Christopher Priest – Die stille Frau. Zukunftsroman

Nach Tschernobyl: Big Brother lässt grüßen

Christopher Priest hat sich mit einfallsreichen, stilistisch gekonnten Romanen über die Natur der Wirklichkeit („Der schöne Schein“, „Der weiße Raum“) einen guten Namen gemacht. Im vorliegenden Buch fährt er allerdings auf dem nach der Tschernobyl-Katastrophe modischen Zug der Warnung vor Computern, Atomtechnologie und dem Großen Bruder mit.

Dies ist die Geschichte von Alice Stockton, einer Schriftstellerin, die in dieser verseuchten Gegend lebt. Sie hat nicht das Geld, um wegzuziehen, zumal ihr eben fertiggestelltes Buch vom Innenministerium aus unerfindlichen Gründen beschlagnahmt wurde. Als eine Nachbarin von ihr, eine Kinderbuchautorin, die aktiv im Umweltschutz tätig war, brutal ermordet wird, ohne dass ein Motiv ersichtlich wäre, fühlt sie sich noch mehr verunsichert. Und das merkwürdige Verhalten des Sohns der Ermordeten gibt ihr Rätsel auf. Sie hat keine Ahnung, dass sie unversehens ins Netz der Computerüberwachung geraten ist.

Der Autor

Christopher McKenzie Priest (geboren am 14. Juli 1943 in Cheadle, Cheshire, heute in Greater Manchester; gestorben am 2. Februar 2024 in Rothesay, Isle of Bute) war ein britischer Science-Fiction-Autor.

1943 in Cheshire/England geboren, veröffentlichte Christopher Priest 1966 seine erste Erzählung „The Run“ in dem Science Fiction-Magazin „Impulse“. In der Folge publizierte er verstärkt in „New Worlds“, jenem Magazin, das unter Michael Moorcock zum Bannerträger einer „neuen Art Science Fiction“, der sogenannten „New Wave“, werden sollte. Priest jedoch sieht nicht als Teil der New Wave, sondern als eigenständiger Autor.

1970 erschien sein erster Roman „Indoctrinaire“, der schon in der Szene aufhorchen ließ. Mit dem klassischen Katastrophenroman „Fugue for a Darkening Island“ (1972; „Die schwarze Explosion“) und dem Hard-SF-Roman „The Inverted World“ (1974, dt. als „Der steile Horizont“ bei Heyne) schrieb sich Priest in die erste Reihe der britischen Genre-Autoren.

Die zwei nächsten Romane waren eher Rückgriffe auf Bewährtes: „The Space Machine“ (1976, „Sir Williams Maschine“) lehnte sich an H.G. Wells‘ Klassiker „The Time Machine“ an. Und „A Dream of Wessex“ (1977; „Ein Traum von Wessex“, 1979) basiert auf der Idee der totalen Simulation einer Welt, die Daniel F. Galouye in „Simulacron-3“ (verfilmt als „The thirteenth Floor“ und als „Welt am Draht“) entwickelt hatte.

Hintergrund zum „Traumarchipel“

Die imaginierte Welt des „Traumarchipels“ erschuf Priest in seinem radikalen Roman „The Affirmation“ (1981; „Der weiße Raum“, 1984). Ein depressiver junger Mann zieht sich in ein einsames Landhaus zurück, um in einem Zimmer, das er den „weißen Raum“ nennt, seine fiktive Autobiografie zu schreiben. Aus London wird darin die Stadt Jethra, und die Welt besteht aus einem Archipel von Inseln, ähnlich wie Ursula Le Guins Welt „Erdsee“.

((Peter Sinclair zieht in der Hauptstadt Jethra ein Lotterielos und es ist der Hauptgewinn: ewiges Leben. Es gibt nur einen Haken dabei: Der Preis bedingt den totalen Gedächtnisverlust. Die Menschen im Archipel, die Schatten seiner realen Bekannten sind, versuchen Peter sein Gedächtnis, seine Identität wiederzugeben. Wechselte Peter zunächst ständig zwischen Real- und Traumwelt, so beginnen die beiden Ebenen schließlich in Peters Wahrnehmung miteinander zu verschmelzen: aus Vernunft und Kreativität wird Wahnsinn. Bemühte er sich anfangs noch um die Wahrheit des absoluten Erkennens, so wird daraus nun ein beliebiges Spiel des Selbstbetrugs. Dazu gehört, dass er das Schreiben des Manuskripts braucht, um seine Existenz und Identität zu affirmieren, zu bestätigen und zu bekräftigen (vgl. O-Titel). Aufgrund seines totalen Realitätsverlustes bieten sich aber einem objektiven Betrachter des Manuskripts nur ein Haufen leere Seiten dar. Der Text bricht mitten im Satz ab.))

Das klingt nicht wie ein gutes Omen für den hier initiierten Traumarchipel-Zyklus. Doch das Gegenteil ist der Fall. Denn das Konzept der imaginierten Realität ist ja in jedem erzählenden Buch, jeder fiktionalen geschichte enthalten. Lediglich der Schauplatz ist bei Priest der gleiche: der Traumarchipel. Nur dass dieser Ähnlichkeiten zur realen Welt des 20. Jahrhunderts aufweist und so Kommentare liefert, die sich deuten und kritisieren lassen.

Für diese Erzählhaltung hat Priest den Ausdruck „Visionärer Realismus“ geprägt: „visionär“ insofern, als er radikale Ideen, die unausführbar sind, vorbringt, und realistisch, weil er sich der Erzähltechniken der Science Fiction bediene. Diese Erzählhaltung sei sowohl resümierend, was die bisherigen Werke der Science Fiction anbelange (BEschreibend), als auch VERschreibend, insofern als es alle Einengungen des Genres durch Begriffe ablehne und vielmehr einbeziehend wirken wolle. (Diese Definition legt Priest in seiner „Verlorenen Rede eines Sohns“ (1984) dar, die in der deutschen Luchterhand-Ausgabe von „Traumarchipel“ angedruckt ist.

Die bisherigen Teile des Zyklus:

The Affirmation (1981; Der weiße Raum)
The Glamour (1984; Der schöne Schein)
The Dream Archipelago (Originalausgabe „Der Traumarchipel“, 1987 bei Luchterhand); Einzelgeschichten siehe unten.

Erzählungen, die laut Autor zum Zyklus zählen:

– Die Verneinung (The negation, 1979)
– Ein endloser Sommer (An infinite summer, in „Zielzeit“, 1985)
– Der Beobachtete (1985, in „Venice 2“)
– Die Feuerbestattung (The cremation, 1978)
– Der wundervolle Steinhügel (The miraculous cairn, 1986, dt. Erstveröffentlichung in „Der Traumarchipel“)

Erzählungen in „Der Traumarchipel“

– Die Verneinung (The negation, 1979)
– Die Feuerbestattung (The cremation, 1978)
– Der wundervolle Steinhügel (The miraculous cairn, 1986, dt. Erstveröffentlichung)

Herausgeber Michael Nagula liefert in seinem Essay „Von den Inseln im Hier und Heute – Die literarischen Welten des Christopher Priest“ eine kritische Darstellung der Werke des Autors bis zum Jahr 1984. Dabei greift er auf Fachliteratur, Rezensionen und eigene Recherchen zurück, so dass ein rundes Bild entsteht, das Priest und seine Werke in einen weiten Kontext stellt.

Inzwischen hat Priest weitere Romane und Erzählungen veröffentlicht:

– Die stille Frau (The quiet woman, 1990)
– Das Kabinett des Magiers (The prestige, 1995)
– Die Amok-Schleife (The Extremes, 1998)
• Existenz (1999, basiert auf dem David Cronenberg Film eXistenZ, als John Luther Novak)
o Deutsch: EXistenZ. Übersetzt von Almuth Heuner. Ullstein TB #24746, 1999, ISBN 3-548-24746-6.
• The Separation. (2002)
• The Adjacent. (2013)
• An American Story. (2018)
• Expect Me Tomorrow. (2022)
• Airside. (2023)

Handlung

In der atomaren Wiederaufbereitungsanlage von La Hague hat es einen ernsten Störfall gegeben. Die nahen Kanalinseln sind evakuiert worden, aber an eine Umsiedlung der Bewohner Südenglands ist nicht zu denken. Die Behörden verharmlosen den Fall, wie gehabt, und lassen die Menschen im Unklaren über den Grad der radioaktiven Verseuchung, blockieren die Berichterstattung der Medien mit allen Mitteln.

Alice Stockton ist eine Schriftstellerin, die in der verseuchten Gegend lebt. Ihr fehlt das Geld, um wegzuziehen, zumal ihr eben fertiggestelltes Buch vom Innenministerium aus unerfindlichen Gründen beschlagnahmt wurde. Als ihre Nachbarin, eine Kinderbuchautorin, die aktiv in einer Umweltschutzorganisation tätig war, brutal ermordet wird, ohne dass ein Motiv ersichtlich wäre, fühlt sich Alice noch mehr verunsichert. Und das merkwürdige Verhalten des Sohns der Ermordeten gibt ihr Rätsel auf. Sie hat keine Ahnung, dass sie unversehens ins Netz der Computerüberwachung geraten ist.

Wer den Datenschutz für eine hysterische Überreaktion von Anhängern der Grünen hält oder von Leuten, die etwas zu verbergen haben, der sollte sich von diesem Roman eines Besseren belehren lassen. Die Schnüffelei kann zur perversen Obsession werden, und die moderne Computertechnik gibt elektronischen Voyeuren unglaubliche Macht.

Mein Eindruck

Priest hat, wieder einmal, ein ruhiges melancholisch anmutendes Buch geschrieben, das vor Paranoia nur so trieft, wenn man es zehn Jahre später nochmals liest. Aber nur weil sich die Öffentlichkeit heute weniger Gedanken macht als damals, nach Chernobyl und Harrisburg, heißt das noch nicht, dass die Bedrohung geringer geworden wäre. Und bei jedem Transport von Castor-behältern durch Deutschland zeigt sich, wie groß die Angst vor der Bedrohung ist, die von Atomtechnik ausgehen kann. Von den Möglichkeiten, Überwachungstechnik zu missbrauchen, ganz zu schweigen. So gesehen, ist „Die stille Frau“ ein beachtenswertes Stück Social Fiction, aber ich fand ihn wenig aufregend. „Die Amok-Schleife“ war da schon ein ganz anderes Kaliber (es geht um Terrorismus).

Taschenbuch: 329 Seiten
O-Titel: The quiet woman, 1990;
aus dem US-Englischen übertragen von Biggy Winter;
ISBN-13: 9783453050198

www.heyne.de

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