellingtons Protagonisten eigentlich klassisch: Er schreibt über Vampire, Zombies und Werwölfe, die er indes einer radikalen Neugestaltung unterzieht und jeglicher Romantisierung entkleidet.

Wellington hat die Online-Veröffentlichung als Lockmittel und Testversion beibehalten. Auch „Thirteen Bullets“ lässt sich gratis lesen. Solche Großzügigkeit kann sich der Verfasser inzwischen leisten, da seine Romane im Buch nicht nur in den USA, sondern auch in vielen anderen Ländern der Welt veröffentlicht werden.

Websites:

– http://www.brokentype.com/davidwellington
– http://www.thirteenbullets.com

Die „Vampir“-Trilogie von David Wellington erscheint im |Piper|-Verlag:

(2007) Der letzte Vampir („Thirteen Bullets) – TB Nr. 6643
(2007) Krieg der Vampire („99 Coffins“) – TB Nr. 6645
(2008) Vampirfeuer („Vampire Zero“) – TB Nr. 6721

_Impressum_

Originaltitel: Thirteen Bullets (New York : Three Rivers Press/Random House 2007)
Übersetzung: Andreas Decker
Deutsche Erstausgabe: November 2007 (Piper Verlag/Piper Fantasy 6643)
381 Seiten
EUR 8,95
ISBN-13: 978-3-492-26643-7
http://www.piper-verlag.de

Melneczuk, Stefan – Geisterstunden vor Halloween

Nach dem Achtungserfolg seines Romans [„Marterpfahl“, 4719 der vor zwei Jahren im rührigen |VirPriV|-Verlag erschien, präsentiert Stefan Melneczuk nunmehr 31 düstere „Oktobergeschichten“ in einer auch äußerlich sehr ansehnlichen limitierten Hardcoverausgabe (Cover: Mark Freier) des |BLITZ|-Verlages.

Ich gebe zu, dass ich nicht nur positive Erfahrungen mit deutschsprachigen Horrorgeschichten gemacht habe. Der Markt – sofern man überhaupt von einem Markt im wirtschaftlichen Sinne sprechen kann – wird hierzulande nach wie vor von Heftromanen dominiert, und die wenigen ambitionierten Anthologien und Sammlungen, die in Kleinverlagen erscheinen, erreichen oft nur wenige Leser. Dazu kommt die fatale Neigung einiger Autoren, Horror mit Splatter gleichzusetzen, was den Lesegenuss nicht selten arg beeinträchtigt.

Erfreulicherweise sind die Geschichten in der vorliegenden Sammlung aus völlig anderem Holz. Es beginnt verhalten mit einer kurzen Episode über eine Hungersnot im Irland des 19. Jahrhunderts, während derer der so genannte „Hungry Hill“ traurige Berühmtheit erlangt. Ohne vordergründige Schockeffekte kommt auch der „Schacht der Toten“ aus, der einem Rettungstrupp aus Freiwilligen zum Verhängnis wird. Wie in den klassischen englischen Gruselgeschichten z. B. eines Algernon Blackwood wird der in der Dunkelheit lauernde Schrecken nur angedeutet oder anhand seiner Wirkung auf die Protagonisten beschrieben. So erfährt der Leser mehr über die Ängste und Vorstellungen der handelnden Personen als über die Schreckgestalten und Geister, die gerade durch ihre Unfassbarkeit nachhaltig im Gedächtnis bleiben. So bleibt auch das Schicksal des kleinen Frederic buchstäblich im Dunkeln, nachdem in der „Geisternacht“ das Licht im Halloween-Kürbis erloschen ist, und die beiden Taucher, die im sagenumwobenen „Loch Ness“ ihrem Schicksal begegnen, schweigen danach ebenfalls für immer. Der Leser trifft auf verlassene Städte, die |so| verlassen nicht sind, auf Pferdefuhrwerke mit gespenstischer Fracht und auf Webseiten, deren Betrachtung den Tod bringt. Neben vertrauten Szenarien insbesondere der klassischen, stets ein wenig spleenig anmutenden englischen Grusel- und Kriminal-Literatur finden sich jedoch auch zahlreiche innovative Geschichten wie „Der Kongress“, in denen sich Erscheinungen der Moderne (hier eine Flugzeugentführung durch Terroristen) mit dem Unheimlichen konfrontiert sehen, was zu überraschenden Wendungen führt. Häufig bindet der Autor auch geschichtliche Ereignisse in die Handlung ein, zum Beispiel in „Langemark“, einer eindrucksvollen Anti-Kriegsgeschichte in der Tradition Remarques und Arnold Zweigs.

Dreißig Geschichten, so düster und unvorhersehbar wie das Wetter im Oktober, erwarten den geneigten Leser in diesem wirklich lesenswerten Band und als Zugabe mit „Elaine“ noch eine Novelle und Hommage an den Altmeister Edgar Allan Poe, in der ein unveröffentlichtes Manuskript des Meisters nicht nur die Sammlerleidenschaft entflammt.

Fazit: Uneingeschränkte Leseempfehlung und Respekt vor der Beharrlichkeit des Autors, der sich auch durch die im heutigen Literaturbetrieb im Grunde zwangsläufigen Enttäuschungen nicht von seinem Weg abbringen lässt.

|350 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN-13: 978-3-89840-284-2|
http://www.BLITZ-Verlag.de

_[Frank W. Haubold]http://www.frank-haubold.de/ _

Le Fanu, Joseph Sheridan – schwarze Vorhang, Der

Drei bisher in Deutschland nicht veröffentlichte unheimliche Geschichten des Schriftsteller Le Fanu (1814-1873) erzählen von Unrecht und Leidenschaften in einer Intensität, der selbst der Tod kein Ende setzen kann. Irische Heimatfolklore, Phantastik und früher Krimi gehen eine heutzutage seltsam anmutende, aber weiterhin spannende Verbindung ein: eine rundum erfreuliche Veröffentlichung!

_Inhalt_

– |Der schwarze Vorhang. Ein Kapitel aus der Geschichte einer Familie aus Tyrone| („A Chapter in the History of a Tyrone Family“, 1839), S. 7-56: Wie es in dieser vergangenen Zeit üblich ist, wird eine junge Frau mit einem älteren Lord zwangsverheiratet. Der hütet nicht nur das Geheimnis finanzieller Nöte, die durch die Mitgift der Ehefrau gelindert werden könnten, sondern auch die Existenz einer quicklebendigen Erstgattin, die ihren Status als Herrin des Hauses mit dem Dolch zu wahren gedenkt …

– |Aus den geheimen Aufzeichnungen einer irischen Gräfin| („A Passage in the Secret History of an Irish Countess“, 1839/“The Murdered Cousin“, 1851), S. 57-100: Als der Vater stirbt, wird sein Bruder, ein ruinierter Spieler und (allerdings nie verurteilter) Mörder, zum Vormund der einzigen Tochter und Erbin. Als diese sich weigert, ihren Cousin, einen Wüstling, zu ehelichen, lässt der Onkel die Maske fallen; nun soll ein zweiter perfekter Mord ihn in den Besitz des brüderlichen Vermögens bringen …

– |Abenteuer eines Totengräbers| („The Sexton’s Adventure“, 1851), S. 101-109: Nachdem sich Saufkumpan Slaney ruiniert eine Kugel in den Schädel jagte, ist Totengräber Martin schlagartig abstinent geworden. Eines Nachts muss er feststellen, dass Slaney ihn für sein Ende verantwortlich macht und zu sich in die Hölle nehmen will, in die ihn sein Selbstmord gebracht hat …

– |Nachwort von Alexander Pechmann: Joseph Sheridan Le Fanu – Der unsichtbare Prinz|, S. 111-119

_Das Böse ist stärker als der Tod_

Joseph Sheridan Le Fanu ist der frühe Meister gleich mehrerer Literaturgenres. Er schrieb Gruselgeschichten, die sich der irischen Folklore ebenso kundig bedienten wie der profunden Kenntnis jener dunklen Seiten der menschlichen Psyche, die eher noch unheimlicher als Gespenster, Kobolde oder andere Nachtmahre wirken können. Auch die Kriminalliteratur darf Le Fanu zu ihren Ahnen zählen, denn entkleidet man Erzählungen wie „Aus den geheimen Aufzeichnungen einer irischen Gräfin“ ihrer übernatürlichen Elemente, bleibt ein lupenreines „Locked Room Mystery“ zurück: Der scheinbar unmögliche Mord im von innen verschlossenen Raum ist beileibe keine Schöpfung von Arthur Conan Doyle & Co.! Le Fanu war ihnen um Jahrzehnte voraus, und er wusste bereits, worauf es ankam: Zwar mag es im Haus des bösen Onkels spuken, doch was das präparierte Mordzimmer betrifft, gestattet Le Fanu keine übernatürlichen Tricks! Wie der ‚perfekte‘ Mord gelingen konnte, wird offen und logisch enthüllt, und als besonders perfiden, aber die Spannungsschraube ordentlich anziehenden Einfall lässt der Verfasser die unglückliche Gräfin die Vorbereitungen zur eigenen Ermordung machtlos beobachten.

_“A damsel in distress“_

Nicht nur in dieser Hinsicht wirken Le Fanus Geschichten bemerkenswert modern. Sowohl in „Der schwarze Vorhang“ als auch in den „Aufzeichnungen einer irischen Gräfin“ steht eine weibliche Figur im Mittelpunkt der Ereignisse. Es handelt sich zwar vordergründig um die klassische „Jungfrau in Nöten“, doch weitet Le Fanu dieses Klischee zum – durchaus anklagend eingesetzten – Movens einer Handlung, die nur durch die gesellschaftliche Realität des 19. Jahrhunderts möglich wird: Die Frau ist keine selbstständige Person, sondern erstens Tochter und zweitens Ehefrau und Mutter. Le Fanu arbeitet das daraus entstehende Elend in seine Erzählungen ein. Wenn die junge Frau aus „Der schwarze Vorhang“ erst von den eigenen Eltern und dann von einem ihr ausgesuchten Gatten dominiert wird, entspricht das realen Verhältnissen. Le Fanu thematisiert das persönliche Elend der hilflosen und zur Ehe gepressten Tochter, das auf seine Weise mindestens ebenso unheimlich wirkt wie der spätere Auftritt einer geistesgestörten Furie oder der Spuk des titelgebenden Vorhangs.

Auch die „irische Gräfin“ der zweiten Erzählung mag zwar von Adel und vermögend sein, doch das nützt ihr gar nichts in einer strikt maskulinen Welt. Im Gegenteil macht ihr Status sie zum idealen Opfer: Der Vater hat sie dem Onkel als Mündel unterstellt, obwohl er von dessen üblem Ruf wusste; er vertraute diesem seine Tochter auf Gedeih und Verderb an, um zu zeigen, dass er an die Unschuld des Bruders glaubte. Die Wahrheit klammerte er dabei aus. Nun ist die Tochter dem Onkel ausgeliefert: Wird sie den eigenen Cousin nicht heiraten, wodurch ihr Vermögen juristisch in seine Verfügungsgewalt übergeht, will der Onkel sie ermorden und danach beerben. Die eigene Cousine kann der jungen Gräfin nicht helfen, denn dem Vater und Vormund ist es gestattet, die beiden jungen Frauen „zu ihrem Besten“ daheim einzusperren.

_Die Hölle kann warten_

Irdische Gerechtigkeit ist ein Faktor, an den Le Fanu nicht glauben mag. Es gibt zwar eine Justiz, doch die ist parteiisch. Wenn jemand hängt in den hier gesammelten Geschichten, so höchstens ein Pechvogel, dessen Wort vor Gericht nichts gilt. Ein angesehener Adliger kann der übelste Unhold sein, doch seine Privilegien sichern ihm beinahe unbeschränkte Immunität. Ein Meineid ist da noch das geringste Vergehen.

Wenn es die Schurken schließlich doch erwischt, wirkt dies nicht selten wie eine Pflichtübung. In „Der schwarze Vorhang“ ist es der gute, alte Wahnsinn, der dem Schuldigen ein bitteres Ende beschert. (Freilich nimmt er seine Geheimnisse mit ins Grab; Le Fanu verweigert seinen Lesern eine Aufklärung der rätselhaften Ereignisse, die sie sich selbst zusammenreimen müssen.) In „Aus den geheimen Aufzeichnungen …“ munkelt die Erzählerin von einem grausigen Tod, den der mörderische Vater und sein Sohn auf der Flucht erlitten, ohne Details zu nennen; das Schicksal hat sie gerichtet. Und in „Abenteuer eines Totengräbers“ ist es das Opfer persönlich, das demjenigen, der sein Ende verschuldete, hinterherjagt: Irgendwann, so Le Fanu, erwischt es den Bösewicht, und wo irdische Gerichte versagen, nehmen sich höhere Mächte letztlich der Sache an. Dass es so kommen wird, deuten oft dunkle und zunächst unerklärliche Vorzeichen an.

_Ein Geschenk an die (deutschen) Leser_

J. S. Le Fanu gehört zu den Autoren, deren Werke zumindest hierzulande nur einem recht kleinen Leserkreis bekannt sind. Selten erschienen seine Romane und Erzählungen, wobei Letztere meist über unzählige Sammlungen verstreut wurden. Die kleine |Achilla Presse| bringt mit „Der schwarze Vorhang“ nunmehr den zweiten Le-Fanu-Band heraus. Der monumentalen Ausgabe des Romans „Checkmate“ (1871, dt. „Schachmatt“) folgt dieses Bändchen mit drei zuvor unveröffentlichten Geschichten.

Als willkommene Zugabe folgt ihnen ein Nachwort des Übersetzers und Herausgebers Alexander Pechmann, der über Le Fanus Leben und Werk informiert und die drei Erzählungen dort verortet. Da der Verfasser als Schriftsteller ein ökonomisch denkender Profi war, griff er eigene Ideen immer wieder neu auf, arbeitete sie um oder in spätere Werke ein.

Als Buch ist „Der schwarze Vorhang“ ein kleines, aber feines Schmuckstück. Nicht nur fest, sondern auch sauber gebunden, in einem schmucken Schriftfont gedruckt und mit einem Lesebändchen versehen, wird es zweifellos ganze Lesergenerationen überdauern – und das hat es auch verdient!

_Der Autor_

Joseph Thomas Sheridan Le Fanu wurde am 18. August 1814 in der irischen Stadt Dublin geboren. Von 1833 bis 1837 studierte er Jura am Trinity College zu Dublin. 1838 erschien im „Dublin University Magazin“ Le Fanus erste Kurzgeschichte. 1845 veröffentlichte der Autor mit „The Cock and Anchor“ einen ersten (Historien-)Roman, der deutlich den Einfluss des Schriftstellers Walter Scott (1771-1832) verrät, den Le Fanu sehr verehrte.

Als Jurist war Le Fanu nie tätig. Stattdessen wurde er Journalist. Ab 1837 war er Eigentümer oder Miteigentümer mehrerer Zeitschriften. Die damit verbundenen Pflichten schränkten seine schriftstellerische Tätigkeit stark ein. Erst nachdem er 1861 Besitzer und Eigentümer des „Dublin University Magazine“ geworden war, schrieb Le Fanu wieder selbst.

1844 heiratete Le Fanu Susanna Bennett. Als sie 1858 starb, fiel Witwer Joseph in eine tiefe Depression, die er nie überwand. Er zog sich völlig aus der Öffentlichkeit zurück und vergrub sich in seinem Haus am Merrion Square. In Dublin nannte man ihn den „unsichtbaren Prinzen“. Seine Produktivität wurde von diesem Lebensstil nicht beeinflusst. In den Jahren nach 1858 veröffentlichte Le Fanu ein bis zwei Romane pro Jahr sowie diverse Kurzgeschichten und Novellen. Er schrieb Historienromane, Krimis und immer wieder Geistergeschichten. 1872 schuf Le Fanu mit [„Carmilla“ 993 nicht nur eine frühe Vampir-Figur. Carmilla alias Mircalla Karnstein war zudem lesbisch, was Le Fanu zwar zeitgenössisch zurückhaltend, aber doch eindeutig thematisierte. Knapp ein Vierteljahrhundert später veröffentlichte Bram Stoker (1847-1912), der Le Fanu sehr schätzte, „Dracula“. Der Vampir wechselte das Geschlecht, doch das Element der ‚verbotenen‘ erotischen Ausstrahlung übernahm und steigerte Stoker.

Der „unsichtbare Prinz” starb am 7. Februar 1873 in seiner Heimatstadt Dublin. Er wurde auf dem Friedhof von Mount Jerome bestattet. Sein Werk fiel zunächst der Vergessenheit anheim, doch seine schriftstellerischen Qualitäten blieben auch den Nachgeborenen nicht verborgen. 1923 ließ Montague Rhodes James, seines Zeichens Historiker, Literaturwissenschaftler und selbst einer der größten Verfasser von Geistergeschichten, Le Fanus verstörende Spukgeschöpfe in der Sammlung „Madame Crowl’s Ghost and Other Tales of Mystery“ wieder aufleben. Heute genießt Le Fanu den literarischen Ruhm, der ihm zusteht.

_Impressum_

Originalzusammenstellung
Übersetzung: Alexander Pechmann
Deutsche Erstausgabe: Januar 2009 (Achilla Presse Verlagsbuchhandlung)
120 Seiten
EUR 15,00
ISBN-13: 978-3-940350-09-1
http://www.achilla-presse.de

Ligotti, Thomas – Alptraum-Netzwerk, Das (Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek Band 2)

_Wider Corporate America, den Moloch der Welt_

Unter der glatten Oberfläche der Geschäftswelt brodelt ein Sumpf aus Angst, Missgunst und Rache. Als Ort des Grauens erscheint die moderne Businesswelt geradezu ideal – indem sie den Einzelnen als austauschbares Rädchen im Getriebe betrachten, umspannen globale Konzerne mit einem Netzwerk, das unüberschaubar geworden ist.

Frank, der Bürohengst, sieht sich in einem Netz aus Intrigen gefangen, das ihn zu erdrücken droht. Doch wenn er die Chance zur Gegenwehr bekommt, wird seine Vergeltung bestialisch sein …

Die Titelstory dieser Original-Storysammlung gewann 2003 in den USA den |Horror Guild Award| und den traditionsreichen |Bram Stoker Award|.

_Der Autor_

Thomas Ligotti, geboren 1953, arbeitete 20 Jahre lang in einem Verlag seiner Heimatstadt Detroit (Motor City, Murder City). Seit seinem 17. Lebensjahr (1970) leidet er unter Platzangst (Agoraphobie), die bekanntlich nur zu lindern, aber nicht zu heilen ist. Das hat sicherlich seine Sicht auf die Welt geprägt.

Ligotti hat sich mit seiner speziellen Machart des Horrors eine treue Anhängerschaft erschrieben. Seine erste Story erschien 1981, die erste Storysammlung „Songs of a Dead Dreamer“ 1986. Obwohl das Thema meist der Gothic-Fantasy angehört, ist seine Wahrnehmungsweise vielmehr die des Surrealismus (ohne den Thesen von Breton etc. zu gehorchen): Die meisten Szenen werden durch die verzerrte Perspektive des todgeweihten Erzählers betrachtet.

Ligotti verdankt viele Impulse dem expressionistischen deutschen Film der 1920er Jahre, so etwa „Das Kabinett des Dr. Caligari“, aber natürlich auch den Großen des Horror, also Poe, Chambers und Lovecraft, aber auch Burroughs und Kafka.

_Die Erzählungen_

|1) Der Lohn des Lebens: Meine Arbeit ist noch nicht erledigt|

Frank Dominio, der Ich-Erzähler, ist ein Bürohengst in einem großen amerikanischen Traditionsunternehmen. Die Abteilungsleiter wissen, dass sie immer mehr vom ewig Gleichen produzieren wollen. Neue Ideen wie die von Frank sind nicht nur nicht gefragt, sondern erscheinen sogar als gefährlich. Seine Erzfeinde fasst Frank im Kreis der Sieben zusammen, und deren Kopf ist Richard. Wenn dies die Sieben Zwerge wären, dann wäre Richard der Zwerg „Doc“. Im Bannkreis seiner Zwangsneurosen gefangen, erblickt Frank in Richard seinen Widersacher: den Puppenspieler, den Manipulator, den „Reparierer“. Stillschweigend natürlich, denn hier geht’s zivilisiert zu. Noch.

Nach seiner freiwilligen Kündigung, zu der es nach einer letzten Demütigung kommt, hinterlässt Frank eine Botschaft: „Meine Arbeit ist noch nicht erledigt“. Er löst alle seine Konten auf und quetscht seine Kreditkarte aus, bis sie jault. Er kauft sich genügend Waffen, um die Sieben auszulöschen. Doch bevor er dies am Montag tun kann, erwischt ihn am Samstag zuvor eine Explosion. Die Folgen sind, gelinde gesagt, kurios.

~ Die Verwandlung ~

Was Frank war, muss zunächst lernen, die Konsistenz seines nunmehr geisterhaften Körpers je nach Bedarf zu regulieren. Darauf kann er beginnen, seine „unerledigte Arbeit“ zu verrichten. Er beginnt mit Perry Stokowski, von dem nicht viel übrig bleibt. Tags darauf erscheinen die Detektives Black und White in der Firma und befragen „Doc“ Richard, doch der tut ahnungslos. Und sie wissen noch nicht, dass sich Frank – heißt er nun Domino oder Dominio? – nicht mehr unter den Lebenden im herkömmlichen Sinne befindet.

Die gegen Frank Verschworenen fallen, wie zu erwarten, einer nach dem anderen verschiedenen unglückseligen, aber meist ziemlich bizarren „Ereignissen“ zum Opfer, meist nichts ahnend. Aber als sich der Kreis der Sieben bis auf einen reduziert hat, bleibt Frank die Konfrontation mit dessen Anführer nicht erspart: Richard. Und dabei erlebt er eine böse Überraschung: Man hat ihn erwartet …

~ Mein Eindruck ~

Es fängt ganz harmlos mit allgemeinem Unbehagen und Unwohlsein an, doch sobald Frank die Verschwörung gegen sich entdeckt hat, beginnt seine Reaktion Formen anzunehmen. Die Explosion verwandelt ihn, wie einst Gregor Samsa in einen Käfer verwandelt wurde. Doch Franks neues Leben ist kein Alptraum, wie es die Verwandlung für Gegor bedeutet, sondern vielmehr eine Chance. Nun kann er sich noch leichter fortbewegen und überall Schaden anrichten. Sein Einfallsreichtum ist bewunderns- und lobenswert. Nur einer kommt davon: Richard. Denn Doc ist auf diese Eventualität gut vorbereitet. War Frank einfach nur böse, so ist Richard ein Vielfaches davon.

Dieser Text kommt dem, was wir unter einem realistischen Erzähltext mit Kriminalstory verstehen, in diesem Band am nächsten. Aber auch hier werden schon etliche Regeln gebrochen, so dass aus der üblichen Ermittlung leider nichts wird. Sie ist unwichtig. Wichtig sind Franks Weiterentwicklung und die Erkenntnisse, die sie ihm bringt.

|2) Die Wiederkunft der Toten: Ich habe einen speziellen Plan für diese Welt|

Die Firma Blaine ist in die Mordstadt gezogen, nachdem diese in die Goldene Stadt umgetauft worden war. Wenig später findet man die ersten Leichen im Perimeter der Innenstadt. Unser Gewährsmann (Frank?) beobachtet die darauffolgenden Ereignisse mit wachsendem Zweifel. Er hat etwas Beunruhigendes beobachtet, einen merkwürdigen Zusammenhang. Jedes Mal, wenn ein gelblicher Dunst besonders direkt in den Straßen der City hängt, erhöht sich die Zahl der Leichen. Dieser Prozess setzt sich auch in den vier Wänden von Blaine & Co. fort: Der Dunst ist so dicht auf den Fluren der Firma, dass man kaum die Hand vor Augen sieht, und es wundert unseren Chronisten keineswegs, dass ein Abteilungsleiter nach dem anderen ein vorzeitiges Ende findet.

Blaine hat nur einen Service anzubieten, nämlich die Manipulation von Dokumenten, doch verkündet man zur allgemeinen Verblüffung der Mitarbeiter, die sich in einem Kellerraum versammeln mussten, dass die Firmenleitung, sofern noch vorhanden, auf Expansion bedacht ist. Und zwar weltweit. Dieser Plan erscheint absurd, doch jeder, der auch nur an Kündigung laut zu denken wagt, kann gleich sein Testament machen. Jetzt sei der Firmengründer höchstselbst am Ruder des schlingernden Schiffes, heißt es pompös.

Unserem Erzähler schwant nichts Gutes, als ihn der Vizepräsident der Entwicklungsabteilung, Harry Winston, zu sich ruft. Winston soll ihm lediglich ausrichten, dass ihn U. G. Blaine zu sehen wünscht. Auf der Toilette im obersten Stockwerk. Au weia, denkt unser braver Mann, macht sich aber tapfer ans Erklimmen des Treppenhauses (der Lift dieses bröckelnden Gebäudes ist schon längst ausgefallen). In der Toilette steht er endlich dem Firmengründer gegenüber: dem gelblichen Dunst, der durch die Straßen und Abteilungen wabert.

Wird er diese Begegnung überleben?

~ Mein Eindruck ~

Diese Erzählung ist in gediegenstem Prosastil verfasst und ich fühlte mich sofort in selige Zeiten bzw. Seiten von Henry James oder Edgar Allan Poe versetzt. Beinahe frei von jeglicher Ironie oder gar von Zynismus, beschreibt der Chronist lediglich, was zu passieren scheint. Es ist ja seine Interpretation der Dinge, die wir lesen. Aber mit einem gehörigen Maß an Zurückhaltung gegenüber der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit und Intelligenz. Es scheint sich nicht mehr um den gleichen Frank Dominio zu handeln – falls er es überhaupt ist, denn ein Name wird nie genannt.

„Die Stadt der gelben Pest“, das könnte fortan der Name dieser Stadt sein, wenn es nach der Sensationspresse ginge. Unwillkürlich denkt jeder Horrorfreund an Poes geniale Erzählung [„Die Maske des Roten Todes“ 773 (ca. 1845) und Robert William Chambers einflussreiche Erzählungssammlung „The King in Yellow“ (1895), die unter anderem auch H. P. Lovecraft inspirierte. Der titelgebende König symbolisiert den Tod. Genau wie in Ligottis kurzer Erzählung „Die Wiederkunft der Toten“. Der Zusammenhang ist plausibel, denn Ligotti ist erwiesenermaßen ein intimer Kenner der Literatur des übernatürlichen Schreckens.

|3) Geschäfts-Auflösung: Das Alptraum-Netzwerk|

In kurzen Szenen und Dokumenten schildert dieser Text das konsequente Ende des in den ersten zwei Texten initialisierten und fortgesetzten Prozesses: die finale Selbstzerfleischung und Auflösung des SYSTEMs.

Zunächst träumen Firmengründer von grenzenlosen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, doch das Notizbuch eines Managers enthüllt, was er darunter versteht: Kannibalismus, die Zerfleischung seiner untergebenen Mitarbeiter. Einer dieser Mitarbeiter jagt sich vor versammelter Belegschaft eine Kugel durch den gequälten Schädel. Fortan, so verrät eine weitere Kleinanzeige, dürfen nur noch Genehmigte Arbeitskräfte beschäftigt werden. Doch leider legen auch diese zu viel Initiative an den Tag, und es kommt zur Einstellung von „Beschäftigungseinheiten mit autonomer oder halbautonomer Programmierung“.

Wie sich herausstellt, existieren inzwischen in den EDV-Systemen der größten Konzerne nur noch zwei Konglomerate: OneiriCon, das sich den ursprünglichen Traum zum Programm erhoben hat, und sein Gegenspieler, das Alptraum-Netzwerk, quasi seine Nachtseite. Es kommt zur Invasion in die unterirdische Domäne OneiriCons und zu grausigen Szenen der Zerfleischung. Ein weiterer Prozess wird eingeleitet: die langsame, schrittweise Durchdringung der beiden Giganten durch Doppelagenten. Am Ende steht nur ein einziger Riese – und das totale Chaos, denn nichts mehr unterscheidet Traum, Alptraum und das, was man früher als die „Wirklichkeit“ zu bezeichnen beliebte. Die Entropie hat ihr Endstadium erreicht: quasi den Kältetod des Universums …

~ Mein Eindruck ~

Hier erreicht die ätzende Kritik des Autors am American Way of Life und dem kapitalistischen System des Westens (er unterschlägt die Schwellenländer China, Indien und Brasilien) ihren Höhepunkt. Sowohl auf der geistigen, emotionalen als auch auf der körperlichen Seite bleiben nur noch Fetzen vom SYSTEM übrig.

Diese Absicht und das Verfahren belegen die Äußerungen des Autors im folgenden Nachwort. Der einzige Minuspunkt dieses Textes: So etwas wie Handlung oder gar konkrete Akteure sucht man vergebens. Wenigstens gibt es eine Entwicklung.

|Das Nachwort: Das ultimate Objekt des Abscheus|

Der Autor Thomas Wagner hat zusammen mit Eddie Angerhuber zwei Interviews mit dem Autor geführt und sie mit anderen Aufsätzen und Informationen ergänzt. Daraus ist ein wirklich hilfreiches und erhellendes Nachwort geworden, dessen Quellen zudem einzeln belegt sind.

Wagner schreitet vom Allgemeinen zum Besonderen. Er tastet sich zunächst von einem allgemeinen Eindruck von Ligottis Spielart des Supernatural Horrors zu dessen Biografie und Werk vor. Ligottis Horror unterscheidet sich signifikant von dem, was gemeinhin als Horror-Genre auf den Markt geworfen wird. Während die Erfolgsautoren das Böse mit Schrecken in die Welt der Normalen einbrechen lassen, um sich nach Konflikt und Erlösung wieder dorthin zu entlassen, versinkt der von vornherein neurotische Protagonist in zunehmend beängstigenden und beunruhigenden Schichten des Wahns. Das erinnert an Poe und Lovecraft, aber in seiner Absurdität und Erklärtheit auch an Kafka – allesamt erklärte Vorbilder Ligottis.

Aus dem Wahn, der über dem Kopf des Helden zusammenschlägt, gibt es kein Entrinnen, keine irgendwie geartete Erlösung. Im „Alptraum-Netzwerk“ ändert sich etwas an diesem Verlauf. Es gibt ein konkretes Feindbild für den Protagonisten Frank Dominio: Corporate America. Deshalb auch der ursprüngliche Untertitel „Three Tales of Corporate Horror“. Doch Frank gelingt es keineswegs, Corporate America umzunieten, sondern er stößt vielmehr auf etwas noch viel Schrecklicheres, das an das Lovecraftsche Grauen des Nichts erinnert: das Große Schwarze Schwein umfasst Frank. Er befindet sich permanent im Alptraum, nicht der Alptraum in ihm. Und zwar permanent.

Diese drei Erzählungen werden im abschließenden Abschnitt detailliert vorgestellt und diskutiert, besonders auch mit Einlassungen seitens des Autors. Er meint wirklich ernst, was er schreibt, und hält mit seiner ätzenden Kritik an der westlichen (amerikanischen) Gesellschaft nicht hinterm Berg. Darin ist er europäischen Autoren wie Kafka viel näher als etwa Ramsey Campbell oder Joe Lansdale.

|Die Übersetzung|

Monika Angerhuber hat sich wirklich und sichtbar angestrengt, um eine erstklassige Übersetzung abzuliefern – ich hoffe, sie wurde dafür anständig entlohnt. Dennoch bin ich hin und wieder über Fehler gestolpert, manche harmlos, manche weniger leicht.

Auf Seite 20 finden wir in der ersten Zeile zweimal das Wörtchen „mit“. Auf Seite 34 stieß ich auf die Formulierung „vom praktischen Standpunktes der Fahrzeit …“. Offenbar wurde hier korrigiert, dies aber nicht ganz sauber zu Ende geführt. Auf Seite 38 finden wir das hübsche Wort „Drogierie“ – was mag es bedeuten? Es ist offenbar auf einen Flüchtigkeitsfehler zurückzuführen, wie so vieles andere, das ich hier gar nicht aufzählen will.

Auf Seite 111 rätselte ich lange über folgenden Satz, mich fragend, wo der Fehler liegt: „[Kerrie] stürzte auf ihre Sportjacke zu, die ein dumpfes Geräusch erzeugt hatte, als sie ihn zu Boden warf.“ Dumm nur, dass zuvor an keiner Stelle erwähnt wird, dass Kerrie den Maskenmann zu Boden wirft. Dieser steht vielmehr steif und stumm da. Also wo ist der Fehler? Ganz einfach: Es muss „als sie sie (= die Jacke) zu Boden warf“ heißen.

Auf Seite 139 stieß ich auf einen Logikfehler. „Dieser Plan … würde die erhöhten Gewinne erklären, die Blaine im letzten Vierteljahr umgesetzt hatte.“ Gewinne werden aus dem Umsatz qua Einnahmen vs. Ausgaben generiert, aber nicht selbst „umgesetzt“.

Das Druckbild fand ich ziemlich anstrengend. Da die Absätze und Dialoge eh schon selten sind, hätte man die ellenlangen Zeilen gerne kürzer machen können. So aber watet der Leser durch seitenlange Absätze, die von nichts unterbrochen werden, ganz besonders in der mittleren Erzählung.

_Unterm Strich_

Man kann leicht eine Überdosis von Ligotti bekommen, denn in seinen Texten gibt es keine aufhellenden Partien, die eine Erlösung aus dem Alptraum des Protagonisten erhoffen lassen. Die 42.000 Worte lange Novelle „Meine Arbeit ist noch nicht erledigt“ tut so, als ginge es um einen „gewöhnlichen“ Serienmörder, aber dabei vertieft sich der Alptraum, bis im Showdown alles nur noch schlimmer statt besser wird. Stilistisch ist man an Stephen King erinnert, wenn er mal einen bösen Tag hatte, mehr aber noch an Lovecraft, besonders durch die psychologischen Details, die wir vom Protagonisten erfahren, und im Schluss.

Die zweite Erzählung „Ich habe einen speziellen Plan für diese Welt“ erinnert noch stärker an den Magier aus Providence, aber auch an Orwell (Harry Winston) und besonders Poe und Chambers (s. o.). Im dritten Text – ich sträube mich, dies eine Erzählung zu nennen – wirft der Autor einen Blick in die Kristallkugel und sieht nichts als Chaos, Panik und Entropie voraus – wen wundert’s?

Dies ist weder Literatur der Erbauung noch der Unterhaltung, es ist Literatur des Zorns und des Hasses, gekleidet in stilvolle Texte. Ich war stets in Versuchung, mir die zahlreichen Szenen als Comicbook vorzustellen, nicht als expressionistischen Film – das funktioniert erstaunlich gut. Sollte mich wundern, wenn Alan Moore oder ein anderer Comicbook Artist sich dieses Sujets nicht irgendwann mal annehmen würde. Alle anderen, die die Welt nicht so schwarz und deprimierend sehen wollen wie Thomas Ligotti, sollten die Finger davon lassen und sich etwas Unterhaltenderes reinziehen.

Hinweis: Das Buch gibt es auch als MP3-Audio bei [Lagato.]http://www.lagato-verlag.de

|Originaltitel: My work is not yet done, 2002
Aus dem US-Englischen von Monika Angerhuber
172 Seiten
ISBN-13: 978-3-89840-922-8|
http://www.blitz-verlag.de
http://www.ligotti.de.vu

Hansen, Matthew Scott – Schwarzes Dickicht

_Das geschieht:_

Noch vor drei Jahren war Tyler Greenwood als Führungskraft eines aufstrebenden Software-Unternehmens eine respektierte Autorität. Dann begegnete er auf einem Wanderausflug in der Wildnis des US-Staats Idaho dem legendären „Bigfoot“, jenem urzeitlichen Affenwesen, das sich angeblich seit der Eiszeit in den dichten Wäldern Nordamerikas verbirgt. Tyler hing sein Erlebnis an die große Glocke und erntete Hohn & Spott. In den nächsten Jahren jagte er ebenso geldaufwendig wie vergeblich die Kreatur, heuerte sogar als Forstmann an und setzte seine Ehe aufs Spiel.

Mit seiner Familie lebt Tyler im Städtchen Snohomish, Washington. Dort untersuchen Mac Schneider und Karl Carillo, Detectives für das County Sheriff’s Department, das mysteriöse Verschwinden zweier waldwandernder Rechtsanwälte. Dass Mac dabei auf die Fußspur eines gigantischen Wesens stößt, hält er lieber geheim. Doch eindeutig geht Seltsames vor: Schwere Autos werden umgestoßen, weitere Menschen verschwinden. Durch den Wald tappt ein schattenhafter Schrecken, der nicht nur mordet, sondern dabei auch eine zielstrebige Intelligenz an den Tag legt.

Ben „Eagleclaw“ Campbell, der als Film-Indianer vom Dienst sein Geld in Hollywood verdient, kennt die Kreatur, seit er ihr Anno 1945 nur um Haaresbreite entkam. Das Wissen seiner Vorfahren ermöglicht ihm den geistigen Rapport mit dem Ungeheuer. Ben erkennt, dass es einen mörderischen Feldzug gegen die Menschen plant. Er reist nach Snohomish, um es zu stoppen. Kris Walker, eine junge, schöne und ehrgeizige TV-Reporterin, komplettiert die kleine Gruppe der ungleichen Monsterjäger, die sich zusammenraufen, um sich nur allzu bald in der Rolle von Gejagten wiederzufinden …

_Der Affe, der nicht sterben will_

Der Homo sapiens ist seit jeher eine unbarmherzig tüchtige Spezies. Wer ihm bei der Besiedlung dieses Planeten in die Quere kam, wurde aus dem Weg geräumt. Dies schloss weniger erfolgreiche Prototypen des Menschen durchaus ein. Dass der Neandertaler so ein Pechvogel war, wird heute nicht nur vermutet. Aber da gab es andere Vorfahren und Verwandte, die geistig & körperlich deutlich simpler gebaut waren und trotzdem viele Jahrtausende recht erfolgreich ihr Leben fristeten. Was geschah mit ihnen?

Spökenkieker und Spinner ‚wissen‘ längst, dass sie dorthin entwischt sind, wo sie ihr Nachfahre nicht so leicht erwischte. Sie ziehen über endlose Steppen, kraxeln auf hohe Berge und brechen durch tiefe Wälder. Dort munkeln sie als „Alma“ (Mongolei), „Yeti“ (Himalaja), „Bigfoot“ (USA) oder „Sasquatch“ (Kanada) umher und schaffen es trotz ihrer Primitivität erstaunlich erfolgreich, sich selbst modernen Spürgeräten zu entziehen.

Dass dies eventuell auf ihr Nichtvorhandensein zurückzuführen ist, behaupten natürlich nur wissenschaftshörige Spielverderber. Matthew Scott Hansen steht mit anderthalb Füßen im Lager der Gläubigen. Er hat ausgiebig über das Thema Bigfoot recherchiert und präsentiert ein Destillat aus entsprechenden Ergebnissen in einem umfangreichen Nachwort sowie auf seiner Website. (Die Feigheit der von der Beweislast scheinbar erdrückten Forschung geißelt Hansen mit der Figur eines Anthropologen, der nur hinter verschlossener Tür zugibt, dass es den Bigfoot gibt, aber die öffentliche Verlautbarung verweigert, um seiner Stellung und seiner Fördermittel nicht verlustig zu gehen.) Mit sensationellen Neuigkeiten oder gar überzeugenden Fakten kann auch er nicht dienen, weshalb wieder einmal der ‚gesunde Menschenverstand‘ und die Fantasie als Lückenbüßer einspringen müssen.

_Ein Monster macht mobil_

Der klassische Bigfoot ist ein eher scheues Lebewesen, das sich nur bedingt für einen Roman eignet, wie Hansen ihn plante. Er verwandelt den friedlichen Waldbewohner in eine mordende Bestie, die dreieinhalb Meter hoch, nashornschwer und trotzdem pfeilschnell über seine Opfer kommt. Als ‚Motiv‘ fungiert Rache, denn böse Modern-Menschen haben ihm versehentlich die Sippe ausgerottet, was zum Auslöser eines Ein-Monster-Krieges wurde, der gegen Wanderer und Waldrand-Bewohner geführt wird.

Es dauert seine Zeit, bis dies publik wird, denn der Bigfoot ist schlau. Hansen nutzt die Gelegenheit, seine Leser mit diversen Theorien bekannt zu machen, die das erfolgreiche Schattendasein seiner Spezies ‚erklären‘. So soll Bigfoot achtsam seinen Müll vergraben, und über einen siebten Sinn, der ihm das Nahen von Beute oder Feinden verrät, verfügt er außerdem. Auf menschlicher Seite sind es vor allem die nordamerikanischen Indianer, jene von den Gutmenschen dieser Welt in die Rolle des ewigen Naturkinds gedrängten Ureinwohner, die über ein ähnliches Ohr zur Geisterwelt verfügen.

Bigfoots Feldzug beginnt recht schlüssig, bis er – der Grund wird nie wirklich deutlich – eine Privatfehde mit Tyler Greenwood & Co. vom Zaun bricht. Nun legt er die Hollywood-Schläue des waschechten Psychopathen an den Tag und ist genauso schwer umzubringen. Ein feuriges Finale unter Blitz-und-Donner-Himmel und mit Kindern in Gefahr ist die logische Folge.

_Trivial schlägt realistisch_

Wenn wir es bisher nicht wussten, ist es jetzt amtlich: „Schwarzes Dickicht“ ist Horror-Trash der Handelsklasse A: Klischee reiht sich an Klischee, Originalität ist noch schwieriger zu erwischen als der Bigfoot, und sollte der Leser zwischendurch hundert Seiten überspringen, so fällt der Anschluss ans Geschehen trotzdem kinderleicht.

Erstaunlicherweise stört das weit weniger als ein exzessiv ausgewalzter Mittelteil, in dem die Handlung auf der Stelle tritt und aus welcher Bigfoot sogar passagenweise verschwindet, um Liebesränken und anderen Als-ob-Konflikten Platz zu machen. Das hätte Hansen sich und seinen Lesen ersparen können, denn obwohl „Schwarzes Dickicht“ kühl kalkuliertes Lesefutter ist, stimmt die Mischung seiner Bestandteile. Hansen kann schreiben, er hat ein Gespür für gut konstruierte Spannungsszenen (die ihre Verfilmung bereits vorwegnehmen.), und er nimmt sein Garn glücklicherweise nie bierernst. Trockener Humor und drastische Effekte scheut er nicht. Es wird gemetzelt, dass die Fetzen buchstäblich fliegen.

Zumindest diesen Bogen überspannt Hansen freilich. Eine unfreiwillig komische Sex-Szene und eine ebenso ekelhafte wie überdeutlich als lukrativer Tabubruch gedachte Vergewaltigung markieren die Grenzen seines Talents. Ein regelrechtes Trommelfeuer von Happy-Endings hätte ebenfalls nicht sein müssen; Hansen scheint sich von seiner Geschichte einfach nicht trennen zu können.

_Figuren aus der Retortenkammer_

Ein weniger erfreuliches Kapitel ist die Hansensche Figurenzeichnung. Hier schlägt der Trashfaktor ungebremst durch, denn wir finden sämtliche Pappkameraden des Genres: den redlichen, aber tragisch aus der Bahn geworfenen Durchschnittsmann; seine unverständig harmoniesüchtige Gattin, ihre kulleräugigen Kinder (= Nägelkau-Reserve, wenn das Monster im Haus des Helden auftaucht und seine Familie bedroht); den harten, aber smarten Cop plus seinen noch härteren, aber begriffsstutzigen Partner; die nicht nur publicitygeile Reporterin, die über Leichen geht (und viel zu gleichberechtigt ist, weshalb sie ganz besonders hässlich enden muss); sowie kerniges US-Landvolk in Flanellhemd und Truck, fiese Rednecks, den knarzigen Kleinstadt-Sheriff und viele, viele andere Schießbudenfiguren, die ein Stephen King in echte Charaktere zu verwandeln wüsste.

Im Fall von Ben „Eagleclaw“ Campbell hat Hansen versucht, die aufdringlichsten Klischees zu brechen, indem er aus dem weisen Schamanen einen kettenrauchenden Film-Indianer machte. Manitus Gedankenbrücke zum ebenfalls hellhirnigen Bigfoot ist allerdings noch immer so breit, dass sämtliche Inkarnationen pseudo-mythologischer Einfalt sie problemfrei nebeneinander beschreiten könnten.

Es sei ein letztes Mal wiederholt: Trotz seiner Mängel kann dieser Roman für sich einnehmen. Hansen ist konsequent, er kann unterhalten, und sollte er – z. B. als Missionar der Bigfoot-Fraktion – weitere Intentionen mit seinem Werk verbinden, ist er glücklicherweise zu ungeschickt, um dem glaubwürdig Ausdruck zu verleihen.

_Der Autor_

M. S. Hansen wurde 1953 im US-Staat Oregon geboren und wuchs im Staat Washington auf. Er studierte an der Washington State University und nahm an diversen Kursen über kreatives Schreiben teil. Nach seinem Abschluss begab er sich auf die traditionelle Ochsentour noch verpuppter Schriftsteller, d. h. er versuchte sich als normaler Arbeitnehmer. Als solcher wechselte er – auch dies ist offenbar Brauch – von Job zu Job.

Unter anderem leitete Hansen in Seattle eine Firma, die Werbespots für das Radio produzierte. Dort lernte er den Stimmenimitator Bill Fitzhugh kennen, der sein Freund und Partner wurde. Das Duo versuchte sich als Komiker und wechselte später nach Hollywood, wo es Arbeit beim Fernsehen fand. Die Partnerschaft währte 15 Jahre.

Hansen blieb in Kalifornien und schrieb einen Spannungsroman. „The Shadowkiller“ (dt. „Schwarzes Dickicht“), sein Erstling, erschien 2007 und wurde zum recht erfolgreichen Auftakt einer Schriftstellerkarriere, die Hansen fortzusetzen gedenkt.

Website: http://www.matthewscotthansen.com

Einen vorzüglichen (oder erschreckenden …) Blick auf die Welt der Bigfoot-‚Forschung‘ ermöglicht: http://www.oregonbigfoot.com

_Impressum_

Originaltitel: The Shadowkiller (New York : Simon & Schuster 2007)
Übersetzung: Andreas Kasprzak
Deutsche Erstausgabe: Dezember 2008 (Blanvalet Verlag/TB Nr. 36916)
592 Seiten
EUR 8,95
ISBN-13: 978-3-442-36916-4
http://www.blanvalet.de

McCammon, Robert R. – Unschuld und Unheil

1964 in der Kleinstadt Zephyr in Alabama, tiefster Süden der USA: Der zwölfjährige Cory verbringt hier eine bislang idyllische Kindheit. Seine besten Freunde sind der pummelige Ben, der nachdenkliche Johnny und der draufgängerische Davy, nicht zu vergessen natürlich Corys geliebter Hund Rebell. Eines Morgens begleitet Cory seinen Vater auf dessen Tour bei der Milchauslieferung. Am düsteren See Saxon’s Lake schießt plötzlich ein Auto aus dem Wald an ihnen vorbei und stürzt hinein. Corys Vater springt hinterher und versucht, den Fahrer zu retten, doch vergeblich. Tatsächlich ist der Mann bereits tot, sein Gesicht von Schlägen gezeichnet, eine Schlinge um den Hals und an das Lenkrad gekettet. Corys Vater kann nicht verhindern, dass der Wagen mitsamt der Leiche im See unrettbar versinkt.

Der einzige Hinweis auf den Toten ist eine seltsame Tätowierung, die Corys Vater erkannt hat, doch der Sheriff findet keinen passenden Vermissten. Cory hat während der Rettungsaktion seines Vaters eine Gestalt am Ufer gesehen, die eine grüne Feder verloren hat, und ist überzeugt davon, dass diese Person darin verwickelt ist. Auch sein Vater hat das Erlebnis nicht verkraftet. Immer stärker plagen ihn Alpträume und die Frage, ob der Mörder aus ihrer behüteten Stadt kommt.

Nicht nur die Suche nach der Gestalt mit der Feder begleitet Cory in diesem Sommer. Da sind auch die unheimlichen Legenden über Old Moses, das Ungeheuer aus Saxon’s Lake, die geheimnisvolle uralte Voodoo-Lady aus dem Schwarzen-Viertel, schlicht „die Dame“ genannt, deren Visionen Cory noch manches Mal helfen werden, seine erste Kurzgeschichte und ein nächtlicher Campingausflug mit seinen Freunden, der ihn einem Geheimnis gefährlich nahe bringt. Zwischen all den schönen Erlebnissen lauert der Tod, und Cory spürt bald, dass er das Schicksal des Toten im See klären muss, um sich und das Leben seines Vaters zu retten …

_Das Ende der idylllischen Kindheit_ hat mit Werken wie Stephen Kings „Es“ und „Die Leiche“ („Stand by me“), Ray Bradburys „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ sowie Dan Simmons „Sommer der Nacht“ großartige Werke der modernen Literatur hervorgebracht, und besonders die Kombination mit Horror erzielt diesen wunderbaren Effekt, den auch „Unschuld und Unheil“ voll für sich beanspruchen kann.

|Dichte Atmosphäre, gelungene Charaktere|

Robert R. McCammon gelingt es großartig, eine verzaubernde Stimmung zu kreieren. Nicht erst im Nachwort, in dem sich der Autor bei allen möglichen Schauspielern und Autoren bedankt, wird offenkundig, dass er sich bei Corys Kindheit stark von seiner eigenen beeinflussen ließ, denn immer wieder werden typische Bücher, Zeitschriften, Filme und TV-Serien der sechziger Jahre erwähnt. Von Anfang an wird der Leser hineingesogen in die beschauliche Kleinstadt Zephyr, in welcher der damals zwölfjährige Cory eine behütete Kindheit führt. Es ist ein verschlafenes Städtchen, in dem sich die Bürger untereinander gut zu kennen glauben und das doch in jenem Sommer eine Vielzahl von Geheimnissen preisgibt.

Corys Kindheit lädt zum Identifizieren ein, sowohl für jene, die ähnliche Erinnerungen haben, als auch für solche, die davon träumen. Cory ist ein in vielerlei Hinsicht typischer Junge kurz vor seinem zwölften Geburtstag, der Abenteuer liebt, Gruselfilme schaut, spannende Bücher verschlingt, mit seinen Freunden durch die Natur streift, Baseball spielt und per Fahrrad durch Zephyrs Straßen prescht. Dazu liebt er es, Geschichten zu erzählen, die andere Menschen trösten oder ablenken und in diesem Sommer wird er eine ganz besondere Kurzgeschichte schreiben.

Besonders faszinierend sind die vielen kleinen Zwischenspiele, die der Autor in die Haupthandlung, die sich um den Toten im See dreht, einflechtet: Da sind die Übernachtung bei Corys Freund Ben, die ihm mehr über dessen Eltern verrät, als ihm lieb ist; der lispelnde Nemo, der Neuling in der Stadt, hinter dessen schmächtigem Körper sich ein ungeahntes Talent verbirgt; das Hochwasser, in dem Cory das legendäre Monster Old Moses leibhaftig zu Gesicht bekommt; Corys Hund Rebell, dem ein trauriges und doch zugleich schönes Schicksal bevorsteht; da sind die Schulschläger Gordo und Gotha, die zum ersten Mal Gegenwehr erleben; der Ku-Klux-Clan, der sein Unwesen treibt; Miss Grace und ihr verrufenes Vergnügungshaus; die junge Frau im Wald, die Cory zum ersten Mal ins Schwärmen bringt; und da ist der Jahrmarkt, dessen angebliche Saurierattraktion noch für eine Menge Aufruhr in Zephyr sorgen wird. Viele der Episoden scheinen unabhängig von der Haupthandlung zu bestehen, kleine Momente im Leben eines Jungen, der zum ersten Mal das Leben der Erwachsenenwelt schmeckt, aber die meisten fügen sich im Nachhinein sehr gut ins Gesamtbild ein. Manche Szenen bringen den Leser zum Trauern oder gar zum Weinen, dann wieder sorgen Corys Abenteuer, die Neckereien unter den Freunden und sein lakonischer Tonfall beim Erzählen seiner Erinnerungen für witzige Augenblicke.

Die bemerkenswerteste Nebenfigur ist „die Dame“, eine schwarze Lady von 106 Jahren, die von der schwarzen Bevölkerung wie eine Königin verehrt und von der weißen überwiegend misstrauisch beäugt wird. Sie gilt als Voodoo-Zauberin, die aber eine der wenigen in der Stadt ist, die schon früh das nahende Unheil spüren. Ihre prophetischen Träume handeln vom Toten im See, und Cory ahnt, dass er der Dame nicht nur vertrauen kann, sondern auch ihre Hilfe zwingend braucht, um das schreckliche Geheimnis des Mordes zu lösen, das seinen Vater zunehmend quält. Von ihr erhält er auch ein neues Fahrrad als Geschenk, das nicht nur imposant aussieht und ob seiner Schnelligkeit zu Recht von Cory den Namen „Rakete“ erhält – sondern bei genauem Hinsehen glitzert ein goldenes Auge in seinem Scheinwerfer, das Rad lenkt gelegentlich eigene Wege, und wer es unbefugt anfasst, kann sich schon mal eine Bisswunde einfangen. Zephyr ist voll an skurrilen Originalen wie die altjüngferlichen Miss Blue und Miss Green Glass in ihren Farbgewändern, der liebenswerte Sonderling Vernon Thaxter, der dank seines mächtigen Vaters unbehelligt stets nackt durch die Straßen läuft, Corys cholerischer Großvater Jaybird und der alte Mr. Cathcoate, der angeblich einmal Revolverheld Wyatt Earp das Leben rettete.

|Spannung bis zum Schluss|

Bei allen netten Anekdoten und Abschweifungen steht immer die Frage nach dem Toten im See und dessen Mörder im Hintergrund, der höchstwahrscheinlich aus dem beschaulichen Zephyr stammt. Die einzigen Hinweise sind die Tätowierung des Ermordeten mit einem geflügelten Totenkopf, die aber bislang zu keiner Identifizierung führte, und die grüne Feder, welche die Gestalt im Mantel, die den Unfall beobachtete, verlor und die Cory sorgsam aufbewahrt. Er schweigt über diesen Fund, denn er befürchtet zu Recht, damit nicht ernst genommen zu werden, hält aber unentwegt die Augen offen.

Nach und nach steigert sich die Spannungskurve, die sich nicht nur darum dreht, wer der Unbekannte war, warum er ermordet wurde, wer sein Mörder ist, sondern auch darum, ob Cory und sein Vater als einzige Zeugen ins Visier des Täters geraten. Mehrfach scheint es, als habe Cory einen begründeten Verdacht, doch erst kurz vor Schluss enthüllen sich alle schrecklichen Umstände um die Tat in einem überstürzten Finale. Die Auflösung des Mordes führt viele Jahre zurück in die Vergangenheit, die Identifizierung des Mörders bestürzt nicht nur Cory, sondern auch den Leser, doch sie passt in das bittersüße Gesamtbild des Romans, in dem sich Erleichterung und Trauer immer wieder die Hand geben.

|Kaum Schwächen|

Nur wenig lässt sich an diesem großartigen Werk kritisieren, etwa dass manche der angerissenen Episoden wider Erwarten nicht mehr fortgeführt werden. Manche Personen, die einem in den kleinen Abweichungen begegnen, tauchen später nicht mehr auf, höchstens in Corys Gedanken. Das ist besonders schade, weil Cory in einem Epilog, als er dreißig Jahre später mit seiner Ehefrau nach Zephyr zurückkehrt, die Entwicklung einiger Menschen aus der Stadt Revue passieren lässt, und man sich unweigerlich wünscht, er hätte dabei noch mehr Personen bedacht. Ein kleines bisschen konstruiert ist außerdem das spektakuläre Finale, bei dem Cory und sein Vater gleichzeitig unabhängig voneinander die richtigen Schlüsse ziehen. Natürlich ist der Roman grundsätzlich nichts für ungeduldige Leser, die eine temporeiche Handlung bevorzugen, sondern in erster Linie auf eine intensive Atmosphäre bedacht.

_Als Fazit_ bleibt ein wunderbarer Roman, der Kindheitserinnerungen mit Horror und Thriller mischt und definitiv zu den besten Horrorwerken der Moderne zählt. Die Handlung ist vielschichtig, die Charaktere sind originell und bei aller Skurrilität authentisch dargestellt, die Geschichte besticht durch dichte Stimmung, in der sich lustige und traurige Momente ausgewogen abwechseln. Abgesehen von sehr kleinen Mängeln ist „Unschuld und Unheil“ ein rundum gelungener Roman, der sich trotz seines enormen Umfangs sehr schnell liest und im Gedächtnis bleibt.

_Der Autor_ Robert R. McCammon, Jahrgang 1952, studierte zunächst Journalismus in seiner Heimat Alabama, ehe er 1978 mit „Ball“ seinen ersten Horror-Roman veröffentlichte. Weitere Werke folgten rasch, und ab den achtziger Jahren standen sie regelmäßig auf den Bestsellerlisten und gewannen Preise wie den |Bram Stoker Award|. 1992 zog sich McCammon vom Schreiben zurück, nachdem Verleger andere Genres nicht akzeptieren wollten. 2008 veröffentlichte er aber die Fortsetzung zu einer neuen Serie und widmet sich damit zumindest partiell wieder dem Schreiben. Für „Unschuld und Unheil“ erhielt er den |Bram Stoker Award| und den |World Fantasy Award|. Zu seinen Werken zählen u. a. „Das Haus Usher“, „Nach dem Ende der Welt“, „Botin des Schreckens“ und [„Tauchstation“. 261

|Originaltitel: Boy’s Life
Aus dem Amerikanischen von Ute Thiemann
797 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-89996-070-9|
http://www.robertmccammon.com
http://www.area-verlag.de

Sokoloff, Alexandra – Inschrift, Die

_Das geschieht:_

Die psychisch labile Robin hat im Baird College ihr Studium aufgenommen. Auf dem Campus ist sie eine einsame Außenseiterin. Ihre Zimmergenossin ignoriert oder ärgert sie. An einem langen Thanksgiving-Wochenende, das sie lieber allein in im Wohnheim als daheim bei ihrer irren Mutter verbringt, hat sie genug: Im leeren Aufenthaltsraum des Heims will sie sich mit Tabletten umbringen.

Aber Robin ist nicht allein. Patrick, Lisa, Martin und Cain, vier ebenfalls lieber aushäusige Studenten, leisten ihr Gesellschaft. Bei Alkohol und Dope kommt man sich näher, und Lisa findet ein altes Hexenbrett. Da man nichts Besseres vorhat, versucht man Kontakt mit der Geisterwelt aufzunehmen.

Das gelingt wider Erwarten tatsächlich. Es meldet sich ein gewisser Zachery, der 1920 auf dem Campus bei einem Brand ums Leben kam. Die Aufregung ist groß, doch sie schlägt in Entsetzen um, als sich Zachery als gar nicht angenehmer Spuk entpuppt. Er ist großmäulig, grob und zunehmend bösartig. Bald geht es im Wohnheim unheimlich um. Klopfgeräusche ertönen, Möbel werden gerückt, Spiegel zersplittern. Seine fünf neuen ‚Freunde‘ will Zachery nicht mehr auslassen. Robin recherchiert und findet erschrocken heraus, dass bei dem Brand von 1920 nicht nur Zachery sein Ende fand: Mit ihm starben vier andere Studenten, die Opfer eines dämonischen Zeremoniells wurden, das sich nun offenbar wiederholen soll …

_Er kommt, wie es wohl kommen musste_

Die Welt der modernen Unterhaltungsliteratur ist wundersam. „Die Inschrift“, der Debütroman der jungen Autorin Alexandra Sokoloff, ist ein gutes Beispiel: Wieso kommt diese kümmerliche Spukgeschichte nicht nur zu einer deutschen Übersetzung, sondern wird auch noch als btb-Taschenbuch veröffentlicht? In dieser Reihe erscheinen normalerweise inhaltlich und stilistisch etwas ungewöhnlichere bzw. anspruchsvollere Werke.

Liegt es an der euphorischen Werbung? „Diese packende Geistergeschichte verspricht Spannung von der ersten bis zur letzten Seite“, jauchzt die |Romantic Times|. „Poltergeist lässt grüßen … Gewürzt mit einer guten Prise erotischer Spannung, wird daraus eine ebenso atemberaubende wie bezaubernde Geschichte“, dröhnt |Kirkus Reviews|, ein ‚Rezensions‘-Medium, das seit jeher noch den gröbsten Bockmist als Goldstroh zu verkaufen versucht. Allerdings: Nehmen wir diese beiden Jubelchöre wörtlich, sind wir durchaus im Bilde. So hat die |Romantic Times| ja Recht: „Die Inschrift“ VERSPRICHT Spannung. Das Halten dieses Versprechens wird nicht garantiert.

„Poltergeist lässt grüßen“: Stimmt ebenfalls, denn Sokoloff präsentiert keine Idee, die man nicht bereits an anderer Film- oder Buchstelle gesehen hätte. Vor allem Titel von Filmen wie „Witchboard – Die Hexenfalle“, „Düstere Legenden“, „Long Time Dead – Du bist der nächste!“ und andere schematisch gedrechselte Standard-Slasher, in denen dumme & geile Teenies sich mit bösen Geistern anlegen, können hier genannt werden.

Die „Prise erotischer Spannung“ erschöpft sich in den üblichen pseudolibidinösen Wallungen, die einerseits grobschlächtig und damit typisch für besagte Hollywood-Teenies sind, und andererseits den sog. „Lady Thriller“ definieren: pathetisch klingende Wortwolken wuchten über einem Trivialkonstrukt namens „Wahre Liebe“.

_Geister müssen nicht geistvoll sein_

„Die Inschrift“ (was spricht eigentlich gegen eine Eins-zu-eins-Übersetzung von „The Harrowing“ als „Das Grauen“?) ist das Werk einer Autorin, die sich auch stilistisch ausschließlich fremdbedient. Oder ist es die Übersetzung, die diesen Eindruck weckt? Sie unterstreicht durch ihre Groschenheft-Qualität ein Missvergnügen, das die Lektüre dieses Romans begleitet:

|“Sie wirbelte herum.
Martin stand über ihr im düsteren Treppenhaus und sah zu ihr herunter.
‚Meine Güte‘, japste sie.
‚Ich muss mit dir reden‘, sagte er tonlos. Seine Stimme klang hohl in dem hohen Rundbau.
Sie ließ den Atem entweichen. ‚Und ich mit DIR.'“|
(S. 148)

Das ist ein völlig beliebig herausgegriffenes, aber absolut repräsentatives Beispiel, denn so liest sich der gesamte Text. Immerhin sind die Figuren, die solche Nonsens-Dialoge führen, entsprechend flach gezeichnet. Was die Charakterisierung angeht, hat sich Sokoloff ohnehin wohl von der klassischen High-School-Schmonzette „The Breakfast Club“ (1985) inspirieren lassen. Fünf Studenten von geradezu offensiver Wesensdifferenz finden und offenbaren einander bisher sorgfältig geheim gehaltene Seelenpein: Die scheue Schöne wurde vom Vater verlassen und wird von der verrückten Mutter gepiesackt, der Footballstar, der diesen Sport hasst, von seinem ehrgeizigen Vater mit Steroiden vollgepumpt, die fröhliche Schlampe hadert mit ihrem Hang zur Selbstzerstörung, der Musiker ist ein seelenversehrtes Waisenkind und – Sokoloff fürchtet wahrlich kein Klischee! – der Streber will nicht wie vom Papa gefordert Rabbi werden, weil er nicht an Gott glaubt.

Zachary ist als Gespenst ebenfalls keine Offenbarung. Während unsere fünf Helden seine Kasperaden offenen Mundes und leeren Hirns verfolgen, meldet sich beim Leser die Langeweile. Zachary buchstabiert kindische Beleidigungen, wirft mit Möbeln, lässt Spiegel zerspringen. Wieso sollten derartig ausgelutschte Albernheiten den Leser fesseln? Was ist das für ein Jenseits, in dem Hohlköpfe nicht nachreifen?

_Flach & öde wie ein Parkplatz_

Die Erzeugung einer Atmosphäre der Furcht gelingt nur, wenn die dafür notwendige Stimmung erzeugt wird. Im Interview erwähnt Sokoloff mehrfach die Schriftstellerin Shirley Jackson (1919-1965) mit ihrem phantastischen Meisterwerk „The Haunting of Hill House“ (1959; dt. [„Spuk in Hill House“) 368 als Vorbild, was reichlich vermessen ist. „The Haunting“ ist literarischer Schrecken in Vollendung; das Werk einer Autorin, die ihren Stoff und ihr Publikum gleichermaßen im Griff hat. Anders als Sokoloff lässt Jackson die Wörter nie wie Brechdurchfall einfach laufen, sondern arbeitet mit ihnen, bis sich der erwünschte Effekt einstellt.

„Die Inschrift“ ist quasiliterarisches Junk Food, was schlimmer ist als ein schlechter, aber offen als reine Unterhaltung verfasster (Horror-)Roman. Sokoloff gibt vor, etwas zu liefern, das sie nicht zu leisten vermag. Oder ist es die Werbung, die sie auf diese Schiene drängt? Ist Alexandra Sokoloff primär ein Geschöpf offensichtlichen Marketings? Sie ist eine schöne Frau, die auf Fotos und im TV-Interview eine gute Figur macht. Als langjährig in Hollywood beschäftigte Autorin weiß sie zudem um die Bedeutung einer soliden Selbstanpreisung, der sie nicht nur mit vielen Interviews, sondern auch als fleißige Bloggerin Rechnung trägt. Unabhängig von solchen Fragen bleibt es eine unerfreuliche Tatsache, dass wieder einmal der Leser die Zeche zahlen muss, der gutgläubig Geld und Zeit in hohles Blendwerk wie „Die Inschrift“ investiert hat.

_Die Autorin_

Alexandra Sokoloff wurde in Kalifornien geboren – das Jahr hält sie geheim – und wuchs dort auch auf. Schon in jungen Jahren interessierte sie sich für die darstellenden Künste. Zunächst spielte sie in Theaterstücken und Musicals, die sie später auch inszenierte. Folgerichtig studierte sie an der Universität von Berkeley Theaterwissenschaften. In dieser Zeit entstanden erste Bühnenstücke.

Nach Abschluss des Studiums ging Sokoloff nach Los Angeles, wo sie sich als Drehbuchautorin versuchte und mit den üblichen Anfängerschwierigkeiten zu kämpfen hatte. Nach eigener Auskunft schrieb sie eine Reihe von Drehbüchern für verschiedene Studios (Namen wie Sony, Fox, Disney und Miramax fallen), wobei sie sich auf Horrorfilme spezialisierte. (Bei näherer Betrachtung zeigt sich übrigens, dass nur eines dieser Drehbücher jemals realisiert wurde: 1997 drehte der Regisseur Carl Schenkel den Thriller „Kalte Küsse“ für das deutsche Fernsehen; Sokoloff wird als Ko-Autorin des Drehbuchs genannt.)

Ohne darauf in ihrer Kurzbiografie näher einzugehen, erweiterte die nicht unbedingt erfolgreiche Autorin ihre Aktivitäten. Sie gab Tanzunterricht und begann diverse Kurse für angehende Drehbuchautoren zu leiten, was sie bis heute fortsetzt. Außerdem schrieb sie einen Roman. „The Harrowing“ (dt. „Die Inschrift“) erschien 2006 und wurde nicht nur freundlich von Kritik und Leserschaft aufgenommen, sondern auch von der „Horror Writers Association“ für einen „Bram Stoker Award“ als bester Debütroman des Jahres 2006 nominiert. (Dass Sokoloff nicht gewann, bleibt in der Regel unerwähnt, was deshalb an dieser Stelle nachgeholt wird.) Der Erfolg ermunterte Sokoloff, sich nunmehr auf die Arbeit als Schriftstellerin zu konzentrieren.

Über ihre Aktivitäten informiert Sokoloff auf ihrer Website: http://www.alexandrasokoloff.com.

_Impressum_

Originaltitel: The Harrowing (New York : St. Martin’s Press 2006)
Deutsche Erstausgabe: Oktober 2007 (btb Verlag/TB Nr. 73634)
Übersetzung: Andrea Brandl
300 Seiten
EUR 8,50
ISBN-13: 978-3-442-73634-8
http://www.btb-verlag.de

Gruber, Andreas – Engelsmühle, Die

_Handlung:_

Versicherungsdetektiv Peter Hogart wird von seinem Bruder Kurt, einem Chiropraktiker, darum gebeten, Nachforschungen bei einem berühmten Rückenmarksspezialisten anzustellen. Kurt Hogart hat bei Abel Ostrovsky studiert und am vergangenen Abend einen Anruf erhalten, bei dem ihn der Professor um Hilfe ersuchte. Als sie an der Villa des Arztes eintreffen, befindet sich bereits die Polizei vor Ort, denn Abel Ostrovsky wurde brutal gefoltert und ermordet.

Die Ermittlungen werden von guten Bekannten Hogarts geleitet, Eichinger und Garek. Trotzdem schafft es der Versicherungsdetektiv, in die Villa einzudringen und ein Videoband sicherzustellen, wegen dem der Rückenmarksspezialist Hogarts Bruder kontaktierte, der von der Polizei verhört wird. Auf dem Video ist lediglich eine zehnminütige Schwarzweiß-Sequenz zu sehen, in welcher ein Arzt und eine Frau im Rollstuhl zu sehen sind. Die Frau hört auf den Namen Linda Bohmann und lehrt Kunst an der hiesigen Fakultät. Den Arzt identifiziert Hogart nach langer Suche als Dr. Dornauer, doch auch hier kommt der Detektiv zu spät, denn Dornauer wurde ebenfalls zum Opfer des gnadenlosen Killers.

Während Kurt Hogart zum Hauptverdächtigen wird, macht sein Bruder die Bekanntschaft mit der exzentrischen Zwillingsschwester von Linda Bohmann, die in der sogenannten Engelsmühle wohnt. Ein düsterer Ort, der irgendwie mit den Verbrechen in Zusammenhang zu stehen scheint. Doch zunächst hat Peter Hogart andere Sorgen, denn durch den Besitz des Videobandes gerät er selbst ins Visier des Mörders …

_Meine Meinung:_

Der zweite Roman mit dem Versicherungsdetektiv Peter Hogart als Hauptfigur steht dem ersten in puncto Dichte und Intensität in Nichts nach. Abermals entwickelt Andreas Gruber auf knapp 250 Seiten eine ausgefeilte Krimi-Handlung, die bereits nach wenigen Seiten den Leser in ihren Bann schlägt.

In seinem zweiten Fall darf Peter Hogart zu Hause bleiben und in seiner Heimatstadt Wien ermitteln, in der sich der Autor bestens auskennt, was man der Geschichte deutlich anmerkt. Auch wenn die Story nicht die düstere Atmosphäre in Sachen Örtlichkeit ausstrahlt wie der Prag-Roman, so bietet die titelgebende Engelsmühle doch eine schaurige Umgebung, um den Lesern die eine oder andere Gänsehaut zu bescheren.

Abermals muss Gruber für die differenzierte Charakterdarstellung ein großes Lob ausgesprochen werden. Die Personen, allen voran Peter Hogart, wirken so wunderbar echt und authentisch, dass man dem Glauben erliegen kann, die im Roman mitspielenden Leute würden wirklich existieren. Selbst die Handlungsweise der Figuren bleibt immer nachvollziehbar, und trotz der Tatsache, dass Hogart häufig als sympathischer Loser dargestellt wird, merkt man schnell, dass der Detektiv einiges auf der Pfanne hat. Lediglich der Zufall spielt bisweilen eine sehr große Rolle und sorgt dafür, dass die Handlung nicht ins Stocken gerät.

Wie bereits „Schwarze Dame“, so bietet auch dieser Roman ein düsteres, trostloses Setting, in dem ein Mensch wie Peter Hogart mit all seinen Schwächen und Fehlern sehr sympathisch wirkt. Andreas Gruber gelingt es, den Alltag eines Versicherungsdetektivs realistisch zu schildern, auch wenn ein Fall wie dieser natürlich ins Reich der Fiktion gehört. Die Handlung ist eine packende Mischung aus Thriller und Horror, und gerade die Szene in dem Video erinnert in ihrer Dichte eindringlich an „The Ring“.

Im Finale zieht Gruber noch einmal alle Register der Spannung, und auch wenn der gewiefte Thrillerkenner die Lösung bereits lange zuvor erraten hat, so bleibt das Ende dennoch dramatisch. „Die Engelsmühle“ ist ein Roman, der von der ersten Seite an fesselt und mitreißt, keine Langeweile aufkommen lässt und den Leser erst loslässt, wenn er das Buch zu Ende gelesen hat. Für Fans des Autors Andreas Gruber und für Freunde gut durchdachter Thriller ist dieser Roman Pflicht.

Das Format des Taschenbuchs ist auf den ersten Blick ein wenig sperrig, liegt aber unheimlich gut in der Hand. Die Klebebindung ist stabil, das Papier hochwertig und der Satz gefällig. Das Cover ist einfach, morbide und passt perfekt zur düsteren Stimmung des Romans.

_Fazit:_

„Die Engelsmühle“ ist ein weiteres Highlight aus der Feder von Andreas Gruber. Die Geschichte ist schockierend, spannend und intelligent, obwohl die Lösung des Falles nicht schwer zu erraten ist.

|272 Seiten Paperback
ISBN-13: 9783865520807|
http://www.agruber.com
http://www.festa-verlag.de

_Mehr von Andreas Gruber auf |Buchwurm.info|:_

[Interview, Teil 1]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=87
[Interview, Teil 2]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=89
[„Schwarze Dame“ 4584
[„Der Judas-Schrein“ 2113
[„Der fünfte Erzengel“ 1907

_Florian Hilleberg_

Chance, Karen – Hinreißend untot

Im ersten Band von Karen Chances Reihe um die junge Seherin Cassandra Palmer ist diese mit Mühe und Not ihrem eigenen Tod entgangen. Mit Hauen und Stechen geht es auch im zweiten Band „Hinreißend untot“ weiter. Denn Tony, Cassandras Ziehvater und größter Feind, hat sich abgesetzt und ist noch lange nicht besiegt …

Eigentlich ist Cassie nach Las Vegas gekommen, um den Aufenthaltsort von Tony ausfindig zu machen. Sie sucht eine seiner Lasterhöhlen auf und bedroht deren Inhaber, doch der gibt nicht viel preis. Er hat auch keine Zeit dazu, denn plötzlich kommt Leben in die Bude: Pritkin, der Kriegsmagier, der Cassie im letzten Band nach dem Leben trachtete, tritt auf den Plan – allerdings mit einem ungewöhnlichen Motiv: Er möchte eine Zusammenarbeit mit ihr.

Doch das sind nicht Cassies einzige Probleme. Es stellt sich heraus, dass der mächtige Vampir Mircea sie mit einem so genannten Geis belegt hat. Dieser Zauber hindert sie daran, mit einem anderen Menschen als Mircea intim zu werden. Der Grund dieser Vorsichtsmaßnahme: Das Vollziehen des Geschlechtsakts führt dazu, dass Cassie zur Pythia wird, der mächtigsten Seherin der Welt. Genau das möchte Cassie verhindern, doch der Geis bewirkt auch, dass sie sich unnatürlich zu Mircea hingezogen fühlt. Ihre Aufgaben in diesem zweiten Band sind dementsprechend so vielfältig wie unbewältigbar: Sie muss Mircea umgehen, den Geis lösen, vor ihren Feinden flüchten und Tony finden. Gut, dass sie nicht alleine ist. Neben ihrem Geisterfreund Billy und Pritkin lernt sie außerdem einen merkwürdigen Tätowierer namens Mac kennen …

„Hinreißend untot“ schließt ohne Atempause dort an, wo [„Untot mit Biss“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5419 aufgehört hat. Wer den ersten Band nicht kennt, wird daher Probleme haben, die komplexen menschlichen Beziehungen und auch einige Handlungsstränge wirklich zu verstehen. Die Autorin schneidet relevante zurückliegende Ereignisse zwar an, aber sie hält sich dabei sehr bedeckt. Umso detaillierter beschreibt sie die Handlung des vorliegenden Buches. Da aus der Ich-Perspektive von Cassie erzählt wird, räumt Chance den Gedanken und Gefühlen ihrer Hauptperson sehr viel Raum ein. Außerdem tendiert sie dazu, chaotische, überstürzte Ereignisse chaotisch und überstürzt darzustellen. Die Handlung zieht sich dadurch unglaublich in die Länge. Es fällt am Ende schwer, zusammenzufassen, was nun genau passiert ist.

Chance gelingt es kaum, sich thematisch von anderen Dark/Romantic-Fantasy-AutorInnen abzugrenzen. Sie vermengt verschiedene Arten von Wesen und Fantasy zu einem zähen Brei, der nicht immer Spaß macht. Während im ersten Teil des Buches der Vampirmode gefrönt wird, reist die Heldin im zweiten Teil mit ihren Freunden ins Feenland. Abgesehen davon, dass Chance es nicht schafft, diese zwei gegensätzlichen Fantasybereiche in einen harmonischen Einklang zu bringen, wird die Welt der Feen nicht besonders gut ausgestaltet. Als Wesen treten die Feen kaum auf, das Gastspiel ist kurz, und an dieser Stelle schweigt die sonst so geschwätzige Autorin ausnahmsweise. Während die Vampire in ihrer ganzen (erotischen) Schönheit geschildert werden, verschwendet Chance auf die Feen nur sehr wenig Worte.

Dabei schreibt Chance eigentlich ganz gut. Sie ist witzig und schlagfertig und manchmal geradezu genial bissig. Anders als im ersten Band der Reihe entwickelt sich dank des Schreibstils von Anfang an eine gewisse Sogwirkung. Denn auch wenn die Handlung nicht gerade überzeugt, macht es doch Spaß, Cassies sarkastischen Gedanken zu folgen. Sie ähnelt dabei zwar anderen Autorinnen des Genres, aber Chance ist stellenweise noch einen Schritt skrupelloser.

Das bedeutet allerdings nicht, dass Cassie eine Überprotagonistin ist, auch wenn ihre Gedanken und Gefühle gut niedergeschrieben sind. Cassie scheint in der Handlung – trotz ihres Status als Hauptperson – nur eine Nebenrolle zu spielen. Sie schaut den Ereignissen zu, springt an der einen oder anderen Stelle mit Anlauf ins Fettnäpfchen und fühlt sich von den falschen Typen angezogen. Dass sie dabei häufig alles andere als emanzipiert wirkt, scheint die Autorin nicht zu stören. Cassie besitzt Züge, die auch in einen kitschigen Historienroman passen, und unterscheidet sich damit von starken Frauenfiguren wie in den Büchern von Kim Harisson oder Patricia Briggs. Während diese zumeist auf eigenen Beinen stehen, scheint Cassie sehr dazu zu neigen, sich zu unterwerfen – auch wenn sie dagegen ankämpft.

„Hinreißend untot“ ist ein weiteres Buch im bunten Reigen der Vampirlektüre, auch wenn die Blutsauger nicht unbedingt eine Hauptrolle spielen. Abgesehen von einem tollen Schreibstil mangelt es dem Roman aber an Handlungsstruktur und einer interessanten Hauptperson, um wirklich hervorzustechen.

|Originaltitel: Claimed by Shadow
Aus dem Amerikanischen von Andreas Brandhorst
ISBN-23: 978-3-492-29185-9
431 Seiten, Taschenbuch|
http://www.piper-fantasy.de

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Lansdale, Joe R. – Gott der Klinge, Der

_Inhalt:_

Das Buch enthält neben dem Roman „Nightrunners“ sechs weitere Erzählungen, die alle mehr oder weniger eng mit der mysteriösen Gestalt des Gottes der Klinge zu tun haben und auf dem Roman „Nightrunners“ basieren.

Becky und ihr Ehemann Montgomery versuchen in einem abgelegenen Ferienhaus, über ihre traumatische Vergewaltigung hinwegzukommen. Beide ahnen nicht, dass in einem schwarzen Chevy eine Bande gewalttätiger Jugendlicher auf dem Weg zu ihnen ist, um endlich zu Ende zu bringen, was sie nicht geschafft haben, nämlich Becky und ihren Mann grausam zu töten, um dem Gott der Klinge einen blutigen Tribut zu zollen. Auf dem Weg dahin ermorden sie jeden, der sich ihnen entgegenstellt.

_Meine Meinung:_

Joe R. Lansdale gehört zu den großen amerikanischen Schriftstellern der harten Horrorliteratur und reiht sich damit nahtlos neben Jack Ketchum und Richard Laymon ein. Dean Koontz selbst verfasste das Vorwort zu „Nightrunners“ und bestätigt, was auch das amerikanische Buchbranchenmagazin |Publishers Weekly| unter dem Klappentext urteilt: „Neben ‚Psycho‘ und ‚Das Schweigen der Lämmer‘ vielleicht der beste Roman der harten Thrillerliteratur“.

Tatsächlich ist „Der Gott der Klinge“ gewiss kein Buch, das zu Unrecht unter dem Label |Heyne Hardcore| erscheint. Der Text von Joe R. Lansdale ist schnörkellos, präzise und unerbittlich. Kompromisslos hält Lansdale auf das Geschehen drauf, wenn andere Autoren ausblenden. Dabei gelingt ihm der sensationelle Spagat zwischen Psychothriller und Horrorroman, denn obwohl eine übernatürliche Komponente vorhanden ist, kann der Leser nie sicher sein, ob es sich nicht doch um die Auswüchse eines kranken Geistes handelt.

Die Story spielt fast ausschließlich in der Nacht und präsentiert so die ohnehin düstere Szenerie noch beklemmender. Einen Großteil seiner Intensität bezieht der Text sicherlich aus dem Realismus der beschriebenen Gräueltaten und der Möglichkeit für den Leser, dergestalt jederzeit selbst zum Opfer zu werden, obwohl sich der menschliche Geist jede Sekunde dagegen sträubt. Stellenweise erinnert der Roman stark an John Carpenters „Assault – Anschlag bei Nacht“, nicht nur, was die Brutalität der Gang angeht, sondern vor allem am Ende, wo sich Becky und Monty gegen die Belagerung ihres Ferienhauses zur Wehr setzen müssen. „Nightrunners“ ist mehr als ein bloßer Unterhaltungsroman, in dem es etwas brutaler zur Sache geht. Es ist das schonungslose Spiegelbild einer Gesellschaft, die immer weiter abstumpft, die nach Blut giert und in der viele Mitläufer wenigen Egomanen folgen.

In den anderen Erzählungen führt Lansdale den Mythos vom Gott der Klinge fort, ergänzt und verfeinert ihn und schmückt einzelne Szenen des Basisromans „Nightrunners“ gekonnt aus. Jeder einzelnen Story geht dabei ein ausführliches Vorwort des Autors voran, in dem er seine Motivation dem Leser offen darlegt. Durch den bizarren schwarzen Humor, der vor allem in den Geschichten „Nicht aus Detroit“ und „Das zottelige Haus“ skurrile Blüten trägt, wird die Lektüre noch interessanter und wertvoller. Für Liebhaber härterer Thrillerkost insgesamt eine uneingeschränkte Kaufempfehlung.

Einfach aber wirkungsvoll präsentiert sich der Roman dem Auge des Betrachters – passender kann ein Cover kaum sein. Papierqualität, Satzspiegel und Lektorat lassen zudem keine Wünsche offen.

_Fazit:_

„Der Gott der Klinge“ ist eines der eindringlichsten Bücher, die bei |Heyne Hardcore| bislang erschienen sind – gnadenlos brutal und erschreckend realistisch. Kein Buch für zarte Gemüter und ein Muss für alle Fans der harten Gangart.

|Originaltitel: The God of the Razor, Burton 2007
Aus dem Amerikanischen von Walter Hartmann und Frank Dabrock
Titelillustration von Yellow Farm GmbH
400 Seiten, kartoniert
ISBN-13: 9783453675575|
http://www.heyne-hardcore.de

_Mehr von Joe R. Lansdale auf |Buchwurm.info|:_

[„Sturmwarnung“ 2107
[„Wilder Winter“ 4135

_Florian Hilleberg_

Kiernan, Caitlín R. – Fossil

_Das geschieht:_

Nur einer Nacht bedurfte es, die Leben von Chance, Deacon und Elise zu prägen: Betrunken und zugekifft verschafften sie sich Einlass in den Tunnel eines alten, längst aufgelassenen Wasserwerkes. Was dort tief unter der Erde der Stadt Birmingham im US-Staat Alabama geschah, muss schrecklich gewesen sein, doch die schwer traumatisierten Teenager können sich an Details nicht erinnern; es blieb nur die dunkle Ahnung einer uralten, bösen Kreatur, die sie unklugerweise aufgeweckt haben.

Jahre später: Elise ist tot, sie hat sich umgebracht. Deacon wurde ein zynischer Menschenfeind, Chance eine beruflich erfolgreiche Naturforscherin, aber privat unglückliche Frau. Sowohl ihre Eltern als auch ihre Großmutter kamen tragisch ums Leben. Chance fühlt sich verflucht. Noch immer macht ihr die Erinnerung an die Nacht im Tunnel zu schaffen. Jetzt scheint Aufklärung möglich: Die junge Dancy Flammarion taucht in Birmingham auf. Scheinbar sucht sie Chance auf, um ihr ein seltsames Fossil zu zeigen, das der Wissenschaft völlig unbekannt ist. Kurz darauf lässt Dancy durchblicken, dass sie mehr über das Ding im Wasserwerk weiß.

Zusammen mit dem zunächst unwilligen Deacon und seiner neuen Freundin Sandy will Chance Gewissheit. Dass Dancy weiß, wovon sie redet, wird deutlich, als grässliche Erscheinungen die Gefährten heimsuchen. Die uralte Wesenheit im Tunnel will nicht ausgeforscht werden und wehrt sich unter Einsatz seiner beachtlichen Mittel. Standfeste Kameradschaft wäre ratsam. Stattdessen zerstreiten sich die Freunde, was der unheimlichen Macht den Ansatzpunkt liefert, die Gemeinschaft zu spalten, um jedes Mitglied einzeln zu jagen …

_Das Ding auf der Schwelle_

Tief im Dunkeln tun sie munkeln … Seit jeher treibt den Menschen die Furcht vor Dinge(r)n um, die dort auf ihn lauern, wo er seinen Augen nicht trauen kann. Diese Ungeheuer werden im eigenen Hirn ausgebrütet und von diesem anschließend dorthin projiziert, wo man sie zu sehen erwartet. Das funktioniert auch im 21. Jahrhundert noch immer ausgezeichnet, was das Blühen & Gedeihen des Horrors in Literatur und Film unterstreicht.

Heutzutage erwartet der Leser freilich eine zumindest logisch klingende Erklärung für das Grauen. Es muss (und darf) nicht gar zu kompliziert werden; der Verweis auf eine ‚weiße‘ Stelle im ansonsten dokumentierten Gefüge der Erde und ihrer Geschichte reicht schon aus. Auf seiner Oberfläche weist der Globus solche Gebiete kaum mehr auf. Die Weltmeere bieten da schon bessere Reservate für Ungeheuer aller Art. Aber auch das angeblich feste Land ist oft durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Wenn solche Höhlen ganz in der Nähe menschlicher Niederlassungen liegen, läuft die daraus entwickelte Geschichte fast wie auf Schienen: Das Seltsame = Böse gelangt dorthin, wo ahnungslos der Alltagsmensch siedelt und leicht überrascht werden kann. In diesem Fall ist es eine Intelligenz aus dem Morgengrauen der Erdgeschichte – vermutlich, denn die letzte Sicherheit verweigert uns die Autorin. Es könnte sich auch um die Ausgeburt einer kollektiven psychischen Störung handeln; um Hysterie oder Einbildung.

Das Zünden von Nebelkerzen ist üblich, typisch und nützlich, wenn Fürchterliches in Szene gesetzt wird. Der Grat zwischen Schrecken und Lächerlichkeit ist schmal, weshalb es nie schaden kann, den Faktor Verwirrung einzusetzen. Was definitiv im Tunnel des alten Wasserwerks umgeht, muss jede/r Leser/in für sich selbst entscheiden.

_Reden ist Silber, Schweigen ist Gold!_

Wobei wir einen neuralgischen Punkt berühren: Kiernan gehört zu den Schriftstellern, die ihre Wörter nicht halten können. Vor allem in Szenen großer Gefühlsentfaltung geht es mit ihr durch, aber auch sonst wandelt sie stilistisch knapp am Rand des Abgrunds: „Der Frühling röchelte zum letzten Mal unter der heißen Hacke des Sommers“ (S. 29) ist ein peinlicher Kiernanscher Klopfer, für den die Übersetzerin eventuell mitverantwortlich zeichnet.

Diese kann aber nicht immer haftbar gemacht werden. Kiernan schadet ihrer Geschichte durch den Drang, ihr emotionale Tiefe förmlich einzuprügeln. Chance und Deacon sollen emotional gescheiterte Existenzen sein. Tatsächlich sind sie nur eindimensionale Figuren. Dancy Flammarion soll als zwiespältiger und zwielichtiger Charakter beeindrucken, ärgert aber durch die jene Worthülsen, die jeder Prophet der klaren Rede vorzieht. Sandy ist eigentlich überflüssig, zumal die tote Elise notfalls umherspukt und weitere Unklarheiten in die Runde wirft.

Hinter dem ganzen Wortgeklingel verbirgt sich jene konventionelle Story, die weiter oben skizziert wurde. Sie wurde u. a. von Stephen King 1986 in „Es“ wesentlich stringenter und letztlich gelungener erzählt, obwohl er sie auf mehr als 1000 Seiten streckte. Wer Literatur und Unterhaltung näher vereint wissen möchte, greife zu Peter Straubs „Drachenhauch“. Das archaische und vor allem das wirklich eindrucksvolle Böse benötigt keine Wortkaskaden.

_Sie leiden für & nerven die Leser_

Gar schrecklich ergeht es Chance, Deacon, Sandy und auch Dancy: So möchte es jedenfalls die Autorin. Allerdings hat sie stattdessen vier echte Nervensägen in die Welt gesetzt. Psychisch angeschlagene Figuren so zu schildern, dass der Leser mit ihnen fühlt, ist offensichtlich eine Kunst, die Kiernan nicht beherrscht. Ihre ‚Helden‘ wirken ausschließlich unsympathisch. Man wünscht das Monster förmlich herbei, das ihnen die Hälse umdreht, damit endlich Schluss ist mit den endlosen hysterischen Tiraden, die sich stets im Kreis drehen und hinter denen die Geschichte außer Sicht gerät bzw. erstickt wird.

Zentrale Fragen bleiben darüber ungeklärt: Was genau hat Chances Großmutter in Sachen Wasserwerktunnel recherchiert? 1888 muss dort bereits etwas aufgestört worden sein. Kiernan erwähnt es, führt es aber nie aus. „Leben vor dem Menschen“, überschreibt sie das 10. Kapitel (S. 269). Deutlicher wird sie an keiner Stelle. Verworrene Wahnvorstellungen und verwirrende Zeitsprünge sind ihr wichtiger als ‚Fakten‘ – ein Stilmittel, das zunächst akzeptiert werden muss, da sich die Autorin dafür entschieden hat. Wenn es sich allerdings als Effekthascherei herausstellt, ist es zur offenen Kritik freigegeben, was hier bedeutet, dass „Fossil“ sich leider zu den (viel zu) vielen Geschichten mit einer im Kern interessanten Idee gesellt, die in der Umsetzung auf der Strecke bleiben.

_Die Autorin_

Caitlín Rebekah Kiernan wurde am 26. Mai 1964 in der irischen Stadt Skerries (County Dublin) geboren. Als Kind zog sie mit ihrer Mutter in die USA um; sie ließen sich im Städtchen Leeds (US-Staat Alabama) nieder. In den 1980er Jahren studierte Kiernan Geologie und Paläontologie. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie im Museum sowie als Dozentin. Parallel dazu begann Kiernan, phantastische Kurzgeschichten zu schreiben. Noch bevor ihre erste Story veröffentlicht wurde („Persephone“, 1995), gab sie 1992 ihre Arbeit (nicht aber ihre wissenschaftliche Tätigkeit) auf, um sich auf die Schriftstellerei zu konzentrieren.

Kiernan gehört zu den Autoren, die sich intensiv der Kurzgeschichte widmen. In nicht einmal einem Jahrzehnt hat sie mehr als ein halbes Dutzend Sammelbände veröffentlicht. Von 1996 bis 2001 schrieb sie an der Comic-Serie „The Dreaming“, einem ‚Ableger‘ von Neil Gaimans Kult-Serie „The Sandman“, mit. Gaiman war es auch, der ihr 2007 den Auftrag vermittelte, das Buch zum Film „Beowulf“ zu schreiben. 2005 begann Kiernan mit dem Internet-Projekt „Sirena’s Digest“ (MErViSS): Monatlich postet sie Kurzgeschichten und Vignetten, in denen sie Science-Fiction, Fantasy und Horror mit Erotik mischt.

Mit ihrer Lebensgefährtin lebt Caitlín R. Kiernan in Providence, Rhode Island. Über ihre zahlreichen Aktivitäten informiert sie auf ihre Website: http://www.caitlinrkiernan.com.

_Impressum_

Originaltitel: Threshold (New York : Roc Books/Penguin Group 2001)
Übersetzung: Alexandra Hinrichsen
Deutsche Erstausgabe: Januar 2009 (Rowohlt Verlag/RoRoRo Nr. 24902)
430 S.
EUR 9,95
ISBN-13: 978-3-499-24902-0
http://www.rowohlt.de

Abraham Merritt – Flieh, Hexe, flieh!

merritt-hexe-cover-1973-kleinIm modernen New York verwandelt eine uralte Hexe ihre Opfer in Puppen, die sie mordend gegen ihre Feinde schickt. Ein Psychiater will ihr im Bund mit einem Gangster und einem Cowboy das Handwerk legen … – Dieser Horror-Klassiker erschien in Deutschland zu Unrecht fast unbemerkt, denn die einfache Geschichte wird sauber entwickelt und sorgfältig erzählt. Nicht grundlos ist hat sie viele spätere Genre-Romane und Filme beeinflusst: im positiven Sinn altmodischer Grusel.
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Newman, Kim – Vampire, Die

|I – Anno Dracula| (S. 7-461)

Im Jahre 1885 haben Abraham van Helsing und seine Gefährten im Kampf gegen den Vampirfürsten Dracula, der sich aus Transsylvanien nach England begab, um seinen Machtgelüsten zu frönen, schmählich versagt. Dracula vernichtete seine Widersacher und stieg gesellschaftlich steil auf. 1886 ehelichte er gar die Königin Viktoria und ist seither nominelles Oberhaupt des britischen Weltreichs. London ist eine Hochburg von Vampiren geworden, die ihr verstecktes Dasein aufgegeben haben und ohne Scheu neben den warmblütigen Menschen leben. Ihre Zahl nimmt ständig zu, weil sich vor allem die „Neugeborenen“ nicht bändigen können und mit ihren Bissen immer neue Vampire hervorbringen.

1888 ist die Lage gespannt. Menschen und Vampire leben in Unfrieden, seit Dracula damit begonnen hat, alle politisch relevanten Positionen mit Seinesgleichen zu besetzen. Regimegegner wie Bram Stoker oder Sherlock Holmes verschwanden in Konzentrationslagern. Bürgerkrieg liegt in der Luft, der durch Draculas brutale Schergen geschürt wird.

In dieser brisanten Situation beginnt „Silver Knife“ seine Schreckensherrschaft. In den übelsten Vierteln der Stadt überfällt er vampirische Prostituierte, um sie auf grässlichste Weise abzuschlachten. Er brüstet er sich seiner Taten und ist stolz auf den Namen, den die Presse ihm gibt: „Jack the Ripper“ …

Um die immer stärker aufflackernden Konflikte einzudämmen, schickt der „Diogenes Club“ – der britische Geheimdienst – seinen besten Mann auf die Jagd nach dem Schlächter. An der Seite der schönen Vampirfrau Geneviève Dieudonné kommt Charles Beauregard nicht nur Jack the Ripper, sondern auch Draculas streng geheimen Plänen für ein vampirisches Empire auf die Spur …

|II – Der Rote Baron| (S. 463-915)

Dracula entkam den britischen Revolutionären, die ihn 1888 vom Thron stießen; er floh auf den Kontinent, wo er damit begann, die verlorene Macht zurückzugewinnen. Von Königshaus zu Königshaus wandernd, verwandelte er die gekrönten Häupter Europas in Untote. 1905 schlug Draculas Stunde, als er einen Bundesgenossen fand, der sich als idealer Strohmann erwies: Wilhelm II., deutscher Kaiser, der von einem Weltreich träumt und bereit ist, Deutschland mit Waffengewalt einen Platz an der Seite der Groß- und Kolonialmächten zu verschaffen. Dracula wurde Wilhelms Vertrauter und stieg zum Kanzler des Deutschen Reiches und Oberbefehlshaber der Streitkräfte auf.

1914 brach der von Dracula mit entfesselte I. Weltkrieg aus. Im Frühjahr 1918 toben die Kämpfe mit unverminderter Härte. Im Westen zieht sich die Front durch Holland, Belgien und Frankreich. Für das Reich und seine Verbündeten scheint der Krieg allerdings verloren. Dracula gedenkt jedoch nicht aufzugeben. Sein alter Feind Charles Beauregard, ein hochrangiges Mitglied des britischen Geheimdienstes, begibt sich an die Front. Er findet heraus, dass Dracula im Château du Malinbois eine Geheimwaffe entwickeln lässt, die den „Kaiserangriff“, eine gewaltige deutsche Gegenoffensive, einleiten soll …

|III – Dracula Cha-Cha-Cha| (S. 917-1280)

1959 lebt Dracula als reicher, scheinbar dem Müßiggang ergebener High-Society-Vampirfürst in Rom. Gerade wurde seine Heirat mit der Vampir-Ältesten Aja Vajda angekündigt, die in der Presse großes Aufsehen erregt. Der britische Geheimdienst vermutet ein Komplott, das Dracula zurück an die Macht in Transsilvanien, jetzt Rumänien, bringen soll; womöglich arbeitet er mit den Kommunisten zusammen, was im Zeitalter des Kalten Kriegs für die allerhöchste Alarmstufe sorgt. Charles Beauregard, inzwischen zur Grauen Eminenz des „Diogenes Club“ aufgestiegen, ist mit seinen 106 Jahren allerdings zu alt, um den seit Jahrzehnten währenden Kampf mit Dracula fortzusetzen. Commander Hamish Bond, ein Agent der neuen Zeit, wird zu seinem verlängerten Arm.

Während im Palazzo Otranto die Vorbereitungen für die große Hochzeit getroffen werden, treibt in Rom ein maskierter Vampirmörder sein Unwesen. Er hat es nur auf die ältesten Blutsauger abgesehen, von denen er bereits 17 spektakulär umgebracht hat. Die nach Rom gereiste Journalistin Kate Reed, die ihren alten Freund Beauregard besuchen möchte, wird zufällig in die Ereignisse verwickelt. Gemeinsam mit der Ältesten Geneviève Dieudonné, Hamish Bond und dem Paparazzi Marcello macht sie sich daran, die aktuellen Schlichen Draculas aufzudecken …

_Die Neuzeit als Ära der Blutsauger_

Natürlich waren sie niemals fort, doch Anfang des 21. Jahrhunderts sind sie so präsent wie nie: die Vampire, aus dem Grab auferstehende Nachzehrer, die in der Nacht nach Menschenblut gieren! Zwar dominieren derzeit bleiche Schmachtlappen („Edwards“) sowie (hirn-)tote Schuhfetischistinnen („Betsys“) und tumbmannstolle Kellnerinnen („Sookies“) die Wiedergänger-Szene, doch erwachen in ihrem seichten Kielwasser glücklicherweise auch die Schwergewichte des Horror-Genres zum ‚Leben‘.

Kim Newmans Dracula ist aber auch kein altmodischer, aristokratischer Blutsauger, der ein rotgefüttertes Cape trägt, des Nachts jungfräuliche (aber geile) Jungfrauen überfällt und sich darauf beschränkt, seine Allmachtfantasien aus den Grüften baufälliger Burgen und Klöster heraus zu verwirklichen. Dass der wahre Fürst der Vampire mehr sein kann als der simple Buhmann unterhaltsamer Mitternachts-Vorstellungen, hat u. a. Francis Ford Coppola eindrucksvoll in den Rückblenden seines „Dracula“-Films von 1992 bewiesen. Der zeitgenössische Vlad Tepes II. (1433-1477) war zu seinen Lebzeiten nicht nur ein grausamer, sondern auch ein sehr erfolgreicher Herrscher, dem es als „Woiwode“ der (später rumänischen) Walachei über Jahrzehnte gelang, die mächtigen und expansionswütigen türkischen und bulgarischen ‚Nachbarn‘ in Schach zu halten. In der Wahl seiner Mittel war er gewiss nicht wählerisch, aber Kriegsherren wie ihn gab es im Mittelalter viele. Das Recht war mit dem Erfolg jedenfalls auf seiner Seite und bewies, dass Vlad, der gefürchtete Pfähler, ein entschlossener und auch intelligenter Mann gewesen ist.

Diese Eigenschaften sollte er folgerichtig auch nach seiner Wiederauferstehung als Vampir bewahrt haben. Insofern setzt Kim Newman und nicht Bram Stoker dem ‚wahren‘ Dracula ein literarisches Denkmal. Newmans Dracula ist ein rücksichtsloser, zu allem entschlossener Krieger – und ein Überlebenskünstler. Das lässt ihn immer wieder aus schier aussichtslosen Situationen entkommen.

Andererseits bleibt Dracula in der modernen Welt ein Anachronismus. Er spielt geschickt die Königshäuser Europas gegeneinander aus, und als Oberbefehlshaber der deutschen Armee weiß er die technischen Errungenschaften seiner Zeit einzusetzen. Dennoch ist er in seinem Denken noch immer dem Mittelalter verhaftet, in das er geboren wurde. Die Konflikte, die er 1888 und 1914 entfesselt, wie er es seit Jahrhunderten tut, um sich zu nehmen, was er begehrt – die uneingeschränkte Macht -, entgleiten schließlich seiner Kontrolle, weil er sie nicht steuern kann. Am Ende steht Dracula vor den Scherben seiner Vision. Freilich wird ihn das nicht abhalten, es aufs Neue zu versuchen.

_Eine fremde und doch vertraute Vergangenheit_

Mit erstaunlicher Sicherheit weiß Autor Newman die reale Geschichte des späten 19. und 20. Jahrhunderts mit seiner erfundenen Historie zu verquicken. Bei ihm wirkt es völlig logisch, dass Jack the Ripper ein irrer Vampir-Schlächter ist, dass die Schüsse auf Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo 1914 den Weltkrieg auslösten, weil seine serbischen Untertanen es nicht ertrugen, von einem Untoten regiert zu werden, oder dass Roms „la dolce vita“ erst durch vampirische Präsenz erst richtig dekadent wirkt.

Vor den drei großzügig, aber auch im Detail vortrefflich ausgemalten Hintergründen müssen Newmans Plots fast notgedrungen ein wenig verblassen. In „Anno Dracula“ ist es der Zauber des Neuen, der den Leser über die faktische Dünnblütigkeit der Geschichte täuscht und tröstet. Man bewundert den immensen Einfallsreichtum, den Newman besonders in der ersten Hälfte aufbringt. Hier zehrt der Verfasser von einer früheren Novelle („Red Reign“, erschienen 1991), deren Erzähldichte er nicht über die gesamte Romandistanz retten kann. Das Finale von „Anno Dracula“ ist primär blutig, aber es kann das Übergewicht des überragenden Auftakts nicht austarieren.

Ähnlich ergeht es dem „Roten Baron“, zumal dieser Roman das bekannte Muster nur variiert – dies freilich erneut mit einer überschäumendem Ideenflut. Newman greift hier ungleich tiefer in die Historie ein. In die komplexe Weltgeschichte am Vorabend und nach Beginn des I. Weltkriegs, die er meisterhaft als Folge Draculascher Ränken umdeutet, baut er die eigene, in „Anno Dracula“ geschaffene Vorgeschichte ein. Lose Enden liebt Newman nicht; was im ersten Band ungeklärt blieb, greift er garantiert wieder auf und beschränkt sich dabei längst nicht nur auf die große Zahl der bereits eingeführten Figuren. Selbst kleine Nebenrollen können wieder auftauchen oder finden zumindest Erwähnung.

Der „Fliegende Zirkus“ des Barons von Richthofen und seine Verwandlung in wahre Dämonen der Lüfte ist zweifellos ein enttäuschend ’normaler‘ Einfall, wie man ihn in jedem x-beliebigen Horror-Roman finden könnte. Aber gleichzeitig besticht „Der rote Baron“ durch die sorgfältige, beinahe dokumentarische Schilderung des Kriegsalltags einer- und des (Luft-)Kampfes gegen den berüchtigten von Richthofen andererseits, der sich zwar als blutdürstige, gleichzeitig aber tragische Gestalt entpuppt, die um die Aussichtslosigkeit ihres Tuns weiß.

„Dracula-Cha-Cha“ ist auf den ersten Blick eine heitere Variante des Dracula-Motivs. Dracula ist allerdings wesentlich undurchschaubarer geworden. Die daraus resultierende Unsicherheit überträgt sich auch auf den Leser, denn noch stärker als in den beiden Vorgängerbänden limitiert Newman das persönliche Auftreten Draculas. Stets spricht man über ihn, der quasi die unsichtbare Hauptfigur darstellt, aber in persona trifft man ihn erst im Finale, und auch dort macht er sich rar. Nichts ist demaskierender als stetige Präsenz, während eine imaginierte Gefahr die Realität meist übertrifft.

Einerseits bedient sich Newman abermals einer bekannten Plotstruktur: Ein Vampirmörder geht um. Andererseits ist „Dracula-Cha-Cha“ noch ‚realitätsferner‘ und abgehobener als die beiden Vorgängerbände. „Dracula-Cha-Cha“ spielt nicht in einem Rom, das Teil einer von Vampire bevölkerten Welt ist, sondern in einem Rom, das Federico Fellini 1960 für sein filmisches Meisterwerk „La Dolce Vita“ (dt. „Das süße Leben“) erschuf und das so nie existierte.

Newman arbeitet die Grundstimmung des Film-Vorbilds – das er mehrfach ’szenengleich‘ übernimmt (und dabei parodiert) – heraus. Sie eignet sich verblüffend gut als Hintergrund einer mit Mord und Blut nie geizenden Vampir-Story. Dracula passt in das überdrehte Umfeld einer Haute-Volée Welt, die trotz ihres Rock-’n‘-Roll-Gehabes näher am Abgrund steht denn je: Nicht umsonst mischt Newman Fellinis süßes Leben mit Mario Bavas – oder wegen der in die Handlung eingeführten „Mutter der Tränen“ wohl besser Dario Argentos – optisch extravaganten Grausamkeiten des italienischen Giallos und erwähnt darüber hinaus die reale Bedrohung der Wasserstoffbombe, in deren Schatten die Furcht vor einem Dracula lächerlich erscheint.

_Figurenpersonal aus Realität und Fiktion_

Die „Anno Dracula“-Serie gewinnt einen ganz besonderen Reiz aus der Tatsache, dass Autor Newman nicht nur Personen der Zeitgeschichte auftreten lässt, sondern wie selbstverständlich Charaktere zum Leben erweckt, die völlig fiktiv sind und den Werken anderer Schriftsteller entnommen wurden. So kann es geschehen, dass in einem Feldlazarett des I. Weltkriegs H. G. Wells‘ Dr. Moreau neben H. P. Lovecrafts Herbert West, dem „Wiedererwecker“, am Operationstisch steht, Jules Vernes Ingenieur Robur seine Kampf-Luftschiffe über Paris schweben lässt oder Norbert Jacques‘ Dr. Mabuse das deutsche Kriegspresseamt leitet. Aber auch Personen, die tatsächlich gelebt haben, sieht man in Newmans alternativen Welten in völlig neuen Rollen; so begegnet der untote, im Exil lebende Schriftsteller Edgar Allan Poe in den Sälen des Prager Gerichts dem Schreiber Franz Kafka, bevor er im Auftrag Dr. Mabuses nach Frankreich reist, um dort eine Biographie des Flieger-Helden Manfred von Richthofen zu verfassen, dessen Burschen Fritz Haarmann und Peter Kürten heißen … (In „Dracula-Cha-Cha“ schreibt Poe Drehbücher für Roms „Cinecittà“.)

Solche an sich absurden Paarungen präsentiert Newman in rascher Folge, und er konstruiert sie so geschickt, dass man ihrer niemals überdrüssig wird. Auf die Spitze treibt er es zweifellos in „Dracula-Cha-Cha“; 1959 kommen sechs Jahrzehnte Film zur Trivialliteratur. Sie schufen einen reichen Fundus ‚moderner‘ Spukgestalten, aus dem sich Newman zusätzlich bedienen kann und skrupellos bedient. Zu den Vampiren, die bisher die hauptsächlichen wenn nicht sogar einzigen Geschöpfe der Nacht darstellten, gesellen sich nun Zombies, der Golem, Frankensteins Ungeheuer, E. T. A. Hoffmanns Puppe Olympia und andere Kreaturen. Was weniger begabten Autoren zu einem Effekt-Overkill verkocht wäre, führt bei Newman zur Öffnung eines weiteren Handlungs-Levels.

„Dracula-Cha-Cha“ führt die „Anno Dracula“-Trilogie zu ihrem ebenso logischen wie würdigen Ende. (Was Newman nicht davon abhält, sporadisch an einem vierten Band mit dem Arbeitstitel „Johnny Alucard“ zu schreiben, der in den 1970er und 80er Jahren spielen soll und von dem Teilkapitel bereits veröffentlicht wurden.) Dass sie endlich vollständig in deutscher Sprache vorliegt, schließt hierzulande eine echte Lücke in der phantastischen Literatur. Die vorzügliche Übersetzung aller drei Bände vertieft das Lektürevergnügen erheblich. Mit „Die Vampire“ hat der |Heyne|-Verlag mit dem ansonsten ungeliebten Paperback-Format endlich einmal den passenden Rahmen für eine Veröffentlichung gefunden und liefert dem Freund des Genres Grusel vom Feinsten für schmales Geld!

_Der Autor_

Kim Newman wurde am 31. Juli 1959 in London geboren, verbrachte seine Jugendjahre aber in Somerset. An der University of Sussex studierte er Englische Sprach- und Literaturwissenschaft. Er verfasste Theaterstücke und schrieb fürs Kabarett, aber nach seinem Abschluss (1980) arbeitete er hauptberuflich als Journalist und Filmkritiker, wobei seine Vorliebe eindeutig der Phantastik galt.

Sein erstes Buch beschäftigte sich 1983 folgerichtig populärwissenschaftlich mit den Literaturgenres Science-Fiction und Fantasy. Weitere Sachbücher folgten, in denen sich Newman auf den Horror konzentrierte. Außerdem war und ist er oft für das Fernsehen tätig; er stellt Filme vor und ist der Autor zahlreicher TV-Dokumentationen, die sich der klassischen und modernen Phantastik sowie dem Krimi widmen.

1989 folgte mit „The Night Mayor“ (dt. „Die Nacht in dir“) ein erster Roman – ein SF-Krimi im „Noir“-Gewand der 1930er und 40er Jahre, der bereits Newmans Vorliebe demonstrierte, historische Fakten mit Fiktion zu einer ’neuen‘ bzw. alternativen Realität zu mischen. Ab 1992 bewies er mit der „Anno Dracula“-Trilogie (bis 1998) seine diesbezügliche Meisterschaft. Auch nach Abschluss dieses Dreiteilers blieb Newman der glänzend eingeführten Parallelwelt treu und schrieb u. a. eine lange Reihe von Geschichten um den „Diogenes Club“, den er als Institution den Sherlock-Holmes-Geschichten des Arthur Conan Doyle entlieh. Überhaupt ist Newman ein Autor, der einen großen Teil seiner beachtlichen Schaffenskraft in Kurzgeschichten investiert, deren erste („Dreamers“) bereits 1982 erschien.

Für seinen Lebensunterhalt schrieb Newman ebenfalls ab 1989 Routine-Horror für Trivial-Reihen wie „Warhammer“ und „Dark Future“, wofür er das Pseudonym „Jack Yeovil“ verwendete.

Über sein Leben und Werk informiert Kim Newman auf seiner inhaltlich informationsreichen und akkurat layouteten Website:
http://www.johnnyalucard.com.

_Impressum_

Originalausgabe
Originaltitel:
– [Anno Dracula 1184 (London : Simon & Schuster 1992)
– The Bloody Red Baron (New York : Carroll & Graf 1995)
– Judgement of Tears: Anno Dracula 1959 / Dracula Cha-Cha-Cha (New York : Carroll & Graf 1998)
Übersetzung: Thomas Mohr (Bd. 1 u. 2), Frank Böhmert (Bd. 3)
Deutsche Erstausgabe: März 2009 (Wilhelm Heyne Verlag/Paperback Nr. 53296)
1280 Seiten
EUR 15,00
ISBN-13: 978-3-453-53296-0
http://www.heyne.de

Kinman, Ben (McGrew, Chandler) – Todesfluch

_Das geschieht:_

Was verbindet Lucy Devereau, eine Privatdetektivin, und Dylan Barnes, Lehrer für Kampfsport, die in unterschiedlichen Kleinstädten Neuenglands ihr unauffälliges Dasein fristen? Diese Frage wird akut, als man beiden plötzlich nach dem Leben trachtet. Schon länger litten sie unter dem Gefühl, beobachtet und bedroht zu werden. Barnes, der seit dem Tod seiner über alles geliebten Gattin psychisch aus dem Gleichgewicht ist, hatte sogar den Eindruck, es würde in seinem Haus spuken.

Lucy wird entführt, kann sich aber befreien. Als sie erleben muss, dass die Polizeibeamten, die sie bewachen und schützen sollen, ebenfalls zu ihren Verfolgern gehören, ergreift sie die Flucht. Ähnliche Erfahrungen macht Barnes, dem zusätzlich die Leiche seiner Frau aus der Friedhofserde gestohlen wird. Auch er macht sich aus dem Staub.

Die Wege der Flüchtlinge kreuzen sich, als sie von Mitgliedern der uralten Geheimorganisation „Rex Deus“ gerettet werden. Diese steht wieder einmal im Kampf mit den „Qedem Melech“, die aufgrund einer anstehenden „Verdunklung“ Oberwasser wittern: Zwischen der irdischen Realität und einer fremden Dimension bildet sich ein Portal, hinter dem die „Ewigen“ – mächtige, böse Wesenheiten – auf ihre Chance lauern, die Erde zu erobern.

Die meisten Menschen verschwinden spurlos. Es gibt keine elektrische Energie mehr. Blutrünstige Ungeheuer wandeln über die Erde. Sie halten Ausschau nach Lucy Devereau und Dylan Barnes, denn diese beiden Menschen sind die Einzigen, die dem Durchbruch der „Ewigen“ Einhalt gebieten könnten. Nur der „Burgfried“, die Basis der Rex-Deus-Bewegung, würde ihnen Schutz bieten, doch bis dorthin steht ihnen ein weiter, an bösen Zwischenfällen reicher Fußmarsch bevor …

_Die Welt geht unter – oder auch nicht_

Mystery und Munkel sind in der heutigen Unterhaltungsliteratur leider austauschbare Begriffe geworden. Geheimnisvolle Mächte, zu gleichen Teilen gezeugt aus halb verdauter Realmythologie und moderner Populärkultur, drängen dank Dan Brown & Co. mit Macht auf diese Erde. In diesem Fall sind es die „Ewigen“, die verdächtig an H. P. Lovecrafts „Große Alte“ erinnern. Es wird nicht die einzige ‚Ähnlichkeit‘ bleiben.

Biblisches Gedankengut wird trivialisiert und dem Gemenge als Treibmittel beigefügt. Autor Kinman bedient sich vor allem der „Entrückung“, die u. a. im Neuen Testament Erwähnung findet: Wenn dereinst Jesus Christus ein zweites Mal zurückkehren wird, um den Antichristen zu besiegen, werden alle gläubigen Christen in den Himmel auffahren und die Erde menschenleer hinterlassen – mit Ausnahme jener schwarzseeligen Pechvögel natürlich, die den moralischen Maßstäben des HERRN nicht genügen können und zurückbleiben müssen, bis der Teufel sie endgültig holen kommt.

Vor allem die christliche Fundamentalisten-Fraktion, die jedes Bibelwort buchstäblich nimmt, wartet sehnsüchtig auf diesen Moment. Ben Kinman bleibt vorsichtshalber vage, wenn er die Attacke der „Ewigen“ und die „Entrückung“ zur „Verdunklung“ verquirlt. Er lässt die direkte Wiederkehr Gottes weg und tut gut daran, weil dies den Rahmen seiner nicht gerade genial ausgetüftelten und erzählten Geschichte zweifelsohne sprengen würde. Von Gott wird viel (zu viel) geredet, aber dieses Weltende findet ohne ihn statt. „Todesfluch“ ist zwar reich an Andeutungen, die eine simple Invasionsstory emotional zum apokalyptischen Weltuntergangs-Spektakel aufladen sollen, doch Kinman fabriziert stattdessen nur einschlägige Klischees und hohle Melodramatik.

Auf die große vatikanische Verschwörung mag er dagegen nicht verzichten: Der Papst weiß von den Umtrieben der „Ewigen“, glaubt aber nicht an die Realität der Bedrohung, die sie verkörpern. Er weigert sich deshalb nicht nur, entsprechende Maßnahmen einzuleiten, sondern schickt Kirchenmännern, die dies ignorieren und die Welt warnen wollen, seine Schlägertruppen auf den Hals …

_Der Weg ist das Ziel_

Falls Ben Kinman von Ambitionen geplagt wurde, die über den Willen zur bloßen Unterhaltung hinausgehen, sollte ihm der Leser dies lieber stillschweigend vergeben sowie schnell vergessen. „Todesfluch“ besitzt keine dramatische Dimension, ist weder vom Geist noch vom Ungeist des Dan Brown berührt und kann nicht einmal als Kopie einer Stephen-King-Aventiure durchgehen. (Wie der große Meister des modernen Horrors stammt auch Ben Kinman – der eigentlich Chandler McGrew heißt – aus dem US-Staat Maine, der ihm gern als Hintergrund für seine Geschichten dient.) „Todesfluch“ erinnert (zumindest von fern) an King-Epen wie „The Stand – Das letzte Gefecht“ oder an die Serie vom Dunklen Turm.

In der Umsetzung orientiert sich Kinman allerdings weniger an King als an Dean Koontz, der die Verfolgungsjagd nicht nur zur Kunst, sondern zum Inhalt seiner ziegelsteindicken Romane erhoben hat. Es wird gerannt, geflüchtet & gekämpft, bis die Schwarte buchstäblich kracht. Erklärungen bleiben bis zum Finale aufgeschoben. In der Regel taugen sie als Auflösung wenig, sodass es gut ist, wenn sie so lange wie möglich ausbleiben.

Also werden Lucy und Dylan, unsere beiden Heilande wider Willen, mit dem Hinweis auf Flucht und Eile immer wieder vertröstet, wenn sie – verständlicherweise – endlich wissen wollen, wie ihnen geschieht. Unterdessen stapft man im klerikalen Swat-Team tage- und wochenlang gen Burgfried und findet trotzdem keine Gelegenheit, einige klärende Worte zu sprechen … Logik ist halt kein Faktor, der dem Mystery-Genre behagt. Deshalb frage man u. a. lieber nicht:

– wer sich den genialen ‚Plan‘ ausgedacht hat, die „Ewigen“ durch zwei Erlösergestalten in Schach zu halten, die von ihrem Job keinerlei Ahnung haben.

– wie es die „Ewigen“ von jenseits des Dimensionstors schaffen, charakterschwache Zeitgenossen in Reptil-Monster zu verwandeln, die den „Rex Deus“-Gruppen hinterherschlurfen (ohne sie jemals richtig zu erwischen, weil die „Rhothag“ aus dramaturgischen Gründen kein Tageslicht ertragen und auch sonst in entscheidenden Momenten schwächeln).

– warum die „Ewigen“ ausgerechnet auf die Erde so scharf sind, obwohl ihnen der Aufenthalt dort gar nicht behagen dürfte.

_Wer gar nichts weiß, kann umso größere Wunder wirken_

Der typische Erlöser ist nicht nur in der christlichen Religion gern ein ‚ganz normaler‘ Mensch, der sich von seiner Mission überfordert fühlt. Lucy und Dylan – immerhin Privatdetektivin und Kampfsportler, was ihr permanentes Entwischen etwas realistischer erscheinen lässt – ringen kapitellang mit ihren Selbstzweifeln. Zwischen ihnen und ihren „Rex Deus“-Gefährten werden pathetische Allgemeinplätze und Binsenweisheiten gewechselt, bis es Zeit für einen neuen Angriff der Rhothag ist, die der Leser herbeizusehnen beginnt, da sie dem sich endlos im Kreis drehenden Geschwätz wenigstens kurzfristig ein Ende bereiten.

Für Lucy und Dylan ist der Weg zur Erkenntnis nicht nur lang, sondern mit der üblichen Weigerung verbunden, das ihnen auferlegte Schicksal zu übernehmen. Das mündet gern in der tränenreich vorgebrachten Forderung, man wolle doch nichts als ’normal‘ sein. Für die daraus resultierenden Klagen und Zweifel muss Kinman nur einschlägige Klischees abrufen und sie an die Handlung dübeln, was diese weiter in die Länge zieht.

Damit die Situation wenigstens ein bisschen brisanter wird, wird das Lager der Guten zusätzlich geschwächt, indem die „Rex-Deus“-Bewegung in zwei konkurrierende Lager zerfällt. Das führt zu weiteren fruchtlosen Diskussionen, die erneut viele Seiten füllen und zu nichts führen, denn letztlich stellt sich heraus, dass es nichts mehr gibt, über das sich zu balgen lohnte: Als die finale Entscheidungsschlacht dann kommt, hört man statt des großen Knalls nur ein feuchtes Zischen. Kinman hat keine Visionen für die Endzeit, sondern verharrt auf TV-Niveau. So schließt er unfreiwillig kongenial ein Werk ab, das weder Fisch noch Fleisch und in jeder Hinsicht mittelmäßig ist.

_Der Autor_

Ben Kinman ist das Pseudonym des texanischen Schriftstellers Chandler McGrew. Der in Texas geborene und heute mit seiner Familie im neuenglischen US-Staat Maine lebende Autor veröffentlichte zwischen 2000 und 2005 fünf Mystery-Thriller, die weniger durch Originalität als durch ihre handwerkliche Glätte auffallen und recht erfolgreich wurden. In den letzten Jahren versucht sich McGrew folgerichtig als Autor im Film- und TV-Sektor.

Über sein Werk informiert der Autor auf seiner beklagenswert informationsarmen und gar nicht aktuellen Website: http://www.chandlermcgrew.com.

_Impressum_

Originaltitel: The Darkening (New York : Bantam Dell 2004)
Übersetzung: Sabine Schlilasky
Dt. Erstausgabe: April 2008 (Knaur Taschenbuchverlag/TB Nr. 63819)
457 Seiten
EUR 8,95
ISBN-13: 978-3-426-63819-4
http://www.knaur.de

Little, Bentley – Böse

_Das geschieht:_

Willis, eine Kleinstadt in Arizona, schmort unter glühender Sommersonne. Lehrer Doug Albin freut sich auf die Ferien, die er mit Gattin Trish und Sohn Billy daheim verbringen möchte. Das Leben in dem abgeschiedenen Ort ist beschaulich. Jeder kennt jeden, Nachbarn helfen einander, Geheimnisse müssen sorgfältig gehütet werden, wenn sie gewahrt bleiben sollen.

Der Schock ist deshalb groß, als sich Bob Ronda, der leutselige und allseits beliebte Postbote, mit der Schrotflinte den Kopf wegschießt. Niemand kann sich einen Reim auf diese sinnlose Tat machen, aber schon am nächsten Tag fährt sein Nachfolger die Post aus. John Smith ist sein Name, und er scheint sehr tüchtig zu sein. Doug Albin kann ihn allerdings überhaupt nicht leiden; Smith strahlt etwas Bedrohliches aus.

Zudem beginnen seltsame Vorfälle für Verwirrung und Unfrieden zu sorgen. Rechnungen und Mahnungen werden nicht mehr zugestellt, Telefon- und Stromanschlüsse gekündigt. Viele Bürger erhalten Nachrichten von Familienangehörigen und Freunden, zu denen der Kontakt seit Jahren abgebrochen war. Diese Briefe sind geschickte Fälschungen. Andere Schreiben landen absichtlich falsch in nachbarschaftlichen Briefkästen. Oft liegen Nacktfotos bei, die bekannte Bürger bloßstellen.

Doug will Smith zur Rede stellen, doch der hat geschickt dafür gesorgt, dass es keine Beweise für seine Machenschaften gibt. Einige Bewohner von Willis glauben Doug zwar, aber voller Angst verweigern sie ihm die Hilfe. Der Terror verstärkt sich, offene Gewalt bricht aus. Smith nimmt die Albins direkt ins Visier. Verzweifelt sucht Doug nach einem Ausweg. Die Zeit drängt, denn Smith, der sich immer fester im Sattel wähnt, lässt seine Maske endgültig fallen …

_Dämonischer Schuss in den Ofen_

„Böse“ ist das seltene Beispiels eines Romans, der flüssig geschrieben ist und seine Leser trotzdem irritiert und verärgert zurücklässt. Der Plot ist bewährt und hat seine Tauglichkeit schon oft unter Beweis gestellt. Die Kleinstadt, hinter deren idyllischer Kulisse sich allerlei düstere Geheimnisse verbergen, ist ein klassisches Motiv, seine Bewohner, ‚durchschnittliche‘ US-Amerikaner, bilden einen gut eingeführten Figuren-Pool. Aber irgendwie geht Bentley Little alles schief.

Der Plot: In eine kleine, von der Außenwelt bereits geografisch isolierte Gemeinde kommt John Smith, ein Dämon in Menschengestalt. Er schlüpft in die Rolle des Postboten und damit in eine Position, die es ihm möglich macht, sich mit privatem und beruflichem Hintergrundwissen zu versorgen, das er benötigt, um die Menschen besagter Gemeinde gegeneinander aufzuhetzen. Wie man so etwas richtig macht, hätte Smith vielleicht vorher bei seinem Dämonenkollegen Leland Gaunt erfragen sollen, der 1991 das neuenglische Städtchen Castle Rock heimsuchte. „Needful Things – In einer kleinen Stadt“ wurde allerdings von Stephen King verfasst, der offensichtlich in einer ganz anderen Liga schreibt als Little. Der ‚borgt‘ sich nicht nur den Plot, sondern auch Kings Kleinstadt-Ambiente, vermag aber aus beidem wenig zu machen.

_Horror im Dorf der Holzköpfe_

Was hat Postbote Smith den guten Menschen von Willis nur ins Wasser getan? Wie sonst ließe sich deren kollektive Irrationalität erklären? So fern von Gut und Böse kann selbst die Bürgerschaft eines Provinznestes in Arizona nicht sein, dass sie sich von einem einzigen Schurken – Dämon hin, Dämon her – aus den Angeln heben ließe! Schon bald weiß nicht nur Lehrer Albin, dass Smith ein Betrüger ist. Es geschieht – nichts! Seine Nachbarn werfen ihm auf der Suche nach Unterstützung wie dem einsamen Sheriff aus „12 Uhr mittags“ die Haustüren ins Gesicht. Die örtliche Polizei ignoriert ihn. Wieso? Vermutlich vor allem deshalb, weil der gute Doug sich so umständlich ausdrückt, dass kein Polizist versteht, was er eigentlich sagen will.

Little will uns außerdem glauben machen, dass der böse Postmann nicht nur die Bürger von Willis, sondern auch die US-Postbehörde, das Elektrizitätswerk oder die Telefongesellschaft wie Marionetten an seinen Fäden tanzen lassen kann. Das ist schwer genug zu glauben, ohne dass Little es uns so plump schildert. Selbst in der modernen Servicewüste würde es einem Unternehmen auffallen, wollte eine ganze Stadt plötzlich auf seine Dienste verzichten.

In Willis bricht ob der falschen Briefe erst Unruhe und dann der Bürgerkrieg aus. Alle wissen, wer hinter der Hetze steckt. Statt sich zusammenzutun, um Smith auf die Postbude zu rücken, verkriechen sich seine Opfer in ihren Häusern und streiten sich munter weiter. Mit seinem Brett vor dem Kopf rennt jede/r rat- und sinnlos umher. Den moralischen Verfall der Menschen von Willis symbolisiert der Autor so: „Sein Haar hatte er anders gekämmt als sonst. Er hatte es in der Mitte gescheitelt, und das ließ ihn älter und härter aussehen.“ Gemeint ist Lane, Billy Albins Freund, der zwölf Jahre ‚alt‘ ist. Manipulation muss wesentlich subtiler inszeniert werden, wenn sie überzeugen und nicht zum Lachen reizen soll, Mr. Little!

_Im Grunde bekommen sie, was sie verdienen_

Erregt das Schicksal der Bürger von Willis beim Leser Mitleid? Ein deutliches NEIN ist die Antwort. Sogar seine Hauptfiguren, die Angehörigen der Lehrerfamilie Albin, denken und handeln so blöd, dass die Schweine sie beißen, wie man in Westfalen zu sagen pflegt. Wie Stephen King wollte Little typische Durchschnittsamerikaner als Sympathiefiguren zu literarischem Leben erwecken. Das ist augenscheinlich schwieriger, als es scheint. Wenn dabei nur Trottel und Langweiler entstehen, gibt es erst recht ein Problem.

Little scheinen seine Figuren selbst wenig zu interessieren. Sie werden aufwändig eingeführt, um nicht selten irgendwann spurlos aus der Handlung zu verschwinden. Da ist zum Beispiel Stockley, der Verleger der örtlichen Zeitung, mit dem Doug Albin seinen Verdacht gegen Smith diskutiert. Einige Seiten später lesen wir, dass Stockley bewaffnet in der Bank von Willis Amok gelaufen ist, ein Dutzend Menschen erschossen und Selbstmord begangen hat. Wie kam es dazu, zumal er laut Little eindeutig wusste, dass Smith nur Lügen verbreitet? Andere Figuren enden ebenso irrational; Little schert sich nicht um die daraus resultierende Unlogik. Lieber inszeniert er drastische Schockeffekte und lässt unter anderem die alte Irene in einer Badewanne sterben, in deren Wasser die Fragmente ihres zerstückelten Gatten treiben …

_Ein Teufel für dämliche Zeitgenossen_

Ein Horror-Roman wie „Böse“ steht und fällt mit der Qualität des Bösewichts. Den muss man hier einen Totalausfall nennen. Ein Postbote ist beim besten Willen keine Schreckensgestalt, auch wenn ihn Little laut im nächtlichen Wald tanzen und singen lässt – das soll wohl dämonische Fremdartigkeit suggerieren; der Leser denkt indes unwillkürlich an Rumpelstilzchen. („Ach wie gut, dass niemand weiß …“)

Weil selbst Little nicht entging, wie untauglich John Smith als Buhmann ist, pflanzt er seinen Figuren eine heilige Todesangst ein: Sie müssen den Postboten nur sehen, dann fährt sie ihnen tief ins Mark. Behaupteter Schrecken ist freilich wie feuchtes Schießpulver: Er zündet nicht. Der Leser bleibt ratlos mit seiner Frage, wie Smith solches Grauen verbreiten kann. Weil er der trutschigen Trish Albin feuchte Träume beschert? (Später schneidet er immerhin den Dorfhunden in Serie die Köpfe ab …)

Das Ende des dämonischen Postboten wird zum traurigen Höhepunkt dieser missglückten Horrormär. Aus heiterem Himmel gelingt Albin, womit er bisher scheiterte: Die Bürger von Willis stellen sich auf seine Seite und bilden eine gemeinsame Front. Wären sie früher auf diese naheliegende Idee gekommen, hätten sich diverse Morde, Selbstmorde, Haustiermorde und andere Ungeheuerlichkeiten gar nicht erst ereignet. Damit wäre dieser Roman überflüssig geworden; nichtsdestotrotz gibt ihn, und weil er nun auch die deutschen Leser erzürnen kann, muss man wohl annehmen, dass John Smith zu schlechter Letzt doch triumphiert …

_Zwei Anmerkungen zur deutschen Ausgabe_

– „Böse“ erschien im US-Original nicht wie im Buchimpressum angegeben 2003, sondern bereits 1991; der Roman ist also schon ein wenig angejahrt, was den Lesern/Käufern offensichtlich vorenthalten werden soll. Das Alter lässt sich gut an der völligen Abwesenheit der heute allgegenwärtigen Handys erkennen; im 21. Jahrhundert wäre John Smith schon aufgrund der modernen Kommunikationstechnik mit seinem Postboten-Coup schmählich gescheitert …

– „Kein Buch für schwache Nerven – und dabei bin ich wahrlich kein ängstlicher Zeitgenosse“: Stephen King soll diese lobenden Worte geäußert haben, die prompt und werbewirksam auf dem Cover auftauchen. Verkauft King solche hohlen Elogen en gros? Schämt er sich nicht, seinen Namen herzugeben, mit dem Humpel-Horror wie „Böse“ angepriesen werden kann? (Offensichtlich nicht.)

_Der Autor_

Der studierte Sprach- und Literaturwissenschaftler Bentley Little (geb. 1960 im US-Staat Arizona) veröffentlicht seit 1990 Geschichten und Romane, die recht kompromisslos dem Horror-Genre zuzuordnen sind: Das Übernatürliche wird nicht rational entschlüsselt, sondern als real vorausgesetzt.

Als Autor ist Little kein Feingeist. Er arbeitet ausgiebig mit blutigen Morde, sexuellen Perversionen und anderen vordergründigen Effekten. Gern lässt er solche Schrecken auf eine scheinbar heile Welt niederprasseln, um diese dann anschaulich in Stücke zu reißen. Als Vorbilder nennt Little Dean Koontz und Stephen King, wobei der Mann aus Maine sich schon früh für den jungen Kollegen einsetzte. Dass Little für seinen Roman „The Revelation“ 1990 einen „Bram Stoker Award“ für das beste phantastische Erstlingswerk erhielt, verdankt er auch Kings Fürsprache.

Mit seiner Familie lebt und arbeitet Bentley Little in Fullerton, Kalifornien. Über seine Aktivitäten informiert diese Website: http://bentleylittle.homestead.com

_Impressum_

Originaltitel: The Mailman (New York : Signet 1991)
Übersetzung: Rolf Tatje
Deutsche Erstausgabe: April 2009 (Bastei-Lübbe-Verlag/TB Nr. 15986)
414 Seiten
EUR 8,95
ISBN-13: 978-3-404-15986-4
http://www.bastei-luebbe.de