James Tiptree Jr. – Zu einem Preis. Sämtliche Erzählungen Band 4

Einfallsreiche Lösungen für das Problem der Überbevölkerung

Die in diesem Band versammelten Erzählungen sind zwischen 1976 und 1985 entstanden. Dieser Band umfasst Tiptrees Veröffentlichungen, nachdem Ende 1976 erdbebenartig die Neuigkeit die SF-Gemeinde durchdrungen hatte, dass es sich beim diesem „Kerl“ um eine ältere Dame mit weißen Federlöckchen handelte.

In „Die Screwfly Solution“ beschreibt die Autorin ein apokalyptisches Szenario: in den Nachrichten häufen sich die Meldungen über massenhaft auftretende Morde an Frauen. Zunächst nur in bestimmten Regionen, später weltweit. Der Wissenschaftler Alan versucht, der Sache auf den Grund zu gehen und macht dabei eine fürchterliche Entdeckung.

In „Zu einem Preis“ überquert ein junges Pärchen den Atlantik im Heißluftballon. Das gemeinsame Abenteuer geht schief, sie stürzen ins Meer und werden von einem Hospiz-Schiff geborgen. Doch an Bord des Schiffes ist etwas faul, und das Abenteuer geht für die beiden erst richtig los. (angepasste Verlagsinfo)

Ein weiterer bedeutender Beitrag ist die Novelle „Coda“ alias „Slow Music“, eine große Novelle, die auch in der Anthologie „Grenzflächen“ aus dem Jahr 1980 (dt. bei Heyne 1985) von Ursula K. Le Guin und Virginia Kidd veröffentlicht wurde, was quasi einem Ritterschlag der Autorin gleichkam.

Die Autorin

Alice Hastings Bradley Sheldon alias James Tiptree jr. alias Raccoona Sheldon wurde 1915 in Chicago geboren. Ihre Mutter war eine Reiseschriftstellerin, ihr Vater Anwalt. Sie lebte in ihrer Jugend in Afrika und Indien, aber anscheinend war sie lange Jahre für die Regierung, die CIA (bis 1955) und das Pentagon tätig. Im Jahr 1967 machte sie ihren Doktor in Psychologie. Obwohl sie bereits 1946 ihre erste Story veröffentlicht hatte, machte sie die Schriftstellerei erst 1967 zu ihrem Hobby, und nach ihrer Pensionierung schrieb sie weiter bis zu ihrem Tod 1987. Sie beging Selbstmord, nachdem sie ihren todkranken Gatten erschossen hatte.

Obwohl sie einige Romane schrieb, wird man sich an sie immer wegen ihrer vielen außergewöhnlichen Erzählungen erinnern. Ihre besten frühen Stories sind im Heyne-Verlag unter dem Titel „10.000 Lichtjahre von Zuhaus“ (1973) und „Warme Welten und andere“ (1975) erschienen. Unvergesslich ist mir zum Beispiel die Story „Liebe ist der Plan, der Plan ist Tod“, die den Nebula Award 1973 errang. Weitere Geschichten sind in „Sternenlieder eines alten Primaten“, „Aus dem Überall“ und schließlich „Die Sternenkrone“ gesammelt. Ihr Roman „Die Feuerschneise“ (Up the walls of the world, 1978, dt. bei Heyne) erhielt ebenfalls hohes Lob.

Die Erzählungen

1) Der Teilzeitengel (Time-Sharing Angel, 1976, VÖ 1977)

Die 19-jährige Jolyone Schram liebt die Natur und arbeitet in Los Angeles beim Rundfunksender. Dieser Sender ist neu, liegt auf einem hohen Berg und verfügt über die stärkste Sendeleistung der Stadt. Wahrscheinlich deshalb kann es an diesem zu dem ungewöhnlichen Ereignis kommen.

Erst hat Jolyone, die in einer Zahnfüllung einen Sender empfängt, eine schreckliche Vision: Die Erdoberfläche wird unter Massen von Menschen begraben. Als ein SF-Autor im Sender die finstere Zukunft der Menschheit ausmalt, hält Jolyone gerade ein Stromkabel in der Hand. Erschüttert fleht sie zu Gott, er möge all dies aufhalten. Eine unbekannte Stimme antwortet ihr auf ihrem gefüllten Zahn, dass das in Ordnung gehe.

Schon bald machen sich die ersten Anzeichen des Wirkens des Engels bemerkbar. Von jeder Familie, und sei sie noch so groß und verbreitet, bleibt nur das jüngste Kind bei Bewusstsein, alle anderen fallen in Tiefschlaf. Weltweite Panik! Doch nach ein paar Tagen verbreitet sich die Kunde von einem wieder erwachten Kind irgendwo in West-Virginia.

Ein Mathegenie berechnet die Arithmetik: Wenn Mrs. McEvoy 26 Kinder hat, kann jedes davon nur etwa 14 Tage im Jahr wach sein (weil zweimal 26 genau 52 Wochen = 1 Jahr ergibt). Wer zwei Kinder hat, der kann sich an sechs Monaten Wachsein der Kinder erfreuen und so weiter. Dieser Effekt hat eine verblüffende Folge: Da nur das Wachsein als Lebenszeit zählt, können die Schläfer bis zu 3000 Jahre alt werden.

Die Welt verändert sich beträchtlich, das Wachstum kommt zu einem knirschenden Halt, Wirtschaften brechen fast zusammen, doch die Ressourcen bleiben erhalten. Die Ich-Erzählerin trifft eines Tages Jolyone im Park, und diese erzählt ihr alles. Endlich darf sich Jolyone auf die Zukunft freuen.

Mein Eindruck

Die Autorin Alice Sheldon hat die Erde schon viele Male untergehen lassen. Hier gewährt sie ihr wenigstens eine Gnadenfrist, eine Art Nothalt. Die Geschichte mit den Schläfern erinnert an die Romane von Nancy Kress, in denen eine Schläfer-Generation dem alten homo sapiens Konkurrenz macht. Allerdings handelt es sich um Leute, die keinen Schlaf benötigen, also pro Tag acht Stunden mehr zur Verfügung haben. Auch daraus ergeben sich diverse Folgen.

2) Die Screwfly Solution (The Screwfly Solution, 1976, VÖ 1977)

Alan ist ein US-amerikanischer Insektenexperte, der in Kolumbien eine Lösung gegen die Rohrfliegenplage gefunden hat: genetische Ausrottung. Also eine sanfte, ökologisch korrekte Methode. Zufrieden mit sich ruft er seine Frau Anne an, die in Ann Arbor im Bundesstaat Michigan mit ihrer gemeinsamen Tochter Amy lebt. Sie schreibt ihm häufig und fügt zudem Zeitungsausschnitte bei, die ihr Alans Doktorvater Barnhard „Barney“ Braithwaite geschickt hat.

Während zu Hause alles in Ordnung zu scheint und Anne ihm mehrfach ihre Liebe versichert, machen Alan Barneys Botschaften besorgt. Zwischen dem 30. und dem 60. Breitengrad scheint eine Seuche umzugehen, die Männer in den Wahnsinn treibt: Sie bringen alle Frauen um, derer sie habhaft werden können. Angehörige einer neuen Sekte in den USA nennen sich „Söhne Adams“ und wollen die Erde von den Frauen „reinigen“, um so eine bessere, gottgefällige Zukunft herbeizuführen. Gott werde schon für eine alternative Methode der Fortpflanzung sorgen.

Barney hat keine Erklärung dafür, aber andere Gelehrte schon. Es scheint, dass dort, wo die entsprechenden Winde wehen, der aggressive Jagdtrieb des Mannes geweckt und durch keine Gegenkraft gestoppt werde. Die Aggression treffe auch andere Männer. Eine Nachricht über Frauenleichen, die in Schleppnetzen vor Cap Hatteras und im Golf von Mexiko eingefangen wurden, wird von Alan zunächst gar nicht verstanden. Er sorgt sich lediglich um Anne und Amy.

Er muss in Miami umsteigen. Auf dem Flughafen bemerkt sein geschultes Auge, wie sich die Frauen zu schützenden Gruppen zusammendrängen. Die Fluglinie diskriminiert Frauen bereits – eine Vorsichtsmaßnahme? Als Alan das Klappmesser in seiner Hand bemerkt, erschrickt er. Es hat ihn erwischt! Er warnt Anne, die ihm kaum ein Wort glaubt, sie und Amy sollten sich von ihm fernhalten. Er werde sich in die psychologische Behandlung Barneys begeben.

Doch in der Heimat kommt alles ganz anders. Schon wenige Tage später sieht sich Anne in der Wildnis zwischen Michigan- und Huron-See in einem Sumpf gestrandet. Sie weiß, dass sie den Winter in dieser Gegend nicht überleben wird. Als sie ihre letzten Notizen schreibt, bemerkt sie einen leuchtenden Engel, der Bodenproben entnimmt…

Mein Eindruck

Die leuchtenden Aliens haben offenbar eine Endlösung für das Problem der Erdlinge gefunden: Diese lassen sich, wie Gold- und Rohrfliegen, leicht durch biochemische Manipulation so beeinflussen, dass die Männchen die Weibchen ausrotten. Nach kurzer Zeit ist der Planet menschenfrei und lässt sich als Immobilie lukrativ verkaufen. Der erste Makler, der sich unbekümmert Anne gezeigt hat, entnimmt bereits Proben, um die Qualität des Bodens zu prüfen…

Zahlreiche dokumentarische Texte aus Zeitungen und Traktaten untermauern den Realismus der Erzählung, ebenso die Briefe und Tagebuchnotizen von Anne und Amy. Nur Alans eigenes Erleben wird subjektiv von einem personalen Erzähler wiedergegeben, um auch die menschliche Dimension beizusteuern. So wird der Leser zunehmend beunruhigt und erschüttert, als Alan unerwartet das gezückte Klappmesser in seiner Hand entdeckt. Es hat ihn erwischt! Kann er seine Familie vor sich selbst schützen? Das darf hier nicht verraten werden.

3) Coda (Slow Music, 1977, VÖ 1980)

Jakko kommt aus den nunmehr leeren Städten an die Küste. Seit der FLUSS von den Sternen, ein Energiestrom, die Menschen verführt, entmaterialisiert und ihre Körper und Geister hinfortgerissen hat, ist die Erde zwar lebendig, aber menschenleer. Er birgt ein Segelboot und lässt sich nolens volens auf seinen vorprogrammierten Kurs mitnehmen.

In einer Meerenge scheitert sein Boot, und Jakko strandet just vor einer alten Station, die wohl mal den Küstenverkehr kontrollierte. Hier lebt Pfirsichdiebin, eine dunkelhäutige junge Frau, inmitten einer improvisierten Farm. Was sie sich am meisten wünscht, sind Kinder, und so lautet eine ihrer ersten Fragen, ob er sie wohl schwängern könnte, bitteschön. Jakko ist etwas überrumpelt, der er will eigentlich zurück zu seiner Familie, die sich dem FLUSS anheimgegeben hat.

Die Pillen, die Pfirsichdieb ihm heimlich und offiziell verabreicht, steigern seinen Sexualtrieb, dass ihn die Lust überkommt – und er sich danach für den Akt schämt und entschuldigt. Obwohl sie genau dies geplant hat, muss sie einsehen, dass es so nicht geht. Er weigert sich, weitere Lustpillen zu nehmen. Indem sie einwilligt, mit ihm zum Endpunkt des FLUSSES zu reisen, hofft, ihn an sich binden zu können.

Sie bestehen gefährliche Abenteuer auf der Reise durch ein menschenleeres Land und gelangen zu einem Flughafen, wo sie ein selbstgesteuertes Luftschiff besteigen können. Sie nehmen eine alte gebrechliche Frau mit, die an Herzflimmern leidet. Ihre Argumente für und wider die Ehe, den FLUSS und die Zukunft bewegen Jakko und Pfirsichdieb, so dass entschlossen sind, nach ihrer Landung ein gemeinsames Heim für ihre Kinder zu gründen.

Doch es soll anders kommen…

Mein Eindruck

Kleine Hinweise führen den Leser zu den großen Vorbildern für diese Erzählung. Von William Blake (1757-1827) nahm sich die Autorin Alice Sheldon das einflussreiche Werk „The Marriage of Heaven and Hell“ als Inpirationsquelle, um die zwei gegensätzlichen Charaktere der Pfirsichdiebin, die anfangs ganz irdisch-körperlich-weiblich ist, und Jakko, der ganz anfangs ganz vernünftig-ausgeglichen-männlich, aber zuweilen auch sehr wütend ist, zusammenzuführen und zu der titelgebenden Vermählung zu führen.

Sie sind vor dem Finale eine Leben hervorbringende Einheit, eine Ehe, geworden, bereit, weiteres Leben hervorzubringen. Doch gerade dann, als sich Jakko von seinem bereits vergeistigten Vater getrennt hat und nun mit Pfirsichdieb zurück nach Hause reisen will, begeht sie einen verhängnisvollen Fehler. Beide geraten in den FLUSS von den Sternen und werden zu Geistern entstofflicht. Das ist die ironische Wendung und Antwort auf Pfirsichdiebs Bemühen um ein Nest: Diese Erde bietet keine Nestwärme mehr, denn es gibt keine Mitmenschen mehr. Die gibt es nur noch im FLUSS.

Die andere Inspirationsquelle war wohl der irische Dichter William Butler Yeats, der die Unabhängigkeit Irlands von der britische Kolonialmacht forderte und förderte, indem er das keltische Erbe Irlands gegen die Kulturmacht Englands setzte. Die alte Frau (in der man problemlos die Autorin selbst erkennen kann) kritisiert Yeats, lobt aber Blake. Sie spielt die Rolle des Outsiders und Kritikers, dessen Kommentar einen katalytischen Effekt auf das Paar hat.

„Slow Music“ ist eine wunderschöne, heitere Adam-und-Eva-Geschichte, nur eben nicht am Anfang der Welt, sondern an ihrem Ende. Hier stimmt Alice Sheldon ein wehmütiges Klagelied auf die letzten Menschen an, ein Lied mit einem so schönen, traurigen Schlussakkord, dass man sich ein paar Tränen verdrücken möchte.

4) Wer den Traum stiehlt (We who stole the DREAM, 1977, VÖ 1978)

Der große Tag der Flucht ist gekommen. Die von den Terranern wie Sklaven gehaltenen Joilani überfallen am Raumflughafen die wichtigsten Infrastrukturgebäude, töten die Kommandierenden, nehmen Piloten unter Einsatz ihres Lebens gefangen und kapern den terranischen Frachter „N’s Traum“ – die anderen Buchstaben sind schon unleserlich geworden.

Jivadh übernimmt den Start und die Navigation der „Traum“, hört nicht auf die Einwände und befehle der gefangenen Piloten und steuert das Schiff in die erste Umlaufbahn um die Welt, auf denen die Joilani im Exil gelebt hatten. Jivadhs Ziel ist die Heimatwelt der Joilani, deren heilige Koordinaten er nun in den Nav-Computer eingibt. Gerade als das erste Patrouillenschiff der Terraner damit droht, die „Traum“ abzuschießen, stellt er den Hebel um, der den Sprung in den Tau-Raum einleitet. Nur durch eine rare Konstellation von Massen wird sein Schiff nicht in seine Einzelteile zerfetzt.

Nach langer Zeit erreicht das Flüchtlingsschiff endlich die Zielregion. Das Schiff springt zurück in den Normalraum und wenig später erscheint ein Kriegsschiff, das ein Enterkommando an Bord schickt. Die Befehlshaber ist erstaunt, Joilani vorzufinden, die nicht aus seinem Heimatsystem kommen, sondern Terranern entkommen sind. Er will alles über die terranischen Aliens wissen, während seine Medizinerin anfängt, die „Traum“ zu desinfizieren und die Insassen zu impfen.

Auf der Heimatwelt des Kommandanten bringt ein „Landschiff“ die Ältesten zu einem Gebäude, wo eine Kommission der Gastgeber sie bewirtet und willkommen heißt. Als die Ältesten zurückgekehrt sind, berichtet ihr Sprecher, dass die Flüchtlinge ein Stück Land auf einer ihnen zugewiesenen Welt bekommen können. Doch der inzwischen alt gewordene Jivadh – 3000 Lichtperioden sind auf dem Flug vergangen – knurrt zornig, dass der Sprecher ein wichtiges Detail verschweige: Die hiesigen Joilani haben die gleichen Laster angenommen wie die Terraner. Sie sind vom wahren Glauben abgefallen…

Mein Eindruck

Eine engagierte Geschichte voll bitterer Ironie. Da geben die Sklaven ihr Leben, um entkommen zu kommen zu können, wie weiland die Israeliten aus Ägypten oder Babylonien. Doch was sie in der Heimat vorfinden, ist kein Grund zu freudigem Wiedersehen, denn dort hat bereits der Niedergang der Religion eingesetzt. Die „Israeliten“ sind inzwischen ein Anachronismus, der den Herrschenden einen peinlichen Spiegel vor Augen hält – und der darum schleunigst verborgen werden muss.

5) Ein Quell unschuldiger Freude (A Source of Innocent Merriment, 11978, VÖ 1980)

Eine Reporterin der Gal(actic) News hat vom Erlebnis eines Raumerkunders gehört, das etwas ungewöhnlich gewesen sein soll. Als sie Hal’s Kneipe betritt und den Raumerkunder am Tresen entdeckt, gibt sie sich vorsichtshalber lieber als Historikerin aus. Es dauert eine Weile, bis der Scout unter dem Einfluss von Hal’s freundlichem Alkohol auftaut, aber dann legt er los. Die Reporterin notiert fleißig mit.

Er erkundete als einen dieser zwei Planeten eines neuen Sternensystems und einer davon befand sich in der lebensfreundlichen Zone, wies aber nur Protoleben auf: auf der einen Hälfte Ozean, auf der anderen nur Land. Das Proto-Leben fand er im Ozean, und dieser begann, als er Bilder machte, Dinge auszuformen, die aussahen wie kleine Lebewesen.

Der Scout hatte nur noch Sauerstoff für eine, mit knapper Not sogar zwei Umrundungen. Aber was er dabei entdeckte, haute ihn um. In der nächsten Umrundung merkte er, wie sich dort unten Dinge formten, die er kannte. Sie waren seinen Erinnerungen entnommen, so etwa seine Familie, seine Heimat usw. Die zweite und letzte Umrundung offenbarte ihm, wonach er sich als Mann am meisten sehnte: eine nackte, liebevolle und verständnisvolle Frau. Sie war wunderschön. Doch als er Abschied nehmen musste und glücklicherweise der Autopilot die Steuerung übernahm, glaubte er, einen bedauernden Blick des Lebewohls in den Augen dieser wunderbaren Frau zu erkennen. Und um diesen Blick nie wieder sehen zu müssen, will er nie wieder auf Raumerkundung gehen.

Mein Eindruck

Einen Anflug von Liebe, wenn auch unerfüllt, gewähren die Sterne, und dieses Thema soll in den folgenden beiden Novellen „Aus dem Überall“ und „Mit zarten irren Händen“ noch stärker zum Ausdruck kommen.

6) Zu einem Preis (Excursion Fare, 1980, VÖ 1981)

Dag und Philippa suchen frisch vermählt das Abenteuer und benutzen für ihre Atlantiküberquerung nicht den Dampfer, sondern einen Heißluftballon. Er trägt den verheißungsvollen Namen „Skywalker“. (Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!). Das Vehikel trägt sie hoch hinauf in die Stratosphäre, nur um dann umso tiefer zu stürzen. Vier tage verbringen sie in dem Schlauchboot, in das sich der Korb verwandelt hat. Gerade noch im ruhigen Augen eines Sturm, finden sie sich im nächsten Moment zwischen Wellenbergen, dem Untergang nahe. Sie haben bereits aufgegeben, als ein Rettungsboot sie und ihr Schlauchboot aufgabelt.

Das Pärchen erwacht an Bord der „Charon“, eines recht speziellen Hospizschiffes. Sein früherer Name lautete „United States“ und war einmal ein sehr schnelles Schiff, was Luxusdampfer anbelangt. Mittlerweile schippert es unter dem Kommando von Kapitän Ulrik über das Meer, mit unbekanntem Kurs. Denn wie Dag und Phil bald herausfinden, hat vor allem das medizinische Personal die Herrschaft über die Passagiere. Diese sind, so scheint es, allesamt todkrank. Von den Kinder bis zu den Greisen haben alle irgendeine todbringende Krankheit. Dag und Phils Ankunft sorgt für Begeisterung, und sie müssen erzählen, was ihnen wiederfahren ist.

Nur der Sinn und Zweck dieses Schiffes und seiner vielen Schwesterschiffe will Dag und Phil nicht einleuchten. Das Unternehmen „Sterbehilfe“ oder was auch immer kann finanziell nicht genug abwerfen, um auch nur eine einzige Fahrt profitabel sein zu lassen, merkt ein alter Buchhalter an, und der weiß offenbar Bescheid. Was also genau erwartet das verliebte, etwas bange Pärchen wirklich an Bord dieses Kahns mit dem vielsagenden Namen?

Mein Eindruck (SPOILER!)

Immer wieder mal findet sich in der Sensationspresse ein Bericht, wonach ein Erdenbürger von einem UFO entführt worden sei, an dessen Bord man mit ihm oder ihr grässliche Experimente angestellt habe. Nach seiner Rückkehr ist besagter Erdenbürger natürlich nur noch begrenzt zurechnungsfähig.

In dieser Geschichte führen die Aliens ebenfalls „grässliche Experimente“ an Erdenbürgern durch, aber ihn gehört der gesamte Dampfer und die Crew spielt mit. Wie schlimm können die Experimente also schon sein, fragt sich der Leser. Sogar der sprichwörtliche „verrückte Wissenschaftler“ tritt auf – ebenfalls ein Alien. Seine Opfer sind die Passagiere des Dampfers, der als Hospizschiff getarnt ist, und da alle sterbenskrank sind, trauert ihnen keiner nach. Dr. T will herausfinden, an welchem Zyklus die Bewohner zuerst zugrunde gehen werden.

Bis jetzt. Denn jetzt gibt es ein quicklebendiges, junges und vor allem fortpflanzungsfähiges Pärchen Erdlinge an Bord. Philippa kennt sich als Neurologin mit schrägen Gedankengängen aus, und Dag erweist sich wieder mal als Verkaufsgenie: Er verkauft ihrer beider Leben – um einen Preis. Worin dieser besteht, darf hier nicht verraten werden.

Die Autorin stellt einige SF-Klischees auf den Kopf, so etwa die Sache mit der Entführung per UFO. Die Aliens sind schon längst da. Den Todgeweihten gewinnt die Erzählerin einige tragische Aspekte ab, insbesondere den Kindern. Und dass Phil und Dag alle Sympathiepunkte verdienen, die man vergeben kann, versteht sich bei diesem einfallsreichen, couragierten Liebespaar von selbst. Die Autorin erlebte selbst zwei Ehen, wovon die zweite tragisch endete (s.o.). Das erlaubt es ihr, sehr realistische und humorvolle Dialoge zu schreiben.

Offene Fragen

Eine Ungereimtheit ergab sich bei der Lektüre. Erst erzählt der Buchhalter, es gab schon mehrere solche Hospizschiffe, doch Dr. T, der Alien, sagt, er habe bisher nur diesen Kahn hier umbauen lassen. Und was ein Brompton Cocktail ist, wird nirgendwo verraten. „ein Cocktail aus Alkohol, Morphin und Kokain, der normalerweise zur Analgesie bei Krebspatienten im Endstadium verwendet wird“, also ziemlich heftiges Zeug. Bemerkenswert, dass sich eine 65-jährige Frau schon mit solchem Wissen befasst.

7) Aus dem Überall (Out of the Everywhere, 1980, VÖ 1981)

Enggi ist ein junges, substanzloses Alien, das aus seiner heimatlichen Sternenwolke ausgerissen ist. Zwei Artgenossen aus seiner Grex (von lat. „grex“ = Herde, Schar, Rudel usw.) suchen nach ihm un stoßen auf die Spur eines Räubers, der wie Stechfliegen seine Opfer – womöglich Enggi – von innen heraus auffrisst und sich dort vermehrt. Folglich ist dies für die beiden Artgenossen keine Rettungs-, sondern eine Tötungsmission.

Klein-Enggi gerät durch einen Teilchenstrom in den Einzugsbereich eines bestimmten Sol-Systems im äußersten Spiralarm dieser Galaxie und droht, in das Zentralgestirn zu stürzen. Mit knapper Not entgeht er diesem traurigen Schicksal, indem er seine Partikel an den dritten Planeten bindet, doch der Absturz in den kalten Polarregionen ist unvermeidlich. Um die Flugbahn zu verlängern, wirft Enggi substanzlose Teile seiner selbst ab, bevor er aufschlägt und unter ewigem Eis verschwindet.

Drei seiner Teile werden von menschlichen Körpern empfangen: von dem Ingenieur Paul Martell, seiner schwangeren Frau und von seiner Chefsekretärin Gloria Emstead. Als seine Frau kurz darauf ein Mädchen zur Welt bringt und noch im Kindbett stirbt, hasst Paul das kleine, grässliche Ding und lässt es von anderen Frauen aufziehen.

So kommt es, dass er seine Tochter Paula erst nach sechs Jahren wieder zu Gesicht bekommt. Er hat gehört, wie es bei seinen häufigen nächtlichen Wanderungen von seiner Kinderschwester, Miss Trond aus Deutschland, geschlagen worden ist. Der Handabdruck ist auf der Gesichtshaut deutlich zu sehen, als er sich über das kleine Mädchen beugt, das im Schnee liegt. Unwillkürlich beschließt er, ihr zu helfen und wirft Miss Trond hinaus.

Paula wächst in seinem Junggesellenheim auf, denn Paul Marell hat keine Ahnung davon, was kleine Mädchen brauchen und wie sie zu sein haben. Schule? Möglicherweise. Manieren? Unbedingt. Freundinnen? Blödsinn. Und deshalb gewährt er Paula, die ihrem Alter geistig weit voraus ist, unbegrenzten Zugang zu seiner Bibliothek. Vor allem will sie alles über Astronomie wissen und wünscht sich zum Geburtstag ein richtiges Teleskop. Wenige Monate später hat sie sich eine Elektronikwerkstatt und ein Fotolabor eingerichtet. Ein Firmenhelikopter bringt sie zur nächstgelegenen Schule und holt sie wieder ab. Der Pilot berichtet Marell, Paula kenne die Bauteile und deren Funktionsweise der Flugmaschine bald besser als er selbst. Hm.

Mrs. Emstead weist darauf hin, dass junge Menschen ab und zu auch mal an die frische Luft müssen. Sie schlägt Ausflüge in die Berge und ins ewige Eis vor. Gesagt, getan, und bald ist Paula in der Lage, mit einer Elefantenflinte umzugehen und mit Daddy in den Höhlen eines kanadischen Gletschers herumzukraxeln. Sie lernt, andere Menschen genau zu beobachten und gibt Daddy zu Bewerbern Ratschläge. Schließlich ist jedem, der sein Leben in Marell Technologies investiert hat, dass sie die Firmenleitung übernehmen wird. Nach ihrem zehnten Geburtstag weiht Miss Emstead sie in die Firmengeheimnisse ein. Dieses Duo bildet zusammen mit Paul Marell eine ideale Konstellation. Keiner ahnt, dass sie Enggis Erbe in sich tragen.

Eine Krise ergibt sich, als Paula ihren Daddy verführt und dies später einem Angehörigen der Konkurrenz, Nicky Benson, gegenüber andeutet. Den nachfolgenden Skandal und Gerichtsprozess überlebt das Unternehmen nur um Haaresbreite. Sie haben etwas wiedergutzumachen. Als Kalifornien unter einer Dürre zu leiden beginnt, kommt in Paula zu diesem Wunsch noch ein zweiter hinzu: Etwas im Norden ruft sie – ein Eisberg könnte Kalifornien Wasser spenden und die Dürre lindern.

Der einzige, von Paula, Paul und Mrs. Emstead für geeignet befundene Eisberg ist gewaltig und in seinem Kratersee liegt ein Geheimnis verborgen. Doch als eine kleine Flottille diese „USS Martell Tech“ gen Süden nach L.A. zu schleppen versucht, folgt ihnen hartnäckig ein kleinerer, etwas düsterer Eisberg…

Mein Eindruck

Auch hier liegt die Bestimmung der Menschen nach Erfüllung in den Sternen bzw. in dem Alien, das die Sterne ihnen gesandt haben: Enggi. Natürlich bringt die Suche nach Erfüllung das Leben der betroffenen, unvollständigen Menschen gehörig durcheinander. Ein Wunderkind wie Paula sorgt für öffentliche Erregung, doch ironischerweise gibt die Öffentlichkeit ihrem Vater die ganze Schuld. Der Ingenieur und Mathematiker ist mit solchen Anwürfen völlig überfordert, bewegt er sich doch auf einer viel höheren Ebene als die menschlichen Furien, die ihn kreuzigen wollen.

Doch wie viele Geschichten von Alice Sheldon geht auch diese gut aus: für die Menschen, ihre Umgebung (Wasser für L.A.!) und für den jungen Enggi. Der wird mal wieder für seinen Übermut gescholten – immer noch besser, als ihn töten zu müssen. Dass er etwas über andere Wesen gelernt hat, kann er seinen Aufpassern leider nicht vermitteln. Auch das ist das Schicksal vieler Kinder.

8) Mit zarten irren Händen (With Delicate Mad Hands, 1980, VÖ 1981)

Carol Page ist mit einer deformierten Nase geboren worden, so dass sie in der Schule „Schweineschnauze“ genannt wird. Aber ist im Stadtstaat der US-Regierung gut ausgebildet worden und von einem Ehrgeiz erfüllt, der sie ins Raumfahrtprogramm bringt. Sie will Fernerkunderin werden, andere Welten entdecken. Sie hat einen stummen Ruf erhalten: „Komm!“ Leider gibt es da ein gewaltiges Hindernis: Männer.

So muss sie erst durch eine harte Schule gehen, aber es erweist sich wider Erwarten, dass ihre Anwesenheit und sexuelle Benutzung an Bord für viel weniger Aggressivität und dadurch verursachte Verletzungen und Todesfälle sorgt. Dadurch darf sie endlich an Bord der „Calgary“, eines großen Raumers, der das Uranus-System erforscht. Vier Scout-Schiffe sind schon geschickt worden, doch das fünfte von Pilot Don Lamb ist noch an Bord, weil Don eine Hüfte gebrochen hat.

Noch jemand lässt Carol nicht an Bord dieses Scoutschiffes: Captain Meich. Um sie zu demütigen, demoliert er erst die Kontrollen des Scoutschiffes und vergewaltigt anschließend Carol. Sein größtes Vergehen: Er entdeckt ihr privates Notizbuch und die darin enthaltenen Gedichte; er will es sofort vernichten, doch das kann Carol vereiteln. Glücklicherweise ist Carol nicht nur in Medizin, sondern auch im Putzen und Kochen ausgebildet. In das Essen, das sie als vermeintlich kuschendes Weibchen serviert, hat sie nun eine Spezialmischung gemixt, die erst den Piloten Don Lamb tötet und anschließend Captain Meich außer Gefecht setzt.

Während Carol die Luftschleuse öffnet, um die Luft entweichen zu lassen, erwacht Captain Meich wieder und greift sie von hinten an, indem er ihr die Luftschläuche an ihrem Schutzanzug abreißt. Doch er hat nicht mit Carols Entschlossenheit gerechnet. In ihrer Panik entwickelt sie schier überfrauliche Kräfte. Der Captain und sein Pilot landen im Vakuum des Weltraums.

Nachdem sie die Todesfälle an das Hauptquartier als Mord und Selbstmord gemeldet hat, setzt sie ihren Flug fort, um ihren zweiten, noch geheimeren Wunschtraum in die Tat umzusetzen Sie hat noch Sauerstoff für 140 Tage. Schließlich stößt sie wie erhofft auf die Aliens…

Mein Eindruck

Danach folgen noch über 50 Seiten. Man sieht also, dass die oben geschilderten Ereignisse nur das Vorspiel für die eigentliche Handlung bilden. Carol muss noch ihre Bestimmung finden und den Ursprung jener Stimme finden, die ihr immerzu zurief: „Komm!“ Die Welt, die sie findet, ist zwar wunderschön und fast erdähnlich, aber leider stark radioaktiv. Die intelligenten Lebewesen, die sie in ihrem abgestürzten Raumschiff besuchen, sind Astronomen, Aliens und schließlich der Sternenrufer.

Endlich findet sie in ihm den Ursprung der Liebe, die sie hinausgezogen hat in den Raum. Der Kontakt erfolgt telepathisch, und „er“ hat auch Telekinese drauf. Doch alle Liebe will Ewigkeit und tiefste Nähe, um mit dem geliebten Anderen verschmelzen zu können. Der reale Umarmung bringt den Tod, aber das nimmt Carol in Kauf. Nach ihrem Tod ergibt sich die ironische Situation, dass sich ihr Liebster als eine Sie entpuppt. Auf dieser Welt können die Wesen ihr Geschlecht wählen (wie auf Le Guins Planet Gethen). In menschlichen Begriffen ist das also eine lesbische Liebe. Das ist alles andere als eine Überraschung. Die Anandria-Bewegung des 18. Jahrhunderts wäre begeistert gewesen.

Hinweis

Der O-Titel bezieht sich auf das Gedicht „To One in Bedlam“ von Ernest Dowson. Das Gedicht, das von einer Insassin der Londoner Irrenanstalt Bedlam erzählt, wird auf den Seiten 359 und 360 fast komplett von Carol zitiert. Genau diese Seite hatte Cpt. Meich aus ihrem geheimen Tagebuch gerissen. Sie zitiert es also auswendig, was auf die große Bedeutung hindeutet, die es für diese Figur hat.

9) Von Fleisch und Moral (Morality Meat, 1984, VÖ 1985)

Es ist noch Winter, als der LKW-Fahrer Hagen auf eisglatter Fahrbahn einen schweren Unfall erleidet. Die Ladung besten Steakfleisches, die für den exklusiven Bohemia Club in den Bergen bestimmt war, landet im Flussbett unter der vereisten Brücke. Hagen kann sich in Sicherheit bringen, bevor der Tank explodiert.

Am gleichen Morgen tritt das afroamerikanische Mädchen Maylene einen schweren Gang an: Die 16-Jährige muss ihr Baby, das sie bei einer Gruppenvergewaltigung empfangen hatte, zur Adoption freigeben. Die Adoptionsstelle befindet sich jedoch in einem rein weißen Viertel der Stadt, und nur weiße Krankenschwestern arbeiten hier. Betrieben wird diese „Babyklappe“ von einer Organisation, die Abtreibungen ablehnt und sich um die Vermittlung von Babys an Adoptionseltern kümmert. Zumindest offiziell. Ein Komitee der Organisation, die das Abtreibungsverbot endlich landesweit durchgesetzt hat, untersucht diese Adoptionsstelle und stößt auf vereinzelte Ungereimtheiten, aber Schwester Tilley hat für alles eine Erklärung.

Maylene will draußen unauffällig warten, bis sie sieht, dass ihr Baby von netten Leuten abgeholt wird. Aber nur weiße Elternpaare, mit einer kleinen Krippe unterm Arm, kommt aus der Station, mit einem schneeweißen Baby. Eine Schicksalsgenossin namens Neola, die auch wartet, denkt sich nichts dabei, dass die Station mit der Fleischfabrik nebenan durch ein Rohr verbunden ist. Sie weiß auch nicht, dass LKW-Fahrer Hagen hier seine Fracht abzuholen pflegt.

Das ahnt auch die Reporterin nicht, die den Adoptiveltern ihres Babys unauffällig folgen will. Während sie wartet, erzählt sie Maylene und Neola von ihrem eigenen Schicksal: Sie wurde das Opfer ihres Lebensgefährten, der sie mit einem absichtlich perforierten Kondom „rein zufällig“ schwängerte. Als die Adoptiveltern davonfahren, wirft sie die Mädchen raus. An der Station begegnen sie einer Frau fortgeschrittenen Alters, die ihr behindertes Baby wegen der Gesetzesänderung nicht abtreiben durfte und es hier in die Station geben musste.

Trucker Hagen traut seinen Augen nicht, als die zwei Männer, die ihm in einem Sportwagen gefolgt sind, jede Hilfe verweigern. Wissen sie denn nicht, dass der Tank gleich explodieren wird? Aber nachdem sie erschlagen haben, wissen sie das ganz genau und wissen das auch auszunützen: Sie beseitigen alle Beweise und Unterlagen, die auf den Bohemia Club hinweisen könnten. Als die Polizei endlich eintrifft, sind sie bereits über alle Berge…

Mein Eindruck

Die Autorin überlässt es dem – wohl absichtlich weiblichen*** – Leser, alle Indizien zusammenzutragen und die niederschmetternde Erkenntnis zu erlangen, dass überflüssige Babys in einen exklusiven Klub der reichen Weißen transportiert werden. Wenn etwas schiefgeht, werden alle Beweise beseitigt, inklusive des Fahrers. Davon ahnen die Mütter nichts. Nach dem Verbot der Abtreibung werden derart viele Babys geboren und die unerwünschten an der Babyklappe der Station mehr oder weniger freiwillig abgegeben.

Schwester Tilley und ihre Ärzte hat für den „Überschuss“ eine Endlösung gefunden. Sie weiß die Urheber dieses Überflusses, das Komitee gegen Abtreibung mit Täuschung und Fake News abzuspeisen. Die weißen Adoptiveltern wünschen sich „arische“ Babys: blond und blauäugig. Der Rassismus der Weißen tritt deutlich hervor. Und die Frauenfeindlichkeit des neuen Gesetzes ebenso. Die Autorin führt beides bis zur letzten Konsequenz. Ich musste sofort an den BEATLES-Song „Piggies“ denken. In dem geht es ebenfalls um Kannibalismus.

***: Die Story erschien in einer Anthologie des Verlags „Women’s Press“.

10) Hölle, wo ist dein Sieg? (All This And Heaven Too, 1985)

Es waren einmal zwei Reiche namens Ecologia-Bella und Pluvia-Acida (Saurer Regen). Sie waren aber durch ein hohes Gebirge voneinander getrennt, was besonders für Ecologia von Vorteil war: Hier sorgte das wohlwollende Königspaar dafür, dass alle zufrieden waren, alle Dinge sich in Harmonie entwickelten und dass vor allem die Umwelt intakt blieb. Die Dinge, die das Land exportiert, sind vor allem in Pluvia-Acida gefragt, wo sich niemand Gedanken über die Umwelt macht, alle fröhlich Verbrennermotoren und Atomkraftwerke nutzen und das Land von den Reichsten regiert wird.

Nun begibt es aber, dass Prinzessin Amorettas Eltern bei einem tragischen Bootsunglück ums Leben kommen und sie auf den Platz als Thronfolgerin aufrückt, denn ihr Bruder ist noch zu jung. Mit 15 Jahren kann sie theoretisch schon heiraten und für Nachkommen sorgen, findet sie. In der Tat halten bereits Jünglinge aus aller Herren Ländern um ihre Hand an, doch am ehesten schlägt ihr Herz für den Prinzen Adolesco aus dem Herrscherhaus von Pluvia-Acida. Er sieht nicht nur gut aus, sondern kann sich als schwärmerischer Idealist für die absonderlichen Ideen erwärmen, die in Ecologia bestimmend sind. Die Pluvianer reiben sich bereits die Hände, um sich das Land der Ökofreaks zu krallen. Denn selbstverständlich fiele Ecologia am Tag der Hochzeit an das Land des Bräutigams.

Der Kronrat hat nichts gegen diese Verbindung – ab dem 16. Lebensjahr der Prinzessin. Also in einem Jahr. Bis dahin haben Amoretta und Adolesco Zeit, einander und das Land kennenzulernen. Die Prinzessin reift unter der Anleitung des Kronrats heran, und einen Monat vor der Hochzeit an ihrem Geburtstag erkennt sie den Sinn hinter einem verwickelten Plan, der Ecologia vor der Übernahme durch das schmutzige Pluvia bewahren soll. Dabei spielt eine Doppelgängerin ebenso eine Rolle wie Ampullen mit zweierlei Gift…

Mein Eindruck (SPOILER!)

Wie schon bei „Romeo und Julia“ sollen zwei gegensätzliche Häuser überlistet werden, damit die Liebe zu ihrem Recht kommen. Allerdings ist unsere Julia etwas anders gepolt: Amoretta ordnet ihr persönliches Glück dem ihres Landes unter. Sie lässt sich auf den listigen Plan des Kronrates ein, der einem Staatsstreich der CIA – sagen wir mal: in Persien oder Chile – in nichts nachsteht. In der Nacht vor der Hochzeit spielt sie ihre eigene Doppelgängerin, genießt die Liebesnacht mit ihrem Lover in vollen Zügen – und macht einen sanften Abgang, indem sie Gift nimmt. Was dem Bräutigam alles an Wundersamem widerfährt, darf hier nicht verraten werden; nur so viel: Ecologia wird gerettet und die Pluvianer müssen unverrichteter Dinge heimkehren.

Als Märchen funktioniert die Geschichte wunderbar und ist sehr amüsant. Feminismus triumphiert ebenso wie Ökologie: Wer schon immer mal eine Erzbischöfin ihres Amtes waten sehen wollte, hier wird das entsprechende Schauspiel geboten. Ecologia Bella ist eine Öko-Utopia, die auch weibliche Belange berücksichtigt, deshalb treten viele weibliche Akteure auf, so etwa Lady Verdant – die Lady Grün.

Alle Namen sind sprechend und bezeichnen unverhohlen die entsprechende Figur. Als Beispiel diene etwa Adolescos Vater Puerco Volante, also fliegendes Schwein. Auch die Beschreibung von Pluvio-Acida ist völlig überzeichnet, so dass kein Leser auf die verrückte Idee verfallen könnte, eine Nuklearindustrie wie diese könne jemals existieren… Denn diese Geschichte ist nicht nur ein Märchen, sondern ein mittelalterliches „Morality Play“, wie eine Moritat. Wer sie wörtlich nimmt, ist selber schuld.

Anhang: Nur die Unterschrift ist nicht echt (Everything But the Signature Is Me, 1978)

Als Alice Sheldons Mutter Ende 1976 starb, erschien eine Todesanzeige mit einem Nachruf. In diesem wurde angegeben, was viele Fans von „Tiptree“ schon vermutet hatten: Sie hatte eine Tochter mit Namen Alice Sheldon. Jeff Smith, der Herausgeber des Fanzines „Khatru“, hatte dies schon öffentlich vermutet und wurde nun von Fans mit Anfragen bombardiert: ist Tiptree, der liebe „Onkel Tip“ also doch Alice Sheldon? Er schrieb an die Autorin, um zu fragen, was er sagen sollte, und sie antwortete ihm ein Jahr lang mit einem freimütigen Briefwechsel. Dessen Inhalt ist hier zusammengefasst.

Mein Eindruck

Die Autorin erzählt nicht nur ihr Leben und ihre aktuellen Lebensumstände in einem Häuschen mitten im Wald, sondern auch, wie es dazu kam, dass sie „James Tiptree jr.“ wurde, einem der aufregendsten SF-Autoren, die je das SF-Genre und seine Männerdomäne stürmten. Mit einem feinen Sinn für Ironie schildert sie beispielsweise, wie sie das erste Mal in Kontakt mit Pulp Fiction kam, also jenen gruseligen, sexy Groschenheften: ausgerechnet durch einen sehr ehrenwerten Herrn aus Bostons Oberschicht, einen ihrer vielen Onkel. Oh, die Lust an Lovecraft ist nicht zu beschreiben! Das Groschenheft war ihm auf den Boden gefallen, und natürlich musste er sich etwas einfallen lassen, um dessen Besitz zu rechtfertigen: Es ist natürlich, äh, für das Kind.“ Und dieses Kind war die kleine Alice.

Nun, es ist bekannt, dass „James Tiptree Jr.“ Ein kurzes, aber recht glückliches Leben führte. Aber eine männliche Stimme zu haben, genügte der Autorin irgendwie nicht: Sie erfand ab 1977 die unscheinbare, aber unbestreitbar weibliche “Raccoona Sheldon“. Das war für manche Geschichte hilfreich, reichte aber nicht, um auf einer SF Convention NICHT von den weiblichen Besucherinnen ausgepfiffen werden. Die Autorin war nicht geknickt, sondern nahm diese Reaktion einfach als Teil des Kampfes hin. Wie belesen sie ist, um gewappnet zu sein, belegt ihre Beschreibung aller Stellen, an denen sie Bücher hortete. Unterdessen züchtete „Ting“, ihr Mann, Orchideen, die er dann dem Staat vermachte.

Kurzum: Dieser Beitrag vermittelt dem Leser ein viel besseres Bild, als es eine Biographie tun könnte. Dennoch bleibt vieles wegen Platzmangels ungesagt, und dieses Ungesagte findet man in der ausgezeichneten Biographie von Julie Phillips mit dem Titel „Das Doppelleben der Alice B. Sheldon“, erschienen im Septime-Verlag.

Unterm Strich

Unter den „späten“ Erzählungen finden sich in diesem Band schwergewichtige Erzählungen, die sich mit Weiblichkeit, Fortpflanzung und Überbevölkerung bzw. deren Beendigung befassen. Dabei gelangt die Psychologiegelehrte zu erstaunlichen Lösungen, die so manchem Leser auf den Magen schlagen dürften. Insbesondere die Goldfliegen-Lösung gehört dazu, aber auch „Teilzeit-Engel“. Einige Erzählungen sind reine Satire, andere wieder märchenhafte Parabeln, so etwa „Hölle, wo ist dein Sieg?“, das mit seinen sprechenden Namen eine kaum verhüllte Kritik des kapitalistischen Sozial- und Industriesystems bildet. Diesem stellt sie eine feministische Utopie gegenüber.

Der Anhang ist eine wertvolle Ergänzung der Buchserie, denn nach Phillips, Silverberg und Eschbach kommt hier erstmals die Autorin selbst zu Wort. Sie tut dies auf eine humorvolle, selbstironische und aufschlussreiche Weise, so dass sich der Text wie von alleine liest (wenn man Tiptree-Fan ist). Hier erfährt der Leser, wie sie überhaupt auf die Idee kam, andere Identitäten anzunehmen – nicht dass das bei der CIA etwas Besonderes wäre – und welche Folgen dies für sie hatte.

Gebunden: 541 Seiten.
Aus dem Englischen von Frank Böhmert u.a..
ISBN-13: 9783902711069

www.septime-verlag.at

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