Guter Thriller der alten Schule
Auf einer Müllkippe in Ostlondon wird eine Metallkiste mit radioaktivem Material gefunden. Aber die sofort herbeigerufene Polizei kommt zu spät: Bevor die Beamten eintreffen, wird die Kiste bei einem brutalen Überfall geraubt. Neben den Geheimdiensten ermitteln auch DCI Harry Taylor und sein Team. Sie sind bekannt für ihr unorthodoxes Vorgehen – aber auch für ihre Erfolge. Bald kristallisieren sich während der Untersuchung zwei Verdächtige heraus: Beide werden des Waffenhandels im großen Stil verdächtigt, und eine Atombombe auf britischem Boden wäre sowohl für den einen als auch für den anderen ein überragender Coup. Für Taylor und sein Team beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit … (Verlagsinfo)
Der Autor
Sir Michael Caine wurde sechsmal für den Oscar nominiert und erhielt seinen ersten Academy Award 1986 für den Film »Hannah und ihre Schwestern« und den zweiten 2000 für seine Rolle in »Gottes Werk und Teufels Beitrag«. Er hat in mehr als hundertdreißig Filmen mitgespielt, darunter seine erste große Filmrolle in »Zulu« im Jahr 1964, gefolgt von Filmen wie »Ipcress – Streng geheim», »Get Carter«, »Der Verführer lässt schön grüßen«, »Zwei hinreißend verdorbene Schurken«, »Rita will es endlich wissen« und der Dark Knight-Trilogie. Zu den jüngeren Filmen gehören »Harry Brown«, »Ein letzter Job« und »Kingsman«. In Anerkennung seiner Verdienste um das Kino wurde er 1992 zum Commander of the Order of the British Empire (CBE) ernannt und im Jahr 2000 zum Ritter geschlagen. Im Jahr 2023 feierte er seinen 90. Geburtstag. Er ist seit mehr als 50 Jahren mit Shakira Caine verheiratet, hat zwei Töchter und drei Enkelkinder und lebt in London.
Die Handlung
Dave, der Müllhaldenmanager von Stepney, hätte nie gedacht, dass er mal so schnell im Krankenhaus landen würde. Er macht gerade seinen Kontrollgang, als er die Metallkiste nahe dem Zufahrtstor entdeckt. Sie leuchtet ein bisschen an den Rändern, hat ein gruseliges Symbol drauf und lässt sich nicht öffnen. Was tun mit dem verdammten Teil? Er ruft seinen TV glotzenden Kollegen Terry und zusammen überlegen, was das Teil bei ihnen zu suchen hat. Wegen des Symbols rufen sie das Polizeirevier von Bethnal Green an, das verspricht, eine Patrouille zu schicken. Doch bevor die Cops eintreffen, verschafft sich ein Trupp maskierter Zugang zur Müllhalde, schlägt Dave und terry zusammen und schnappt sich die Kiste. Die Cops können bloß noch den Schaden zu Protokoll nehmen.
Am gleichen Morgen wird DCI Harry Taylor von der Spezialeinheit S21 von seinem Chef DCS Bill Robinson angerufen. Er soll sofort seinen Arsch nach Scotland Yard schaffen. Als er dort eintrifft, hat er per Radio schon die Lage erfasst: Radioaktives Material, nämlich U-235, wurde aus Stepney gestohlen, praktisch unter der Nase der Polizei. Das tödliche Zeug hat einen erheblichen Marktwert. Aber wer würde solch einen Coup wagen und erfolgreich ausführen?
Die Cricks
Dazu fällt Harry eine ganz bestimmte Gruppe von Ganoven, den Cricks, ein, die er kürzlich hochnehmen wollte, was aber aus unerfindlichen Gründen vermasselt wurde. Wird die Kripo vom Yard neuerdings ebenso abgehört wird die Metropolitan Police, fragt er sich frustriert. Na, wenigstens ist seine Spezialeinheit ganz nah am Yard-Geschehen, aber dennoch organisatorisch weit von der Yard-Hierarchie entfernt. Das bietet Chancen, findet Robinson, und Harry soll sie nutzen. Harry, ein Afghanistan-Veteran mit üblen Erfahrungen, sieht das genauso. Jetzt muss er nur noch DS Iris Davies beibringen, was genau unter „operativer Unterstützung“ zu verstehen sei.
SO22
Harry und Iris sowie DS John Williams sind das operative Team von SO22, und zusammen legen sie los. Harry und Iris nehmen einen Junkie in die Mangel, der sich in Stepney herumtreibt. Unter ausreichend ausgeübtem Druck gibt er einen Namen preis: Devereux. Dem gehöre hier so einiges und sei ein großer Macker. Bei einem Zwischenstopp im Hauptquartier lernen sie Inspector Carol Walker von der Yard-Forensik kennen. Als Tochter eines Atomphysikers kennt auch sie sich bestens mit radioaktivem Material aus. Ihre Schätzung zum Inhalt der verschwundenen Kiste: U235-Material vom Kaliber der Hiroshima-Bombe.
Cool Cube
Noch ein Grund mehr, diesen Devereux unter die Lupe zu nehmen. Dessen Nachtklub „Cool Cube“ ist teils fürs Volk, teils für VIPs geöffnet. Mit ihrem umwerfenden Outfit gelangt Iris am Türsteher vorbei, Harry hängt sich einfach dran. Nach einer Weile des Beäugens gelangen sie in den oberen VIP-Raum. Hier ist aber auch nichts los, merkwürdig. Dann fällt Harry auf, dass die Männer, die unten eigentlich zur Herrentoilette gehen müssten, diese vermeiden, indem sie rechts abbiegen. Wo geht’s da hin, fragt er sich.
Er nimmt Iris auf eine Erkundungstour mit. Der Hinterausgang führt direkt auf eine Gasse, in der ein Dutzend Drogendealer ihren Stoff feilbieten. Kein Wunder, dass alle hierher wollen. Sie nehmen sich einen der Typen zur Brust und drehen ihn durch die Mangel. Er verweist auf einen versteckten Komplex, der sich unter dem Klub befinden soll. Dort gebe aus auch eine Tiefgarage, die als Schlupfloch diene.
In diesem Komplex scheint es nur leere Büros und stille Korridore zu geben. Das macht Harry misstrauisch, allerdings ist er unbewaffnet. Im letzten Raum stoßen sie auf die Erklärung für die Stille: Sechs regungslose Männer befinden sich in einem fortgeschrittenen Zustand der Unansprechbarkeit. Die Schnitte in ihren Kehlen sprechen Bände. Da tritt ein weiterer Mann ins Zimmer und eröffnet sofort das Feuer…
Barbados
Ab nach Barbados, um diesen Devereux zu schnappen – ein Tarnname, hinter dem sich ein Oligarch namens Wladimir Woldrew verbirgt. Vorher noch einen Abstecher zu Julian Smythe, der von Devereux/Woldrew als Erzfeind betrachtet wird. Smythe macht einen auf guten Kumpel, obwohl er Aristokrat ist. Doch der angebliche Kunsthändler liefert viele Hinweise auf Woldrew und dessen Aktivitäten. Und er verrät, dass ein mexikanischer Drogenbaron eine große Lieferung nach Europa auf den Weg gebracht hat. Vielleicht ist auch Senor Ramirez hinter dem Uran her.
Auf Barbados verweist ihn der oberste Polizist namens Tennyson, der Harrys Chef Robinson gut kennt, an einen Informanten. Pépé weiß einiges über Vlad Woldrew zu sagen, der einsam und gut bewacht auf einer anderen Insel lebt. Tennysons Leute behalten ihn im Auge, aber Woldrew lässt sich nichts zuschulden kommen. Man munkelt, dass er einmal eine schöne Frau verloren haben, die er sehr liebte, durch einen Angriff auf seine Privatjacht, bei dem sie getötet wurde. Woldrew beschuldige seinen Erzfeind, hinter dieser ruchlosen Tat zu stecken. Harry denkt sich, dass müsste dann wohl Smythe gewesen sein. Pépé verschwindet ebenso lautlos wie er gekommen ist. Aber noch am gleiche Abend wollen zwei Finsterlinge DS John Williams entführen. Sie werden zwei weiteren Typen, die von Woldrew geschickt worden sind, aus dem Verkehr gezogen. Die Einladung Woldrews auf seine Privatinsel ist daher keine Überraschung…
Das Gespräch ergibt nichts weiter als die Erkenntnis, dass Woldrew förmlich in Geld schwimmen muss, dass er sich sein eigenes Versailles bauen konnte. Ein Anruf aus London beruft Harry und seine Truppe nach Europa. Ein mexikanischer Drogengangster namens Ramirez wolle ein ganzes Schiff voller Kokain nach Marseille begleiten. Harry solle die Finger davon lassen und auf weitere Befehle warten.
England
Doch die entscheidende Information kommt nicht aus London, sondern aus dem Datenuniversum: eine GPS-Koordinate, die an einem alten Kanal in Nordwestengland liegt. Nach einem wenig unterhaltsamen Intermezzo mit Nazis, die Carol Walker entführt haben, begibt sich Harrys Team, verstärkt durch zwei Spezialisten, zu diesem Kanal. Siehe da: Es ist tatsächlich das Schiff „Gabriella“ von Drogenboss Ramirez, das in Marseille vermutet wird. Es scheint sich bzw. sein Beiboot mit einem deutschen Schiff namens „Sieglinde“ zu treffen. Was steckt dahinter? Abwarten und Tee trinken.
Es sieht fast nach einer Art Übergabe aus, mitten auf dem Kanal. Doch dann kreuzt plötzlich ein Mann auf einem PS-starken Motorbike auf, stoppt am Kanal und richtet einen Raketenwerfer auf eines der drei Schiffe. Bevor irgendjemand eingreifen kann, ist die Rakete bereits auf dem Weg in ihr Ziel, und der Motorradfahrer saust mit Höchstgeschwindigkeit von dannen. Nun schrillen in Harrys Kopf sämtliche Alarmglocken. Was, wenn es hier nicht um Kokain, sondern das gestohlene Uran-235 geht?
Er rennt mit Iris los, um auf einem nahen Fabrikgelände Deckung zu suchen. Die Welt verwandelt sich in einen glühenden Feuerball…
Mein Eindruck
Achtundfünfzig Atombomben – so viele sind seit dem 2. Weltkrieg verlorengegangen. Sie mussten aus Not abgeworfen werden, wie etwa 1958, sie gingen auf dem Transport verloren oder wurden geraubt. Jedenfalls viele, viele mehr als für einen gesunden Schlaf zuträglich wäre. Carol Walker, die Wissenschaftlerin bei der Metropolitan Police, kennt sich aus, weil ihr Vater Otis ein weltbekannter Nuklearexperte ist. Das lässt auch sie ins Fadenkreuz der zahllosen Interessengruppen geraten, die sich das gestohlene Uran unter den Nagel reißen wollen – für meist wenig menschenfreundliche Zwecke.
Die Frauen
Achtundfünfzig – der Autor gemahnt uns angelegentlich an diese Zahl und das hohe Risiko, das sie darstellt. Ihm liegt die Zukunft der Menschheit wirklich am Herzen. Schließlich ist er ja schon über 90 Jahre alt, nennt eine Familie mit Nachkommen sein eigen und unterstützt sämtliche Friedenshüter auf dieser Weltkugel. Apropos Nachkommen: Er ehrt und würdigt alle Frauen, die in dieser Geschichte für den Frieden kämpfen. Es sind wahrlich taffe Mädels darunter, so etwa Iris, die Scharfschützin, und Carol, die Atomphysikerin und Forensikerin. Diese eindeutige Haltung findet man nicht häufig, und natürlich ist Harry Taylor das Alter Ego des Autors, um solche Empfindungen zu äußern.
Der Held
Harry Taylor, der Afghanistan-Veteran, ist keine Ein-Mann-Armee wie bei den Amis, auch kein James-Bond-Verschnitt. Dafür denkt er zuviel, streitet sich zu oft mit seinem Vorgesetzten und muss sich viel zu sehr auf sein Team verlassen, das mehr als einmal völlig im Abseits agiert. Statt in einer Hafenmetropole wie Marseille – von hier stammte die „French Connection“! – findet sich Harry irgendwo in der Industriebrache des englischen Nordwestens. Hier ist es sehr ruhig. Was kann hier schon passieren, zweifelt er. Gleich darauf steht die Welt in Flammen.
Die Schurken
Es mangelt sich an Verdächtigen, die als Nukleardiebe infrage kämen. Drogenbarone und Neonazis sind hinter dem Atomstoff her wie der Teufel hinter der armen Seele. Da ist aber auch der elegante Julian Smythe in seinen zwei noblen Hütten – eine in der Stadt, eine auf dem Land – , da ist der weltmännische Russe Woldrew, der offenbar Smythes Erzfeind ist und sich ein Traumschloss in der Karibik errichtet hat. Natürlich steckt eine Frau hinter dieser Feindschaft. Aber was der Autor schließlich aus dem Hut zaubert, konnte auch ich als gewiefter Krimifreund nicht voraussehen…
Die Übersetzung
S. 26: „Aber er war sich immer noch nicht zu schade, [sich] ein paar Fingernägel auszureißen, wenn der Job es verlangte.“ Die Rede ist von einem bösen Buben. Die Wahrscheinlichkeit ist deshalb höher, dass er anderen Fingernägel ausreißt (um sie zum Reden zu bringen) als sich selbst.
S. 42: “Prokrastination“: völlig korrekt, aber wenig bekannt: Hinausschieben.
S. 105: „Ihr Stiling“: besser wäre „Styling“.
S. 171: „was keinesfalls nicht sicher ist.“ Ist diese Formulierung nicht etwas doppelt gemoppelt? Vielleicht sollte man das „nicht“ besser weglassen.
S. 239: „für dein[e] Berufung…“: Das E fehlt.
S. 306: „wenn durchsick[er]t, was passieren wird“: Die Buchstaben E+R fehlen.
Unterm Strich
Drei Atomexplosionen, die sich gewaschen haben! Welche andere Autor hat es bislang gewagt, derart tödliches Geschütz aufzufahren? Dieser Thriller mag zwar in seiner Erzählweise und innerer Haltung altmodisch wirken, doch der alte Hund ist immer noch in der Lage, den jungen Hund ein paar Tricks beizubringen. Caine hat in zahllosen Thriller der sechziger und siebziger Jahre, ja, auch in BATMAN-Filmen mitgespielt. Er fungierte vielfach auch als Produzent und Mitautor.
Von diesem Thron aus und mit seiner langen Erfahrung darf er es sich leisten, nicht nur einen erstklassigen Ermittler wie Harry Taylor agieren zu lassen. Er darf auch schon mal über Jimi Hendrix – jawohl! – und die Beatles – aber klar doch! – lästern: Sie hätten nur „Chartfutter“ geliefert. In einer TV-Doku führt er den TV-Zuschauer durch das Swinging London der sechziger Jahre, in dem er sich einst hocharbeitete, um nicht wie sein Vater zu enden: All sein leben gerackert für die Familie, nur um am Ende nichts vorweisen zu können außer einer ruinierten Gesundheit.
Nun, Caine hat es sicherlich viel weiter gebracht. Nun schreibt er Thriller, und gleich der erste bietet nicht nur ausgezeichnete Unterhaltung mit Köpfchen, sondern enthält eine eindringliche Botschaft: Haltet die Atomwaffen in Schach, oder es wird euch noch leidtun! Diesen Aufruf könnte ich unterschreiben.
Gebunden: 352 Seiten
Originaltitel: Deadly Game, 2023
Aus dem Englischen von Wolfgang Thon.
ISBN-13: 9783809027867
https://www.penguin.de/verlage/limes
Der Autor vergibt: