H. G. Wells – Die Zeitmaschine

Ein Zeitreisender gerät in eine ferne Zukunft, in der die Menschen das Paradies auf Erden geschaffen zu haben scheinen. Doch buchstäblich unter der Oberfläche lauert die hässliche Wahrheit … – Einer DER Klassiker der Science-Fiction-Literatur und bereits als solcher über Kritik eigentlich erhaben; allerdings ist dieser Kurzroman tatsächlich zeitlos spannend und immer noch eine Lektüre wert!
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Sträter, Torsten – Postkarten aus der Dunkelheit (Jacks Gutenachtgeschichten 2)

„Postkarten aus der Dunkelheit“ ist Teil zwei der Kurzgeschichtensammlung aus der Feder Torsten Sträters, dessen erster Teil [„Hämoglobin“ 1416 im Jahre 2004 sensationelle Kritiken einheimsen konnte. Nun, was soll ich sagen? Teil eins fand ich schon sehr gelungen, aber stellenweise zu wenig im Bereich der Phantastik angesiedelt. Als hätte mich Herr Sträter in meinem Klagen erhört, erhöht er sogleich den Phantastikfaktor und hämmert einem zwölf ultraextreme Prosamonster vor die Birne, die in ihrer schreiberischen Bildgewalt in Deutschland ihresgleichen suchen. Man nehme als Beispiel die Geschichte ‚Heiliger Krieg: Einer muss es ja machen‘, bei der der Vatikan sich mit Hilfe freiwilliger, heiliger Krieger zum großen Schlagabtausch mit dem Bösen aufmacht. So schlicht sich dieses Grundgerüst auch anhören mag, so deftig heftig explodieren die Worte im Leserkopf. Man kann fast nicht anders und verschluckt Geschichte für Geschichte, in meinem Fall in nur knapp drei Stunden.

Wieder einmal balanciert Sträter seine Storys gut aus, hängt seicht gifttriefende, beißend ironische Geschichten und pure Splatterorgien hintereinander und bekommt so eine exzellent ausgewogene Mischung aus Grusel und purem Horror hin, die von der ersten Seite an fesseln kann. Ob da jetzt Geisterbahnwärter ihre Aufgabe etwas zu genau nehmen oder Luzifer höchstpersönlich in den Berliner Bunkern von zwei ahnungslosen Polizisten erweckt wird, ein Geist in einer Achterbahn verzweifelt darauf wartet, dass sich jemand das Genick bricht, damit ihm seine Seele fortan Gesellschaft leisten kann oder der klassische Serienmörder in ‚Der Kasper will kein Snickers‘ seine Huldigung erfährt – Sträter erweist sich als wahrer Künstler auf der Klaviatur des Grauens. Dabei fliegen einem die Knochenfetzen und Gewebestreifen recht blutig aus den Seiten entgegen, wenn Herr Sträter mit seinem Schreibstil richtig ausholt. Teilweise geht das schon ziemlich weit über meine Definition von Ekelgrenze hinaus, und die liegt bei mir weiß Gott nicht gerade niedrig.

Wer mit dem extrem bildgewaltigen Stil von Torsten Sträter klarkommt und auch mit bärbeißigem und pechschwarzem Humor leben kann, der sollte „Postkarten aus der Dunkelheit“ auf jeden Fall klemmen. Im Vergleich zum Erstling „Hämoglobin“ ist Band zwei eine weitere, einhundertprozentige Steigerung und ich wage es jetzt einmal ganz forsch, Torsten Sträter als den neuen deutschen |king of horror| zu bezeichnen. Für alle Horrorfans ist definitives Zugreifen angesagt.

Luciano Mecacci – Der Fall Marilyn Monroe und andere Desaster der Psychoanalyse

Sie gehört noch zu den vergleichsweise jungen Wissenschaften – und nicht wenige Kritiker zweifeln, ob sie sich überhaupt als solche bezeichnen darf: die Psychoanalyse, deren Vertreter davon ausgehen, dass das menschliche Hirn unerfreuliche Erlebnisse und Erfahrungen quasi „verschlüsselt“, um sich so vor größerem Leid zu schützen. Eine ausgiebige Analyse durch den Fachmann soll das Unterbewusste ans Licht bringen und den Betroffenen zur (Selbst-)Erkenntnis befähigen, wodurch seiner Störung oder Krankheit die „Lebensgrundlage“ genommen wird. (Dies ist hier natürlich überaus laienhaft und arg verkürzt ausgedrückt.)

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Hodgson, William Hope / Newman, Kim / Busson, Paul / Lovecraft, H. P. / Somtow, S. P. / Lueg, Lars P – Necrophobia 2

Bereits zum zweiten Mal spielt Andy Materns Jingle zu „Necrophobia“ auf und lädt den geneigten Hörer ein, sich die „besten Horrorgeschichten der Welt“ zu Gehör zu führen. 2003 enthielt die erste Ausgabe von [„Necrophobia“ 1103 Geschichten von Lovecraft und Laymon und auch 2005 hat Mastermind Lars Peter Lueg wieder eine illustre Mischung auf zwei CDs gebannt. Fünf Geschichten darf der Hörer genießen, deren Bandbreite so groß ist, dass für jeden etwas dabei sein dürfte: eine gruselige Seemannsgeschichte, ein fanatischer Sammler, ein lebendig Begrabener, ein wandelndes Monster und ein religiöser Serienmörder haben in „Necrophobia“ ihren großen Auftritt.

Den Anfang macht William Hope Hodgons „Die Stimme der Nacht“ („The Voice in the Night“, 1914) mit einem durchaus interessanten Setting. Zwei Seeleute machen in einer finstren und nebligen Nacht eine außergewöhnliche Begegnung. Durch den Nebel hören die beiden ein „Schiff Ahoi“ auf sie zutreiben und machen kurz darauf in der Dunkelheit der Nacht ein Boot aus. Der Insasse weigert sich standhaft, nähert ans Licht zu kommen, bittet aber um etwas Proviant für die Dame, die er auf der Insel zurückließ. Die beiden Seemänner haben Mitleid, lassen ihm frische Früchte zukommen und im Gegenzug erzählt der mysteriöse Fremde seine Geschichte. So konnte er sich nämlich mit seiner Frau gerade so von einem sinkenden Schiff retten. Doch die Insel, auf die sie sich retten konnten, scheint von einem seltsamen und abstoßenden Pilz überwuchert zu sein, der vor nichts Halt macht. Die beiden harren zwar zwangsweise auf der Insel aus, doch sind sie dort gefangen und dem Pilz hoffnungslos ausgeliefert …

Hodgons Erzählung mäandert etwas dahin und bietet kaum unerwartete Überraschungen. Sie lebt vielmehr von dem beunruhigenden Gefühl, in völliger Freiheit eingesperrt zu sein und keine Hoffnung auf Rettung zu haben. Das junge Ehepaar kann nirgendwohin ausweichen, ihr Feind verfolgt sie überallhin. Und auch wenn sie es nicht wissen, als sie die Insel betreten, so sind sie doch bereits zum Tode verurteilt, als sie den Fuß auf den Strand setzen. Die Geschichte spielt mit der alten Frage, was sich alles da draußen in dieser Welt befindet; welche Schätze und Grauen noch nicht entdeckt sind. Und auch wenn wir heute meinen, uns die Welt untertan gemacht zu haben, so gibt es immer noch Flecken wie diese Insel, die böse Überraschungen bereithalten können.

Helmut Krauss bildet den Anfang als Sprecher auf dieser Höranthologie. Krauss (Synchronsprecher von Marlon Brando & Samuel L. Jackson) liest oft und viel für LPL und seine tiefe dräuende Stimme verfehlt nie ihre Wirkung. Hier überzeugt er vor allem als krächzender und lebensmüder Erzähler, dem man die Verzweilfung und Hoffnunslosigkeit anhört.

Weiter geht es mit dem totalen Gegenprogramm, Kim Newmans „Der Mann, der Clive Barker sammelte“ („The Man who collected Barker“, 1990), einer Erzählung, die zwischen böser Parodie und wohl temperiertem Schrecken hin und her pendelt. Die Ich-Erzählerin trifft auf einen Mann, dessen Lebensinhalt das Sammeln von Pulp-Autoren ist. Erstausgaben, signiert, mit persönlicher Widmung schmücken seine Privatbibliothek, die so eingerichtet ist, dass die Bücher möglichst nicht verblassen oder sonstwie Schaden nehmen. Der Sammler stellt sich schnell als fanatischer Spinner heraus (daher ja auch das Wort „fan“ von „fanatic“) und Kim Newman zielt und platziert genüsslich einen Seitenhieb nach dem anderen auf all die Berufsfans da draußen, diese Geeks, die so weit in ihrem Fandom aufgehen, dass sie darüberhinaus kein Leben haben. Newman schreibt damit das genaue Gegenprogramm zu Nick Hornbys Hymne an Fans und Sammler und Geeks moderner Popkultur, und dass er zunächst in seiner Beschreibung des Sammlers kaum überzeichnet, setzt der ganzen Sache die Krone auf. Doch als er die Ich-Erzählerin in den Schrein für Clive-Barker-Erstausgaben führt, wird es zusehends abstruser. Da gibt es Ausgaben in Menschenhaut gebunden, auf Papyrus gedruckt und mit Blut signiert. Eine Sonder-Sonderausgabe ist grauenhafter als die nächste und die Krönung seiner Sammlung ist die Ausgabe … doch das soll hier natürlich nicht verraten sein.

Newmans Erzählung ist eine wunderbar spritzige und dabei bitterböse Abrechnung mit fanatischen Fans aller Art. Die gesammelten Objekte sind ein Fetisch, ein Kunstwerk in sich und es wäre ein Sakrileg, würde der Sammler sie aus dem Regal nehmen und tatsächlich lesen. Ja, er habe sich Barkers [„Bücher des Blutes“ 538 mal aus der Bibliothek ausgeliehen und die Geschichten seien auch gut gewesen. Aber gehen wir lieber zu dieser Sonder-Sonderausgabe über … Das Objekt der Begierde kann vollkommen willkürlich gewählt sein, denn es scheint nicht, dass unser Sammler eine besondere Vorliebe für Pulp hat – offensichtlich liest er ja nicht mal. Doch wenn das Objekt erst einmal gewählt wurde, dann muss es besessen und beherrscht werden.

Marianne Groß (bekannt als Synchronstimme von Angelica Huston, Merryl Streep, Whoopie Goldberg) ist neu als Sprecherin bei LPL und nach ihrem Debüt auf „Necrophobia“ möchte man doch hoffen, dass sie den Hörbuchfans lange erhalten bleibt. Mit spitzer Zunge referiert sie die gesammelten Absurditäten der Barker-Sammlung und man hört ihr die Verachtung für derartiges Fanverhalten geradezu an. Ein wahres Fest!

Abgeschlossen wird CD1 mit einer kurzen Erzählung über ein altes Thema: „Rettungslos“ (1903) von Paul Busson beschreibt aus der Ich-Perspektive einen Mann, der lebendig begraben wurde. Neu ist an dieser Idee kaum etwas, doch schafft es Busson zumindest, das Grauen durch seinen Stil greifbar zu machen. Da dem Protagonisten nur noch sein Gehör zur Verfügung steht, schildert er hauptsächlich diese Eindrücke. Das Schließen des Sargdeckels, das Geräusch, als die Trauernden Erde auf den Sarg fallen gelassen wird – und erst dann, begraben unter ein Paar Metern Erde, kann er endlich zwei seiner Finger wieder bewegen. Doch natürlich zu spät.

Lutz Riedel, ebenfalls seit langem für LPL tätig, liest „Rettungslos“. Leider ist die Geschichte so schnell vorbei, dass man sich kaum eingehört hat. Doch Riedel (Stimme u. a. von Timothy Dalton; mit Marianne Groß liiert) schafft es, den eindringlichen Bewusstseinsstrom des Protagonisten ebenso eindringlich wiederzugeben. Ein beunruhigendes Finale für die erste CD der Anthologie.

Auf CD2 geht es mit dem Altmeister subtilen Horrors weiter, nämlich mit „Der Außenseiter“ („The Outsider“, 1926) von H.P. Lovecraft. Wer nicht ohnehin schon die Lovecraft-Hörbuchreihe von LPL im Regal stehen hat, der wird hier ordentlich angefüttert. Ein recht geheimnisvoller Ich-Erzähler – geheimnisvoll in dem Sinne, dass er sich nicht erinnern kann, wie wo und mit wem er eigentlich aufgewachsen ist -, versucht seiner Umgebung zu entrinnen. Er wohnt nämlich in einem unheimlichen Schloss, das so von Bäumen umstanden ist, dass er noch nie Sonne oder Mond gesehen hat. Also steigt er auf den höchsten Punkt des Schlosses, öffnet eine Falltür und … muss mit einer ziemlichen Überraschung fertig werden.

Der Erzählung merkt man schon nach den ersten Sätzen den Lovecraft’schen Stil an und nie verfehlt er seine Wirkung. Surreale Settings, lauernde Schatten, offene Fragen – all das verbindet Lovecraft mit einer Meisterschaft, die auch heute noch menschliche Urängste anspricht und zum Vorschein bringt. Man kann sich also eines unfreiwilligen Schauderns nicht erwehren, auch wenn man die Pointe der Geschichte schneller durchschaut als der Ich-Erzähler. Lovecrafts genialer Einfall, die Geschichte aus der Innenansicht des vermeintlichen Monsters zu erzählen, verwischt die sonst so klaren Grenzen einer Horrorgeschichte und trägt zum Gruselfaktor unbedingt bei.

David Nathan (Johnny Depp, „Spike“, Christian Bale,) als Sprecher ist ebenfalls seit einiger Zeit bei LPL dabei – zu Recht, versteht sind, denn seine Bandbreite weiß immer wieder zu überraschen. Mit viel Einfühlungsvermögen gibt er den Bericht des Außenseiters wieder und schafft Balance zwischen Mitgefühl und Abscheu.

Den Abschluss bildet die grausig-schwüle Slashergeschichte „Summertime“ („Fish are Jumping, and the Cotton is High“, 1996) von S. P. Somtow, die idyllisch genug beginnt: Vater und Sohn verbringen wie jedes Jahr den Sommer damit, durch das amerikanische Hinterland zu fahren und zu fischen. Doch schon bald stellt sich heraus, dass an der ganzen Sache nichts idyllisch ist. Zum einen führen die beiden das Skelett ihrer toten Oma in einem Koffer mit, stauben sie regelmäßig ab und behängen sie mit Wunderbäumen (gegen den Gestank natürlich). Zum anderen handelt es sich bei „fischen“ um einen Euphemismus dafür, Huren zu entführen, sie brutal zu foltern und dann zu töten. Alles im Namen des Herrn, versteht sich. Denn der Serienmörder ist ein religiöser Fanatiker.

Somtow liefert eine durchdachte Geschichte, die zwar große Mengen Blut produziert (und damit die hartgesottenen Fans begeistern dürfte), aber nicht vergisst, den beiden Hauptcharakteren ausreichend psychologischen Hintergrund mitzugeben, um die Geschichte zu tragen. Wenn Somtow also in die völlig zerstörte Psyche des Protagonisten eintaucht, dann ist das abwechselnd absurd, komisch, schockierend und eklig. „Summertime“ bildet einen wunderbaren modernen Gegensatz zu so polierten Erzählungen wie Lovecrafts „Der Außenseiter“ und trägt „Necrophobia“ sowohl thematisch als auch stilistisch ins 21. Jahrhundert.

Torsten Michaelis (als Synchronstimme von Wesley Snipes offensichtlich total unterfordert) liest hier aus der Perspektive des Sohnes des Serienmörders und fängt dessen gestörte Wahrnehmung der Realität grandios ein. Mit kindlicher Naivität findet er es ganz selbstverständlich, die tote Oma im Auto mitzuführen und die knackigen Hinterteile der toten Huren zu essen (um die Leichen zu entsorgen und weil das Fleisch dort am leckersten ist).

Über einen Anspruch wie „die besten Horrorgeschichten der Welt“ wird man immer streiten können. Doch ohne Frage überzeugt die Auswahl der Geschichten, sind sie doch in Thema und Stil jeweils sehr unterschiedlich und bieten somit für jeden Geschmack etwas. Abgerundet wird die Anthologie von hochkarätigen Sprechern, die die 146 Minuten Spielzeit zu einem unheimlichen Vergnügen machen!

http://www.lpl.de

Lieckfeld, Claus-Peter/Rößiger, Monika – Mythos Meer. Geschichten – Legenden – Tatsachen

Was ist das Meer – und was bedeutet es dem Menschen? Diesen Fragen wird von den Autoren in vier Hauptkapiteln nachgegangen.

„Der blaue Planet“ (S. 8-54): Stolze 71 Prozent der Erdoberfläche bedeckt das Meer und verleiht ihr (neben der atmosphärischen Lichtbrechung) die berühmte blaue Färbung. Kein Wunder, dass Wasser diesen Planeten formt. Drei Ozeane prägen ihn und seine Bewohner, die seit Urzeiten am und vor allem vom Meer leben. Wir lernen die exotischen Nischen unserer feuchten Parallelwelt (Riff, Wellen, Küste, Watt, Eismeer) kennen und erfahren, wie der Mensch sich allmählich vorwagte (Schwimmen, Tauchen, Segeln).

„Die Kreaturen“ (S. 55-146): Das umfangreichste Kapitel beschäftigt sich erwartungsgemäß mit den faszinierenden, wohlschmeckenden und erschreckenden Wesen, die sich knapp über bis weit unter der Meeresoberfläche eingerichtet haben. Haie, Pinguine, Robben, Wale und Delfine gehören dazu, aber auch bizarre Tiefsee-Getüme oder eher halbseidene Wasserbewohner wie die Seeschlange oder der Riesentintenfisch. Unerwartet Interessantes gibt es auch über „Langweiler“ wie den Aal, das Seepferdchen oder die Muschel zu berichten.

„Die Schätze“ (S. 147-176): „Schatz“ ist ein mehrfach interpretierbarer Begriff. Klassisch geht es natürlich um Gold, Edelsteine und andere Kostbarkeiten, die an Punkt A geraubt und zusammengerafft und auf dem Weg nach Punkt B im Meer versanken. Wertvoll sind aber auch die natürlichen Ressourcen der Ozeane – die Fische, ohne welche die Ernährung der Menschheit ein Ding der Unmöglichkeit wäre. Zu den ökologischen Schätzen des Meeres gehören die Korallen, welche dem Leben unter Wasser eine Basis bieten, die der zerstörungswütige Mensch vernichtet und eine tote, blaue Öde zurücklässt. Schließlich sind da die wissenschaftlichen Werte, die erfasst und ausgewertet buchstäblich Aufschluss über die Entstehung der Arten geben: Galapagos, die Inselgruppe im Pazifik, ist ein riesiges natürliches Versuchslabor.

„Mythen, Märchen und Legenden“ (S. 177-214): Was der Mensch nicht versteht oder fürchtet, das kleidet er (sie natürlich auch) gern in allgemein verständliche Bilder. Die Seeleute der Vergangenheit befuhren eine fremde, oft schrecklich feindselige Welt, die sie von Klabautern, Sirenen und Meerjungfern besiedelt sahen, die nur auf den Unglücklichen lauerten, der einen Fehler beging. So hielt man die Regeln ein und die Augen offen. Grundsätzlich hat sich an diesem Verhalten wenig geändert, wie die Autoren am Bespiel der berühmt-berüchtigten „Bermudadreiecks“ belegen. Atlantis findet selbstverständlich Erwähnung, die biblische Sintflut und andere antike Katastrophen, die als Mythen bis heute überlebten. Zwischendurch tauchen noch die Wikinger auf, die den Unbilden des Meeres mit erstaunlichen Methoden trotzten und so ihrerseits zur Legende wurden.

Mit einem ordentlicher Anhang (Literatur-, Stichwort- und Quellenverzeichnis, Autorenporträt und Bildnachweis), der „Mythos Meer“ als Buch „arbeitstauglich“ macht, klingt die Darstellung aus.

Kunterbuntes aus dem und über das Meer – dieser Titel würde „Mythos Meer“ sicher besser gerecht. Er klänge freilich leicht abwertend, was dieses Buch nicht verdient hätte. Eine grundsätzliche Sammlung aller Fakten war weder möglich noch beabsichtigt. Auch das Rad wurde nicht neu erfunden, wie der Blick ins Literaturverzeichnis beweist: Bereits bekanntes Sachbuchwissen wurde ausgewertet und neu arrangiert.

In Ausschnitten nähern sich die Autoren ihrem Thema. Über die Auswahl lässt sich sicherlich diskutieren – nur bedingt will sich beispielsweise erschließen, wieso das Unterkapitel „Seepferdchen“ volle sieben Seiten umfasst. (Aha, Verfasser Lieckfeld ist auch Mitautor eines Buches namens „Mythos Pferd“; ob das etwas damit zu tun hat …?) Und das Subkapitel „Terra – Meer- oder landgeboren“ gehört eindeutig in den ersten Buchteil.

Doch bei näherer Betrachtung finden wir die meisten Dinge, die wir mit dem Meer in Verbindung bringen, wenigstens angesprochen. Die einzelnen Kapitel lassen sich auch für sich sehr informativ lesen. Dabei wird der Leser vom angenehmen Plauderstil des Textes unterhalten, den man keineswegs mit inhaltsschwachem Geplapper verwechseln darf: Fakten werden klar dargestellt und harter Stoff ist es manchmal, der mit erfreulich klaren Worten allgemeinverständlich aufgerollt wird.

Ein Sonderlob verdienen die Abbildungen. Für „Mythos Meer“ wurde durchgängig schweres Kunstdruckpapier verwendet. Die zahlreichen, oft großformatigen, meist bunten und gut ausgewählten Fotos, Grafiken und Karten sind gestochen scharf. Sie dienen auch nicht dem Zweck, den Text „auf Länge“ zu bringen, sondern bilden ihrerseits zusätzliche „Informationsinseln“. Es sind aufregende, selten oder nie gesehene Aufnahmen darunter, die sichtlich jüngeren Datums sind.

Klaus-Peter Lieckfeld (geb. 1948) ist freier Journalist mit dem Themenschwerpunkt „Belebte Natur“, schreibt aber auch historische Romane. Monika Rößinger ist Biologin und ebenfalls Wissenschaftsjournalistin in Hamburg.

Torsten Sträter- Hämoglobin (Jacks Gutenachtgeschichten 1)

Irgendwie ist Torsten Sträter ein kleines Phänomen, seines Zeichens Autor der beiden Kurzgeschichtensammlungen „Hämoglobin“ und „Postkarten aus der Dunkelheit“. Er ist deshalb ein Phänomen, weil er es blind schafft, in kürzester Zeit Schreckensszenarien ungeahnten Ausmaßes zu erschaffen und diese entweder zum guten oder auch zum bitteren Ende hin mit beißender Ironie und jeder Menge pechschwarzen Humors aufzulösen. Sträter holt sich dabei viele Ideen aus zeitgenössischer wie auch klassischer Zelluloidware, zieht sich aber auch Grundgerüste seiner Storys aus dem banalen Alltag. So ist zum Beispiel seine Geschichte ‚Mr. Daniels und ich an der Tankstelle der lebenden Toten‘ eine beißende Parabel auf die heutige Konsumgesellschaft und das Problem des Menschen, als Funktionsobjekt seinen täglichen Gang antreten zu müssen. Auf der anderen Seite steht mit ‚Der Mitbewohner‘ eine klassische Werwolfstory oder mit ‚Der Geruch von Blau‘ eine Geschichte, die dem Vampir sein unsterbliches und grauenvolles Gesicht zurückgibt. Der Protagonist in ‚Jägerlatein‘ gewährt einen kurzen Einblick in seine kranke, dem Wahnsinn verfallenen Psyche.

Anders als in seinem zweiten Band, begibt sich Sträter mit „Hämoglobin“ noch nicht so stark auf die phantastische Seite, sondern verwurzelt seine Kurzgeschichten überwiegend im Hier und Jetzt. Dabei forciert Sträter Kindheitsängste, wie die Angst vor der Dunkelheit oder die Verlustangst, bis ins Endlose und zieht meist sehr unterschwellig, aber letztendlich unaufhaltsam die dramaturgische Schlinge um den Leserhals zu. Die Auflösungen der Storys sind eigentlich immer sehr ironisch und tiefschwarz, wobei sich jeder Zyniker bei Sträter auf der sicheren Seite fühlen dürfte.

Hinzu kommt Sträters in meinen Augen unverwechselbarer Schreibstil, zu dem selbst der Begriff „blumig“ als Umschreibung mehr als untertrieben scheint. Wenn Herr Sträter so richtig loslegt und seine lyrischen Ergüsse durch Splatterfelder und Knochengebirge jagt, könnte Zartbesaiteten schon mal die Magensäure retour aus dem Hals quellen. Liebhaber klassischer Gruselkost sollten also die Finger von Torsten Sträter lassen. „Hämoglobin“ beherbergt zehn hundertprozentige Horrorstorys mit dem Blutgehalt einer Schlachtbank. Dabei werden einem die Bilder durch den hammerharten Schreibstil fast manifest im Kopf geparkt. Mann, was würde ich gerne mal die Verfilmung einer Sträter-Geschichte in der Flimmerkiste sehen! Das geht ganz sicher ab wie Schmitts Katz‘. Allerdings benötigte man dann einen Regisseur, der die leichenfledderige Ironie eins-zu-eins auf sein Medium übertragen könnte. Und da fällt mir leider Gottes kein einziger ein.

Lange Rede, gar kein Sinn: „Hämoglobin“ ist Horror, Spaß, Witz, Ekel und Gore im Überfluss. Zehn fremde Welten, die sich kurz und knapp vor dem geistigen Auge erschließen und einem das Grauen in seiner derbsten Form vorführen. Wer sich auf den sehr eigenen Witz von Torsten Sträter einlassen kann, wird an seiner horriblen Kost sicherlich mehrfach satt werden.
Da sehe ich auch gerne mal über die orthographischen und grammatikalischen Schnitzer hinweg, die mehr als nur einmal auf den Seiten verewigt sind.

Taschenbuch: 184 Seiten

Richardson, Hazel – Dinosaurier und andere Tiere der Urzeit

3,5 Milliarden Jahre Leben auf dem Planeten Erde, zusammengefasst auf 223 Text- und Bildseiten: Das funktioniert nur mit Hilfe einer klaren, streng durchgehaltenen Strukturierung. „Dinosaurier“ beginnt mit einer Einführung, welche den absoluten Anfang des Lebens umreißt. Dieses ist primitiv, die Kenntnisse sind dürftig, so dass die frühen erdgeschichtlichen Epochen nur summarisch bzw. als Überblick vorgestellt werden.

Ab dem Mesozoikum beginnt es sich im Wasser, auf dem Land und schließlich in der Luft zu tummeln. Mit der Konzentration auf die Wirbeltiere, deren Körper ein Knochengerüst stützt und die Luft atmend sind, präsentiert „Dinosaurier“ im Hauptteil ca. 200 der für ihre Zeitalter wichtigsten Tierarten, die auf der Erde lebten. Das schließt Dinosaurier ebenso ein wie ihre „Nachfolger“, die Säugetiere und Vögel. (Amphibien und Fische, die ebenfalls Wirbeltiere sind, glänzen durch Abwesenheit.) Sie dominieren das Känozoikum, das bis in die geologische Gegenwart reicht.

Über jede Zeitperiode wird auf einer Doppelseite informiert. Klima, Geologie, Vegetation, Tierwelt insgesamt werden charakterisiert. Die „Steckbriefe“ der einzeln vorgestellten Tiere umfassen eine halbe bis zwei Seiten und fassen die Schlüsselinformationen zusammen. Eine fotorealistische, auf aktuellen Forschungsergebnissen fußende Rekonstruktion setzt die Kreaturen der Vorzeit lebensecht ins Bild. Pfeile weisen auf besondere körperliche Beschaffenheiten hin. Eingefügte Fotos echter Fossilien (Knochen, Schädel, Zähne etc.) werden ihnen zum Vergleich gegenübergestellt.

Stets gibt es eine Karte, auf der die wichtigsten Fundstellen von Fossilien des Tiers verzeichnet sind. Eine Schemazeichnung zeigt es im Größenvergleich mit dem Menschen. Größe, Gewicht und Nahrung werden in einer Fußleiste angegeben. Auch eine Kopfleiste gibt es; sie hält den wissenschaftlichen Namen der Tierordnung und der Familie sowie den Zeitraum fest, in dem das jeweilige Tier lebte. Kopf- und Fußleiste sind farbcodiert. Oben lässt sich die jeweilige Zeitperiode erkennen, in der das Tier existierte, unten sein Lebensraum (Land, Wasser oder Luft).

Darüber hinaus gibt es Extra-Doppelseiten, die Tiergattungen zeigen, welche einer besonderen Erwähnung wert sind. Der Text geht über die Standardinformationen hinaus, das Bild zeigt die einzelne Tierform in seiner zeitgenössischen Umgebung. Ein erster Anhang listet mehr als 300 weitere Dinosaurier (und nur Dinosaurier) auf, die im Hauptteil keine Berücksichtigung fanden. Anhang 2 ist ein Glossar, das die reichlich Verwendung findenden naturwissenschaftlichen Fachausdrücke „übersetzt“. Ein Register, mit sich das Buch erschließen lässt, fehlt selbstverständlich auch nicht.

Das Buch weist eine solide Fadenheftung auf, das Cover ist indes flexibel: Auch in Gestalt und Format gibt sich „Dinosaurier“ als „Bestimmungsbuch“, ideal für den interessierten Tierbeobachter, der damit den abgebildeten Wesen in der freien Natur nachpirscht, was sich hier freilich als frustrierendes Vorhaben herausstellen könnte …

Oh ja, sie haben sich schon sehr verwandelt, die „Tierbücher“, mit denen Ihr Rezensent groß geworden ist! Auch damals – die exakte erdgeschichtliche Epoche bleibt besser verschwiegen – galten Bücher über Dinosaurier schon als Renner. Ihre Wirkung mussten sie jedoch als vergleichsweise primitiv wirkende Zeichnungen entfalten, die nicht selten sogar schwarzweiß ausgeführt waren. Im Vergleich mit den modernen, fotorealistischen, digital bearbeiteten Rekonstruktionen wirken diese altehrwürdigen Abbildungen wie Höhlenzeichnungen. Dass sie ihre Wirkung dennoch nicht verfehlten, spricht für die Faszination des Dinosaurier-Themas.

So wird auch dieses sich arg trocken lesende Werk seine Leser finden. Wie ich aus eigener Beobachtung weiß, finden beispielsweise Kinder die enzyklopädische Auflistung möglichst vieler Donnerechsen fabelhaft. Sie schätzen die kurzen Texte, deren Informationen sie förmlich aufsaugen, und lieben die Bilder. Das geht uns anspruchsvoll gewordenen Erwachsenen genauso. In einer Zeit, da die Tricktechnik völlig überzeugende Urweltlandschaft samt Bewohnerschaft erstehen lassen kann, werden dem Zuschauer oder Leser grandiose Rekonstruktionen geboten. Besonders die „Sonder-Doppelseiten“, auf denen die Urzeittiere in ihre Umwelt integriert werden, sind von enormer Suggestionskraft. Ob diese „Fotos nach dem Leben“ eine Wirklichkeit vorgaukeln, die spätere Forschergenerationen ganz oder teilweise revidieren müssen, steht auf einem anderen Blatt und soll hier undiskutiert bleiben.

Wegen seiner fragmentarisch anmutenden Struktur kann „Dinosaurier“ an jeder beliebigen Stelle aufgeschlagen und gelesen werden. Andererseits ist es durchaus möglich, sich von der ersten zur letzten Seite durchzuarbeiten. Es gibt einen roten Faden, den Erdgeschichte und Evolution vorgeben. Die Konzentration aufs Wesentliche bedingt komprimierte Texte, die sich alles andere als spannend lesen. Informativ sind sie auf jeden Fall und sollen sie sein – diese Entscheidung gegen das heute so beliebte „Infotainment“, die oftmals mit einer freiwilligen Beschränkung auf das angebliche Typische, vor allem Spektakuläre einhergeht, kann nur begrüßt werden.

Noch ein Pluspunkt: Trotz der guten Ausstattung und der Vielzahl fast ausschließlich farbig wiedergegebener Abbildungen ist der Preis für „Dinosaurier“ erfreulich moderat. Da nimmt man in Kauf, dass einige Bilder nicht wirklich „kommen“, weil sie doch ein größeres Format benötigten. Manchmal muss man sich auf briefmarkengroße Motive konzentrieren, die davon ganz sicher nicht profitieren. Allzu intensiv vermittelt sich darüber hinaus oft der Eindruck drangvoller Enge. So viele Abbildungen werden gezeigt, dass der Raum für Text darunter leidet. Besonders die vom Hintergrund freigestellten Saurier- und Säugerrekonstruktionen bohren sich förmlich in die Textblöcke, die dann abenteuerlich flatternde Ränder aufweisen. Bedenkt man den ohnehin klein gewählten Schriftgrad, so müssen die Leseraugen ordentliche Leistungen erbringen …

Dennoch überwiegen die Vorteile, die „Dinosaurier“ zu einem kompakten, handlichen Buch machen, das aktuell und zeitgemäß sein Thema angeht und deshalb weiterempfohlen werden kann und gern wird.

Baldry, Cherith – venezianische Ring, Der

Die im englischen Lancaster geborene Schriftstellerin Cherith Baldry, die zuvor als Lehrerin arbeitete, stellt mit „Der venezianische Ring“ (Original: The Reliquary Ring) die Übersetzung eines ihrer ersten Werke als Berufsautorin vor.

In einer zeitlich nicht näher bestimmten Stadt der Zukunft, die mit ihren Kanälen und ihrer Herrschaftsstruktur an das alte Venedig des 18. Jahrhunderts erinnert, zeigt sie dem Leser eine düstere Gesellschaft, in der Standesdünkel und Rassismus den künstlich erzeugten Genicos das Leben schwer machen. Doch auch die Technologie, insbesondere Genetik, verteufelnde Kirche kann den Fortschritt nicht aufhalten. So halten sich viele Adelige Genicos als Haussklaven, auch wenn man peinlich darauf achtet, sich nicht von ihnen berühren zu lassen.

Im Spiel um die Macht in der Stadt bedient sich der gottlose Graf Dracone bedenkenlos aller Mittel, um sein Ziel zu erreichen. Der alte Herzog liegt im Sterben, und gegenüber dem verarmten Mitbewerber Graf Loredan hat er einen Trumpf im Ärmel:

Der exkommunizierte Doktor Heinrich soll für ihn aus einem Haar einen Klon Christos‘, Gottes Sohn auf Erden, erzeugen.

_Groschenoper in Venedig_

Die Geschichte wartet mit einer breiten Zahl von Charakteren auf, deren Gemeinsamkeit ihr durch den Grafen Dracone erfahrenes Leid ist. Viele Tabuthemen werden aufgegriffen; so liebt der Genico Gabriel seinen Herren Leonardo, was aber in den Augen der Kirche eine doppelte Sünde ist, die diesem bei der Herzogswahl zum Nachteil gereichen würde. Die schöne Genica Serafina wird wie eine Art kostbares Möbelstück von ihrer verstorbenen Herrin einfach weitervererbt, ihr wunderbares Gesangstalent wird mit niederen Näharbeiten vergeudet. Die Handlung wird von zahlreichen Mensch-Genico-Paaren vorangetrieben, die einen sind ihren Herren oft gar in Liebe zugeneigt, andere werden kontrastierend schlecht behandelt.

Von Anfang an als Schurke klar erkennbar ist der düstere Graf Dracone, der sich der Hinterlist und brutaler Gewalt gleichermaßen bedient und vielen Genicos mitsamt ihren Herren übel mitspielen wird. Damit hat sich seine Rolle aber auch erschöpft. Er ist zugleich die einzige, immerwährende Quelle des Übels in der Stadt, neben dem allgemeinen Rassismus der Menschen gegenüber den Genicos.

Betrachtet man die zahlreichen Liebesbeziehungen im Spiel um die Macht und die klare Charakterzeichnung, kommt man recht schnell zu der Erkenntnis, um welche Art Roman es sich hier handelt. In einer parabelhaften Weise wird das Leid der stets wunderhübschen oder hochbegabten Genicos der Grausamkeit der rassistischen menschlichen Gesellschaft gegenübergestellt. Dabei sind alle Charaktere von Anfang an als Sympathieträger oder Antagonisten erkennbar, eine Charakterentwicklung findet bei keiner Figur statt.

Nun soll das nicht heißen, der Roman wäre schlecht oder gar langweilig. Er ist leider schrecklich offensichtlich angelegt, die etwas altbackene Art der Charakterisierung ist offensichtlich ein Stilmittel zur Verdeutlichung der klaren Gegensätze. Damit könnte man gut leben, aber leider gibt es diese Stereotypen auch in jedem x-beliebigen Groschenheftchen. Allerdings versteht es Baldry meisterlich, zahllose Erzählstränge nebeneinander parallel zu erzählen und so für Abwechslung zu sorgen. Die Möglichkeiten, die das faszinierende Pseudo-Venedig Baldry bot, hat sie aber leider überhaupt nicht ausgekostet. Man hätte den Roman auch in eine beliebige andere Stadt verlegen können, denn außer zum Ersäufen und spurlosen Beseitigen von Leichen werden die Kanäle der Stadt nicht genutzt, sieht man von einer eher belanglosen Episode mit Meeres-Genicos ab.

Gegen Ende des Romans sorgt zusätzlich ein nahezu wortwörtlicher Deus ex Machina für Ordnung in der Stadt und den Sieg der Guten über die Bösen. Nicht gerade sehr einfallsreich, zumal am Ende des Romans ein ziemlich unbefriedigendes Gefühl bestehen bleibt, wenn sich alles urplötzlich in Wohlgefallen auflöst.

_Fazit:_

Das faszinierende Szenario einer an ein Parallelwelt-Venedig erinnernden Stadt wird leider kaum ausgereizt, die Charaktere sind Stereotypen in Reinkultur. Dass sie durchweg sympathisch und abwechslungsreich beschrieben sind, kann darüber kaum hinwegtäuschen, sie machen aber den Großteil des Charmes des Romans aus. Nur gelegentlich kommt mäßige Spannung auf, das sehr billig herbeigeführte Happy-End kann ebenfalls nicht überzeugen.

Wer sich damit zufrieden gibt, wird leidlich gut bedient. Schade, in meinen Augen hätte der zugrundeliegende Weltentwurf Möglichkeiten für weit mehr geboten als nur einen weiteren mäßigen Groschenroman, dem man ansonsten nur die vorzügliche Übersetzung von Irene Bonhorst zugute halten kann. Der Klappentext, der den Roman in die Tradition Dan Browns und John F. Cases stellt, ist zudem bewusst irreführend: Dieser Roman ist keinesfalls mit denen Dan Browns zu vergleichen, ein bisschen Kirche und Okkultismus qualifizieren nun wirklich nicht dazu. Qualitativ kann man ihn ebenfalls nicht in der Liga dieser Erfolgsautoren ansiedeln.

Kinkel, Tanja – Götterdämmerung

Ein guter amerikanischer Thriller aus deutschen Landen, Götterdämmerung soll genau so etwas sein. Pharmakonzerne, CIA, ein investigativer Journalist und eine schöne junge Frau, die es eigentlich gar nicht geben kann. Da grüßen die bekannten Thrillerautoren, aber Tanja Kinkel kann über weite Teile gut mit ihnen mithalten.

Dies ist die Geschichte von Neil LaHaye, einem Journalisten und Schriftsteller, der einmal mit investigativen Büchern unter anderem über die Krebsopfer von Atombombenversuchen berühmt wurde. Das letzte Buch war über Guantanamo, und das war gar nicht nett. Deswegen ist er jetzt verrufen, deswegen hat er seine Frau verloren – die leider die Stabschefin eines Senators ist. Dann kommt ihm ein neues Thema auf die Tastatur: AIDS. Und dort findet er die Spur eines genialen Wissenschaftlers, des Exilkubaners Victor Sanchez. Sein journalistischer Spürsinn springt an, er geht auf die Suche.
In Alaska sitzt am anderen Ende eines medizinischen Chats Beatrice Sanchez, die Tochter des Genies. Die beiden beginnen einen lebendigen Austausch von Wissen und flirten auch ein bisschen miteinander. Neil ist aber auch sonst nicht untätig, fährt nach Miami, wo Sanchez früher wohnte und interviewt einen alten Freund. Währenddessen entdeckt Beatrice auch eine ganze Menge über sich, denn ihre Herkunft und ihre Lichtallergie, die ihr immer wieder eingeredet wurde, sind nicht ganz so echt.
Bald begegnen sich die beiden auch, und irgendwann explodiert die ganze Geschichte in ein Finale, das dem Buch den Namen gab: Götterdämmerung.

Tanja Kinkel hat da eine Geschichte geschrieben, die vielleicht nicht an Dan Brown in Sachen Spannung heranreichen kann, aber auch in hohem Tempo gelesen werden möchte. Schicht auf Schicht wird eine Überraschung auf die andere gestapelt, manchmal mit feiner Klinge, manchmal mit der schweren Keule werden die Schichten zerstört und damit dem Leser aufgezeigt. Das ist alles sehr lesbar, nicht allzu oft humorvoll, aber insgesamt stimmig. Allein, die Glaubwürdigkeit ist doch in vielem beschädigt, zu weit hergeholt die eine oder andere Tatsache, vor allem zu abgedreht das Ende, denn diese Götterdämmerung nimmt nicht wie erhofft den Atem, sondern wirkt irgendwie künstlich angedockt. Nebenbei gibt es zwischendurch das eine oder andere Detail, das nicht so ganz aufgeklärt wird – was hat es zum Beispiel mit dem zweiten auffälligen Ford auf sich? Warum ist es dieses Auto?
Das vielleicht unbrauchbarste ist die völlige Offenheit, die am Ende bleibt – kein Zweifel, es ist völlig in Ordnung, ein offenes Ende zu schreiben, aber damit fällt Beatrice zumindest hinten runter; was ist mit dieser zweiten Hauptfigur, was kann ihr passiert sein? Über die letzten sechzig Seiten kommt sie nicht vor, da stimmt doch etwas im Handwerk nicht, oder?
Vielleicht ist das noch der kleine Unterschied zu den angelsächsischen Thrillerautoren, die bleiben da doch etwas stimmiger. Ein spannendes Buch, das sein Geld durchaus lohnt, denn 500 Seiten gute Spannung sind ja schon etwas, aber kein Buch, das man nie mehr vergisst.

_Holger Hennig_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de/ veröffentlicht.|

[Verlagsseite zum Buch]http://www.droemer-knaur.de/sixcms/detail.php?id=20578

Gaiman, Neil – American Gods

Neil Gaiman wandelt mit einer gewissen Vielseitigkeit durch die literarische Welt. Bekannt wurde Gaiman zunächst einmal als Autor der vielgepriesenen Comicreihe „Sandman“ (immerhin die meistausgezeichnete Comicreihe der Welt), bevor er sich als Romanautor einen Namen machte. Sein Roman „Niemalsland“ wurde als TV-Serie von der BBC verfilmt, das Buch „Ein gutes Omen“ schrieb er in Zusammenarbeit mit Terry Pratchett und seinem guten Freund Douglas Adams widmete er die Biographie [„Keine Panik!“. 1363 Über Gaimans literarische Vorlieben sagt dieser grobe Überblick schon so einiges aus. Ein wenig fantastisch, ein wenig skurril und auf seine ganz eigene Art immer liebenswürdig erzählt.

In dieser Tradition steht auch „American Gods“. Keine blütenreine Fantasy, sondern ein Mix mit vielerlei Einflüssen. Eine Prise Thriller, ein Schuss Fantastik, abgeschmeckt mit einer großen Portion Roadmovie. Das ist die Mischung, die Neil Gaiman mit „American Gods“ auffährt.

Erzählt wird die Geschichte von Shadow, dem nach drei Jahren Gefängnis die Haftentlassung bevorsteht. Das Leben in Freiheit hatte er sich allerdings ein wenig anders vorgestellt, denn am Tag vor der Entlassung verunglückt Ehefrau Laura mit seinem besten Freund Robbie auf etwas pikante Art tödlich. Shadow steht damit vor dem Nichts. Mit Robbies Dahinscheiden ist auch Shadows Job als Fitnesstrainer in dessen Fitnessstudio weg und mit Lauras Tod scheint ihn ganz allgemein das Glück verlassen zu haben.

Unter recht merkwürdigen Umständen trifft er in dieser Situation einen älteren Herrn namens Wednesday, der ihm recht aufdringlich einen Job als Chauffeur anbietet. Mangels Alternativen und nach anfänglichem Widerwillen nimmt Shadow das Angebot an und stürzt sich damit in eine Reihe ereignisreicher Monate. Wednesday entpuppt sich als der mythische Allvater Odin, der zusammen mit Shadow kreuz und quer durch die USA zieht, um hinter sich die dort versammelten Gottheiten für eine letzte Schlacht zu gewinnen. Gegner sind die modernen Götter des Fernsehens, des Internets und der Technologie. Ein Sturm zieht herauf, der alles zu verändern droht und mittendrin in dieser Götterdämmerung steht Shadow …

In epischem Format breitet Gaiman die Geschichte vor dem Leser aus. Gemächlich baut er die Handlung auf, führt Götter und Hauptfiguren ein und webt einen kontinuierlich aufwärts strebenden Spannungsbogen. „American Gods“ ist schon ein recht dicker Brocken geworden, was sowohl Vor- als auch Nachteile hat.

Besonders intensiv begleitet Gaiman seinen Protagonisten Shadow, angefangen von dessen letzten Stunden in Haft. Shadow ist eine durchweg sympathische Hauptfigur, die auf den ersten Blick manchmal ein wenig naiv wirken mag, sich aber bei näherer Betrachtung durch eine gewisse Bauernschläue auszeichnet. Shadow ist gerissener und cleverer, als man es ihm im ersten Moment zutraut, behält aber den ganzen Roman über ein recht hohes Maß an Bodenständigkeit, was in Anbetracht seiner Erlebnisse beileibe keine Selbstverständlichkeit ist.

So kurios die Dinge auch sein mögen, die Shadow passieren, er nimmt das alles relativ gelassen. Und Shadow hat so einiges mehr an merkwürdige Dingen zu ertragen. Immer wieder wird er von sonderbaren Träumen geplagt, deren Bedeutung sich erst im Laufe des Buches herauskristallisiert. Seine verschiedene Ehefrau Laura stattet ihm, etwas blass um die Nase zwar, aber scheinbar lebend, bzw. zumindest nicht so richtig tot, immer wieder Besuche ab. Seine Arbeit für den Allvater Odin mag da schon fast als natürlich erscheinen.

Zusammen mit Wednesday begibt sich Shadow auf eine Reise kreuz und quer durch die USA, auf der er seltsame Erfahrungen sammelt und den sonderbarsten Gottheiten begegnet. Das Auftreten der unterschiedlichsten Gottheiten ist dabei eine unverkennbare Stärke des Romans. Gaiman zeigt, wie diese Gottheiten, die aus allen Teilen der Welt stammen, in der realen Welt leben. Von der Menschheit nicht mehr beachtet und nicht mehr geehrt, fristen sie teilweise ein recht trostloses, geradezu menschliches Dasein in den USA. So haust beispielsweise der slawische Gott Tschernobog als pensionierter Schlachthofangestellter in Chicago, während die hübsche Bilquis, ehemals die Königin von Saba, sich ihren Unterhalt als Prostituierte verdient. Gaiman skizziert allerlei skurrile Portraits, so dass die Zeichnung der Figuren in jedem Fall ihren Reiz hat. Gaiman wandelt auf einem schmalen Grat zwischen Fantasy und bekannten Mythen und spinnt daraus eine ganz eigene, reizvolle Geschichte. Damit der Leser zwischen den vielen Figuren und Gottheiten nicht den Überblick verliert, gibt es obendrein am Ende ein Götter-Glossar.

Die Handlung selbst überzeugt dabei je nach Ausprägung unterschiedlich. Gaiman arbeitet sich durch einen recht komplexen Stoff, mit vielen Haupt- und Nebenfiguren, und manchmal erweckt der Roman ein wenig den Anschein, als würde er sich dabei verzetteln. Immer wieder schiebt er neue Handlungsstränge ein, setzt zu Zwischenspielen an und lässt seine Figuren auf unterschiedlichen Handlungsebenen agieren. Das hat zwar durchaus seinen Reiz, ist aber manchmal etwas viel des Guten, denn nicht immer wird dabei die Geschichte so konsequent weitergeführt, wie man es sich als Leser wünschen möchte.

So schleichen sich an manchen Stellen kleinere Längen ein, die Spannung sackt ein wenig ab und die Atmosphäre wirkt nicht mehr so dicht, wie sie noch an anderen Stellen erscheint. Auch die Auflösung überzeugt dabei nicht bis ins Detail. Ein wenig plötzlich kommt das Ende und in Teilen auch ein wenig aus dem Nichts. Dadurch bedingt, legt man das Buch am Ende zwar insgesamt zufrieden beiseite, aber dennoch auch mit einem leichten Stirnrunzeln. Die letzten Zweifel an der logischen Zusammenführung der Handlung kann das Ende leider nicht ausräumen, wenngleich es sich durchaus spannend liest.

Deutliche Stärken zeigt der Roman allerdings immer dann, wenn er sich auf Shadow als Hauptfigur konzentriert. Shadows Teil der Reise, den er alleine bestreitet, sein zeitweiliges Leben in der Abgeschiedenheit des eingeschneiten Ortes Lakeside, seine Zeit im Hause der Bestattungsunternehmer Ibis und Jacquel (ihrerseits ebenfalls in die Jahre gekommene Gottheiten) – das sind die Teile der Geschichte, die erzählerisch am meisten zu überzeugen vermögen.

Ansonsten ist „American Gods“ ein Roman, in den sich obendrein sehr viel hineininterpretieren lässt. Der Kontrast zwischen den Göttern der alten Welt und ihrer zunehmenden Bedeutungslosigkeit und den neuen Göttern der Menschheit hat einen gewissen Reiz. Fortschritt trifft auf alte Mythen, Tradition trifft auf Moderne und das alles in einem Land, das für sich genommen noch recht jung ist und welches das Bewusstsein für die eigenen Wurzeln oft vermissen lässt. In diesem Aspekt steckt schon ein gewisser Symbolcharakter, der sich sicherlich auch als Kritik verstehen lässt. Gaimans Roman bekommt durch solche Denkansätze mehr Tiefe, als man auf den ersten Blick vermuten mag.

Doch darüber hinaus weiß Gaiman obendrein zu unterhalten. Es ist die Mischung, die den Reiz ausmacht. Einerseits die mythenbehafteten Figuren, in einer Welt´, der es zunehmend an Mythen mangelt, andererseits aber auch eine sehr ausgeprägte Ader für das Skurrile und mitunter Komische. „American Gods“ ist eine durchaus vielschichtige Mischung, die man mit Vergnügen lesen mag. Gaimans Stil liest sich ganz locker runter, seine Art zu erzählen ist für sich genommen schon recht unterhaltsam, auch wenn die Übersetzung in manchen Punkten ein wenig steif wirken mag.

Kurzum, „American Gods“ ist sicherlich Neil Gaimans bislang komplexester Roman. Schön zu lesen, unterhaltsam und mit zunehmender Seitenzahl obendrein spannend, ist „American Gods“ ein Roman, der ganz eigenwillig auf einem schmalen Grat zwischen Fantasy, Mythologie, Roadmovie und Thriller wandelt. Gaiman fährt skurrile und liebenswerte Figuren auf, erzählt schräge und komische Geschichten und fasst das Ganze in einen größtenteils überzeugenden Rahmen. Dass die Handlung manchmal ruhig etwas straffer und logisch nachvollziehbarer verlaufen dürfte und die Geschichte nicht immer mit der letzten Konsequenz erzählt wird, sind zwar kleine Schönheitsfehler, aber mit denen lässt es sich durchaus leben.

http://www.neilgaiman.de/

Aldous Huxley – Brave New World

Schöne neue Welt, greifbarer denn je

|Im Jahre 1932 schrieb Aldous Huxley seinen Roman „Brave New World“, eine Anti-Utopie, deren Gesellschaftssystem wesentlich darauf beruht, dass man in der Lage ist, Menschen künstlich zu reproduzieren und sie physisch und psychisch ihrer zukünftigen Funktion im Staat anzupassen. Angesichts des aktuellen Standes der Wissenschaft erscheint Huxleys Utopie in weiten Teilen greifbar. Die Gentechnik entwickelt sich mit großen Schritten vorwärts. Was 1932 noch utopisch war, ist in der Gegenwart bereits greifbar. Da verwundert es nicht, dass der Begriff „schöne neue Welt“ bereits zu einem geflügelten Wort geworden ist. Die Möglichkeiten, die sich durch die Gentechnik ergaben und zukünftig noch ergeben werden, stellen neue Anforderungen hinsichtlich der Grenze zwischen dem Möglichen und dem Nötigen (dem ethisch-moralisch Vertretbaren) an den Menschen.

Der Roman ist im Original leicht verständlich und für eine Lektüre „zwischendurch“ geeignet. Den Detailreichtum einer Science-Fiction darf der Leser nicht erwarten. Die technischen Verfahren der Eugenik z. B. wurden von Huxley nur skizziert. Ich persönlich schätze den Roman wegen seiner fortwährenden Aktualität und seines (moral-)philosophischen und ethischen Diskussionspotenzials.

Die deutsche Übersetzung kann ich nicht empfehlen, da man den Handlungsort verlegte und die Namen der Protagonisten verändert hat, was meiner Meinung nach einen unangemessener Eingriff in die Rechte des Autors darstellt.

Der Weg zur „Schönen neuen Welt“

Bereits in den Werken der 20er Jahre entwickelt Huxley Ideen, die in seinem 1932 erstmals veröffentlichtem Roman „Brave New World“ (dt. „Schöne neue Welt“) wieder auftreten und neu verknüpft werden.

In „Crome Yellow“ (1921) zum Beispiel findet man bereits die Idee zur Trennung von Eros und Fortpflanzung in der Vision eines Zukunftsstaates. Es taucht ebenfalls die Anlage einer streng hierarchisch aufgebauten Gesellschaftsordnung auf, in der die Elite mit Hilfe von Suggestion und Konditionierung ihre Gesellschaftsmitglieder lenkt. In seinen „Proper Studies“ (1926/27) zeichnet er bereits die Planungsskizze der Gesellschaft der „Brave New World“ als eine mit Hilfe der Eugenik konstruierte, pyramidenförmige Gesellschaft.

In „Point Counterpoint“ (1928) findet man das Thema der aus Büchern gewonnenen, vergeistigten und idealisierten Liebe, wie sie John Savage und zum Teil auch Bernhard Marx in der |brave new world| empfinden werden. Außerdem sieht man in diesem Roman deutlich die Weiterentwicklung der Vision aus „Crome Yellow“ in Gestalt einer vergnügungssüchtigen, in sexueller Promiskuität lebenden jungen Witwe, in der damit bereits wesentliche Charakterzüge der Frauen in der schönen neuen Welt vorgezeichnet sind.

Ein Jahr vor der Veröffentlichung des Romans „Brave New World“, wird der Essayband „Music at Night“ (1931) herausgegeben, in dem sich die thematischen Stränge noch einmal verdichten; zum Beispiel: systematische Eugenik und Verringerung der Weltbevölkerung, leisure-syndrom (Langeweile aufgrund von zu viel Freizeit) in industrialisierten Gesellschaften, Beschäftigung mit Kultur als Zeitverschwendung und fundamentale Bedrohung des industriell gewollten Massenkonsumverhaltens, Kastensystem und dementsprechende Bildung (bzw. Nichtbildung) sowie synthetische Drogen.

Huxley entwickelte also bereits Jahre vor „Brave New World“ Ideenstränge, die er immer wieder aufgriff und weiterentwickelte, bis sie schließlich in diesem Roman neu zusammengestellt wurden. Waren Huxleys Werke bis zu diesem Zeitpunkt immer Ideenromane oder Essays, schrieb er mit „Brave New World“ seine erste (negative) Utopie.

Inhalt

Als |novell of ideas| konzipiert, stellt Huxley dem Leser in „Brave New World“ eine Welt vor, in der wissenschaftliche Ideen, Methoden und Praktiken im Vordergrund der Gesellschaft stehen.

Der Plot ist im Jahre 632 nach Ford (dem „Erfinder“ der Fließbandproduktion) angesiedelt. Wie in George Orwells „1984“ und Samjatins „Wir“, mit denen Huxleys Werk sich immer wieder vergleichen lassen muss, so haben wir es auch in „Brave New World“ mit einem totalitären System zu tun, in dem zehn Controller (dt. Weltaufsichtsrat) über das zweifelhafte, angenormte Glück der Bewohner eines Weltstaates wachen.

Wesentlich für den Roman ist eine Gegenüberstellung von der auf Glück genormten Gesellschaft der schönen neuen Welt und ihrer Außenseiter.

Helmholtz Watson ist seiner Kaste geistig überlegen und versucht eigene Wege zu gehen. Sein Freund Bernhard Marx – wie er ein Alpha-Plus – ist Außenseiter aufgrund eines Fabrikationsfehlers, durch den er nicht dem Idealbild der Kaste entspricht.

Marx trifft während eines Urlaubs mit Lenina Crown, zu der er unerlaubte Liebesgefühle entwickelt hat, in einem Reservat auf John Savage, der dort bereits eine Außenseiterfunktion einnimmt und sich auch als Außenseiter mit der, von ihm nach einem Shakespeare-Zitat benannten, brave new world auseinandersetzen muss. Vor allem Watson und Savage bilden die Opposition und scheitern. Marx und Watson werden auf eine Insel verbannt. John Savage entzieht sich zunächst dem Experiment des controllers Mustapha Mond und begeht später Sebstmord.

Stabilität

Das zentrale Ziel der Gesellschaft formuliert der controller als Stabilität. Dabei handelt es sich sowohl um wirtschaftliche und soziale Stabilität des gesamten Systems als auch um individuelle Stabilität eines jeden Einzelnen. Erreicht wird diese mittels einer konsequenten und systematischen Eugenik, postnataler Konditionierung und Suggestion. Dazu zählen künstliche Zeugung, das Bokanowsky-Verfahren (Prinzip der Massenproduktion übertragen auf die Biologie), Neo-Pawlowsche Reflexnormung und Hypnopädie. Diese biologischen Verfahren ersetzen die physische Gewalt, die in den Antiutopien „1984“ und „Wir“ zum Erhalt der Macht aufgebracht werden muss. Hinzu kommen eine lebenslange Jugendlichkeit, Kastenwesen, begrenztes Wissen und eine promiskuitive Sexualität. Der Staat muss den Menschen mit allen erwähnten Mitteln zum Zweck der sozialen Stabilisierung ganz klar die Freiheit entziehen. Doch die Bewohner dieser Welt empfinden den Mangel an Freiheit nicht, da alles getan wird, um sie von der Retorte an mit und in ihrem Leben zufrieden zu stellen. Sie sind glücklich, weil das universelle Glück ihnen angenormt wurde und das Sklaventum annehmbar macht.

Weil keine Fordsche Massenproduktion existieren kann, wenn es keinen Massenkonsum gibt, ist die Gesellschaft im Grunde auf die Dynamik des Konsums ausgerichtet. Sie wird in die Konditionierung mit einbezogen: „The more stiches, the less riches. (…) Mending is antisocial.“ Als konsumorientierter, guter Bürger der brave new world wirft man beschädigte Sachen weg und kauft neue. Materielle Bedürfnisse werden ohne Aufschub befriedigt.

Liebe zur Natur fördert den Konsum nicht in ausreichendem Maße, deshalb wird den Menschen Hass auf die Natur angenormt. Doch gleichzeitig werden sie auf die Liebe zum Freiluftsport konditioniert, denn banale Sportarten wie Obstacle Golf oder Electromagnetic Golf erfordern großen materiellen Aufwand.

Kultur und Kunst werden abgelehnt, da den Menschen die nötigen Gefühle fehlen. Außerdem fördern Kunst und Kultur keinen Verbrauch von Konsumgüter. Der Mensch in Huxleys Utopie soll sich nur zwischen Arbeit und kollektivem Konsumvergnügen bewegen. Das verhindert seine Isolation. Das verhindert Reflexion. Die Manipulation der Menschen erfolgt folglich neben den politischen ganz klar auch zu wirtschaftlichen Zwecken.

So produziert der eugenische Wirtschaftszweig den perfekten Menschen für die „consumer society“. Die Eugenik hält die Population stabil, welche wiederum die Wirtschaft stabilisiert, indem sie konsumiert. Dieses principum mobile muss reibungslos laufen, damit die Gesellschaft funktioniert. Deshalb gibt es zur Sicherung der Stabilität zusätzlich die Droge Soma. Sie wirkt euphorisierend, narkotisierend und weckt angenehme Halluzinationen. Sie bietet einen Urlaub von der Wirklichkeit ohne Nebenwirkungen. Man kann mit ihr aus einer Situation persönlichen Ungleichgewichts fliehen, um mit dem Aufwachen wieder seinen gewohnten Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Die Gesellschaft legalisiert diese Droge, um das statische Glück aufrechtzuerhalten. Ein Leben ohne negative Gefühle ist gleichzeitig ein Leben ohne Konflikte. Soma hilft, den Konflikten aus dem Weg zu gehen.

Wohin nun aber in einer glücklich-zufriedenen Gesellschaft mit den menschlichen Aggressionen und der überschüssigen Energie? Die Unterhaltungsindustrie hat so genannte |feelies| entwickelt. Das sind Filme mit einem simplen didaktischen Plot, die in speziellen Kinosesseln sitzend gesehen werden müssen, wobei durch Sensoren in den Sesseln menschliche Nerven stimuliert werden und der Zuschauer dadurch die Gefühle der Darsteller teilt. „Take a hold of those metal knobs on the arms of your chair,‘ wispered Lenina. (…) That sensation on his lips! He lifted a hand to his mouth, the titillation ceased; let his hand fall back on the metal knobs, it began again. … the stereoscopic lips came together again, and once more the facial erogenous zones of six thousand spectators in the Alhambra tingled with almost intolerable galvanic pleasure. “

Man erlebt nicht nur sexuelle Stimulation, sondern auch eine katartische Wirkung über Schmerzen und Angst bis zu Freude und Erleichterung. So sorgt die Unterhaltungsindustrie dafür, dass Emotionen durch den Konsum von Unterhaltung abgebaut werden und einem Gefühl von Entspannung weichen.

In den Kinos laufen ebenso die Feelytone-News, und es gibt ein Hourly Radio. Das sind die beiden Informationsquellen, die wie alles in der brave new world der staatlichen Kontrolle und damit der Zensur unterliegen. Es gibt keinen Pluralismus in dieser Gesellschaft. Damit ist der Weg für die einseitige Massenbeeinflussung frei.

Für dem Abbau überschüssiger Energie und Emotionen existieren neben den feelies auch orgiastisch-gottesdienstähnliche Rituale wie der Solidarity Service. Wenn man den Konsum an sich als Religionsersatz betrachtet, finden wir in Ford den Gottesersatz. Für Our Ford werden Community Sings und Solidary Services abgehalten. Außerdem gibt es auch die Ford Day Celebration. Der controller Mustapha Mond wird als His Fordship bezeichnet, seine Äußerungen als: „Straight from the mouth of Ford himself.“ Er ist also die legitime Vertretung Fords in der literarischen Gegenwart. Die gottesdienstähnlichen Rituale der Gemeinschaftsandachten dienen wie die Unterhaltungsindustrie lediglich dazu, kontrolliert zu stimulieren, um die Emotionen abzubauen und zusätzlich das Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Religion, wie heutige Leser sie auffassen, wird als Aberglaube angesehen.

Die Gegenwelt

Findet der Leser in der brave new world die moderne Gegenwartsgesellschaft der Utopie, wird er mit einem Ausflug in ein Reservat in eine andere Welt geführt. Sie mag für den Leser einerseits vertrauter sein, da sie eine Gesellschaft mit der heutigen sozialen Struktur zeigt. Doch ihre Primitivität mutet genauso befremdlich an wie die stabilisierte Gesellschaft der brave new world.

So empfindet Lenina es dort angesichts des allgegenwärtigen Schmutzes als |oppressively queer| und mit dem Alterungsprozess, mit Hässlichkeit und Krankheit konfrontiert als terrible und awful, denn jemand aus der fortschrittlichen brave new world kann sich nicht in das rückschrittliche Leben eingliedern, da der gewohnte Komfort immer vermisst wird, wie der Autor exemplarisch an Johns Mutter vorführt. Dennoch erkennt Lenina in einem Fruchtbarkeitsritual der Indianer zumindest anfangs Solidary Services, Ford’s Day Celebrations und lower-caste Community Sings wieder, kann also diesen Lebensbereich der Indianer mit ihrem Leben verbinden.

Das Reservat ist somit kontrastierend entworfen, bildet jedoch keinen völligen Gegensatz und ist ebenfalls nicht positv zu nennen. Dazu heißt es im Vorwort des Romans: „The Savage is offered only two alternatives, an insane life in Utopia, or the life of a primitive in an Indian village, a life more human in some respects, but in others hardly less queer and abnormal.“

Doch kann Huxley zugleich mit dem Reservat die Außenseiterfigur des John Savage einführen, eines völlig Fremden in der brave new world und, bedingt durch die Herkunft seiner Mutter, ebenfalls Außenseiter im Reservat. So ist die Welt des Reservats keine Alternative, sondern ein der brave new world entgegengesetzter Wahnsinn einer primitiven Welt mit Fruchtbarkeitskult und Büßertobsucht – und gleichzeitig ein literarischer Kniff.

Konflikte in einer konfliktlosen Welt

Natürlich darf es in einer stabilen Gesellschaft keine Konflikte geben. In Samjatins „Wir“ werden Oppositionelle hingerichtet. Falls sie jedoch gebraucht werden, so wie der Raketeningineur D-503, werden sie eugenisch umgeformt, so dass sie sich wieder in die Gesellschaft integrieren lassen. Auch Orwell lässt diese Integration nach erfolgreicher Gehirnwäsche als Alternative für den Protagonisten offen. Der Leser weiß jedoch auch, dass selbst Leute, die später hingerichtet werden, solch einer Gehirnwäsche unterzogen werden, damit sie mit dem Gefühl sterben, sie hätten es verdient, und dieses Gefühl bei ihrer Hinrichtung an die Zuschauer weitervermitteln.

Bei Huxley münden die Konflikte in einer Schlussdebatte mit dem controller (Kap. IX-XVII), der zunächst Helmholtz und Bernhard über ihre Verbannung auf eine Insel informiert. Während Helmholtz das gelassen aufnimmt, reagiert Bernhard mit so viel Angst und Entsetzen, dass er weggebracht und beruhigt werden muss. Mustapha Mond erzählt, dass er selbst einmal vor der Wahl stand, auf eine Insel verbannt oder controller zu werden; die Freiheit und die Wahrheit der Wissenschaft mit allen Konsequenzen oder controllership und die Stabilität mit all ihren Konsequenzen zu wählen. Er entschied sich für Letzteres und hat damit bezahlt, sich nicht mehr der Wissenschaft hingeben zu können. Diese Entscheidung wird auf Watson übertragen. Er bezahlt dafür, zu interessiert an Schönheit und damit Kunst zu sein. An dieser Stelle tritt Watson ab.

Die individuelle Entscheidung des controllers erweist sich als dieselbe Entscheidung, welche die Menschheit nach einem neunjährigen Krieg treffen musste. „God isn’t compatible with machinery and scientific medicine and universal happiness. You must make your choice. Our civilization has chosen machinery and medicine and happiness.“

Die Stabilität funktioniert also als logische Konsequenz aus der grundsätzlichen Wertentscheidung für happiness, machinery und medicine, damit aber auch für Frieden, Sicherheit, materiellen Wohlstand, Befreiung sowohl von negativen als auch positiven Gefühlen, universelles Glück und Unfreiheit. Es wird keine Entwicklung mehr geben. Die Zukunft ist immerwährende Gegenwart. Deshalb dürfen keine Außenseiter (destabilisierende Individuen) geduldet werden, werden Marx und Watson verbannt, muss der Autor John Savage sterben lassen.

Huxley hin oder her – es bleibt die Frage: Wie weit sind wir heute noch von der schönen neuen Welt enfernt? Ein Beitrag zu dieser Frage wurde im September/Oktober 1999 in der „Zeit“ diskutiert. Diese Diskussion ist als die Sloterdijk-Debatte in der Öffentlichkeit bekannt geworden.

Die „Schöne neue Welt“ unserer Zeit

An der Sloterdijk-Debatte in der „Zeit“ beteiligten sich namhafte Philosophen, Rechtswissenschaftler und Bioethiker wie Thomas Assenheuer, Jürgen Habermas, Manfred Frank und Ernst Tugendhat, um nur einige zu nennen.

Sie schätzten Sloterdijks Vortrag „Regeln für den Menschenpark“ (1997, 1999) einhellig für mehr provokativ-assoziativ als kompentent ein. Es wurde kritisisiert, dass eine klare These und rationale Handlungsempfehlungen fehlen, und stattdessen der Schauder, der heute noch von Nietzsches Philosophie ausgeht, ästhetisiert und sein Kontext nicht beachtet wurde. Anstatt mit Platon, „dessen Ruhm sich nicht gerade auf Beiträgen zur Naturwissenschaft gründet“, Heidegger und Nietzsche zu argumentieren und sich hinter ihnen zu verstecken, hätte brandaktuelles Material aus der Bioethik verwendet werden sollen (M.Frank).

Weitgehend einig war man sich jedoch darüber, dass die Anwendung gentechnischer Methoden heute bereits außer Frage steht. Die pränatale Diagnostik (PND; Ultraschall, Triple test, Chorionzottenbiopsie, Amniozentese) bietet die Möglichkeit, Krankheiten frühzeitig zu erkennen und unmittelbar nach der Geburt, mitunter sogar noch im Uterus zu behandeln. Außerdem erleichtert es die Selektion behinderten Lebens. Da die Mehrzahl behinderter Kinder heute abgetrieben wird, findet eine stille Selektion bereits seit Jahren statt. Was in der Sloterdijk-Debatte also noch theoretisch diskutiert wurde, ist längst schon gegeben. Inzwischen wurde der „genetische Bauplan des Menschen“ bereits zum großen Teil dechiffriert. Damit erhofft sich die Wissenschaft weitere Möglichkeiten u. a. zur Früherkennung von Erbkrankheiten.

Mit Hilfe der Polkörperdiagnostik und Präimplantationsdiagnostik (PID) kann Leben in vitro erzeugt und bewusst selektiert werden, da sie innerhalb von 24 Stunden bereits Aufschluss darüber gibt, ob das Embryo schädliches Erbgut trägt. Somit öffnet die PID „die Tür zur schönen neuen Welt des Baby-TÜVs.“

Die künstliche Insemination bietet theoretisch zusätzlich zu der Option auf ein gesundes Kind, wie es die PND und PID ermöglichen, auch noch die Möglichkeit, das Geschlecht seines Kindes selbst zu bestimmen, da Spermien mit einem weiblichen und Spermien mit männlichem Chromosomensatz bis zu einem gewissen Grade getrennt werden können.

Die Schwangerschaft mit den bereits besprochenen Möglichkeiten ist ein moralisches Minenfeld geworden. Vermutlich wird es nicht bei der negativen Auslese bleiben, sondern früher oder später werden Eltern auch positive Forderungen stellen: größer, schöner, intelligenter. Was so lange nur Wunsch war und dem genetischen Zufall überlassen wurde, könnte bald durch genetische Planung in den Bereich des Möglichen treten. Schon heute ist ein Verlust der Schicksalsakzeptanz zu erkennen. Junge Eltern erwarten von Ärzten nicht nur Unterstützung während der Schwangerschaft, sondern ein Gütesiegel auf ein gesundes Kind.

PND, PID … Die Grenzen des Machbaren werden immer mehr ausgeweitet. Dennoch kann sich jedes Retortenkind sicher sein, dass es einzigartig auf der Welt ist; das Produkt zweier biologischer Eltern. Doch spätestens seit Klonschaf Dolly weiß die Weltöffentlichkeit, dass man Nachkommen auch aus einer einzigen Zelle und ganz ohne den biologischen Akt der Befruchtung züchten kann. Das Klonverfahren Dollys entspricht zwar nur bedingt dem Huxleyschen Bokanowsky-Verfahren, aber den Kerngedanken der künstlichen Reproduktion, der Züchtung identischer Lebewesen haben sie dennoch gemein. Und Nachrichten von angeblichen Klonbabys zeigen, dass die Wissenschaft beim Klonen von Tieren nicht Halt macht.

Der wissenschaftliche Fortschritt bietet den Menschen neue Möglichkeiten, die zugleich die menschlichen Wertesysteme erschüttern. Wird man den Menschen nicht länger als ein Produkt des Zufalls, sondern als das einer bewussten Entscheidung sehen müssen? Wissenschaftler stimmen darin überein, dass es nicht möglich sein wird, das menschliche Erbgut in toto umzukrempeln, doch die gesellschaftliche Moral verändert sich stark. Deshalb wird es in nächster Zukunft wichtig sein, die Grenzen der experimentellen Zweckmäßigkeit festzulegen, damit man zwischen falsch und richtig unterscheiden kann, und die Ethik dem Fortschritt nicht länger hinterherhinkt.

Fraglich ist nur, worauf sich ein Codex der Anthropotechniken, wie ihn Sloterdijk sich wünscht, basieren soll. Kann der Ersatz der Ethik nur aus der Züchtung selbst kommen? Oder sollte man sich bei der bei der Grenzfestlegung auf ethische Werte wie Freiheit und Verantwortung stützen? Was als Utopie Huxleys began und als Sloterdijk-Debatte fortgesetzt wurde, ist noch lange nicht abgeschlossen.

Taschenbuch: 237 Seiten
Sprache: Englisch
www.klett.de

Barclay, James – Schattenpfad (Die Chroniken des Raben 3)

Der Rabe zieht endlich weiter, die Schlacht um Balaia geht in die nächste Runde, und wiederum haben sich zahlreiche Wendungen im Kriegsspiel der Söldnertruppe ergeben. Oder besser gesagt, James Barclay hat sich wieder so einiges einfallen lassen, um die Geschichte um Hirad Coldheart und seine Mannen fortzusetzen, und wiederum – das wundert mich jetzt auch eher weniger – hat er dabei eine wirklich fabelhafte Erzählung erschaffen, die in der modernen Fantasy-Literatur ihresgleichen sucht.

Denser hat den magischen Spruch „Dawnthief“ gewirkt und die Wytchlords besiegt. Die Wesmen fallen in der Schlacht in großen Zahlen, der Kampf gegen das Böse scheint also gewonnen. Doch schon erfüllt eine neue Bedrohung die Welt von Balaia mit Angst und Schrecken, denn der magische Spruch hat ungeahnte Folgen mit sich gebracht. Direkt über der Pyramide der Wytchlords ist ein Riss im Himmel entstanden, der ein Tor zur Paralleldimension der Drachen geöffnet hat. Zwar kämpfen der mächtige Drache Sha-Kaan und die Söldnertruppe des Raben Seite an Seite, doch weil sich dieser Riss immer mehr ausweitet, kann die Pforte von den Drachen nicht mehr lange bewacht werden. Nur Hirad, Denser, Ilkar, Der Unbekannte, Erienne, Thraun und Will (oder kurz: der Rabe) können diese Entwicklung noch aufhalten, indem sie in kürzester Zeit in Erfahrung bringen, wie sie mittels „Dawnthief“ das Loch wieder schließen können.

Doch die Zeit rennt davon, der Rabe muss sich mit Männern aus den eigenen Reihen auseinandersetzen und die Drachenbrut Kaan wird auch immer schwächer. Und als wäre dies nicht schon schlimm genug, steht das Magier-Kolleg Julatsa unter Belagerung. Jetzt beginnt der Kampf gegen das Böse erst so richtig …

„Schattenpfad“ ist meiner Meinung nach das bislang beste Buch aus der Serie „Die Chroniken des Raben“. Nachdem ich von den ersten beiden Bänden schon restlos begeistert war und die Welt von Balaia mit all ihren Details und Intrigen kennen gelernt habe, begreife ich jetzt erst die Tragweite bestimmter Verhältnisse und Beziehungen und komme auch langsam hinter das Geheimnis der verschiedenen Dimensionen. Wenn ich oben schreibe, dass der Kampf gegen das Böse erst jetzt so richtig losgeht, dann kann man das in vollem Maße wörtlich nehmen. Die ersten beiden Bände, die in sich eine abgeschlossene Handlung beinhalteten, darf man getrost als Einleitung für die ‚richtige‘ Geschichte betrachten, ohne „Zauberbann“ und „Drachenschwur“ so abzuwerten.

Nun kennt man alle Protagonisten, man hat sich gedanklich mit der Karte von Balaia vertraut gemacht, und man ist mittendrin in den Verstrickungen unter den verschiedenen Kollegs. Deshalb ist es während der gesamten 400-seitigen Geschichte auch absolut kein Problem, dass teilweise fünf oder sechs Handlungen nebeneinander ablaufen. Da wird um Julatasa gekämpft, der Rabe muss sich mit verschiedenen ‚Kollegen‘ herumschlagen, die Geschichte des mächtigen Magiers Septern wird in Form einer Retrospektive aufgearbeitet, die Schlacht zwischen der Drachenbrut Kaan und ihren Konkurrenten wird verfolgt und darüber hinaus werden auch noch jede Menge zwischenmenschliche Dinge ausgelotet – ohne dass auch nur zu einer Sekunde Verwirrung entstehen könnte.

Barclay kann sein Talent als Schriftsteller hier mehr als nur eindrucksvoll unter Beweis stellen. So kompliziert die Story nach außen hin auch klingen mag, so simpel ist sie prinzipiell dann auch wieder. Sein einfacher, recht moderner Schreibstil erleichtert dabei den Zugang und setzt dort an, wo die Vorgängerbände aufgehört haben, nur dass er sich dieses Mal noch verzwicktere Situationen ausgedacht hat. Für mich sind „Die Chroniken des Raben“ so ziemlich das Beste, was der Fantasy-Bereich neben dem Tolkien-Stoff zu bieten hat. Ich ärgere mich jedenfalls jetzt schon, dass ich den Nachfolgeband „Himmelsriss“ (angekündigt für September 2005) noch nicht in meinen Händen halte, denn der Wissensdurst nach einer Fortsetzung der Geschichte des Raben ist kaum noch auszuhalten.

Wer in Sachen Fantasy mitreden möchte, kennt „Die Chroniken des Raben“ bereits oder besorgt sich jetzt ganz schnell die ersten beiden Bücher, holt noch einmal tief Luft und verschlingt dann „Schattenpfad“ in einem Rutsch. Ich habe sage und schreibe einen Tag für diesen Wälzer gebraucht …

Homepage des Autors: http://www.jamesbarclay.com
Homepage des Zyklus: http://www.ravengazetteer.com

Band 1: [„Zauberbann“ 892
Band 2: [„Drachenschwur“ 909

Hand, Stephen – Texas Chainsaw Massacre

Travis County, ein von Gott und der Welt vergessener Landstrich im US-Staat Texas im brütend heißen August des Jahres 1973. Fünf junge Menschen sind unterwegs zu einem Rockkonzert in Dallas. Zuvor war man in Mexiko und hat dort billiges Marihuana gekauft. Kemper, der Fahrer und Besitzer des Vans, hat auch deshalb eine Abkürzung abseits des Highways gewählt. Seine Freundin Erin darf nichts von dem Schmuggel wissen; die junge Frau ist wesentlich „erwachsener“ als er und kann geistige Unreife und moralischen Schlendrian überhaupt nicht leiden. Aus anderem Holz sind Kempers Freunde Morgan und Andy geschnitzt, die den Spaß am Leben genießen. Ähnlich denkt Pepper, eine junge Frau, die man als Anhalterin auf der Straße aufgelesen hat.

Die Fahrt findet ihre abrupte Unterbrechung, als ein offensichtlich verwirrtes Mädchen dem Van fast vor den Kühler läuft. Es ist verletzt, steht unter Schock – und als es merkt, dass Kemper in die Richtung fährt, aus der sie kam, gerät sie in Panik, zieht einen Revolver und schießt sich durch den Kopf.

Das Quintett ist entsetzt. Mitten im Niemandsland hat man eine Leiche am Hals. Erin behält die Nerven und will die Polizei benachrichtigen. Gerade nähert man sich dem Dorf Fuller, wo Sheriff Hoyt seines Amtes waltet. Auf die jungen Leute wirkt er merkwürdig und verschlagen, aber als der Sheriff das Dope entdeckt, sind sie ihm ausgeliefert. Ohnehin sitzen sie längst in einer wohl geschmierten Todesfalle, wie Erin und Kemper bestätigen könnten, die inzwischen den vertierten Hewitt-Clan getroffen haben. Thomas, genannt „Leatherface“, ein durch Krankheit verstümmelter, wahnsinniger Mörder, zerlegt seine Opfer mit der Kettensäge in Stücke und verarbeitet sie zu Wurst. Den Besitz der so Verschwundenen reißen sich der Rest der lieben Familie und Hoyt unter den Nagel. Die Bande hat den Ort völlig unter ihrer Kontrolle; wohin die fünf Freunde sich auch wenden, finden sie nur das Grauen – und Leatherface, der sie mit knatternder Kettensäge erwartet …

Die Geschichte ist längst Legende, ihre Neufassung als Film war erfolgreich, das Buch zu diesem liest sich flott und anspruchslos – ein weiterer Horrorstreifen des frühen 21. Jahrhunderts also, gern gesehen/gelesen & schnell wieder vergessen? So einfach ist es nicht. Es steckt mehr hinter dieser ganz speziellen Story.

„Texas Chainsaw Massacre“ ist als Film von 2003 und erst recht als Buch zum Film von 2003 nur unter Berücksichtung der dreißig Jahre älteren Originalverfilmung zu interpretieren. Ohne das Wissen um Tobe Hoopers Klassiker, der sogar seinen Weg ins „Museum of Modern Art“ gefunden hat, erlebt man nur einen weiteren, handwerklich gut gemachten aber sicher nicht originellen Horrorfilm der „alten Schule“, d. h. brutal, blutig, ohne ironische Brüche, die das Grauen relativieren und leichter erträglich werden lassen.

Welches Grauen eigentlich?, fragt sich indes der Eingeweihte. Zu Recht, denn über kurze Momente einer jenseits des Ekels schwer verständlichen Verstörung kommt die neue „TCM“-Version nie hinaus. Da war der Vorgänger von ganz anderem Kaliber. Ausgerechnet im Buch zum neuen Film wird immerhin ein Aspekt deutlicher herausgearbeitet, werden Leben, Tod & Essen – drei Grundkonstanten und ihre gern verdrängte Nähe in den Mittelpunkt gerückt. Normalerweise sind „tie-in“-Romane nur Nebenprodukt einer Filmproduktion, die dem Enthusiasten ein bisschen zusätzliches Geld aus der Tasche locken sollen. Auch „TCM“, das Buch von Stephen Hand, ist sicherlich keine „gute“ Literatur im Sinne eines Buches, das mehr will als pure Unterhaltung, obwohl der Verfasser zumindest bemüht ist, mehr als die Nacherzählung des Drehbuchs abzuliefern.

Doch die ursprüngliche „TCM“-Story, wie sie Kim Henkel und Tobe Hooper 1974 ersannen, beinhaltete wie gesagt weit mehr als den lobenswerten Zweck, eine möglichst erschreckende Horrorgeschichte zu erzählen. Ob nun beabsichtigt oder zufällig: Die „TCM“-Schöpfer rührten an einem sehr empfindlichen Nerv der amerikanischen Gesellschaftsgeschichte. Mit Recht und Wirkung erinnert Hand daran in der von ihm verfassten Rahmenhandlung, die im Film von 2003 keine Rolle (mehr) spielt.

„TCM“ 1974 erzählte drei Geschichten, von denen diejenige über einige Teenager, welche unter die Menschenfresser fallen, die unwichtigste ist. Die eigentliche Beklemmung resultiert nicht aus den schockierenden Bildern, sondern aus der Tatsache, dass die „TCM“-Story genau dort spielt, wo die Welt angeblich noch in Ordnung ist: auf dem Land, d. h. dort, wo jeder jeden kennt, man einander im Auge behält und hilft, nachts die Haustür unverschlossen lässt und auch sonst das Herz auf dem rechten Fleck hat.

So wird es von konservativen und natürlich reaktionären, aber auch von Tugendbolden und Tagträumern gern gesehen. Dass die Wirklichkeit ganz anders aussehen kann, belegte die unglaubliche Geschichte des Ed Gein (1906-1984), der zwischen 1954 und 1957 als Grabräuber und schließlich Serienmörder aktiv war und aus den Körperteilen seiner Opfer Masken, Kleidungsstücke, Möbel, Schmuck und Fetische bastelte. Diese „true story“ traf das zeitgenössische Amerika tief ins moralische Mark. (Wer’s mag, kann sich in Wort und Bild auf unzähligen Websites – z. B. http://www.crimelibrary.com/gein/geinmain.htm – über Mr. Gein und seine Gräueltaten informieren lassen.) Ed Gein war „einer von ihnen“. Dass solcher Horror unbemerkt überall nisten kann – damit hatte man nicht gerechnet! Dieses Wissen und das daraus resultierende Unbehagen prägten sich der Volksseele tief ein und sollten sie nicht mehr verlassen.

Der Fall Ed Gein beschäftigte nicht nur die Wissenschaft (und natürlich die Medien), sondern wurde auch Teil der Volkskultur. Zahllose Horrorthriller griffen die Geschichte mehr oder weniger akkurat auf. Zu den berühmtesten Beispielen gehören neben „TCM“ Alfred Hitchcocks „Psycho“ (1960 entstanden nach dem gleichnamigen Roman von Robert Bloch) und [„Das Schweigen der Lämmer“ 354 („The Silence of the Lambs“, 1991 gedreht nach dem Roman von Thomas Harris).

Auf einer dritten Ebene handelt „TCM“ in der Version von 1974 von der Rache des hilflosen US-Establishments gegen die aufbegehrende, unkontrollierbar gewordene Jugend: Das alte Amerika schlachtet und frisst buchstäblich seine eigenen Kinder. „Heim“ und Familie der degenerierten Hewitts sind eine böse Parodie auf die traditionelle US-Familie à la „Father is the Best“. Das war er – bzw. der Sheriff, der Lehrer und jede andere Autorität einschließlich des Präsidenten der Vereinigten Staaten – 1974 eben nicht mehr. Drei Jahrzehnte später ist dies der Normalzustand, doch für die Zeitgenossen und hier vor allem die „Elterngeneration“ war dies neu und erschreckend. Wie sollte man junge Leute bändigen, sie „bestrafen“, weil sie sich keine politischen oder moralischen Vorschriften mehr machen oder nicht mehr nach Vietnam in den Krieg und in den Tod schicken ließen, sondern auf ihre Gedanken- und Handelsfreiheit pochten? Mit erbarmungsloser Härte durchgreifen und das „Übel“ mit Stumpf und Stil ausrotten, so argumentierten die Wächter der alten „Tugenden“. Tobe Hooper griff dies auf und steigerte entsprechende Wunschvorstellungen ins Groteske. Der Kritik fiel dies auf, die Zensur ignorierte es und stürzte sich auf die Gewaltexzesse – oder schob sie dies nur vor, weil auch ihre Vertreter sehr genau erkannten, worauf Hooper zielte?

Dreißig Jahre später wurde „TCM“ gezähmt. Wer den Film von 2003 sieht, mag das womöglich nicht glauben, weil es erneut sehr splatterig zugeht. Doch das ist halt nur Schau, wozu die wie gelackt wirkenden Bilder passen. Besser als Regisseur Nispel fängt Romanautor Hand den besonderen Geist des texanischen Hinterlandes ein. Hier gibt es kein weites, fruchtbares Land, das der US-amerikanische Pionier so schätzt. Travis County ist öde, einsam, von der Sonne verbrannt, in sich schon eine Falle, in der es keine Deckung gibt. Auch sonst ist alles verkommen und verrottet, was Amerika einst groß gemacht hat: „die Farm“, „der Laden“, „die Fabrik“ etc. Wenn etwas blüht, so sind es üppig wuchernde Nachtschattengewächse, die sich von der Verwesung nähren.

Wohl unbeabsichtigt überlebte interessanterweise genau das verquere Bild der Jugend die Neuverfilmung. In „TCM“ 2003 ist die werttreue, „vernünftige“, konservative Erin die einzige Überlebende. Sie kifft und säuft nicht, will von ihrem Kemper geheiratet werden, macht den „schwachen“, unmoralischen Freunden ständig Vorwürfe und hält sich auch sonst an die Regeln. Nur sie findet in der Krise die offenbar aus ihrer Gutmädchen-Seele erwachsende Kraft, sich dem Bösen zu stellen wie es dies verdient: mit noch größerer Gewalt als der Gegner sie aufzubringen vermag. Leatherface hat gegen eine Erin keine Chance. Er kann es nur mit ihren verderbten Begleitern aufnehmen. Die bekommen, was sie verdienen.

Dabei lassen sie es bloß locker angehen. Sie wirken bedeutend sympathischer als Erin, die freilich nach schwerer Kindheit und als werdende Mama – ein weiterer Grund, der die Regie moralisch verpflichtet, sie überleben zu lassen – die Prioritäten des Lebens anders setzt. Fatalerweise kann Buchautor Hand Kemper & Co. genauso wenig leiden wie Drehbuchautor Scott Kosar und Regisseur Marcus Nispel. Sie zeichnen ihre Opfer flach und ohne echten Bezug zum Zeitpunkt der Handlung – 1973 – nicht als „aufsässige“ Jugendliche, die als potenzielle Gefahr zu betrachten sind, sondern als zeitlos dumme Teenager, die gezüchtigt werden müssen. Leatherface kommt über sie, weil sie Gras rauchen, Rockmusik hören und es miteinander treiben. Das ist keine Provokation mehr, sondern Horrorfilmmoral von der Stange.

Der Glättung der 2003er „TCM“-Macher fiel auch der Hewitt-Clan zum Opfer. Tobe Hooper zeichnete ihn als schrecklich nette Familie, als Karikatur auf Ma & Pa & ihre braven Kinder. Leatherface tauchte als buchstäblich gesichtsloser Rachegeist, als das pure Böse aus dem Nichts auf. Kosar/Nispel und Hand wollen unbedingt „erklären“: Ihre Hewitts sind Wegelagerer, die es auf den Besitz ihrer Opfer abgesehen haben; Leatherface ist ihr Instrument, leidet unter einer entstellenden Krankheit und ist wahnsinnig im Sinne von krank. Das macht ihn nicht weniger mörderisch, aber es enthebt ihn der Verantwortung für seine Taten, die ihrerseits einen praktischen „Sinn“ ergeben. Dieses „Leatherface light“ bedauert man sogar ein bisschen und das kann sicher nicht im Interesse der „TCM“-Story sein.

In einem Punkt funktioniert „TCM“ 2003 freilich (als Film und als Buch) besser als der Vorgänger: Figuren wie „Old Monty“, „Luda May“ und vor allem „Sheriff Hoyt“ sind keine deformierten Monster, sondern wirken äußerlich vergleichsweise „normal“. Gerade das macht sie so gefährlich, denn sie können sich kontrollieren und das Netz schließen, an dessen Ende Leatherface lauert.

Über Stephen Hand ist nicht gerade viel herauszufinden. Der Mensch verschwindet hinter seiner Arbeit, die zunächst vor allem die Entwicklung von Brettspielen und Produktion von Computergames beinhaltete. Erst seit recht kurzer Zeit ist Hand auch als Romanautor tätig, wobei er sich auf Fantasy und Filmbücher spezialisiert. Aus seiner Feder stammt u. a. das Buch zum Gruselstreifen „Freddy vs. Jason“ sowie – wen wundert’s – eine Fortsetzung von „TCM“: „Texas Chainsaw Massacre II: Skin Freak“ (2004). Stephen Hand lebt und arbeitet in Südengland, wie der Klappentext zudem noch vermeldet.

Alexandre Dumas – Die Kameliendame

_Wenn Liebe Sünde läutert_

Wer den Namen Alexandre Dumas hört, wird sicherlich sofort an „Die drei Musketiere“ oder auch „Der Graf von Monte Christo“ denken. Dieser Alexandre Dumas, der Ältere (1802-1870), hatte einen unehelichen Sohn (1824-1895), der früh Zugang zu den literarischen Kreisen von Paris genoss. 1848 veröffentlichte dieser seinen Roman „Die Kameliendame“, der ihm ebenfalls Ruhm als Autor einbrachte. Diverse Verfilmungen und nicht zuletzt die Tatsache, dass Verdi diese Geschichte in „La Traviata“ aufgriff, verhalfen dem Roman bis heute zur Popularität.

_DIE KAMELIENDAME_

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Isaac Asimov – Die frühe Foundation-Trilogie

Isaac Asimov ist zweifellos einer der bedeutendsten Science-Fiction-Schriftsteller aller Zeiten, wird oft sogar als der bedeutenste bezeichnet. Seine wichtigsten Hinterlassenschaften finden sich in den Drei Gesetzen der Robotik und in der Foundation-Saga, in deren Verlauf er den Weg der Menschheit ins All und ihr dortiges Bestehen schildert. Asimov wurde 1920 in der Sowjetunion geboren und verstarb im April 1992 in den Vereinigten Staaten.

Der Sammelband „Die frühe Foundation-Trilogie“ umfasst die drei eigenständigen Romane Ein Sandkorn am Himmel (OT: Pebble in the sky), Sterne wie Staub (OT: The stars, like dust) und Ströme im All (OT: The currents of space), die thematisch nur grob über die Entwicklung der galaktischen Zivilisation der Menschheit zusammenhängen. Der damit verbundenen Entwicklung speziell der Erde als Ursprungsplaneten widmet Asimov über den gesamten Zyklus ein besonderes Augenmerk; interessant zu verfolgen ist gerade in dem vorliegenden Band, wie sie sich vom Außenseiter zur anerkannten Mutterwelt verwandelt und schließlich weitgehend in Vergessenheit gerät.

„Ein Sandkorn am Himmel“ beschreibt den ersten Teil dieser Entwicklung: Die Erde ist der unbeliebteste Posten für die Statthalter des galaktischen Imperiums, da die Welt radioaktiv verseucht ist, bis auf wenige Zonen. Der Ursprung dieser Radioaktivität ist unbekannt, man rätselt schon lange, wie sich die Siedler auf dieser Welt behaupten können und warum sie überhaupt besiedelt wurde, im Gegensatz zu einigen anderen bekannten strahlenden Planeten der Galaxis, die völlig uninteressant, da zu gefährlich für potenzielle Siedler und das gesamte Imperium sind.

Die Geschichte beginnt mit der unerklärlichen Versetzung eines Mannes unseren Zeitalters in die Zukunft, hervorgerufen anscheinend durch ein überraschend fehlgeschlagenes Experiment mit Uran, in dessen Verlauf ein merkwürdiger Lichtstrahl das Labor durchlöchert und den Mann erfasst. Er erwacht in einer Zukunft, deren Sprache nur noch rudimentär mit dem Englisch verwandt ist. Die kleine Bevölkerung der Erde wird lokal diktatorisch regiert; der imperiale Statthalter hat zwar das letzte Wort, aber er hält sich normalerweise aus den internen Angelegenheiten heraus. Hier wird der Zeitreisende von einer Rebellenpartei einer Gehirnaktivierung unterzogen, die seine Lernfähigkeit enorm steigert, aber auch andere, unbekannte Regionen seines Geistes erweckt. Er wird zu einem Gejagten aller Parteien.

Zeitgleich landet ein imperialer Archäologe auf der Erde, der die Theorie vertritt, die Erde sei die Ursprungswelt der Menschheit. Gegen alle Widerstände sucht er hier nach Beweisen, doch seine rein wissenschaftliche Suche verwickelt sich bald mit der emotionalen Jagd nach dem Fremden und einer Liebe mit einer Einheimischen, einer ‚Primitiven‘, was die Erdenmenschen (allein das ist ein galaktisches Schimpfwort!) in den Augen der Galaktiker sind.

Strukturierte Erzählstränge

Asimov ist bekannt für seinen absoluten Logikanspruch in seinen Geschichten. Wenn man also einen seiner Romane liest, kann man sicher sein, dass kein Detail überflüssig ist, sondern alles einen erzählerischen Zweck erfüllt. Der Zeitreisende und seine Gehirnaktivierung führen zu einer neuen geistigen Fähigkeit, die später im Foundationzyklus noch eine große Rolle spielt – eine Art von Empathie, die sich zumindest in diesem frühen Roman noch weiterentwickelt, so dass der Betreffende nicht nur Stimmungen und Gefühle seiner Mitmenschen wahrnehmen kann, sondern ihre echten Gedanken erkennt. Außerdem entwickelt er die Möglichkeit, geistige Kontrolle über mindestens einen Gegner ausüben zu können – für den Handlungsverlauf eine unverzichtbare Fähigkeit.

Der imperiale Archäologe bereitet mit seiner selbst attestierten Vorurteilslosigkeit den Weg für die Zusammenführung der Geschichte, so dass sich alle Protagonisten treffen und gemeinsam in die Hände des Gegners fallen. In der typischen kriminalistischen Gegenüberstellung von ‚Guten‘ und ‚Bösen‘, in der viele von Asimovs Geschichten münden, behält überraschend der Gegner die Oberhand – aber es wäre ja kein Asimov ohne eine rettende Tat mit folgender logischer Überführung des Antagonisten.

Ungereimtheiten und ihre Erklärung

Asimov entschuldigt sich in der ihm eigenen selbstbewussten Art und Weise in einem Nachwort beim Leser für die überholte und widerlegte Vorstellung von Radioaktivität, auf der sein Roman aufbaut. Die Radioaktivität verursacht auf der Erde ein bläuliches Leuchten, das man nachts erkennen kann. Dabei sind die hier lebenden Menschen nicht gefährdet (im Gegensatz zur gängigen Meinung des Imperiums dazu), da die Radioaktivität ‚zu gering‘ ist. Ohne diese Darstellung (also mit unserem heutigen Allgemeinwissen) funktioniert die Geschichte nicht mehr, also lässt Asimov uns die Wahl: Lesen und Genießen oder es lassen.

Die Versetzung des Menschen aus der Vergangenheit in die aktuelle Romangegenwart ist ein wichtiges Detail für die Handlungsauflösung und daher unverzichtbar. Asimovs chemische Erklärungsversuche verleihen dem Ganzen einen mystischen Beigeschmack, eigentlich ganz entgegen seiner sonstigen Erzählweise. Auch hier steht die Unkenntniss der Wirkung von Radioaktivität als Entschuldigung.

Ein letzter Punkt: Wie wir im übernächsten Teil (Ströme im All) sehen werden, existiert das Galaktische Imperium zu dieser Handlungszeit noch gar nicht. Drücken wir ein Auge zu und ersetzen ‚galaktisch‘ durch ‚trantoranisch‘, wie das aufstrebende Imperium der Hauptwelt Trantor später genannt wird.

Das Ziel

Für die irdische Bevölkerung rückt das hohe Ziel, in der galaktischen Gesellschaft als Urspung der Menschheit anerkannt zu werden, in greifbare Nähe. Das Imperium verspricht, durch Mutterbodenlieferungen und Transportmöglichkeiten die Erde von ihrem radioaktiven Mantel zu befreien und langsam wieder eine normale Welt zu schaffen. Der erste Schritt scheint getan, und damit kommen wir zum zweiten Abschnitt:

„Sterne wie Staub“

Biron ist der Protagonist, ein 23-jähriger Student, der auf der Erde studiert (die immer noch radioaktiv ist). In der Nacht überlebt er einen Anschlag auf sein Leben, in den folgenden verwirrten Stunden lässt er sich von einem Mann, den er gar nicht richtig kennt, auf eine merkwürdige Mission schicken. Sein Vater, ein wichtiger Planetengutsherr in einem kleinen, von den Tyranni (Bewohner des Planeten Tyrann) beherrschten Sternenreich, wurde von eben jenen Tyranni hingerichtet, da er in Verbindung mit einer rebellischen Untergrundorganisation gebracht wurde. Biron soll sich von einem schwächlichen Fürsten, der völlig unter dem Einfluss der Tyranni steht, seinen Erbtitel bestätigen lassen.

Mit der Tochter des Fürsten und dessen geistesschwachen Bruder gelingt Biron nach seiner Festnahme durch die Tyranni die Flucht. Er sucht jetzt nach dem geheimen Stützpunkt der Rebellen, um sich ihnen anzuschließen.

Täuschungen

Nicht nur den Gegner täuscht Biron mit seinen Handlungen, sondern auch den Leser, und zwar ganz gewaltig. Aber er ist nicht der einzige, denn jeder der Protagonisten hat entweder etwas zu verheimlichen oder versucht, sein Leben bestmöglich zu gestalten, indem er jedem Mit- oder Gegenspieler etwas vorspielt. Die Vorwürfe Birons gegen jenen Mann, der ihn von der Erde in die Hände der Tyranni schickte, wirken zu offensichtlich, als dass sie in dieser Intrigengeschichte wahr sein könnten. Trotzdem bleiben die Zweifel.

Biron ist natürlich der starke, große, schöne Protagonist (die einzige Schwäche in Asimovs Geschichten), der schlau und logisch zum Ziel vordringt. Dass er dabei sogar seine neue Geliebte vor den Kopf stößt, sie sogar in die Arme des Feindes treibt, um diesen zu einem Fehler zu veranlassen, macht ihn ein bisschen unsympathisch, aber im Endeffekt findet auch die Liebe ihren Platz.

Die größte Täuschung gelingt Asimov in Bezug auf ein ‚wichtiges Dokument‘, das von der Erde entwendet wurde und von dem anscheinend niemand mehr weiß, als dass es der Tyranniherrschaft ein Ende setzen könnte. Nun denkt jeder an irgendein geheimes Wissen, an eine Waffe oder eine Schwachstelle der Tyranni. Aber wie sollte die alte Erde (also unsere Welt in unserer Zeit!), völlig rückständig in ihren technischen Möglichkeiten, den Tyranni gefährlich werden können? Asimov entwarf mit dem Foundationzyklus eine Zukunft, in der nur Menschen die Galaxis bevölkern, eine Zukunft, die nur auf einem uns völlig utopisch erscheinenden technologischen Niveau basieren kann, die aber trotzdem von den allzu menschlichen Machtbestrebungen jeglicher Regierungen gezeichnet ist. Uns, oder zumindest die Amerikaner, hebt er soziologisch über die Menschen seines Galaktischen Imperiums, die demnach in dieser Hinsicht äußerst rückständig sind.

Das geheimnisvolle Schriftstück soll den Keim einer neuen Freiheit für die Unterdrückten der Tyranni und womöglich auch für die gesamte Galaxis bergen. Es handelt sich um die Verfassung der Vereinigten Staaten.

„Ströme im All“

Eine unabhängige Gesellschaft widmet sich der Erforschung der Materieströmungen im All. Einer ihrer eigenbrötlerischen Forscher entdeckt eine Gefahr für einen wichtigen Planeten und dessen Bewohner, wird jedoch bei seiner Warnung nicht für voll genommen, sondern ‚psychosondiert‘ (eine Psychosonde zerstört bestimmte, einstellbare geistige Ströme und ermöglicht dem Einsetzenden die Kontrolle über den Sondierten). Dabei verliert er mehr als erwartet, wird zu einem lallenden Idioten, dessen beschädigte Hirnregionen sich nur langsam erholen.

Der bedrohte Planet ist der einzige Ort in der Galaxis, wo eine bestimmte, sehr wertvolle und wichtige Naturfaser für alle Bereiche des Lebens und der Technik geerntet werden kann. Seine Bevölkerung wird von einem anderen Planeten unterdrückt und ausgebeutet, der damit die Preise dieser Naturfaser auf dem galaktischen Markt bestimmen kann. Die Gesellschaft, der jener Forscher angehört, vermisst natürlich ihren Mann und gewinnt das Interesse des trantoranischen Botschafters, der sich naturgemäß für diese wichtige Rohstoffquelle interessieren muss. Sie kommen einem Komplott auf die Spur, das nicht nur den Planeten bedroht. Darüber aber schwebt die Nachricht, der Planet stünde vor der Vernichtung.

Theorien

Die Geschichte fußt auf Asimovs Theorie, die Kohlenstoffströme im All würden in einer bestimmten Situation bei Sonnen Supernovae auslösen. Ein wenig Enttäuschung klingt aus seiner Entschuldigung im Nachwort, als wieder einmal eine seiner Theorien widerlegt wurde, die aber Grundlage für eine seiner Geschichten ist.

Der arme Psychosondierte ist in der Hand eines einzelnen Rebellen, der nichts für seine Theorie (der Planetenzerstörung) übrig hat, mit ihrer Hilfe aber versuchen will, sein Volk von der Unterdrückung zu befreien, indem er über diese Theorie Panik verbreiten und für einen Produktionsabfall sorgen will, um den ‚Herrschern‘ Bedingungen stellen zu können oder Trantors Aufmerksamkeit zu erregen.

Auch hier kommt es wieder zu einem ‚Showdown‘ der Worte, der in einem unerwarteten Ergebnis mündet.

Hier haben wir mal einige etwas Asimov-untypische Protagonisten: Den geistig verwirrten Forscher, der auch vorher schon etwas gestört war, da er auf der gefährlichen, radioaktiv verseuchten Erde geboren wurde und nun vor allen Planetenoberflächen Angst hat, sich also nur noch in einem Raumschiff wohl fühlt – übrigens kennt niemand der anderen eine Welt im Sirius-Sektor mit Namen Erde, nur der trantoranische Botschafter erinnert sich schwach an eine dortige radioaktive Welt. Von ‚Ursprungsplanet‘ ist schon lange keine Rede mehr, zumindest nicht unter den außerirdischen Galaktikern. Die Erde selbst kapselt sich immer weiter ab -; die grobe, bäuerliche Freundin, die den Forscher aufnimmt und pflegt; der Sitzriese mit den kurzen Beinen, oberster Herrscher und Unterdrücker des ertragsreichen Planeten, den nur seine engsten Diener (psychosondiert) und seine Tochter ohne Schreibtisch als Schutz zu Gesicht bekommen. Dadurch wird der Geschichte mehr Farbe verliehen, es irritiert aber auch etwas, wenn man gewohnt ist, den Protagonisten schon an seiner Beschreibung zu erkennen. Tatsächlich gibt es hier keinen überlegenen Helden, sondern die Menschen handeln einigermaßen gleichberechtigt.

Im Ganzen

„Die frühe Foundation-Trilogie“ ist sehr lesenwert. Der große Zusammenhang, in den Asimov seine Geschichte der Menschheit auf ihrem Weg zur galaktischen Menschheit schließlich stellen wird, zeichnet sich bereits ab (ist natürlich eigentlich schon völlig klar, wenn man die Foundation-Trilogie und die beiden Folgebände „Auf der Suche nach der Erde“ und „Die Rückkehr zur Erde“ kennt, aber über Asimovs Erzählungen vermittelt, gewinnt die große Geschichte ein kribbelndes Format).

Besonders schön ist die garantierte spannende Unterhaltung in diesen Bänden des großen Foundation-Zyklus, besonders zu kritisieren ist nichts. Seine kleine Schwäche in der Beschreibung seiner Protagonisten ist ihm leicht zu verzeihen, zumal es für die meisten Lösungen auch einer besonderen Kombinationsgabe bedarf, die diesen Menschen zu Eigen ist. Natürlich müssten sie dazu nicht besonders groß, besonders stark, besonders sexy sein, aber schaden tut das auch nicht, da sie dadurch guten Zugang zu Menschen haben, deren Verhaltensweisen oftmals Ansatzpunkte zur Lösung bieten.

William L. DeAndrea – Schneeblind

deandrea-schneeblind-cover-kleinIn einem abgelegenen Berghaus wird ein heikler Deal besprochen. Der Gastgeber wird umgebracht, der Mörder/die Mörderin muss sich unter den Anwesenden befinden, weshalb der ebenfalls anwesende ‚Problemlöser‘ Matt Cobb provisorisch ermittelt … – Mit dem sechsten Roman der Cobb-Serie beweist Autor DeAndrea, dass sich der klassische Whodunit mit der Krimi-Gegenwart verknüpfen lässt. Das Ergebnis ist genrefest aber letztlich doch ein wenig kalkuliert und arm an Spannung.
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Lothar Seiwert – Die Bären-Strategie: In der Ruhe liegt die Kraft

In der heutigen Arbeitswelt zählt jede Minute und auch in der Freizeit setzt sich der Stress fort. So haben die meisten Menschen das Gefühl, mit ihrer Zeit nicht auszukommen und wünschen sich am besten jeden Tag 25 Stunden. Dabei ist Zeitmanagement eigentlich gar nicht so schwer, die Bären machen es uns vor. Denn in der Ruhe liegt die Kraft und genau diese Arbeitspausen sind es, die unsere Arbeit effektiver gestalten. Nun müssen wir nur noch etwas mehr Bär in unseren Alltag bekommen …

Gestatten, mein Name ist Bär

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Philip MacDonald – Die Totenliste

Eine Liste mit zehn Namen: Engländer aus allen gesellschaftlichen Schichten vom Landarbeiter bis zum Adligen, Gemeinsamkeiten gibt es nicht. Warum also übergibt Adrian Messenger, der viel gelesene Romane über große Verbrechen schreibt, diese Liste seinem Kriegskameraden und Freund George Firth, Leiter des Criminal Investigation Department von Scotland Yard, und bittet ihn eindringlich, Nachforschungen über den Verbleib der Männer anstellen zu lassen? Einer Gräueltat sei er auf der Spur, mehr lässt sich Messenger nicht entlocken. Nun wird er auf ewig schweigen: Den Absturz des Flugzeugs, das ihn zu weiteren Recherchen in die USA bringen soll, überlebt er nur kurze Zeit. Mit ihm im Wasser des Atlantik treibt der einzige Überlebende: Raoul St. Denis ist ein Journalist, der Messengers letzte, im Delirium gestammelten Worte überliefert.

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Robert S. Sennett – Traumfabrik Hollywood. Wie Stars gemacht und Mythen geboren wurden

Werbung und Film scheinen seit jeher siamesische Zwillinge im Geiste der Übertreibung bzw. der Lüge zu sein. Autor Sennett belegt, wie diese Verbindung Anfang des 20. Jahrhunderts entstand, um in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg ein pseudo-reales Eigenleben zu entwickeln … – Das hochinteressante Thema wird weniger tiefschürfend als breit dargestellt. Trotzdem ein fesselndes Sachbuch, das zudem reich und kundig bebildert ist.
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Strugatzki, Boris – Suche nach der Vorherbestimmung, Die

In den ersten dreißig Jahren seines Lebens entgeht Stanislaw Krasnogorow dreiundzwanzigmal nur um Haaresbreite dem Tod. Er erkennt, dass dies mit reinem Zufall nicht zu erklären ist, und begibt sich auf die Suche nach seiner Vorherbestimmung, die ihn offensichtlich auf diese Weise für etwas Besonderes aufspart. Er schreibt über seine wundersamen Rettungen ein Buch, das über Umwege beim KGB landet. Dort stellt man fest, dass mit der Geschichte Stanislaws verschiedene, ungeklärte Todesfälle verknüpft sind – neben Stanislaw starben und sterben auf unheimliche Weise Menschen, die irgendwie in sein Schicksal eingriffen, bzw. dies auch nur versuchten. Das Rätsel um diesen Zusammenhang löst jedoch auch der KGB nicht – und Stanislaw beschließt, seine unheimliche Gabe zu nutzen, die Zukunft Russlands zu verändern.

Ich habe mich mit diesem Buch sehr schwer getan. Nach mühseligem Einstieg, bei dem ich mich erst nach rund dreißig Seiten grob orientiert hatte, warfen mich ein ums andere mal Einschübe in Form von eingeklammerten Textpassagen aus der Handlung. In diesem Roman wird exzessiv „geklammert“. Zum Teil über ganze Absätze, sogar Seiten, laufen solche Nebenstränge in Klammern, störten den Lesefluss ganz erheblich und ließen mich immer wieder den roten Faden verlieren.

Überhaupt ist das Tempo des Romans derart wechselhaft, dass ich mich kaum darauf einstellen konnte – von flott zu lesenden, anekdotenhaften Passagen zu sich doch eher mühselig voranschleppenden Abschnitten (voller Klammern und lyrischer Ergüsse), bei denen ich oft den Eindruck hatte, nicht wirklich dahinter zu kommen, worum es eigentlich ging, was das jetzt soll, wer diese sporadisch auftauchenden neuen Personen mit verwirrend komplizierten, zum Teil sehr ähnlichen Namen eigentlich seien, welche Rolle sie und diese Szene überhaupt spielen sollten (… einer flott-fröhlichen, atmosphärisch sehr dichten Passage mit der Schwiegermutter folgt ohne Übergang die grausige Wendung zur staubtrockenen, fast in Telegrammstil nachgeschobene Todesnachricht.)

Die Einschübe illustrieren zwar ein intensives Sittengemälde vom Russland zwischen den Dreißigern des letzten Jahrhunderts und Prä-Perestroika, helfen der Geschichte selbst aber nicht voran. Der rote Faden der Handlung erscheint an vielen, vielen Stellen in zahllose Nebensächlichkeiten aufgefasert – als habe der Autor krampfhaft jede Möglichkeit genutzt, seine Lieblings-Anekdoten/Gedichte/Sinnsprüche usw. anzubringen. Dass sich letzten Endes aber doch alles zu einem einigermaßen homogenen Gewirk fügt (… mal von den wirklich SEHR ausufernden lyrischen Ergüssen abgesehen), tröstet – aber nur im Nachhinein, beim Lesen selbst ist es höchst anstrengend.

Anstrengend – das ist überhaupt ein sehr passendes Prädikat für den Roman. Wer nur Unterhaltung liest, ist mit diesem Buch falsch beraten (auch wenn es durchaus unterhaltsame Passagen enthält wie z. B.: „Das Programm zur Herstellung von Aphorismen funktionierte bei ihm wie eine Rüstungsfabrik und warf pro Woche zuverlässig zwei, drei auserlesene Perlen menschlicher Weisheit aus.“ (S. 75) „Vermeidet Trunkenheit am Steuer, der Wodka kommt auch so schon teuer.“ (S. 83) Neben solch launigen Abschnitten muss man sich bei dem Roman aber auf sehr grausige, blutrünstige Schilderungen gefasst machen – das Buch ist nichts für in dieser Hinsicht Zartbesaitete.

Auch die Sprache macht den Roman zu einem teilweise schweren Brocken – von ungewöhnlichen oder etwas altertümlichen Wendungen über Fremdworte, die nach dem Lexikon in Griffnähe verlangen, bis zu den Namen. Dass im Russischen ein und dieselbe Person auf derart viele verschiedene Namen hören kann, ist verwirrend und gewöhnungsbedürftig (bis ich etwa auseinandergedröselt hatte, dass Senja=Semjon=Sjomka, oder der KGB-Major einmal Major Krasnogorski, dann, ein paar Seiten später Wenjamin Iwanowitsch ist, dauerte es …)

In der ersten Hälfte des Buches ist übrigens nichts davon zu bemerken, es mit einem phantastischen Roman zu tun zu haben – erst in der zweiten kommen die phantastischen Elemente zum Tragen. In vier Teile, die jedes Mal wieder ganz neu ansetzen und Jahrzehnte überspringen, ist das Buch gegliedert.

Alles in allem hinterlässt mich der Roman zwiegespalten: er hat einerseits viele reizvolle Stellen zu bieten, ist aber äußerst anstrengend zu lesen. Er gibt ein recht gutes Bild von der Stimmungslage und Atmosphäre der UdSSR zwischen Dreißigerjahren und Prä-Perestroika und hat eine faszinierende, phantastische Grundidee. Die Handlung „hoppelt“ aber derartig, dass man gerade dann die Orientierung verliert, wenn man sich so richtig in die Geschichte hineingefunden hat, weil ausgerechnet dann mal wieder ein Einschnitt vorgenommen wird. Das frustriert. Leider sind diese Schnitte auch nicht immer so deutlich erkennbar wie bei den Teilen oder Kapiteln – manchmal liegen nämlich auch zwischen zwei simplen Absätzen Jahre. Ob eine Passage Erinnerung oder gegenwärtiges Erlebnis des Protagonisten ist, klärt sich oft erst Dutzende Seiten später. Das Lesen erfordert eine Menge Geduld und ein gutes Gedächtnis – kurz: volle Konzentration. Der Handlungsfaden ist verknäuelt wie in einer Filethäkelei mit unzähligen Extraschnörkelchen und Mausezähnchen; letzten Endes fügt sich zwar das meiste wieder logisch zusammen – zu einem ausgewogenen Gesamtwerk, das aber sicher nichts zum Nebenbeilesen ist. Es erfordert große Aufmerksamkeit und an manchen Stellen auch Durchhaltevermögen, wenn etwa seitenlang die Spaßlyrik eines feuchtfröhlichen Treffens geschildert wird.

Das Ende hat mich vollends ratlos zurückgelassen. Dass ich den Schluss des Romans nicht verstehe, hat mich nach all der Mühe beim Lesen ganz besonders frustriert, noch gesteigert dadurch, dass der dritte (vorletzte), ganz besonders interessante Teil des Buches so abrupt vom vierten, mich wieder völlig konfus machenden Schlussteil – mit wieder völlig neuen Personen, deren Namen und Bedeutungen für die Geschichte ich sortieren musste – abgelöst wurde. Auch im Rückblick gelingt es mir nicht, mit diesem Ende etwas anzufangen.

Fazit: ein äußerst anstrengendes Buch, das mich aber – bei aller Verwirrung – durch Idee und Atmosphäre passagenweise durchaus fasziniert hat.

_Susanne Jaja_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de/ veröffentlicht.|