Kilpatrick, Nancy – Todessehnsucht

Kathy wird von allen nur Zero genannt, denn sie ist nichts und sie hat nichts. Drogensüchtig und pleite, verkauft sie ihren Körper, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Für einen Schuss H würde sie alles tun – auch töten, wie sich herausstellen soll. So wird sie von einem anonymen Auftraggeber von New York nach Manchester geschickt, um dort einen vermeintlichen Vampir zu vernichten. Doch high wie sie ist, muss ihr kläglicher Versuch scheitern und sie gelangt in die Fänge des Blut saugenden Untoten.

Aber halt, würde der Blut saugende Untote das einzig Logische tun und Zero aussaugen oder ihr das Genick brechen oder ihr auf andere meisterliche Art das Lebenslicht auspusten, so hätte er sich und dem Leser viele Unannehmlichkeiten erspart. Doch David, so heißt der Vampir, ist ein Gentleman alter Schule: ein Dichter und Romantiker, der es nicht übers Herz bringt, seine Opfer zu töten und sich stattdessen in die Abgeschiedenheit seines englischen Landsitzes zurückgezogen hat – woher kommt einem das nur bekannt vor?

David also schnappt sich Zero, fesselt sie ans Bett und wartet erst einmal ihren kalten Entzug ab. Sodann machen sich die beiden auf nach Amerika, um herauszufinden, wer eigentlich hinter dem Attentat auf David steckt. Als sie New York erreichen, passiert, was der Leser schon seit Seite zehn befürchtet: David und Zero verlieben sich unsterblich ineinander; natürlich ohne wirklich etwas voneinander zu wissen oder je ein tiefgründiges Gespräch geführt zu haben. Das steht heißen Sexszenen selbstverständlich nicht im Wege und so springen die beiden bevorzugt miteinander ins Bett, während David hochdramatisch Byron deklamiert.

200 Seiten später sind David und Zero immer noch dem ursprünglichen Attentäter auf der Spur, haben sowohl Amerika als auch Kanada durchquert, den ersten Streit ihrer Beziehung hinter sich und es fertig gebracht, David per Sonnenlicht schwer anzukokeln. Des Rätsels Lösung kann nach etlichen abstrusen Wendungen der Handlung auch nur überraschen, wenn man noch nie einen Kriminalroman gelesen hat. Und so mag es kaum überraschen, dass sich das Ende des Romans in Friede, Freude, Eierkuchen auflöst und David und Zero gemeinsam in den sprichwörtlichen Sonnenuntergang reiten – rhetorisch gesehen, versteht sich.

Nancy Kilpatricks „Todessehnsucht“ erschien in Amerika erstmals 1994 und ist Teil einer mehrbändigen Reihe von lose verbundenen Geschichten um eine Gruppe von Vampiren (engl. Titel „The Power of the Blood Series“). Kilpatrick versucht, leider erfolglos, eine Milieustudie (die drogenabhängige Zero, das abgerissene Hotel, in dem sie in New York wohnen) mit ein paar Vampiren und einem guten Schuss Sex zu kombinieren. Eine solche Mischung könnte durchaus funktionieren, wäre sie rein stilistisch und erzählerisch mit einiger Meisterschaft zu Papier gebracht. Doch Kilpatrick bedient so ungefähr jedes Klischee, das ihr in den Weg kommt und hält ihre Geschichte damit in so vorhersehbaren Bahnen, dass beim Leser kaum Spannung aufkommen mag.

Da wäre zunächst ihr Vampir David, offensichtlich die zentrale Figur für die angestrebte weibliche Leserschaft. Natürlich war er mal Aristokrat, sieht vermutlich gut aus (doch hält sich Kilpatrick in der Regel nicht lange mit Äußerlichkeiten auf) und ist von so romantischem Gemüt, dass dem durchschnittlichen postmodernen Leser ganz schwarz vor Augen wird. Als ultimativen Beweis für seine sentimentale Grundhaltung und seine literarische Bildung lässt Kilpatrick ihn zu den unmöglichsten Momenten Lord Byron zitieren. Dies führt zwangsläufig zu Abnutzungserscheinungen, ganz abgesehen davon, dass Byron nicht der einzige romantische Dichter ist, der das Zitieren lohnt. Doch David besitzt scheinbar nur diesen einen Band Poesie …

Besser als gar nichts, denn Zero dagegen ist eine drogenvernebelte Schlampe ohne jegliche Bildung (bei ihr also nicht mal Byron), die sogar erfragen muss, was oder wo Montréal ist. Für einen Großteil der Handlung drehen sich ihre Gedanken um Heroin, danach obsessiert sie bevorzugt über David. Auf welcher Grundlage die beiden nun eigentlich zusammenfinden, lässt Kilpatrick stillschweigend offen und so bleibt ihre Liebesbeziehung oberflächlich und wenig überzeugend.

Überhaupt die Liebe. Gerade in diesen Szenen läuft Kilpatrick zu pathetischer Hochform auf und der Schwulstfaktor steigt in unerträgliche Höhen. Doch spätestens wenn David seiner Zero per Brief mitteilen lässt, „Kathy, süße Kathy, unschuldiges Kind, leidenschaftliche Frau, Wesen von azurnem Feuer, blauer Diamant mit unzähligen Facetten“, dann ist die Geduld des Lesers einfach erschöpft. Da ist es doch gut, dass David nur Gedichte von Byron zitiert anstatt eigener Poesie. Man wagt gar nicht daran zu denken, was in dem Fall rausgekommen wäre.

Abgesehen von den stilistischen Schwächen, kann aber auch der Plot selbst kaum überzeugen. Er ist abwechselnd zu durchsichtig oder zu abwegig. Natürlich, wenn man einem Kind eben noch sagt, dass ihm nichts passieren wird, dann ist es nur logisch, dass es auf der nächsten Seite prompt entführt wird. Solche erzählerischen Zaunpfähle sorgen nicht gerade dafür, dass man von der Handlung positiv überrascht wird. Viel zu unmotiviert erscheint auch das Ende. Zwar ist der Roman Teil einer Serie, doch ist es nicht nötig, für den Showdown ein ganzes Dutzend neuer Vampire einzuführen, die keine andere Funktion haben, als die Vampirarmee des Bösewichts mathematisch aufzuwiegen. All diese Charaktere bleiben schablonenhaft und austauschbar und Kilpatrick hätte sie am besten ganz weggelassen.

Die Rückseite des Romans bewirbt „Todessehnsucht“ als „gewagten Erotik-Horror“. Gewagt ist höchstens die unterdurchschnittlich schlechte Prosa. Horror wird der Liebhaber kaum finden und die Erotik ist wohl nur was für die wirklich seicht Veranlagten. Wer gern gefühlsduselig im Schwulst schwimmt, der mag bei Nancy Kilpatrick fündig werden. Für alle anderen gilt: Lieber ein anderes Buch zur Hand nehmen!

O’Hanlon, Redmond – Ins Innere von Borneo

Natürlich ist ein Urlaub der etwas extremeren Art heutzutage auch für den Herausgeber der „Literarischen Beilage“ (Ressort Naturgeschichte) einer so ehrwürdigen Zeitung wie der britischen „Times“ nichts Außergewöhnliches mehr. Dennoch stellt sich der Leser dieses Reiseberichtes bald die Frage, wieso die Wahl Redmond O’Hanlons ausgerechnet auf den Dschungel der Insel Borneo fiel. So genau geht er selbst auf diesen Punkt nicht ein, aber wenn man zwischen den Zeilen nach einem Motiv sucht, wird es wohl dasselbe ein, das sein ehrgeiziger Landsmann George Mallory einst vor seiner letzten Reise zum Mount Everest so in Worte fasste: Weil er da ist.

Zur Everest-Expedition von 1924 gibt es noch eine bemerkenswerte Parallele: Mit Redmond O’Hanlon und seinem Freund und Begleiter, dem Lyriker (!) James Fenton, begeben sich zwei Männer auf große Fahrt, die man mit Fug und Recht (sie würden es selbst sogleich zugeben) auch als Gewinner eines Wettstreits der inkompetentesten Reisenden dieser Welt bezeichnen könnte. Dabei ist auch das Borneo des 20. Jahrhunderts (O’Hanlon & Fenton unternahmen ihren Ausflug bereits 1984) kein ungefährliches Pflaster; nur die Medikamente sind inzwischen besser geworden, was zu preisen unsere Reisenden mehr als eine Gelegenheit finden werden.

Nicht dass der Bücherwurm und der Dichtersmann völlig ahnungslos im Land des Orang-Utans gelandet wären. Sie betreten es sogar mit recht dezidierten Vorstellungen, die man wiederum als romantische Selbstmord-Phantasien umschreiben könnte: Was O’Hanlon über Borneo zu wissen glaubt, entnahm er großzügig den Reiseberichten seiner Vorgänger. Zwar dunkel ahnend, dass in den vielen Jahrzehnten, die seither verstrichen, sich einiges geändert haben könnte, freut er sich dennoch auf und fürchtet sich vor einer feuchtheißen Tropenhölle, die von blutrünstig-primitiven Kopfjägern und tückisch-faszinierendem Fabelgetier bevölkert wird.

Darauf will er lieber vorbereitet sein, trainiert mit den britischen Ledernacken und reist später wie jeder europäische Entdecker von altem Schrot und Korn schwer bewaffnet in die Wildnis, was auf dem Flughafen von Singapur unter reger Beteiligung der örtlichen Polizeibehörden für eine erste aufregende Episode sorgt. Endlich trotzdem auf Borneo (bzw. in Sarawak, einer Provinz des malaysischen Inselreiches) angekommen, wird zudem rasch deutlich, dass es nicht mehr weit her ist mit der insgeheim erträumten kolonialen Herrlichkeit vergangener Zeiten, als O’Hanlon und sein Gefährte sehr prosaisch im örtlichen „Holiday Inn“- unterkommen: Die Zivilisation hat die Tropeninsel längst erreicht.

Glücklicherweise findet sie dann doch unweit der wenigen größeren Städte ihr rasches Ende. Mit dem Wagemut der absolut Ahnungslosen haben sich O’Hanlon und Fenton für eine Expedition die Flüsse Rejang und Baleh hinauf in jenes Land entschieden, in dem das seltenste Tier der Welt (vielleicht) sein sagenhaftes Dasein fristet: das (ironischerweise nach seiner eigentlichen Heimat benannte) Sumatra-Nashorn. Klein, dunkel und mit einem Fell (!) bekleidet ist es dank der über Jahrzehnte ungeteilten Aufmerksamkeit von Wilderern und Jägern aus aller Welt heute so selten, dass jede Sichtung als Sensation gefeiert wird.

Sollte dieses Unternehmen scheitern, bleibt ja noch immer der aufregende Kontakt mit den Iban, den menschlichen Bewohnern Borneos, die nach Ansicht O’Hanlons stets ein wenig zu laut bekräftigen, die Kopfjagd inzwischen aufgegeben zu haben. Allerdings ist der echte Horror Borneos eher im Mikrokosmos angesiedelt. Dort warten u. a. 250 Fleisch fressende Ameisenarten und 1.700 höchst unterschiedliche Parasitenwürmer auf unvorsichtige Besucher. O’Hanlon spart nicht an gruseligen Details, die das Schicksal jener schildern, die sich nicht wie er und Fenton an jedem Morgen in Insektenpulvern und -sprays buchstäblich wälzen.

Überbordende Fruchtbarkeit auf der einen und ständiger Zerfall und Verwesung auf der anderen Seite machen auch den übrigen Teilnehmern der Expedition tüchtig zu schaffen: Alfred Russell Wallace, James Keppel, Charles Hose und Tom Harrisson sind nur die wichtigsten aus dem Kreise derer, die zumindest im Geiste allzeit um O’Hanlon sind; in Gestalt ihrer Bücher über Borneo nämlich, die der unverbesserliche Romantiker in großer Zahl dorthin geschleppt hat, wo ihre Lebensdauer arg begrenzt ist und aus denen er gern und oft zitiert. Von der Kritik ist ihm dies zum Vorwurf gemacht worden, doch hier gilt es wohl eher den Stil des Autoren zu achten. Die Zitate sind nicht nur klug gewählt und informativ, sondern sie konterkarieren auch das Dilemma, dem sich O’Hanlon ausgesetzt sieht: In Borneo ist die Steinzeit zwar an vielen Orten noch nicht zu Ende gegangen.

Trotzdem ist die Insel nicht das magische Wunderland, das er sich im heimischen Elfenbeinturm zu Oxford erträumt hat. Dort, wo die Vergangenheit noch fortlebt, enthüllt sie immer wieder recht hässliche Seiten. So muss der Reisende feststellen, dass die ihn bezaubernde weibliche Jugend in den Dschungeldörfern schlicht deshalb in der Überzahl ist, weil die meisten Einheimischen einer der vielen schrecklichen Krankheiten zum Opfer fallen, bevor sie alt werden können. O’Hanlon und Fenton bereisen Borneo nicht in Slapstick-Manier als zwei Männer im Boot (vom Rhinozeros ganz zu schweigen), wie der Klappentext suggeriert, sondern durchaus offenen Auges und wachen Geistes. Deshalb entgehen ihnen auch keineswegs die allgegenwärtigen Schrecken eines ungehemmten Raubbaus an der Natur: Es gibt keine Bodenschätze auf Borneo, nur das Edelholz des Dschungels, der deshalb rücksichtslos niedergeholzt wird. Die Menschen sind sich der Folgen durchaus bewusst, doch sie sehen keine Alternativen – und sie haben auch keine Lust, zum Frommen naturromantischer Westler ein tarzanoides Naturkinder-Dasein zu fristen.

Anlass zu echter Negativ-Kritik gibt indes ein Verdacht, der sich schon auf den ersten Seiten einstellt und im Verlauf der weiteren Lektüre schnell zur Gewissheit wird: O’Hanlon mischt Fakten und Fiktion um des Effektes vielleicht etwas zu freizügig in dem Bemühen, eine an sich interessante, aber eben nicht spektakuläre Reise für den Leser dramatischer zu gestalten, und inszeniert, übertreibt und überspitzt. James Fenton, O’Hanlons Begleiter, ist beispielsweise keineswegs der weltfremde Barde, der sich ebenso wagemutig wie ahnungslos ins Abenteuer stürzt, sondern ein erfahrener Kriegsberichterstatter, der in der Vergangenheit einigen Mut bewiesen und wohl nicht von ungefähr auf dem ersten nordvietnamesischen Panzer gesessen hat, der 1975 nach dem Fall von Saigon in die von den Amerikanern aufgegebene Stadt rollte. Auch mit dem Sumatra-Nashorn ist das so eine Sache; So selten es ist, man kann es immer noch finden, nur eben nicht dort, wo O’Hanlon es angeblich versucht hat. Das muss er auch gewusst haben, aber natürlich ist es im Nachhinein publikumswirksamer, eine Reise, die ihr Ziel aus verschiedenen Gründen verfehlt hat, zu einer romantischen Queste zu verklären.

So verbissen darf man aber vielleicht gar nicht an „Ins Innere von Borneo“ herangehen. Die Übergänge zwischen dem klassische Reisebericht und dem Abenteuerroman sind seit jeher fließend; wenn unsere beiden wackeren Briten auch nicht gerade viel Neues entdecken, lesen sich ihre Abenteuer doch amüsant, zumal O’Hanlon wirklich schreiben kann und seine wohl gesetzten Worte ihren Umweg zum deutschen Leser über die Übersetzung gut überstanden haben.

Übrigens hat der Autor die vielen drastischen Zwischenfälle der Borneo-Reise wohl besser verkraftet als er dies 1984 selbst gedacht hätte: Seither ist Redmond O’Hanlon noch mehrfach in anderen Dschungeln dieser Welt unterwegs gewesen und hat auch diese Reisen literarisch aufgearbeitet. „Kongofieber“, die Bilanz eines fünfmonatigen Aufenthaltes in den Tiefen des afrikanischen Kongos im Jahre 1989, hat in Form und Inhalt sogar die Ausmaße eines echten Epos‘ angenommen und gilt inzwischen als echter Klassiker der Reiseliteratur; ein Werk, das die O’Hanlons der Zukunft mit auf ihre Entdeckungsreisen nehmen werden.

Buchwurminfos II/2005

Die Zusammenarbeit Hörbuch und Publikumszeitschrift scheint sich überaus zu lohnen. In diesen Wochen liegen der _“Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“_ jeweils in drei Folgen ungekürzte Hörbuchlesungen von „Die Schatzinsel“, „Robinson Crusoe“, „In 80 Tagen um die Welt“ und „Robin Hood“ kostenlos bei. Die PR-Aktion für die Jugendklassiker-Reihe des „Verlag und Studio für Hörbuchproduktionen“ soll einer größeren Öffentlichkeit für die insgesamt 18 Titel umfassende Reihe dienen. Auch Random House und Verlagshaus Gruner + Jahr – konkret die Frauenzeitschrift „Brigitte“ – haben eine gemeinsame _Hörbuch-Edition „Starke Stimmen“_ konzipiert und das kommt richtig gut an. Bereits die erste Ausgabe für Elke Heidenreichs Interpretation von Dorothy Parkers „New Yorker Geschichten“ hatte schon vor dem Erstverkaufstag 50.000 Vorbestellungen. Für ein Hörbuch eine gigantische Zahl. Hörbücher bleiben zwar mit einem steigenden Marktanteil von nur 3,2 % eigentlich unbedeutend, aber statistisch glaubt man an den Erfolg. Denn dieser schnellt nach oben. 2004 14,7 % Umsatzzuwachs gegenüber 2003, 2003 waren es 10,3 % gegenüber 2002 gewesen. An kräftigsten natürlich im Bereich der Belletristik. Und dort gibt es nun die ersten literarisch anspruchsvollen satten Verkaufserfolge. Der Verband der phonographischen Wirtschaft verleiht dem Verlag _steinbach sprechende Bücher_ gleich _drei goldene_ Schallplatten für die Hörbücher von _Paulo Coelho_. 150.000-mal wurde sowohl das Hörbuch „Der Alchemist“ wie auch „Der Wanderer“ verkauft und 100.000-mal „Unterwegs“. Der auf die ungekürzte Lesung profilierte Verlag mit Schwerpunkt auf zeitgenössischer Literatur, klassischen Autoren, literarisches Sachbuch sowie Kinderhörbuch produziert jährlich etwa 30 Titel, lieferbar sind rund 200 Titel. Gespannt kann man jetzt schon auf das im Mai erscheinende Hörbuch „Die dunkle Seite der Liebe“ von Rafik Schami mit 20 CDs sein. Die Preise für Hörbücher purzeln endlich auch immer mehr. Den gestarteten Niedrigpreisreihen anderer Verlage hat sich nun auch der Münchner _Hörverlag_ mit seiner „Smart Edition“ angeschlossen. Die Reihe startete mit neun Titeln zum Preis von 7,99 Euro.

Zeitungen scheinen mit den Bucheditionen richtig Geschäfte zu machen. Die _“SZ-Bibliothek“_ der Süddeutschen Zeitung, die auf 50 Titel konzipiert war, wird fortgesetzt und um weitere 50 Bände erweitert. Nicht nur mit Büchern und Hörbüchern, auch mit DVDs wird da viel ausprobiert. Nach der _DVD-Reihe_ in Kooperation ZDF und der „Welt“ legte jetzt auch die _“Frankfurter Allgemeine Zeitung“_ in Zusammenarbeit mit „Spiegel TV“ eine zwölfteilige Dokumentation zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert vor. Außerdem hat die „FAZ“ seit Ende Februar bis Anfang Mai unter dem Titel „Faszinierende Natur“ eine zehnteilige Reihe von BBC-Dokumentationen auf DVD. Und nahtlos an die „SZ-Bibliothek“ begann sich die _“SZ-Cinemathek“_ anzuschließen, die ebenfalls 50 Spielfilme auf DVD umfasst. Was den Schaden solcher Zeitungs-Billig-Editionen für den Buchhandel angeht, beruhigt der Börsenverein. Im gesamten Kaufverhalten machte dieser Umsatz etwa 4 % aus und führte eher dazu, das Interesse an Büchern zu wecken.
Gut laufen im übrigen Buchgeschäft auch bestimmte _“Ratgeber“-Titel_. Das Lieblingsthema ist wie seit Jahren unverändert der eigene Körper und seine Befindlichkeit. Wellness und Selbstfindung liegt nach wie vor im Trend.

Am 16. Juli, eine Minute nach 1 Uhr (0.01 Uhr der britischen Sommerzeit), darf der _sechste Band von Harry Potter_ verkauft werden und im März ging der Hype schon wieder los. Die Buchhändler sind verärgert, denn wieder gibt es einen langen Vertrag mit 13 Punkten zu unterschreiben: Vor dem besagten Tag darf man weder selbst das Buch lesen, noch dürfen dies die Mitarbeiter; sogar Fotografien von Kartons sind unzulässig und noch mal anders als in den Vorjahren gibt es nur ein beschränktes Remissionsrecht: erst ab 1. November darf remittiert werden, die Gutschrift darf aber 20 % des Betrags der Eingangsbestellung bei Bloomsbury nicht überschreiten. Auf Nachbestellungen wird überhaupt kein Rückgaberecht mehr eingeräumt. Da keine Preisbindung vorliegt, läuft der Preiskampf auf Hochtouren, wahrscheinlich legen viel Händler wieder drauf, anstatt mal zu verdienen. Die Niedrigstpreisgarantie hat bislang Weltbild mit 15,75 Euro. Wer es woanders billiger bekäme, braucht dann sogar bei Weltbild nur diesen Preis zu zahlen. In diesem Jahr entschließen sich viele der kleinen Buchhändler erstmals dazu, die Verträge nicht zu unterzeichnen und Harry Potter bei Erscheinen nicht anzubieten, weil sie beim anstehenden Preisdumping einfach nicht werden mithalten können. Bei Interesse von Kunden nutzen sie die Barsortimente.

Die Zeitschrift _Hagal_, bislang im Verlag Zeitenwende erschienen, ist vom Regin-Verlag übernommen worden und kam im März erstmals unter ihrem neuen Untertitel „Zeitschrift für Tradition, Metaphysik und Kultur“ heraus. Der bisherige Untertitel „Zeitschrift für Mythologie, Religion, Metaphysik und Esoterik“ wurde geändert, weil esoterische und mythologische Themen künftig nur dann noch behandelt werden, wenn sie in einem Kontext mit der überlieferten Tradition stehen.

In Polen ist beim Warschauer Verlag XXL das in Deutschland verbotene Buch von Adolf Hitler _“Mein Kampf“_ als Neuausgabe gedruckt worden. Die Auflage liegt bei 2000. Bereits 1992 war dort eine erste Ausgabe erschienen, die inzwischen vergriffen war. Unter dem Kommunismus war das Buch in Polen verboten. In der Türkei ist Hitlers Buch seit langem sehr gefragt und erhältlich. „Kavgam“ (der türkische Titel) gehört dort zu den meist verkauften Büchern des ersten Quartals 2005.

_Rolf Hochhuth_ hat den Fehler begangen, sich differenzierter zu „rechten“ Zuordnungsmechanismen zu äußern, indem er den in Deutschland als „Holocaust“-Leugner bezeichneten britischen Historiker David Irving als „fabelhaften Pionier der Zeitgeschichte“ bezeichnete. Diese Aussage führte sofort zu großem Aufschrei über Hochhuth in Deutschland, weswegen er sich von seiner eigenen Aussage schnell wieder distanzierte. Dennoch wird nun die Deutsche Verlagsanstalt die für Frühjahr 2006 geplante Autobiografie von Hochhuth, die zu seinem 75. Geburtstag am 1. April erscheinen sollte, nicht mehr veröffentlichen, da die getätigte Aussage nicht mit den Autoren von DVA in Einklang zu bringen sei. Hochhuth besteht allerdings auf Vertragserfüllung und geht mit Anwalt vor Gericht.

Bundesinnenminister Otto Schily hat den in Hessen ansässigen Verlag der türkischsprachigen _Zeitung „Anadoluda Vakit“_ wegen des Vorwurfs der Volksverhetzung verboten. Unter dem Deckmantel einer angeblich seriösen Berichterstattung sei antijüdische und antiwestliche Hetze verbreitet worden. Bereits im Dezember hatte die CDU gegen das Blatt, das in Deutschland in einer Auflage von 10.000 Exemplaren erscheint, verfügt, Anzeige wegen Volksverhetzung erstattet.

Am 18. Februar kam endlich der Rat für deutsche Rechtschreibung zu seiner ersten Arbeitssitzung über die _Rechtschreibreform_ in Mannheim zusammen. Diskutiert wurde die Getrennt- und Zusammenschreibung. Von den insgesamt 36 Sitzen des Gremiums blieben die beiden Plätze der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, die aus Protest fernbleibt, nach wie vor unbesetzt. Da man nicht wirklich weiter weiß, wurde einfach mal wieder ein siebenköpfiger Arbeitskreis ins Leben gerufen. Das Ziel dieser Arbeitsgruppe ist es, endlich eine diskussionsfähige Grundlage zu schaffen. Geleitet wird die Gruppe von Ludwig Eichinger, dem Direktor des Instituts für Deutsche Sprache. Eigentlich soll der Rat bis zum 1. August die bereits reformierte Reform noch mal reformieren, bis dahin trifft sich der Rat noch dreimal. Das Ganze bleibt schildbürgerisch und Eichinger rechnet auch nicht mit der Klärung aller strittigen Fragen bis zum Inkrafttreten der Reform in den Schulen am 1. August. Auch einer der ausgetretenen prominenten Reformgegner ergreift im „Rat für deutsche Rechtschreibung“ doch wieder das Wort. Sprachwissenschaftler _Theodor Ickler_ vertritt die Interessen des deutschen PEN-Zentrums. Er möchte im Rat die „Interessen der Schulbuchvertreter“ aufdecken, denen er unterstellt, die Rücknahme der Reform zu verhindern. Sein Hauptanliegen ist ein „Moratorium“ für die Reform, die im August an den Schulen eingeführt wird.

Mit _Hans Christian Andersen_ können viele Verlage in diesem Jahr Jubiläum begehen. Seine Märchen sind jedem bekannt, allerdings weniger, dass er auch fünf Romane geschrieben hatte. Sein erster Roman „Der Improvisator“ von 1835 ist nun im 170. Erscheinungsjahr. Ansonsten feierte man am 2. April seinen 200. Geburtstag und am 4. August wird der 130. Todestag gewürdigt. Deswegen sind jede Menge Neuerscheinungen der Andersen-Märchen und -Romane, sowie Bücher über den Autor frisch auf den Mark gekommen. Einen Überblick über die medialen Höhepunkte, die zu den Jubiläen stattfinden, gibt es auf http://www.HCA2005.com.

Auch der am 29. Januar 1455 in Pforzheim geborene _Johannes Reuchlin_ ist im 550. Jubiläumsjahr. Sein Kampf gegen religiösen Fanatismus, Anmaßung und Intoleranz bildet bist heute die vorherrschende Perspektive auf das Leben und Werk dieses Gelehrten. Als neuplatonisch-kabbalistischer Philosoph, lateinischer Dichter, Gräzist und Begründer der christlichen Hebraistik hätte Reuchlin ohnehin Eingang in die Geschichtsbücher gefunden; zu jenem epocheprägenden „Wunderzeichen“, als das ihn nicht zuletzt Goethe gerühmt hat, wurde er aber erst durch seinen entschiedenen Einsatz für den Erhalt der jüdischen Literatur und seine daraus erwachsene Rolle als Verteidiger der Wissenschaft. Seine gesamten Werke nebst seinen Briefwechseln sind bei Frommann-Holzboog aufgelegt (www.fromman-holzbog.de).

Immerhin auch schon 130. Geburtstag feierte man mit _Edgar Wallace_, geboren am 1. April 1875 in Greenwich, gestorben 10. Februar 1932 in Hollywood. Seine Kriminalromane wurden bereits in den 20er Jahren in Deutschland gelesen, aber ihre große Renaissance kam in den 50er Jahren mit der auffällig in rot gehaltenen berühmten Taschenbuchreihe des Goldmann-Verlages. Noch erfolgreicher waren dann die Filme – die ersten drei gab es bereits 1927 („Der große Unbekannte“), 1929 („Der rote Kreis“) und 1931 („Der Zinker“). Aber auch hier gelang der Durchbruch ebenso erst in den fünfziger Jahren mit „Der Frosch mit der eisernen Maske“. Wallace schrieb über hundert Kriminalromane. Davon wurden unter der Gesamtleitung von Horst Wendlandt und der Regie von Alfred Vohrer und Harald Reinl insgesamt 32 verfilmt. Ende der 60er Jahre ging es mit der Erfolgsreihe zu Ende, in welcher eine ganze Reihe großartiger Schauspieler regelmäßig agierten. Unvergesslich dabei vor allem Klaus Kinski in seinen Verbrecher-Rollen.

Der Verlag _Brockhaus_ begeht 200. Jahresjubiläum des Geburtstages von E. A. Brockhaus und zelebrierte diess mit einem spektakulären Festakt auf der diesjährigen Leipziger Messe.

Ebenso Jubiläum begeht der _Orlanda Frauenverlag_, der nun bereits seit drei Jahrzehnten gute Literatur für Frauen publiziert. Nachdem bei den meisten renommierten Verlagen die Frauenbuchreihen eingestellt sind, ist Orlanda einer der wenigen unabhängigen Verlage zur Frauenthematik. Begonnen hatte alles 1975 noch im Selbstverlag mit dem _“Hexengeflüster“_, einem Selbsthilfebuch der Frauengesundheitsbewegung. 1980 wurde der Verlag in sub rosa umbenannt, bevor 1986 die Idee kam, mit Orlanda den abgewandelten Titel eines Romans von Virginia Wolf als Verlagsnamen zu nehmen. Einer der weiteren großen Erfolge war _“Wechseljahre Wechselzeit“_ von Rina Nissim. Einer der Schwerpunkte von Anfang an ist auch die Literatur für das lesbische Publikum. In diesem Frühjahr startet mit |orlanda – die edition| eine neue Belletristikreihe, die von der langjährigen Fischer-Lektorin Ingeborg Mues betreut wird. Fischer hat ja seine anspruchsvolle Frauentaschenbuchreihe „Die Frau in der Gesellschaft“ vor einiger Zeit eingestellt. Dagegen sind in die derzeit boomende Frauenbelletristik hauptsächlich Romanheldinnen in eine leicht zu lesende Unterhaltungsliteratur verpackt, die in hohen Auflagen gedruckt und als preiswerte Stapelware angeboten wird. Der dafür verwendete Begriff: _“freche Frauenliteratur“_. Die Zielgruppe sind Frauen zwischen 25 und 35. Die besten Titel erreichen Auflagen von drei Millionen Exemplaren. Literarisch wertvoll sind sie nicht, eher substanzlos aus dem Leben gegriffen. Die Autorinnen gehören auch nicht zu hochgejubelten deutschen Gegenwartsautorinnen. Die heutige Frauenliteratur hat nichts zu tun mit der engagierten Frauenliteratur der 70er Jahre, die im Zusammenhang mit der neuen Frauenbewegung vor allem von Frauen für Frauen geschrieben wurde. Beispiele von damals: „Häutungen“ von Verena Stefan, „Wie kommt das Salz ins Meer?“ von Brigitte Schwaiger, „Gestern war heute“ sowie „Hundert Jahre Ewigkeit“ von Ingeborg Drewitz, „Kassandra“ von Christa Wolf oder auch die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. In all diesen Romanen ging es um die Beschreibung des Rollenverständnisses der Frau in einer vom Mann geprägten Gesellschaft. Begleitet wurde diese Erkundung von der großen Resonanz der feministischen Debatte innerhalb der Gesellschaft, was wiederum Verlage dazu veranlasste, eigene Frauen-Reihen aufzubauen. So entstanden 1977 die Reihen „Neue Frau“ bei Rowohlt und 1978 „Frau in der Gesellschaft“ bei S. Fischer. Damals wurden in dieser Sparte noch Alternativen und Antworten gesucht. Davon ist in dem neuen Genre der „frechen“ Frauen nicht mehr viel übrig geblieben. „Frech“ und „angepasst“ ist da kein Gegensatzpaar mehr. Der Stil dieser neuen Bücher ähnelt den weiblichen Psycho-Befindlichkeitstexten aus Frauenzeitschriften. Tatsächlich stammen viele der jüngeren Autorinnen aus den Redaktionen von „Brigitte“, „Cosmopolitan“, „Vogue“, „Freundin“ oder „Elle“. Begründet wurde das Genre Ende der 80er Jahre durch Eva Heller („Beim nächsten Mann wird alles anders“), Hera Lind („Ein Mann für jede Tonart“) und Gaby Hauptmann („Suche impotenten Mann fürs Leben“). Die Sehnsucht nach der großen Liebe und dem richtigen Mann fürs Leben scheint zeitlos. Auffallend an dieser Literatur ist jedoch, dass sie das traditionelle Frauenbild bevorzugt. „Frech“ hat heute nicht mehr den emanzipatorischen Beigeschmack der 70er Jahre. Der Markt dieser Literatur ist größtenteils aufgeteilt zwischen den Verlagen der Random-House-Gruppe (Goldmann, Heyne, Blanvalent etc.), Rowohlt, den S.-Fischer-Verlagen, der Verlagsgruppe Lübbe, Piper, Droemer Knaur und dtv. Die Übergänge zwischen „frechen“ Frauen als neuem Genre, aktueller Frauenliteratur und klassischen Liebesromanen sind fließend. Es gibt im dritten Jahr schon eine eigenständige Buchmesse – die „Liebesroman Messe“ vom 20. bis 22. Mai in Wiesbaden mit 200 geladenen Gästen, darunter Autorinnen und Autoren, Übersetzer, Lektoren und Literaturagenten. Die Verlagsgruppen Droemer Knaur, Lübbe und Random House haben dort Stände und die „freche“ Frauenliteratur Workshops und Gesprächsrunden.

Zehnjähriges Jubiläum begeht auch die Reihe _C.H. Beck Wissen_, in der bereits mehr als 250 Titel erschienen sind.

Am 20. Februar verstarb _Hunter S. Thompson_, einer der besten Schriftsteller unter den amerikanischen Journalisten. Am populärsten ist wohl sein Roman „Angst und Schrecken in Las Vegas“, der auch sehr erfolgreich verfilmt wurde.

Nach langer schwerer Krankheit ist der Verleger _Dr. Karl Blessing_ am 12.3.05 in München im Alter von 63 Jahren verstorben. Dr. Karl H. Blessing, geboren am 24. März 1941 in Berlin, verfasste nach dem Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie seine Dissertation über die Frühwerke Döblins. Lange Jahre in leitenden Positionen in der Verlagsbranche tätig, leitete er von 1982 – 1995 als Verleger und Programmgeschäftsführer die Verlage Droemer, Knaur und Kindler. 1996 gründete er mit der Bertelsmann Buch AG den Karl Blessing Verlag und verlegte dort niveauvolle Belletristik und interessante Sachbücher. Als klassischer Autorenverleger bot er in seinem zutiefst individuellen Programm immer wieder bekannten und noch nicht bekannten Autoren eine verlegerische Heimat. So wurde er 2004 vom Magazin |BuchMarkt| zum Verleger des Jahres gewählt. Unter dem Dach der Verlagsgruppe Random House wird das anspruchsvolle Programm im Sinne Karl Blessings weitergeführt.

Der diesjährige _Leipziger Buchpreis_, seit 1994 jährlich auf der Leipziger Buchmesse vergeben, geht an die kroatische Schriftstellerin _Slavenka Drakulic_, die seit Beginn der 1990er Jahre die jugoslawische Bürgerkriegstragödie in mehreren Romanen und Reportagebänden analyisiert. Die Auszeichnung gilt vor allem ihrem jüngsten Werk: „Keiner war dabei – Kriegsverbrechen auf dem Balkan“. Als Beobachterin der Prozesse am Internationalen Tribunal in Den Haag zeichnet sie dort die Portraits der Täter nach. Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung würdigt Autoren, die sich vor allem um die ost- und mitteleuropäische Annäherung verdient gemacht haben. Zu den Preisträgern gehörten bisher unter anderem Aleksandar Tisma, Peter Nadas, Imre Kertesz und Dzevard Karahasan. Auch andere Preise wurden auf der Messe vergeben, z. B. der seit 1977 vom |Börsenblatt| ausgeschriebene _Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik_, den diesmal _Hubert Spiegel_, der Leiter der „FAZ“-Literaturredaktion erhielt. Den _Kurt-Wolff-Preis_ erhielt der Bonner Verleger _Stefan Weidle_ vom Weidle-Verlag für sein engagiertes Programm mit Literatur der 20er und 30er Jahre als vorbildliches Beispiel für unabhängige Verlage in Deutschland. Und erstmals wurde in diesem Jahr der _Preis der Leipziger Buchmesse_ in den Kategorien Belletristik an _Terézia Mora_, Sachbuch/Essayistik an _Rüdiger Safranski_ und Übersetzungen an _Thomas Eichhorn_ verliehen. Auch zeigte sich die „kleinere Messe“ in diesem Jahr internationaler als je zuvor. Zunehmend gibt es Länder-Beiträge wie auch auf der Frankfurter Messe. Sogar Korea war angereist und gab einen Vorgeschmack auf die Frankfurter Messe, wo das Land dieses Jahr Gastland ist. Im Gegensatz zur Frankfurter Messe machen die kleineren und mittleren Verlage in Leipzig achtzig Prozent der Aussteller aus. Die Leipziger Buchmesse ist ansonsten mit der Aktion _“Leipzig liest“_ mit 1.200 Veranstaltungen und über tausend Mitwirkenden das größte europäische Literaturfest. Erfreulich war, dass die Bundeswehr dieses Jahr nicht mehr mit einem Werbestand auf der Buchmesse vertreten war. Unaufhaltsam wächst der Leipziger Branchentreff, bereits im 15. Nachwendemessenjahr, von Jahr zu Jahr.

Je näher der Termin der Messe anrückte, desto größer wurde innerhalb der Branche das Murren. Dass die Leipziger Messe zeitgleich mit der Lit.Cologne veranstaltet wird, stößt auf einheitliche Kritik, für dessen Ärgernis man die Kölner verantwortlich macht, denn Leipzig war nun einmal eher da. Man ist sehr gespannt, wie dieses Konkurrenzgebahren sich künftig entwickelt, denn die Kölner Messe hat nach dem Abgang der Popkomm kräftig in eine eigene Hörbuchmesse investiert. In der Öffentlichkeit ist Lit.Cologne auch nicht mehr wirklich beworben worden, sondern die meisten setzten dann doch wie gewohnt auf die Leipziger Messe. 120 Hörbuchverlage kamen nach Leipzig, im Jahre 2000 waren es gerade mal 40. Darunter waren alle renommierten Hörbuchverlage sowie alle ARD-Rundfunkanstalten, die sich als Hörbuchproduzenten nur in Leipzig vereint präsentieren. Wie auf der Frankfurter Messe gibt es nun das „Focus“-Hörbuch-Café mit attraktivem Fachprogramm. Bereits zum fünften Mal fand die zur Tradition gewordene „ARD-Radionacht der Hörbücher“ statt, die am Messefreitag live ausgestrahlt wurde. Als erfolgreichstes Hörbuch des Jahres wurde _“Die Päpstin“_ (DAV) mit dem _“HörKules“_ ausgestattet. Damit ist die Leipziger Messe der wichtigste Treffpunkt für die Hörbuchbranche geblieben.

Dennoch war die _5. Lit.Cologne_ mit rund 50.000 Besuchern ebenfalls überaus erfolgreich, was zu Änderungen führt. Der Termin für 2006 ist der 10. bis 18.März und die Messe wird damit von fünf auf neun Tage ausgedehnt und erstreckt sich über zwei Wochenenden. Da das Kinderprogramm auf der Messe auf großes Interesse stieß, wird es 2006 – neben der dann zweiten Kölner Hörbuchmesse – auch eine eigene Kinderbuchmesse geben. Der Streit um die Hörbücher wurde beigelegt, denn die Hörbuchmesse Audio Books Cologne wird nur vom 10. – 13. März 2006 gehen und die Leipziger Buchmesse ist dann erst die Woche darauf vom 16. – 19. März. Das überschneidet sich natürlich dennoch wieder mit der sonstigen Lit.Cologne. Zwar ist Köln eine Autorenmesse und Leipzig eine Buchmesse, dennoch erwartet Leipzig weiterhin, dass Köln den 2001 angezettelten widersinnigen Wettbewerb auf eine Weise löst, die in künftigen Jahren zu keinen Terminüberschneidungen mehr führt.

Das diesjährige Gastland auf der _Frankfurter Buchmesse_ könnte ein Flop werden. Politisch war die Auswahl des Gastlandes Korea – da Süd- und Nordkorea zusammen auftreten – ein genialer Coup, aber nun hat Südkorea sein kulturelles Rahmenprogramm radikal gestrichen. Als Grund wird angegeben, dass die einheimische Wirtschaft das Projekt im Stich gelassen habe und so wurden die geplanten Kultur- und Diskussionsveranstaltungen auf ein Minimum reduziert. Da verspricht man sich schon jetzt um so mehr vom Gastland 2006, welches Indien sein wird, denn dort entwickelt sich das Verlagswesen überaus rasant. Und 2007 folgt dann Katalonien als Ehrengast der Messe. Interessant dabei ist, dass sich damit nur eine Region präsentiert und nicht das gesamte Land Spanien. Erstmals schaut dann die Messe auf einen eigenständigen historischen Kulturraum und experimentiert mit einer neuen Herangehensweise an das Konzept des Gastlandes. In jedem Jahr nehmen die deutschen Verlage das Gastland zum Anlass, um Schwerpunkte in ihrem Programmen zu setzen.

Im _Börsenverein des deutschen Buchhandels_, dessen umfangreiche Reform in den letzten Jahren zu einem großen Wirtschaftsbetrieb geführt hatte, wird heftig um die Verbandsdemokratie diskutiert. Hauptthematik ist die bessere Kommunikation zu den Mitgliedern, denn „diese wollen nicht beruhigt werden, sondern beruhigt sein“ (Matthias Ulmer, Sprecher Arbeitsgruppe Verbandsreform). Bisherige Strategie war es immer gewesen, Probleme nicht an die große Glocke zu hängen. Dies erweist sich nun als ganz schlecht für die Bindung an die Mitglieder. Zum Beispiel durften auf den Hauptversammlungen bislang die Mitglieder dem Bericht des Vorstands lauschen, doch eigentlich sollte ein Vorstand doch auch hören, was die Mitglieder ihm zu sagen haben. Die einzelnen Sparten im gemeinsamen Verband driften immer mehr auseinander. Überhaupt verliert der Verband kontinuierlich pro Jahr etwa 200 Mitglieder. Vor kurzem ist auch Amazon aus dem Verband ausgetreten, was als Zeichen gewertet wird, dass die Großen den Börsenverein nicht mehr brauchen. Für die politische Lobbyarbeit ist es aber weiterhin wichtig, dass der Verband die gesamte Branche repräsentiert. Bertelsmann z. B. kann froh sein, dass der Börsenverein dem Club eine Plattform geboten hat, um das Potsdamer Abkommen neu zu verhandeln. Sehr problematisch ist auch, dass der Ruf nach einem eigenen Verlegerverband lauter wird. Die Differenzen in den Streitigkeiten – wie z. B. Konditionen mit dem Sortiment – scheinen zu groß zu werden. Der Börsenverein will nun, um als spartenübergreifender Verband bestehen zu bleiben, mehr das selbstständige Eigenleben der Sparten innerhalb des Verbands fördern. Für den Austausch unter den Sparten gab es bislang die Abgeordnetenversammlung, die aber in der Praxis nicht funktionierte. Auf den Treffen wurde genau das erzählt, was auch am Tag zuvor in den Fachausschüssen gesagt wurde. Die Mitglieder assoziieren mit der Abgeordnetenversammlung einen „Frankfurter Klüngel“ und wollen, dass Entscheidungen auf der Hauptversammlung getroffen werden, bei der jedes zahlende Mitglied Sitz und Stimme hat. Die Vision der künftigen Hauptversammlung ist ein wirklich lebendiger Verleger- und Buchhändlerkongress mit einem vielfältigen Rahmenprogramm und intensiver Diskussion über den Verein. Inzwischen fühlen sich selbst Vorstandsmitglieder desinformiert. Jetzt soll der Vorstand erweitert und mit neuen Strukturen die Verbandsarbeit wirklich revolutioniert werden. Auch die Vertreter der Landesverbände werden in den Vorstand mit aufgenommen. Um den Streitereien ein Ende zu bereiten, müssen alle an einem Strang ziehen können. Die Entfremdung der Mitglieder von den Landesverbänden ist allerdings seit Jahren schon nicht mehr übersehbar. Es besteht die Pflicht einer Doppelmitgliedschaft im Bundesverband wie im Landesverband, was die Mitglieder schon lange nicht mehr einsehen. Aufgrund solcher nun eskalierender Politik der letzten Jahre zum Wirtschaftsverband war das kulturpolitische Profil auf der Strecke geblieben. Das Ansehen als Kulturverband soll gestärkt werden mit den bewährten Projekten wie dem Friedenspreis oder dem Vorlesewettbewerb. Aber auch durch neue Projekte wie den Deutschen Buchpreis und „Ohr liest mit“.

|Das Börsenblatt, das die hauptsächliche Quelle für diese Essayreihe darstellt, ist selbstverständlich auch im Internet zu finden, mit ausgewählten Artikeln der Printausgabe, täglicher Presseschau, TV-Tipps und vielem mehr: http://www.boersenblatt.net/.|

Brust, Steven – Athyra

„Athyra“ ist bereits der sechste Band der Serie um den Hexer und Assassinen Vlad Taltos, der nicht als strahlender Held sondern mit einem blauen Auge die meisten seiner Aufträge hinter sich bringt. Während die ersten fünf Romane alle noch in der großen Stadt Adrilankha spielten, wo Taltos sich mit Menschen und Dragaeranern herumschlagen musste, und in denen er sich durch die Kontrolle eines Stadtteils noch ein wenig Geld nebenher verdiente, ist dies in diesem Roman Vergangenheit.

Vlad Taltos ist auf der Flucht. Er hat sich einmal zu viel mit den Mächtigen der Stadt Adrilankha und des Imperiums angelegt und alles verloren außer dem nackten Leben: seinen Besitz, seine Stellung im Hause Jhereg und seine Gefährtin.
Trotzdem ist er nicht in Depressionen verfallen und hadert mit seinem Schicksal, sondern macht das Beste aus dem, was ihm geblieben ist. Unaufhörlich auf Wanderschaft, gelangt er schließlich in das Herrschaftsgebiet des Barons Kleineklippe. Der Landstrich ist von sturen Bauern bewohnt, die sich nur widerwillig mit der Regentschaft ihres neuen Herrn abfinden können, denn dieser ist ihnen mehr als unheimlich.

Dort lernt Vlad den jungen Savyn kenne, den Lehrburschen des Heilers. Wie viele Jungen in seinem Alter, träumt er von Abenteuern und Reisen, die ihn weg von seinem langweiligen und den Erwachsenen vorbestimmten Alltag führen, auch wenn er es besser hat als die meisten seiner Freunde.
So ist es für Vlad Taltos einfach, Savyns Neugier zu erregen. Er kennt viele spannende Geschichten und verspricht dem Jungen, ihm die Hexerei beizubringen, im Gegenzug für ein paar Informationen, nachdem ein Mann umgebracht wurde, den er zu seinen Bekannten zählte. Und die sind mehr als wichtig, denn ein Verdacht von Vlad wird dadurch bestätigt: Baron Kleineklippe ist kein anderer als Loraan, ein Magier des Hauses Athyra, der mit ihm ein Hühnchen wegen seiner Ermordung zu rupfen hat und nun als Untoter über noch mehr Macht als früher gebietet.

Es wird ernst, als Attentäter Vlad angreifen und schwer verletzen. Nun muss Savyn handeln und all seine Kenntnisse und Fähigkeiten einsetzen, um ihm zu helfen …

Da Steven Brust die einzelnen Bände seines Zyklus so angelegt hat, dass sie unabhängig voneinander lesbar sind und jeweils ein abgeschlossenes Abenteuer schildern, ist „Athyra“ ist ohne Vorkenntnisse für einen Neuleser verständlich. Wer bereits die anderen Roman kennt, wird aber schnell die versteckten Querverweise zu „Phönix“ (die Gründe für Vlads Flucht aus Adrilankha) und „Taltos“ (die erste sehr kurze Begegnung von Vlad Taltos mit Loraan) wiedererkennen.

Anders als die anderen Romane spielt „Athyra“ nicht im Herzen des dragaeranischen Reiches, sondern in einem verschlafenen Dorf – und was noch auffälliger ist, anstatt die Geschichte aus der Ich-Perspektive seines Helden zu erzählen, betätigt sich Steven Brust diesmal als unabhängiger Erzähler in der dritten Person, was etwas befremdlich wirkt – lernen wir Vlad diesmal doch aus den Augen dritter Personen können und erfahren nicht viel über die Gedanken hinter seinen schnoddrigen Äußerungen. Das ist manchmal etwas gewöhnungsbedürftig, wenn man sich an die früheren Bücher gewöhnt hat, mindert aber nichts an der Spannung der Geschichte.

Der Autor erzählt nicht von strahlenden Helden und epischen Abenteuern, seine Romane lassen sich mit den Krimis der „Schwarzen Serie“ vergleichen. Hier werden die Auswirkungen und Zaubern und Kämpfen nicht beschönigt oder umschrieben, sondern sehr realistisch und schmutzig dargestellt. Vlad Taltos ist ein Zyniker, der meistens erst einmal vom Schlechtesten ausgeht und froh ist, wenn er eine Sache hinter sich gebracht hat, der seine schwarze Seele nicht hinter Masken versteckt und erschreckend ehrlich ist. Im Gegensatz dazu steht der naive und unerfahrene Savyn, der die Lektionen in seinem Leben erst noch lernen muss.

Das macht den besonderen Reiz dieses Romans aus, der zwar keine neue Geschichte, dafür aber aus einem besonderen Blickwinkel erzählt und über lebendige Menschen erzählt, die mehr als nur Archetypen oder oberflächliche Schemen sind, die die Handlung tragen.

Wer jedenfalls ein Faible für düstere, schmutzige Fantasy hat, ohne gleich mit exotischen Waffen durch actionreiche Blutbäder und Metzeleien waten zu wollen, der wird an Steven Brusts Romanen sicher seinen Spaß haben.

_Christel Scheja_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de veröffentlicht.|

Ballard, Robert D. – Geheimnis der Titanic, Das

Die Riege der Unterwasserforschungs- und Wrack-Publikationen des Titanic-Entdeckers Robert D. Ballard wäre alles andere als komplett, wenn ich nicht auch seinen Bestseller und zugleich sein Erstlingswerk unter die Lupe nähme, das ihm seinen heutigen Ruf erst verpasst hat. Das Objekt seiner damaligen Begierde hingegen brauche ich ich wohl nicht näher vorstellen: Die RMS Titanic (RMS steht für „Royal Mail Ship“) manchmal in alten Quellen auch als SS Titanic bezeichnet (für „Steam Ship“, also Dampfschiff). Kaum ein Schiff und die es umwabernden Legenden hat die menschliche Phantasie in Sachen tragischer Unglücke so beflügelt wie diese eine Katastrophe. Mich fasziniert die Geschichte bereits seit meinen frühen Kindertagen. Bis heute ist das Interesse daran ungebrochen – und nicht nur meines.

_Der Autor_
Robert Dwayne Ballard ist eine feste Größe geworden, der besagte Fund hat den Grundstein gelegt für den umtriebigen Doktor der Woodshole Oceanographic Institution. Dabei ist er eigentlich Meeresgeologe, der einst das Terrain der Unterwasserlandschaften kartographierte und erforschte. Zum ruhmreichen Titel des Godfathers unter den heutigen Wrackfindern kam er wie die Jungfrau zum Kind. Seine Tätigkeit für die US-Navy und die Entwicklung damals revolutionärer Tiefsee-Forschungs-U-Boote brachte ihm die Anfrage ein, ob er sich – gesponsort vom amerikanischen Militär und einigen anderen – mit seinem hierfür zweckentfremdeten Equipment statt doofe Steine, sturzlangweilige Felsen und an Ödnis kaum zu übertreffende Unterwassergräben zu erforschen, nicht lieber auf die Suche nach dem berühmten Liner machen wolle. Zuvor war 1983/84 schon der Milliardär Jack Grimm zweimal mit seinen privat finanzierten, medienwirksamen Expeditionen gescheitert, wie Ballard später nicht müde wird hämisch zu sticheln.

Er hat es grade nötig. Ballard ist nicht unumstritten, vor allem die Franzosen werfen ihm vor, sie bei der Titanic-Expedition (die man gemeinsam unternahm, der Ruhm jedoch ging alleine an ihn) herzlichst über den Löffel barbiert zu haben. Zumindest waren sie die ersten, die es wagten, seinem neu erworbenen Hochglanzimage ein paar fiese Dellen zu verpassen. Übersteigerte, mediale Geltungssucht ist das Schlagwort. Wer dieses und seine anderen Bücher mehr oder weniger aufmerksam liest, wird feststellen, dass dies gar nicht so weit hergeholt ist. In der Tat ist Ballard ein tüchtiger und fähiger Wissenschaftler, doch der stetige Erfolg seines gepriesenen Suchsystems ist ihm seit damals irgendwie zu Kopf gestiegen. Und wie das so ist, dreht sich die Spirale seither munter weiter: Mit jedem weiteren Wrack wächst sein Ego näher heran an den schmalen Grat des Größenwahns. Kein Wunder, dass er von vielen einer Kollegen mittlerweile geschnitten wird. Derzeit sucht er übrigens die Arche Noah … Petri Heil.

_Unsinkbar – Das Schiff und seine Geschichten_
Eine Menge Mythen ranken sich um das berühmteste Passagierschiff seiner Zeit, das seine Jungfernfahrt von Liverpool nach New York am 14./15. April 1912 denkbar außerplanmäßig beendete. Die unsanfte Begegnung mit dem Eisberg und die darauf folgende Tragödie ist hinlänglich bekannt. Ihre Berühmtheit hat sich bis heute gehalten, zudem kann der Untergang als sicheres Ende des „vergoldeten Zeitalters“ angesehen werden. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Technikgläubigkeit gerade in England schier grenzenlos. Beinahe täglich neue Erfindungen, die das Leben einfacher und komfortabler gestalteten. Der Mensch im sicheren Glauben, die Natur mit Ingenieurskunst auf ewig besiegen zu können – das musste ja irgendwann schief gehen. Ihre Erbauer haben sich eine Menge pfiffiger und bahnbrechender Details einfallen lassen und doch hat es nicht gereicht, um alle Eventualitäten auszuschließen.

Die Titanic war das ikonische Sinnbild dieser euphorischen Ära: Gebaut nach dem letzten Schrei der Technik, mit viel Wert auf pompösen Luxus – weniger jedoch auf Geschwindigkeit und (wie sich in der schicksalsträchtigen Nacht überdeutlich zeigt) auch weniger sicher respektive „unsinkbar“, als man glaubte. Dieses oft bemühte Adjektiv stammt übrigens aus der Presse seinerzeit, die Reederei widersprach dem Superlativ aus Werbegründen natürlich absichtlich nicht. Im Nachhinein konnten sie mit Fug und Recht behaupten, so etwas nie gesagt zu haben. Der Legendenbildung ist das fehlende Dementi aber vollkommen wurscht. Die Realität hat den Nimbus, dass „nicht mal Gott persönlich dieses Schiff versenken“ könne, zerstört. Quid ad est demonstrandum. Gott war dazu nicht nötig, ein popeliger Eisberg reichte vollkommen. Eine ganze Epoche ging nicht nur metaphorisch mit der Titanic baden und beendete die bedingungslose Technikgläubigkeit.

Eine ganze Latte Falschinformationen und Halbwahrheiten hat sich hartnäckig gehalten; so wird sogar heute noch vielenorts unterstellt, Captain E. J. Smith und der Vertreter der White-Star-Reederei Bruce Ismay wären auf das Blaue Band (die Auszeichnung für die schnellste Atlantiküberquerung) aus gewesen. Das ist mit Blick auf die vergleichsweise schwachen Triebwerke der Titanic ausgekochter Dummfug. Dazu wäre sie niemals in der Lage gewesen – wenngleich Ismay nachweislich wohl mehr als einmal gedrängt haben soll, etwas mehr Tempo zu machen, um früher als geplant in NY anzukommen. Das kann man nachvollziehen, bedeutete es doch eine gute Werbung im hart umkämpften Markt, wenn der prachtvollste Pott aller Zeiten das Manko, dafür aber eine eine lahme Schnecke zu sein, ein wenig ablegen könnte. Das Blaue Band jedoch war niemals ein Thema oder auch nur annähernd in Gefahr. Das hielt die Cunard Line mit ihren viel stärker motorisierten Schiffen „Mauretania“ und „Lusitania“ jahrzehntelang.

Klassendenken, zu wenige Rettungsboote (kurios, aber mehr als der Gesetzgeber damals forderte), ein zu nördlicher Kurs, ein fataler Denkfehler in der Konstruktion, fehlende Ferngläser im Ausguck, spiegelglatte See, ein Fahrfehler des Ersten Offiziers, ein Schiff, das nicht zur Rettung erschien – die oft strapazierte „unglückliche Verkettung von Ereignissen“-Liste ließe sich fast beliebig fortführen, um diese Tragödie zu erklären, die vor allem in den Reihen der Zweite- und Dritte-Klasse-Passagieren dem Sensenmann eine große Ernte bescherten, ja ganze Familien auslöschte. Geschichten von Heldenmut, Tragödien, „Be British!“-Gedröhn und eine Band, die bis zum allerletzten Vorhang spielte, sind durch Zeugenaussagen überliefert und haben die Zeit überdauert. Der eigentlichen Grund für das rasche Absaufen konnte nie befriedigend geklärt werden.

Die Untersuchungskommission kurz nach dem Desaster konnte kein Licht ins Dunkel bringen oder wollte es zum Teil auch gar nicht. Mochten sich Zeugen auch noch so widersprechen, man ignorierte es. Man hing einem sehr falschen Schadensbild nach, doch man konnte es in diesem speziellen Punkt wirklich nicht besser wissen. Woher auch? Zu guter Letzt beschuldigte man sogar den Kapitän eines offensichtlich in der Nähe befindlichen Schiffes der unterlassenen Hilfeleistung. Beweisen konnte man Captain Lord sein vermeintliches Fehlverhalten nie so recht. Aber man hatte immerhin schon mal einen publikumswirksamen Sündenbock, den man zumindest für einen Teil der Opfer verantwortlich machen konnte. Man beeilte sich seinerzeit auffällig, die Untersuchung zu einem schnellen Abschluss zu bringen, es ging aus wie das Hornberger Schießen.

Heute weiß man mehr. Der Schaden war eigentlich gar nicht so riesig. Kein 90 Meter langer Riss im Rumpf, sondern „nur“ viele kleine. Diese dafür an besonders prekären Stellen. Das reichte, um den Titanen zu Fall zu bringen. Der Rumpf ist entzwei gerissen, dessen Teile stehen 600 Meter voneinander entfernt auf Grund. Ballard rekonstruierte anhand der Fundlage und Schäden den Ablauf des Untergangs zum ersten Mal schlüssig. Eine ausgefeilte Theorie, die aufgrund ihres sehr hohen Wahrscheinlichkeitsgrades weiterhin Gültigkeit hat. Es kommt nach Bergung einiger Stahlproben vom Wrack (durchgeführt Mitte der 90er vom Discovery Channel – ohne Ballard) sogar eine neue Komponente hinzu: Der Werkstoff soll minderwertig und kältespröde sein, dass heißt bei Temperaturen unter 0° C besonders zum Bersten neigen. Ein weiterer Sargnagel für das Ende des Schiffes in jener kalten Nacht mit Wassertemperaturen um -2° C.

Wie man es dreht und wendet, lange Zeit gab die sagenumwobene Titanic massig Stoff für Spekulationen und ungelöste Rätsel her. Je weiter die Zeit voranschritt, desto wilder wurden die Phantasien. Clive Cussler hebt die Titanic in seinem gleichnamigen Roman gar und lässt sie – logischerweise „etwas“ verspätet, aber immerhin – gesteuert von seinem Lieblingshelden Dirk Pitt in New York einlaufen. In seinem Kielwasser hatten Hebe-Hypothesen Konjunktur, das „Wie?!“ reichte hier vom klassischen Ponton bis hin zu äußerst schrägen Lösungen. Die Japaner kamen auf die Idee, das Wrack mit Tischtennisbällen zu füllen und ihm dadurch Auftrieb zu verleihen. Das ist schon mal schräg. Getoppt wird dieser Plan aber davon, das gesamte Schiff mittels flüssigem Stickstoff in einen künstlichen Eisberg zu verwandeln und diesen dann nach dem Auftauchen in einen Hafen zu schleppen. Das ist zwar kreativ, aber schon nicht mehr schräg, sondern höchst skurril. Einen kleinen Schönheitsfehler hat diese ganze Vorschuss-Kreativität allerdings: Zu diesem Zeitpunkt ist das Wrack noch immer verschollen.

Finden wollte man sie seit langem, doch erst nach 77 Jahren wird der zerschmetterte Leib der Königin der Meere am 1.9.1985 aufgespürt – auch Ballard braucht zwei Anläufe, bis er das dunkle Massengrab in fast 4000 Metern Tiefe fast auf den letzen Drücker seiner Expedition ortet. Endlich ein paar greifbare und belastbare Fakten, die aus dem Schlick des Meeresbodens ans Tageslicht gelangen. Man könnte nun annehmen, dass jetzt mit der Gewissheit endlich Ruhe im Gerüchte-Karton herrschen würde. Weit gefehlt. Robin Gardiner und Dan van der Vat gossen zum Beispiel auch lange nach dem Fund noch viel Atlantik-Wasser auf die Mühlen der Verschwörungstheoretiker und fabulierten von einem gewaltigen Versicherungsbetrug der Reederei. Statt der Titanic soll ihr Schwesterschiff Olympic vor Neufundland liegen. Absichtlich versenkt. Klar. Man sieht, Unmengen an Publikationen und Ideen. Manches gut recherchiert, anderes purer Humbug.

Mit der Totenruhe des Wracks ist es seit Ballards erstem Besuch Essig. Unvorsichtigerweise posaunte er gleich nach dem Fund die tatsächliche Sinkposition gegenüber einem seiner Sponsoren aus, was diese nicht für sich behielten. Dank moderner Technik hat sich das Wrack seitdem zu einem ziemlichen Touri-Magneten entwickelt – sofern man die Kohle dafür hat. Telly Savallas moderierte eine Fernsehshow von dort aus und James Cameron tauchte hinab, um an authentisches Filmmaterial für seinen verkitschten Streifen zu kommen. (Die Untergangssequenz stützt sich aber zu hundert Prozent auf Ballards Theorie, was ihn alleine deswegen sehenswert macht.) Russen sowie die Franzosen haben sich auch schon mehrfach dort unten getummelt; obwohl die Wissenschaft gerne vorgeschoben wurde, nicht immer zum Besten der alten Lady. Die Schatzjäger haben Teile gehoben und durch schiere Unachtsamkeit vermeidbare Schäden verursacht. Die oft postulierten Schätze hat man trotzdem nie gefunden.

Dabei haben sie sich den Zorn der internationalen Gemeinschaft zugezogen, die der Meinung ist, dass die Grabschänderei ein Ende haben muss. Hier muss man Ballard zugute halten, dass er von Anfang an gegen eine kommerzielle Ausschlachtung des Schiffes war. Denn um nichts anderes handelt es sich. Mal abgesehen davon, dass solche Plünderungen auch immer gefährlicher werden. So ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis das Wrack begünstigt durch den starken Rostbefall unter seinem Eigengewicht zusammenbrechen wird. Schätzungen zufolge verwandelt sich die bis jetzt noch halbwegs ansehnliche Bugsektion in einigen Jahren in einen unförmigen Trümmerhaufen. Der Zerfallsprozess hat ein fortgeschrittenes Stadium erreicht. Das infolge einer Implosion beim Untergang schon arg gebeutelte (und dadurch wesentlich schlechter erhaltene) Heck gleicht jetzt bereits einem Schlachtfeld aus verdrehtem, rostigem Metall.

Noch reckt die Titanic stolz und trotzig ihren steilen Bug aus dem Schlamm, in welchem sie in aufrechter Lage ihre vorletzte Ruhe gefunden hat. Ein gespenstisches Bild. Irgendwann wird sie auch den allerletzten Kampf verlieren: den gegen die omnipräsente Korrosion. Die Natur lässt sich nicht nur nicht besiegen, sie fordert unerbittlich auch alles wieder zurück, was man ihr entnommen hat. In diesem Fall vielleicht sogar mit einem ironischen, siegessicheren Lächeln. Der Kreis hat sich dann geschlossen, und nur noch ein riesiger Rostfleck in der ewigen Dunkelheit der Tiefsee wird zurückbleiben. Doch solange es eine Geschichtsschreibung gibt, existiert die gefallene Titanin in den Köpfen weiter und wird immer wieder zu ihrer schicksalsträchtigen Jungfernfahrt aufbrechen, von der es keine Wiederkehr gibt – als sinnbildliche Mahnung gegen menschliche Überheblichkeit und überkommenes Klassendenken.

_Das Buch_
Selbstverständlich rekapituliert ein solches Werk die Vorgänge von der Kiellegung über markante Wegmarken in ihrem recht kurzen Leben bis hin zum Untergang. Bis man allerdings bis zum fraglichen Teil des Fundes vorstößt, dauert es eine Weile und man muss Ballards Schwadroniererei hinsichtlich der Vorbereitung der Expedition und seines von ihm entwickelten Suchsystems über sich ergehen lassen. Inklusive einer ganzen Reihe technischer Defekte und der ersten fehlgeschlagenen Expedition unter seinem Kommando. Der Leser wird dröge in die hohe Kunst des „Rasenmähens“ eingeführt, ein guter Vergleich, wie ich finde. Hierbei wird der Meeresgrund tatsächlich streifenweise mit Sonar abgegrast. Ausgebrachte Transponder erlauben eine exakte Positionierung des eigenen Schiffes innerhalb dieses Sonar-Netzwerks, zusätzlich vertraut man auf GPS. Das hätte man aber getrost kürzen können und/oder stattdessen dem Wrack mehr Aufmerksamkeit widmen können. 252 Seiten sind für eine so umfangreiche Thematik, allein zur Titanic selbst, knapp bemessen.

Zugute halten muss man Ballard, dass diese ersten Suchfahrten zwar das Wrack zutage brachten, jedoch aufgrund widriger Umstände eine ausgiebige Begutachtung nicht zuließen. Erst 1989 kehrte er mit besserem Equipment noch einmal zurück und konnte zusätzliche Untersuchungen durchführen. Drucklegung der Erstveröffentlichung war aber schon 1987, also gut zwei Jahre nach dem spektakulären Fund und Auswertung der bisherigen Ergebnisse. Spätere Auflagen wurden mit den neueren Erkenntnissen bereichert und aktualisiert. Viel war das nicht, fügte aber weitere Puzzlesteinchen ins Bild, über die man vorher nur spekulieren konnte, die nun aber beweisbar wurden. Legendär ist Ballards Ausflug mit dem Tauchroboter „Jason“ in den großen Ballsaal, der erstmals faszinierende Einblicke ins Innere des Wracks gewährte. Vorher waren ihm nur Außenaufnahmen möglich gewesen.

Das Buch ist reichhaltig bebildert und lebt zum Teil alleine davon. Dies ist Ballards erste (und bis heute andauernde) Zusammenarbeit mit Illustrator Ken Marschall. Ein Glücksgriff. Niemand sonst versteht es, Wrack-Panoramen so akribisch-detailreich und stimmungsvoll mit dem Airbrush auf Leinwand zu bannen. Und das nur anhand von Beschreibungen und Bildausschnitten, denn man darf nicht vergessen, dass die Sichtweite des Lichtkegels in dieser Tiefe mit dem damaligen Equipment nur rund 15 Meter betrug. Zwei ausklappbare Panoramabilder zeigen seine eindrucksvolle Arbeit und auf den Rückseiten die Schnittzeichnung bzw. den Originalaufriss des Schiffes und eine Fotomontage des Ist-Zustandes aus der Draufsicht. Neben Marschalls zahlreichen Illustrationen sicher ein Highlight der Publikation. Der Text beinhaltet eine Menge interessanter Informationen und zeitgenössischer Darstellungen, hat aber einen leicht hochnäsigen und selbstdarstellerischen Unterton.

_Fazit_
Sieht man von der typisch Ballardschen Selbstbeweihräucherung mal ab, ist dies ein lohnenswertes Buch für alle, die sich für das berühmte Schiff und insbesondere das Wrack interessieren. Ballards Stil ist gewöhnungsbedürftig, das ändert sich mit erst mit späteren Projekten, bei denen er Rick Archbold als Redakteur, historischen Berater und Co-Autor stärker einbindet. Dieses Werk hier ist noch ziemlich Ballard pur, ohne Archbolds Feinschliff, mit allen seinen schon damals erkennbaren Schrullen – wenngleich der Vorfall mit den düpierten Franzosen immerhin Erwähnung findet und teilweise von ihm entschuldigt wird. Das muss man anerkennen, obwohl es sich aus seiner Feder naturgegeben anders darstellt. Bleibt zu erwähnen, dass die wertigere Hardcover-Ausgabe wegen der größeren Bilder vorzuziehen ist – beide Versionen sind mittlerweile out of print, jedoch sowohl als Hardcover als auch Taschenbuch immer noch recht problemlos erhältlich. Ein Dauerbrenner, wie das Thema an sich und Pflichtlektüre für Freunde („Fans“ erscheint mir in diesem Zusammenhang doch etwas pietätlos) der alten Lady.

_Die Buchdaten auf einen Blick:_
Originaltitel: „The Discovery Of The Titanic“
Ersterscheinung: 1987 – Madison Publishing Inc. / NY
Deutsche Ersterscheinung: 1987 – Ullstein / Berlin
Übersetzung: Ralf Friese und Jutta Wannenmacher
Zugrundeliegende Version: Hardcover / 7. Auflage 1993
Derzeit letzte Drucklegung: November 2000
Seiten: 252 / durchgängig bebildert + 2 ausklappbare Panoramen
ISBN: 3-550-07653-3 (HC) – out of print
ISBN: 3-548-23280-9 (TB) – out of print

Gary Braver – Das Elixier

Das geschieht:

1980 spürte Biochemiker Dr. Christopher Bacon im Dschungel von Papua-Neuguinea heilsamen Pilzen nach, Weil er dabei seinem einheimischen Begleiter, dem Schamanen Iwati, das Leben rettete, weihte ihn dieser in das Geheimnis der Tabukari-Pflanze ein, die dem Menschen Unsterblichkeit schenkt; er selbst sei auch schon 130 Jahre alt, eröffnete Iwati damals dem staunenden Freund.

Sechs Jahre später tüftelt Bacon immer noch an einer Version des Wundermittels, das er „Tabulon“ nennen möchte. Inzwischen werden seine Labormäuse steinalt. Bacon würde gern selbst die eigene Medizin versuchen, gäbe es nicht hässliche Nebenwirkungen gäbe: So manche Maus holt plötzlich die Zeit ein, die sie dank Tabulon betrügen konnte. Das Ende ist ebenso spektakulär wie tödlich, was Bacon klugerweise zur Zurückhaltung mahnt. Allerdings muss er erfahren, dass ihn sein alter Freund und Mitforscher Dexter Quinn, den er als einzigen ins Vertrauen zog, schnöde hinterging: Quinn hat sich heimlich Tabulon injiziert. Die Wirkung entsprach tatsächlich dem Sturz in den Jungbrunnen, bis es ihm eines Tages ergeht wie besagten Mäusen. Gary Braver – Das Elixier weiterlesen

Isau, Ralf – geheime Bibliothek des Thaddäus Tillmann Trutz, Die (Die Legenden von Phantásien)

Eine von Karl Konrad Koreanders herausragendsten Eigenschaften ist seine Liebe zu Büchern. Eine weitere ist die Tatsache, dass er sich selbst so gut wie gar nichts zutraut und deshalb möglichst vermeidet, irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Außerdem neigt er dazu, unbequeme Fragen zu stellen, was allerdings weniger auf Mut als auf Unbedachtheit zurückzuführen ist.
Dem Antiquar Thaddäus Tillmann Trutz jedoch scheinen die Fragen des jungen Mannes zu gefallen. Und auch seine Antworten. Er bietet ihm eine Stelle in seinem Laden an mit der Option, sein Nachfolger zu werden. Koreanders kühnste Träume scheinen wahr zu werden. Doch dann ist der alte Mann plötzlich verschwunden! Und die Generalvollmacht für den Laden ist nicht unterschrieben. Formaljuristisch ein wertloser Fetzen Papier, wie ihm Trutzens Notar versichtert. Doch Herr Trutz war ein sehr kautziger alter Mann, und dementsprechend sieht auch das Testament aus. Koreander macht sich auf Empfehlung des Notars auf die Suche nach Herrn Trutz.
Das Antiquariat des Herrn Trutz stellt sich als überraschend weitläufig heraus, und die Bücher als äußerst ungewöhnlich. Als Koreander dann auf ein kleines Männlein trifft, das aussieht wie ein Bleistift und ihm erklärt, Herr Trutz sei in einer Welt namens Phantásien verschollen und außerdem die Bücherei bedroht durch ein geheimnisvolles Nichts, ist er überzeugt zu träumen. Nur deshalb lässt er sich überreden, selbst nach Phantásien zu gehen. Dort angekommen, gerät seine Überzeugung zu träumen schon bald ins Wanken …

Aufgrund dieser Angaben könnte man jetzt einen billigen Abklatsch der „Unendlichen Geschichte“ erwarten. Ist es aber nicht.
Die Intention der Legenden von Phantásien war es nicht, „Die unendliche Geschichte“ fortzusetzen, sondern eigene Geschichten mit eigenen Ideen zu verfassen und damit das Land Phantásien jedes Mal ein wenig bunter, lebendiger und vielfältiger zu machen. Wichtige Figuren aus der „Unendlichen Geschichte“ dürfen deshalb höchstens am Rande vorkommen. Ralf Isau hat sich vorbildlich an diese Vorgaben gehalten. Außer seinem Helden Koreander, der in der „Unendlichen Geschichte“ nur eine kleine Randfigur ist, kommen in seinem Buch nur noch der Gmork und Xayide vor, Letztere nicht einmal in Person, sondern nur als Abbild.

Isaus Koreander ist ein recht liebenswerter Held mit dem Herz auf dem rechten Fleck, ein wenig unschuldig und noch weit weniger bärbeißig als zu Beginn der „Unendlichen Geschichte“. Seine schlechte Meinung von sich selbst hindert ihn nicht daran, dem verschollenen Herrn Trutz nachzueilen, und sei es zunächst auch nur wegen der fehlenden Unterschrift. Gleich sein erster Schritt nach Phantásien führt ihn in ein Abenteuer, und obwohl er nur ungern Entscheidungen trifft, heißt das nicht, dass er es nicht kann, wenn es drauf ankommt! Noch eine ganze Weile hat er mit seinem eigenen Unglauben zu kämpfen, man könnte es auch Realitätssinn nennen, und doch verändert er sich ganz allmählich. Wie Herr Trutz so treffend feststellte: Phantásien verändert jeden. Angenehmerweise hat der Autor seinen Helden aber keinen strahlenden Übermenschen werden lassen, sondern ist im Rahmen der Glaubwürdigkeit geblieben.

Abgesehen davon hat Ralf Isau Phantásien um ein paar wirklich bemerkenswerte Ideen bereichert, so zum Beispiel das Haus der Erwartungen mit der Hexe Hallúzina, oder die Wolkenstadt mit dem König Kummulus und seiner Imaginárien-Sammlung, oder die beiden steinernen Hände Lux und Nox; mal verspielte, mal philosophisch angehauchte Stationen auf dem Weg zur Lösung des Rätsels um das Nichts.
Auf Atréjus Frage, was das Nichts denn nun sei, ließ Michael Ende den Gmork antworten, das Nichts sei die Weigerung der Menschen, an die Existenz Phantásiens zu glauben, die Tatsache, dass sie sich nur noch um die Realtität, nicht mehr um ihre Träume und Wünsche kümmerten. Bei Ralf Isau ist das Nichts gleichgesetzt mit dem Verschwinden von Büchern aus der Phantásischen Bibliothek und im Weitergedachten mit dem Diebstahl und Wegsperren von Ideen und Gedanken, was durchaus eine weitgehende Entsprechung zu Michael Endes Aussage bedeutet. Nur ist es in diesem Fall nicht damit getan, ein Menschenkind nach Phantásien zu bringen, das der Kindlichen Kaiserin einen neuen Namen gibt. Hier müssen auch die Bücher gerettet werden. Die Bedrohung ist also nicht unbedingt in der Masse der Menschen zu suchen, die sich für Phantásien nicht mehr interessieren, sondern eher in einigen wenigen, die diktieren wollen, was die Masse denn zu denken hat. Nicht umsonst ist Isaus Geschichte in den Enddreißigern des 20. Jahrhunderts angesiedelt!

„Die geheime Bibliothek des Thaddäus Tillmann Trutz“ erzählt also sozusagen die Vorgeschichte zur „Unendlichen Geschichte“, was durchaus gut gemacht ist. In vielen kleinen Einzelheiten knüpft der Autor an den Vorgänger an, so in seiner Beschreibung des alten Karl Koreander in der Spiegelwabe und in seiner Angewohnheit, „ach du liebes Bisschen“ zu sagen, in Koreanders Schwert, in der Funktionsweise des Aufzugs im dunklen Elfenbeinturm und darin, etwas durch Namensgebung zu bewirken, und nicht zuletzt in der Beschreibung des roten Buches mit dem Auryn auf dem Buchdeckel. Er erreicht dadurch, dass die Geschichte einerseits eigenständig, andererseits aber auch in den großen Kontext eingebunden ist, und der Leser hat bei der Lektüre unwillkürlich den Eindruck, als hätte er beim Puzzlen ein weiteres Teil gefunden, das wirklich genau passt.
Oder fast genau. Denn ein paar kleine Logikfehler sind doch hängen geblieben, der Teufel steckt eben meist im Detail!

Nach der „Unendlichen Geschichte“ ist zum Beispiel die Bezeichnung goldäugige Gebieterin ein Titel der Kindlichen Kaiserin, kein Name. Nach Isau hat Herr Trutz der Kindlichen Kaiserin diesen Titel als Namen gegeben, was auch deshalb nicht stimmen kann, weil die Kindliche Kaiserin von Koreander einen neuen Namen braucht, und den braucht sie immer dann, wenn der vorige in Vergessenheit geraten ist.
Auch fragte ich mich, woher Herr Trutz all seine vergessenen Erinnerungen zurückbekommen hat. Laut Michael Ende kann ein Menschenkind seine vergessenen Erinnerungen nur durch das Wasser des Lebens zurückerhalten. Herr Trutz dagegen musste nur die Spiegelwabe im Haus der Erwartungen betreten.
Im Hinblick auf die Gesamtheit des Buches seien diese kleinen Schnitzer aber gern verziehen.

Die Prämisse für die Legenden von Phantásien, nämlich eine gute Geschichte zu erzählen und gleichzeitig der Welt Michael Endes weitere fantasievolle Wesen, Orte und Dinge hinzuzufügen, hat dieser Band in jedem Fall erfüllt, und, indem er nicht völlig losgelöst von Bastians Geschichte dasteht, sondern sich behutsam daran angebunden hat, sogar noch ein bisschen mehr. Auch das Layout des Buches – Design, Leseband – ist schön und liebevoll gemacht, allerdings ist der Einband nicht abwischbar. Penible Leser waschen sich also die Finger und nehmen zusätzlich vor dem Lesen den Schutzumschlag ab!
„Die geheime Bibliothek des Thaddäus Tillmann Trutz“ ist ein gelungener Einstieg in die Legenden von Phantásien, der selbst Skeptiker überzeugen dürfte. An weiteren Bänden in dieser Reihe sind bisher erschienen: „Der König der Narren“, „Die Seele der Nacht“, „Die Verschwörung der Engel“, „Die Stadt der vergessenen Träume“ und „Die Herrin der Wörter“.

Ralf Isau, gebürtiger Berliner, war nach seinem Abitur und einer kaufmännischen Ausbildung zunächst als Programmierer tätig, ehe er 1988 zu schreiben anfing, weil er seiner damals neunjährigen Tochter ein Buch versprochen hatte. Letztlich wurde die Geschichte aber so uferlos, dass er eine neue, kürzere begann, fertig schrieb und selbst band. Diese erschien 1994 unter dem Titel „Der Drache Gertrud“ als Bilderbuch, und ein Jahr später auch die uferlose Geschichte unter dem Titel „Die Träume des Jonathan Jabbok“ – die Neschan-Trilogie. Seither hat Isau noch weitere Jugend- und inzwischen auch Erwachsenenbücher geschrieben, darunter „Der Leuchtturm in der Wüste“, „Das Netz der Schattenspiele“ und „Der Herr der Unruhe“.

Gebundene Ausgabe: 448 Seiten
ISBN-13: 978-3-426-19642-7

http://www.droemer-knaur.de/home
http://www.isau.de/index.html

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (6 Stimmen, Durchschnitt: 1,33 von 5)

Murphy, Pat – Geisterseherin, Die (Magic Edition Band 1)

„Magic Edition“ ist eine weitere neue Reihe des [BLITZ-Verlages,]http://www.blitz-verlag.de und mit diesem Buch startet sie exquisit. Pat Murphy versteht es, faszinierend, spannend und berührend zugleich zu erzählen. Faszinierend: denn die Handlung ihres Buches dreht sich um die Maya-Kultur. Spannend: denn in den Ruinen von Dzibilchaltún lauern genügend Gefahren auf die Archäologen. Und berührend: Murphy versteht es, das Innenleben der drei weiblichen Hauptfiguren dem Leser nahezubringen.

Da wäre zuerst Elizabeth Butler: einundfünfzig, zielstrebig, erfolgreich, Autorin mehrerer viel gelesener Bücher über die Maya und die Archäologie (Kostproben aus ihrem neuen Manuskript fügt Murphy harmonisch ins Buch ein). Außerdem ist Elizabeth verrückt, aber nicht, weil sie vor Jahren Selbstmord begehen wollte und von ihrem Ehemann in die Psychiatrie eingeliefert wurde, sondern weil sie tote Menschen sieht, zum Beispiel die Maya von Dzibilchatún – keine Geister, nein, diese Menschen selbst und das, was sie zu Lebzeiten taten. Daher rühren Elizabeths Erfolge, aber auch ihre Isolation von ihren Mitmenschen: Ihre „Gesichte“ sind ihr vertrauter als Zeitgenossen, die sie entweder schlecht behandelt haben oder einfach nicht interessieren. Sie lebt ganz für die Archäologie, die es ihr ermöglicht hat, sich aus einer erstickenden Ehe zu lösen und auf eigene Füßen zu stellen, unabhängig von einem „Ernährer“. Der Preis dafür war der Verlust ihrer Tochter Diane.

Diane Butler: Sie fliegt Hals über Kopf nach Mexiko, zu ihrer Mutter, die sie fünfzehn Jahre nicht gesehen hat. Ihr Vater ist unverhofft gestorben, ihr Geliebter (verheiratet) hat die Beziehung beendet und sie daraufhin gekündigt, denn der Geliebte war zugleich der Chef. Diane weiß nicht so recht, was sie in Mexiko will, aber ihre Mutter nimmt sie ins Team auf. Bald zeigt sich, dass sie die gleiche Fähigkeit wie Elizabeth hat, wenn auch nicht so ausgeprägt. Aber sie ist sich lange nicht klar darüber, dass es überhaupt eine Fähigkeit ist – sie hält, was sie sieht, für Tagträume.

Die dritte wichtige Frau ist Zuhuy-Kak, Priesterin der Mondgöttin zu der Zeit, als die Tolteken das Reich der Maya angriffen. Sie opferte ihre Tochter für den Sieg ihres Volkes, musste aber dennoch erleben, wie dieses den Eindringlingen unterlag. Von den Eroberern wegen ihrer übernatürlichen Fähigkeiten gefürchtet, sollte sie im heiligen Cenote-Brunnen von Chichén Itzá geopfert werden, überlebte den Sturz aber, was sie zur Botin machte, die den Willen der Götter verkündet – und sie sorgte dafür, dass die Tolteken keine Freude an ihrem Sieg hatten. Dennoch findet sie keine Ruhe, auch wegen ihres scheinbaren Versagens beim Opfer. Sie nimmt mit Elizabeth Kontakt auf und möchte die Macht der Mondgöttin wieder herstellen, indem nun Diane geopfert werden soll.

Genug Zündstoff also, um eine wirklich spannende Handlung in Gang zu setzen und ständig zu beschleunigen – und Pat Murphy macht das vorzüglich. Ihre Kenntnisse über die Maya und das Leben der Archäologen sind hervorragend, ein lebendiges Bild des vergangenen Volkes und des Daseins der Forscher entsteht. Dazu schafft sie psychologisch tiefgründig angelegte, glaubwürdige Figuren. Auch verzichtet sie auf billigen Geister-Horror und simple Gut-Böse-Konstellationen. Es gibt in dem Buch keine moralisch vorbildliche Gestalt, aber auch keine plakativ schlechte. Lebensechte Konflikte wirken als treibende Kräfte und verleihen dem Figurentableau Nähe. Murphy erzählt von Leuten, deren Probleme nicht ungewöhnlich sind, auch wenn sie in einer ungewöhnlichen Kulisse zum Tragen kommen. Was den Menschen in diesem Buch geschieht und wie sie damit umgehen, erscheint vertraut: Es geht um Freiheit, Selbstverwirklichung und um die Alternative, vor Schwierigkeiten davonzulaufen oder sich ihnen zu stellen. Das ist interessanter als Gegrusel oder Gemetzel. „Die Geisterseherin“ erweist sich in jeder Hinsicht als kleines Juwel einer stark realitätsbezogenen Phantastik.

© _Peter Schünemann_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de veröffentlicht.|

Haines, Tim / Riley, Christopher – Weltraum-Odyssee. Eine Reise zu den Planeten

Die fünfköpfige Besatzung des Raumschiffs „Pegasus“ begibt sich auf eine mehr als sechs Jahre währende Reise durch das Sonnensystem. Planeten, Monde, die Sonne und ein Komet werden be- und untersucht, unzählige Experimente durchgeführt, gefährliche Unfälle gemeistert, bis man, das zerbeulte Schiff bis unters Dach mit Daten und Proben vollgepackt, im Triumph zur Erde zurückkehrt.
Wobei eine imaginäre Reise ins Weltall nicht gerade ein taufrischer Plot ist. Auch im Sachbuch hat es das schon gegeben. Das eigentlich Neue ist die verblüffend gut gelungene Verklammerung, welche die Grenze zwischen Fiktion und Fakten praktisch aufhebt. Die Reise der „Pegasus“ wurde von der BBC in Zusammenarbeit mit echten Wissenschaftlern so ‚realistisch‘ wie möglich geplant und ‚durchgeführt‘. So intensiv wie es eben im Rahmen einer TV-Show machbar und praktikabel ist, orientierte man sich an den Raumflügen der Vergangenheit, deren Realität man unter Berücksichtigung dessen, was in mehr als drei Jahrzehnten unbemannte Raumfahrt erkundet wurde, auf das „Pegasus“-Unternehmen projizierte.

Auf eine Expedition zu sämtlichen Planeten unseres Sonnensystems wird deshalb verzichtet: Die Physik verbietet es, da ein direktes Ansteuern derselben gar nicht möglich ist. Sonden und potenzielle Raumschiffe müssen die Gravitation anderer Planeten oder großer Monde nutzen, um zu beschleunigen oder abzubremsen, sonst reicht der Treibstoff nicht. Also wurde die Reiseroute gemäß der zum Zeitpunkt der „Pegasus“-Reise aktuellen Planetenkonstellation festgelegt. Sie lautet wie folgt: Venus (Landung) – Mars (Landung) – Sonne (Umkreisung in geringer Entfernung) – Planetoidengürtel – Jupiter (Vorbeiflug) – Jupitermond Io (Landung) – Saturn (Vorbeiflug und Ring-Untersuchung) – Pluto (Landung) – Komet Yano-Moore (Rendezvous).

„Weltraum-Odyssee“ ist das angebliche Protokoll dieser Reise. ‚Authentische‘ Einsatzbeschreibungen (in welche aktuelles Forschungswissen mehr oder weniger unauffällig einfließt) und persönliche Kommentare der Planetenforscher wechseln sich mit Artikeln zur realen Weltraumforschung in Vergangenheit und Gegenwart ab. Diese sind an den astronomischen Laien gerichtet, der sich anschließend tatsächlich informiert vorkommt, woran klare, einleuchtende Grafiken und vor allem eine verschwenderische Fülle großformatiger, meist farbiger ‚Fotos‘ (= tatsächliche Aufnahmen, die oft farbbereinigt, nachgeschärft oder sonst wie bearbeitet oder gleich vollständig digital geschaffen wurden) großen Anteil haben.

Doch nicht Information oder informative Unterhaltung allein lockt die Leser. Es geht auch um einen Traum: Was wäre, wenn … die Menschen endlich wieder selbst Raketen & Raumschiffe besteigen würden, um persönlich die Rätsel und Wunder des Alls in Augenschein zu nehmen, statt dies Raumsonden & Robotern zu überlassen? Natürlich können es die Maschinen besser und billiger. Eine Flut bemerkenswerter Daten und Bilder wurde gerade in den letzten Jahren vom Mars oder vom Jupitermond Europa gefunkt. Astronauten müssen sich nicht ewig in winzige Blechbüchsen quetschen, von kosmischer Strahlung rösten lassen, sich in permanente Lebensgefahr bringen.

Ein echter Fortschritt also – und doch … Der Mensch ist ein seltsames Tier: Ihm genügt der Eindruck aus zweiter Hand nicht. Er will die Welt be-greifen. Ohne diesen Drang säße er wohl immer noch in einer Höhle und würde einen Stock anbeten, wie es einst in einer klassischen TV-Comedy hieß. Allen berechtigten Einwänden zum Trotz will er selbst hinauf ins All, was natürlich gar nicht so dumm ist, weil sich ferngesteuerte Forschungsdrohnen trotz Hightech stets sehr beschränkt geben, was vor allem die Suche nach außerirdischem Leben frustrierend gestaltet. Diesen Zwiespalt zwischen Vernunft und Vision versucht das Team Tim Haines und Christopher Riley mit seinem aktuellen Filmprojekt zu schließen. Bisher ließ der britische Sender diverse Donnerechsen („Dinosaurier – Im Reich der Giganten“) und deren säugetierischen Nachfolger („Die Erben der Saurier – Im Reich der Urzeit“) digital wiederbeleben und außerordentlich quotenträchtig über die Bildschirme stapfen. Weil sich der daraus resultierende Aha-Effekt inzwischen abgenutzt hat, brach man buchstäblich zu neuen Ufern auf. Schon in früheren Serien hatte man sich unauffällig vom Konzept der strikt wissenschaftlichen Rekonstruktion verabschiedet und immer neue Gimmicks einfließen lassen; so konnte es beispielsweise durchaus geschehen, dass einem interviewten Forscher während seines Referats ein Digitaldino über die Schulter schaute oder ein Kollege eine Zeitreise in die Urzeit unternahm („Monster der Tiefe“).

Das Prinzip Brot & Spiele bzw. Infotainment, wie man diese Mischung aus Science und Fiction heute nennt, prägt auch und noch viel mehr als zuvor die „Weltraum-Odyssee“. Dieses Mal schlagen die Fakten die Fiktion indes um Längen. Selten zuvor ist eine Reise durch das Sonnensystem so faszinierend und langweilig zugleich gewesen. Der Spagat ist insofern misslungen, als der gut gemeinte und kluge Versuch, den ‚Faktor Mensch‘ in die fiktive Weltraumfahrt zu integrieren, auf TV-Format und mit politisch geradezu aggressiv korrekten Mustermensch-Schauspielern realisiert wurde, während die Bilder Kinoformat besitzen. An Bord eines Raumschiffs setzt sich trotz der permanenten Krisensituation, in der man sich eigentlich befindet, eine gewisse Routine durch, denn der Mensch ist anpassungsfähig. Routine fesselt freilich keine Fernsehzuschauer. Also werden diverse dramatische Zwischenfälle konstruiert. Diese sehen am Bildschirm spannend aus, lesen sich aber denkbar unspektakulär, weil sie in demselben pseudo-offiziellen, um Sachlichkeit bemühten Stil wie die Tagesberichte beschrieben werden. ‚Private‘ Aufzeichnungen der Raumfahrer sollen dagegen deren Einsamkeit, innere Ängste, Trauer etc. deutlich machen. Leider wurde auch hier jeglicher Funken echter Emotion getilgt – sei es absichtlich, um ein unpassendes Star-Trek-Feeling zu vermeiden, oder sei es, weil die Autoren mit der Niederschrift einer echten Rahmenstory schlicht überfordert waren.

Bleiben die eingeschobenen Sachartikel mit ‚echten‘ Bildern von Planeten und Monden und den dazu geleisteten Erläuterungen. Hier klappt die Vermittlung von Weltraumforschung ohne Schwierigkeiten, hier spielt das Team von „BBC Worldwide“ seine langjährige Erfahrung bei der Herausgabe inhaltlich auf den Punkt gebrachter, perfekt layouteter Sachbücher voll aus. „Weltraum-Odyssee“, der Film, ließ sich am besten genießen, wenn man (auch wegen der kriminell zu nennenden deutschen Synchronisation) den Ton abdrehte und sich auf die Bilder konzentrierte. Die sind einfach unglaublich. Der modernen Tricktechnik sind offensichtlich keine Grenzen mehr gesetzt – die Schauspieler stehen überzeugend auf fremden Planeten, deren Eigenheiten im Rahmen der bekannten Fakten jederzeit glaubhaft inszeniert werden. Für die Zukunft bzw. die weiteren Projekte der BBC in Sachen (Re-)Konstruktion des Unmöglichen wünscht man sich deshalb – egal ob Film oder Buch – ein Zurück zum Dokumentarischen & den Verzicht aufs allzu Zirzensische.

Erwin, Birgit – Lichtscheu

Pater Matteo, direkt aus dem Vatikan angereist, soll den Wissenschaftler Victor Westcamp in einer unheimlichen Nachtaktion im Londoner Tower taufen. Wer wusste schon, dass der Tower seinem Zweck als Verlies noch immer nachkam? Matteo findet Victor in einem stockfinsteren Keller, mit Silberketten gefesselt, abgemagert, aber von einer charismatischen Aura umgeben, die ihn sofort sympathisch erscheinen lässt. Matteo verspritzt sein Weihwasser über dem Gesicht des anscheinend Verrückten, der sich für einen Vampir hält. Die Haut schlägt Blasen, der Mann schreit, Matteo ist schockiert. Welche Krankheit ist das, die Menschen wie den mythischen Vampir empfindlich gegen Weihwasser macht? Bevor er Hals über Kopf aus dem Tower flieht, gewährt er Victor eine Bitte: Seiner Tochter Silver von diesem Treffen erzählen, mit der Aufforderung, seinen Weg zu vollenden. Er würde in dieser Nacht sterben.

Matteo findet Silver, und damit gerät er in einen Strudel der Ereignisse, der ihn zu verschlingen droht. Mord und Intrigen, grausame Foltern – er findet den Vatikan in der Mitte des Geschehens, und wie soll er seine brennende Liebe zu Silver mit den silbernen Augen bewältigen?

Wir sehen, wie Matteo immer weiter abrutscht und sich in einem Netz aus Geheimnissen und Mythen verstrickt, die gegen seine tiefste Überzeugung stehen. Die aktuellen Geschehnisse verbinden sich mit dunklen Punkten in der Vergangenheit seiner Familie, eine große Verwirrung verzerrt sein Wirklichkeitsbild und bringt ihn schließlich zu einer Auflistung der Toten, die er zu beklagen hat. Dass „Gott“ einer dieser für Matteo Toten ist, entwickelt sich vor allem in der zweiten Hälfte der Geschichte zur Offensichtlichkeit – für Matteo widersprechen sich die Lehren der Kirche und die nahezu offensichtliche Existenz von Vampiren, die fast mit allen mythologischen Schwächen und Stärken behaftet sind. Er fragt sich nur nicht, wie ein Vampir von Weihwasser angegriffen werden kann, wenn es keinen Gott gibt.

Selbstironisch lässt Birgit Erwin ihren Protagonisten fragen, ob er sich in einem Roman von Dan Brown befinde, bei all den dunklen Machenschaften, in die der Vatikan verwickelt ist – wovon der normale Priester im Allgemeinen nichts weiß. Nach der letzten Stellungnahme der Kirche, die Dan Browns „Sakrileg“ ächtete, lassen sich diesbezüglich tatsächlich Verbindungen knüpfen (ich kann aufgrund der offenen Ironie nur vermuten, dass sich die Autorin davon nicht beeinflussen ließ).

Obwohl „Lichtscheu“ der erste Roman der Autorin ist, fesselt sie den Leser mit großem Geschick ab der ersten Seite. Sowohl theoretisch als auch kreativ überzeugt Erwin ohne Einschränkung, ja begeistert sogar und kann sich problemlos mit Meistern der Belletristik messen lassen.

[…]|
»Mach, dass es nur ein Traum war! Oh. Mein. Gott!«
Ohne die Augen zu öffnen, tastete er nach der Wolldecke, die sich auf Höhe seiner Kniekehlen zu einem harten Klumpen zusammengeballt hatte, und zerrte sie über seinen schutzlosen, sündigen Körper.
»Vergib mir, Vater, vergib mir, vergib mir …«, flüsterte er.
»Soll ich rausgehen, während du dich kasteist, oder ist es dir lieber, wenn ich zusehe. Macht dich das scharf?«|
[…]
Auszug aus „Lichtscheu“, Seite 107.

Intrigen werden gesponnen, Matteo verliert den Glauben an die Menschen und an Gott, und obwohl er von jedem nur benutzt zu werden scheint, macht er weiter, und auch wenn es ihn abstößt, sucht er weiter. Seine Tage als „Laufbursche, der keine Fragen stellt“ sollen für ihn vorbei sein, und außerdem ist da noch seine brennende Liebe zu Silver. Mit dem unerwarteten Faustschlag (Erwin vertieft sich mit uns in Matteos Gedanken und überrascht uns ebenso wie ihn) beginnt der phantastische Teil der Geschichte, die trotzdem nicht an Realismus verliert. In einem Strudel jagen sich nun die Erkenntnisse, die sich teils widersprechen und neue Rätsel aufgeben, bis Matteo in einem letzten Aufbäumen die Wahrheit erkennt, und im gleichen Moment, in dem er die Fesseln des Benutzten abwirft, neuerdings Opfer einer Beeinflussung wird.

Es bleiben einige wenige Fragen offen, zum Beispiel konnte ich mir die Bestandsaufnahme ganz zum Schluss nicht völlig erschließen, denn wenn ich Matteos Mutter einbeziehe, erhält die Liste einen Sinn, der eine andere gelistete Person ausschließt. Insgesamt macht „Lichtscheu“ Lust auf mehr, es entreißt uns der Wirklichkeit und lässt erst wieder los, wenn das letzte Wort gelesen ist. Und genau das ist für mich das wichtigste Kriterium für einen guten Roman.

_Birgit Erwin_ wurde in Aachen geboren und studierte Anglistik und Germanistik. Seit September 2003 ist sie Studienreferendarin an einem Gymnasium, nebenbei schreibt sie Rezensionen und Geschichten. 2003 und 2004 belegte sie jeweils den zweiten Platz beim Jahreswettbewerb der [Storyolympiade.]http://www.storyolympiade.de Ihr Preis: Die Möglichkeit, einen Roman zu schreiben.
Mit „Lichtscheu“ erschien ihr Erstling, ein weiterer Thriller ist für 2006 geplant und soll unter dem Titel „Neun Leben“ ebenfalls im [Wurdack-Verlag]http://www.wurdackverlag.de erscheinen.

Volker Dehs – Jules Verne. Biographie

Zum 100. Todesjahr erschien diese Biografie des Schriftstellers Jules Verne (1828-1905) Volker Dehs stellt Verne nie als isoliertes Individuum, sondern als Bürger Frankreichs dar, das während des 19. Jahrhunderts gewaltigen Veränderungen und Entwicklungen unterworfen war. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich Vernes Leben und Werk wirklich deuten. Das geschieht in diesem Buch überzeugend; es darf daher mit Fug und Recht als Standardwerk bezeichnet werden (das sich manchmal ein wenig anstrengend liest, weil der Verfasser auf kein biografisches Detail verzichten mag). Mehr als 35 s/w-Abbildungen und umfangreiche Anhänge runden das Werk ab.
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Rößler, Armin (Hrsg.) – Überschuss

Bereits in die dritte Runde geht die Anthologiereihe des |Wurdack|-Verlages. Leider sind „Deus Ex Machina“ und [„Walfred Goreng“, 844 die Vorgänger dieser Anthologie, an mir vorüber gegangen, aber wenn „Überschuss“ eine konsequente Fortsetzung in Auswahl und Präsentation darstellt, sind auch die ersten beiden SF-Kurzgeschichten-Sammlungen eine nähere Betrachtung wert.
Der Herausgeber Armin Rößler spricht im Vorwort von einer Bewegung im Kurzgeschichtenbereich, von einer „positiven Entwicklung“. Diese ist an eine kreative Schicht von Autoren gebunden, die sich aktiv um eine Veröffentlichung ihrer Werke bemühen und dabei zunächst nicht mit den großen Serien an die Öffentlichkeit treten, sondern ihre Ideen in kurzen Geschichten ausformulieren und dabei ein in Deutschland wenig genutztes Sprungbrett für sich entdecken, das besonders durch den fehlenden Markt für Pulp- und SF-Magazine wenig Aussicht auf Erfolg verspricht.
Aber vielleicht ist auch nur die Zeit der großen Verlage vorbei, die neben |Star Trek| ab und zu ein Erstlingswerk wagen.
Also her mit den Autoren der neuen deutschen Literatur!

Die Titelgeschichte von Torben Kneesch präsentiert eine Methode zur Entsorgung menschlichen Überschusses, die die Motive von Zeitreise und Kälteschlaf mischt. Nicht wirklich neu, aber in seiner logischen Konsequenz sehr gut vorstellbar. Eigentlich fehlt nur die Technik, sonst könnte Kneeschs sarkastische Vision Realität sein.

Ähnlich dicht an die bekannte Welt lehnt sich auch Lutz Herrmanns „Der Irrtum“ an. Kaltes Managergehabe in einer gefühlsarmen Welt. Der Sieg des kleinen Mannes hinterlässt einen fahlen Geschmack, die Story bleibt im Grunde pessimistisch. Solide, wenn auch wenig inspirierend.

„Barrieren“ von Armin Rößler hat es schwer. Der Stoff ist für eine Kurzgeschichte eigentlich zu umfangreich. So bleiben zu viele Fragen übrig. Die Hauptfigur, die hier eine kolossale Weiterentwicklung der Evolution symbolisiert, bleibt ungewohnt blutarm.

Fritten ins Weltall schießt Birgit Erwin mit ihrer Groteske „Nur ein Gedanke“. Witzig, überraschend und kurz. Definitiv eine Glanzleistung der spacigen Frittierkunst.

„Der Spaziergang“ von Markus K. Korb überzeugt in der präzisen und detailgetreuen Beschreibung eines „Lost in Space“-Erlebnisses. Allerdings hinterlässt diese kurze Skizze keine bleibenden Eindrücke, es fehlt ihr die Idee für eine Geschichte.

Die Mediensatire „Der Untergang der Titan“ von Bernhard Weißbecker verhilft den öffentlich-rechtlichen Sendern zu unverhoffter Unterstützung. Das unmenschliche Gerangel um die Übertragungsrechte der letzten Stunden einer vom Untergang bedrohten Raumschiffbesatzung ist pointiert und absolut realistisch in Szene gesetzt.

Andrea Tillmanns begleitet in „Nicht ganz Atlantis“ ein junges Mädchen, das die Grenzen ihrer Welt kennen lernt. Eine unaufdringliche Erzählung, die besonders durch die einfühlsame Sprache auffällt und dabei dennoch ein gewichtiges Thema angeht: Die menschliche Zivilisation ist nur eine hauchdünne Schicht über den Trieben des Tieres Mensch.

Eine rabiate Art zukünftiger Bestrafungen präsentiert Peter Hohmann in „Strafvollzug“: Den Delinquenten wird das aufgebrummte Strafmaß in Form von Lebenskraft entzogen. Leider ist der Plot selbst zu vorhersehbar und wenig fesselnd.

In „Wider Willen“ werden Tradition und Familienehre einer Kolonialwelt in Frage gestellt. Mit drastischen Mitteln versucht ein Vater, seinen Sohn zu einer Vernunftehe zu zwingen, allerdings gibt es genau gegen diese Ehen ein Gesetz; man soll nur aus Liebe heiraten. Die Geschichte lässt den Leser irritiert zurück, handelt es sich doch um eine unübliche Science-Fiction-Story, die am ehesten noch mit einer „Darkover“-Erzählung zu vergleichen ist.

Der Horror geht um im „Festtagsprogramm“ von Thorsten Küper. Die Raumstation Lowell ist Schauplatz einer grausigen Auseinandersetzung, die actionreich, mit Sarkasmus und einer gehörigen Menge Blut unter die Haut geht. Die Darstellung ist dabei sehr plastisch, was der Atmosphäre zugute kommt.

Nina Horvaths „Spirale“ ist ein kurzer philosophischer Moment. Wenn auch wenig passiert, enthält die Kurzgeschichte genau jene Nachdenklichkeit, die nach dem gruseligen „Festtagsprogramm“ angebracht scheint. Die Frage, inwieweit das Leben in vorgefertigten Abläufen stagniert, und wie man diese durchbrechen kann, ist eindringlich bearbeitet worden.

„Der Besucher“ ist ein Alien vom Planeten Xeracox, der die Erde bereist und dort so seine Erfahrungen macht. Die leichtfüßige Geschichte von Uwe Herrmann macht Spaß, ohne dabei mehr zu wollen.

Da hat es der Besucher in „Albas bestes Spiel“ von V. Groß schon schwerer. Um sein Leben wird gespielt. Die Geschichte ist solide, beschränkt sich aber mehr auf die Personen als auf eine tatsächliche Story.

Edgar Güttge bleibt seinem Ruf als Meister der Groteske treu. „Flasken“ ist eine großartige Parodie mit bösen Seitenhieben, neckischen Einfällen und einer temporeichen Erzählweise, die begeistert. Für mich ist Güttke eines der großen erzählerischen Talente unter den unentdeckten Autoren.

Nicht minder hochwertig geht es mit Ilka Sehnerts „Das Buch“ weiter. Im Autorenkästchen, deren Präsenz zu Beginn jeder Geschichte zunächst irritiert, aber zunehmend interessanter wird, stellt man die Schauspielerei der Autorin als Ursache für ihren knappen und rhythmischen Sprachstil dar. Tatsächlich fällt er aus den Rahmen der übrigen Texte; von graziler Schönheit, ist die Wiederfindung einer natürlichen Fortpflanzung auch inhaltlich ein Glanzstück dieser Sammlung.

Die Realität in Frage stellt Bernhard Schneider in „Der Bewohner“. Die Geschichte zielt auf die Pointe ab und ist trotz des bereits arg strapazierten Themas lesenswert.

Die dritte herausragende Geschichte der Anthologie ist Antje Ippensens „Alles wandelt sich“. Die grüne Evolution wird in treffsicheren Bildern und Wortspielen ausgeführt, sie wächst quasi zur vollen Blüte. Es ist bewundernswert, wie leicht der Autorin der Umgang mit dem pflanzlichen Sujet fällt, wie einleuchtend ihr die GRASWURZELDIMENSION (welch Wort!) gelingt.

Uwe Sauerbrei beschreibt eine etwas andere Art der Verwandlung in „Allmacht“. Aus einer sehr genau und detailliert dargestellten Alltagszenerie heraus entwickelt er eine Mutation über den menschlichen Status Quo hinaus, bis die Grenzen der Schöpfung erreicht werden. Nach dem außergewöhnlichen Besuch der GRASWURZELDIMENSION erscheint die Erzählung etwas bieder.

Die Anthologie endet abrupt mit der „Fallstudie: Terroristin Jenny S.“ von Heidrun Jänchen. Hier wird recht gefühlvoll die Auswirkung einer rigiden Einsetzung der Klontechnologie beschrieben. Jenny Seidel gerät in die Zerhacker einer genmanipulierten Gesellschaft, in der es normal ist, Klone als Ersatzteillager zu halten. Mit dieser bedrückenden Geschichte verschiebt sich die Waage der besonders guten Geschichten in dieser Anthologie noch weiter hin zur weiblichen Seite.

„Überschuss“ ist besonders im zweiten Teil eine Sammlung überaus interessanter und beeindruckender Erzählungen und Shortstorys. Armin Rößler und der |Wurdack|-Verlag sorgen dafür, dass der deutsche SF-Markt eine kreative Unterfütterung mit dem Nährboden guter Phantastik erhält: Brillante Kurzgeschichten.

© _Ralf Steinberg_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de veröffentlicht.|

Charlotte Link – Der fremde Gast

„Mach Fremden nicht die Tür auf“, so schärft man es kleinen Kindern immer wieder ein, Charlotte Links aktueller Thriller macht aufs Schärfste deutlich, was einem blühen kann, wenn man sich nicht an diesen Leitsatz hält. Hatte ich bislang nur vier von Links historischen Gesellschaftsromanen gelesen, so bekam ich durch ihr neu erschienenes Taschenbuch nun endlich die Möglichkeit, auch einen ihrer Thriller zu lesen. Wieder einmal beweist Link eindrucksvoll, dass sie Leser an ihre Bücher fesseln kann und zu unterhalten weiß. Einmal angefangen, kann man ihre Werke nicht mehr aus den Händen legen, „Der fremde Gast“ stellt hier keine Ausnahme dar …

Wenn der Mörder zweimal klingelt

Charlotte Link – Der fremde Gast weiterlesen

Zoran Drvenkar – Du bist zu schnell

_Die Hintertür im Hirn_

Eines Nachts wacht Marek davon auf, dass seine Freundin Val ihn wachschüttelt. Sie erkennt ihn nicht und schreit ihn an: „Was hast du hier verloren? Was tust du in meinem Bett, du Penner? Los, verschwinde!“

Diese nächtliche Episode, verschieden farbige Pillen in ihrer Kosmetiktasche, die Tatsache, dass er fast nichts über ihre Vergangenheit weiß, all das macht Marek schon länger misstrauisch.
Eines Abends findet er Val völlig aufgelöst in ihrer Wohnung. Im Bad liegt zusammengekrümmt die Leiche ihrer Sandkastenfreundin Jenni. Am Spiegel steht mit ihrem Blut der Satz: „Wo bist du gewesen?“

Val leidet seit Jahren unter einer Psychose, die sie durch Medikamente im Griff zu haben scheint. Sie führt ein ganz normales Leben, doch wenn die Tür zur Psychose geöffnet ist, sieht Val die Welt in Zeitlupe, träge und schleichend. Daneben sieht sie einige wenige Menschen, die sich in normalem Tempo fortbewegen: die Schnellen. Von ihnen geht die Bedrohung aus. Doch sind sie bloß ein Hirngespinst oder gibt es sie wirklich? Val ist überzeugt, dass sie etwas gesehen hat, was sie nicht hätte sehen dürfen und nun dafür bestraft wird.

Val, Marek und Jennis Freund Theo erzählen ihre Version der Geschichte abwechselnd, in atemlosen Rückblenden. Der Wechsel der Erzählperspektiven macht einen Großteil der Spannung aus: Was ist wahr? Was ist Wahn? Und was ist eigentlich wirklich geschehen?

Trotz des blutigen Auftakts: Reißerische Szenen stehen in diesem psychologischen Thriller nicht im Mittelpunkt. Es geht vielmehr um Gefühle, die im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut gehen, um seelische Grausamkeit sich selbst und anderen gegenüber. Die Grenzen zwischen „Verrücktsein“ und so genannter Normalität sind hier fließend. Das ist das wirklich Schockierende daran.

Ein Buch, das man kaum aus der Hand legen kann. Und wenn man es schließlich fassungslos zuklappt, geht es einem noch lange nicht aus dem Kopf.

Zoran Drvenkar ist als Sohn kroatischer Einwanderer in Deutschland aufgewachsen und hat sich hierzulande schon als Kinder- und Jugendbuchautor einen Namen gemacht. „Du bist zu schnell“ ist seine erste Veröffentlichung, die sich ausschließlich an Erwachsene richtet.

Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 288 Seiten

Christoph Marzi – Lycidas (Die Uralten Metropolen 01)

Ein zeitloses Stück London hat Christoph Marzi mit seinem Roman „Lycidas“ auf Papier gebannt. Eine Geschichte, die zwischen den Zeiten zu spielen scheint – mal in unserer ganz normalen Gegenwart, mal in längst vergangenen Tagen. Es lässt sich viel herauslesen aus diesem Roman, mit seinen unzähligen Querverweisen auf alte Legenden und bekannte Autoren. Marzi hat sich reichlich in der Literaturgeschichte bedient, um aus den verschiedensten Versatzstücken eine ganz eigene Geschichte zu zaubern, die einerseits viel Licht enthält, aber auch einige Schatten wirft.

Handlung
Christoph Marzi – Lycidas (Die Uralten Metropolen 01) weiterlesen

Hardwick, Michael – Fluch von Baskerville, Der (Sherlock-Holmes-Criminal-Bibliothek Band 1)

Es ist gar nicht so einfach, über Michael Hardwick etwas mehr zu erfahren, als der knappe Verlagstext hergibt, zumal die Notiz 1:1 von einer englischen Site übernommen wurde, die einem dann laufend von der Suchmaschine präsentiert wird. Der Vermerk, Hardwick sei der Erste, „dem seit Christopher Morley das ‚Sign of the Four‘ der |Baker Street Irregulars of America| verliehen wurde“, klingt beeindruckend, obwohl es dem Normalleser wenig sagen mag. Über das „Sign of the Four“ wenigstens liest man, es sei „eine der denkbar höchsten Auszeichnungen für einen Verehrer von Sherlock Holmes, der sich um ihn verdient gemacht hat“; nun gut. – Hardwick, so die Notiz weiter, war Leiter des Bereichs Drama bei der BBC und deren führender Drehbuchautor. Sein Roman „Prisoner of the Devil“ „wird von vielen als das beste Sherlock-Holmes-Abenteuer angesehen, das nach dem Tod Conan Doyles geschrieben wurde“ (wer auch immer diese ominösen „Vielen“ sein mögen). Einiges schrieb Hardwick zusammen mit seiner Frau Molly. Und er ist mittlerweile verstorben. Lebensdaten werden nicht genannt. Genau so fehlen Originaltitel, Erscheinungsjahr und Copyright des vorliegenden Buches. Daher von mir ein paar Ergänzungen: John Michael Drinkrow Hardwick (1924 – 1991) verfasste insgesamt 14 Sherlock-Holmes-Pastiches, darunter Theaterstücke, Romane und 1985 die besagte Autobiographie. „Prisoner of the Devil“ kam 1979 heraus, und das hier zu besprechende Buch erschien 1987 unter dem Titel „The Revenge of the Hound“ (also „Die Rache des Hundes“ – nix mit „Fluch“ und „Baskerville“).

In diesem Abenteuer schreiben wir das Jahr 1902. Queen Victoria ist tot, Edward VII. hat den Thron bestiegen. Das „Viktorianische Zeitalter“ ist dahin, Europa und die Welt stehen vor großen Veränderungen. Der deutsche Kaiser W Zwo macht durch militärische Umtriebe besorgt. Und was halten eigentlich Russland und Frankreich von der Macht des British Empire?

Doch auch für den Meisterdetektiv wird sich einiges ändern. Zum einen steht Dr. Watson zum dritten Mal auf Freiersfüßen, eine junge Amerikanerin ist die Glückliche. Zum anderen meint Holmes, seine Zeit sei abgelaufen: Die moderne Gesellschaft mache die Menschen dermaßen gleich, dass seine Methode, aus individuellen Einzelheiten zu deduzieren, sich bald erledigt haben werde. Dabei ist er kein Fortschrittsfeind, er nutzt eifrig das Telefon und sagt diesem für die Polizeiarbeit eine große Zukunft voraus. Ansonsten aber hat sich in der Baker Street 221B nicht viel verändert. Die gute Mrs. Hudson sorgt immer noch fürs leibliche Wohl, und immer noch führt man bei Drinks und einer Pfeife Rededuelle am Kamin – wie die Fans des Meisterdetektivs es lieben. Hardwick kennt seinen Holmes ausgezeichnet, das Buch ist voll von Bezügen zu anderen Fällen und von genau nachempfundenen Figuren. Und es gelingt ihm, selbst einen guten Holmes-Fall zu konstruieren, mit genug Verwirrung, Spannung und Flair.

Zuerst kommen Gerüchte auf, der Hund von Baskerville treibe nun in Hampstead Heath sein Unwesen – jedenfalls wurde ein Landstreicher von einer mysteriösen Bestie angefallen. Dann stößt man bei Straßenbauarbeiten in Tyburn auf die Gebeine gehenkter Verbrecher – und mit Watsons Hilfe werden Oliver Cromwells Knochen samt seines Schwertes identifiziert (Cromwell wurde nach Wiedererrichtung der Monarchie aus seiner Gruft geholt und nachträglich „hingerichtet“). Bald darauf stiehlt jemand Knochen und Schwert, was Holmes nicht freut, denn er meint, in diesen unruhigen Zeiten könnten solche „Reliquien“ benutzt werden, um einen Umsturz herbeizuführen. Außerdem verschwindet in Lausanne Lady Frances Carfax. Diesen Fall kennen wir von Doyle selbst; Hardwick parodiert die Eingangsszene der Geschichte recht witzig. Ebenfalls entnimmt er der Vorlage, dass Watson an Holmes’ Stelle auf den Kontinent reisen muss und dort unverhofft auf den Meister trifft, der undercover operiert. Dann folgt wieder Hardwick pur: Als die beiden mit der Fähre nach England zurückkehren, wird an Bord ein chinesischer Steward ermordet. Außerdem sucht Mycroft Holmes seinen Bruder auf und lädt ihn zum König ein, der Holmes bittet, von der Frau eines Industriellen einen Brief zurückzuerlangen, den Edward dieser Dame geschrieben hat, als er noch Prince of Wales war (Irene Adler lässt grüßen, worauf Hardwick selbst hinweist). Was noch? Das Denkmal für Cromwells „Henker“ Charles II. vor Victoria Station wird enthauptet, und der vom Hund angefallene Landstreicher verschwindet spurlos: so viele Puzzleteile. Man hofft und wünscht nur, es möge Hardwick gelingen, sie zu einem stimmigen Ganzen zu fügen – alles muss schlüssig miteinander zu tun haben, oder der Autor hat versagt.

Hardwick schafft es. Am Ende ergibt alles einen Sinn, haben wir einen Fall mit brisantem politischen Hintergrund, in dem sogar Karl Marx eine kleine Rolle spielt, und das nicht nur, weil das Geschehen auf Highgate Cemetery kulminiert. Hat sich der Leser streckenweise gefragt, was das alles soll, wird er nun reichlich entschädigt – die Schluss-Szenen sind exzellent gelungen. Ansonsten bilden rätselhafte Morde, ein undurchsichtiger Lord, Bestien, Verkleidungen, Verfolgungen, Grüfte, Geheimbünde und ein wie immer ratloser Inspektor Lestrade genau die Mischung, auf die man hofft. Gewiss fragt man sich, ob Watsons Heiratspläne im Buch noch eine andere Funktion haben als die, den Meister anfangs abzulenken, oder ob nicht ein etwas zu großer Zufall die beiden gerade an Bord des Schiffes führt, auf dem der Steward ermordet wird, was wiederum mit allem anderen in Verbindung steht. Ich fand die Anhäufung immer neuer Fälle bis zur Hälfte des Buches mitunter ein wenig zu verwirrend und manche Anspielung auf „Der Hund von Baskerville“ allzu raffiniert … doch hilft die Sympathie für den großen fiktiven Briten, solche Dinge wegzustecken und einfach weiterzulesen. Was Hardwick jedenfalls sehr gut beherrscht, ist das Sherlock-Holmes-Milieu mit all seinen Facetten, mit den Eigenheiten der beiden Hauptfiguren und ihren immer interessanten Wortgefechten. Dies ist also eindeutig ein gutes Abenteuer des unsterblichen Detektivs.

© _Peter Schünemann_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de veröffentlicht.|

Kui, Alexandra – Nebelfelsen, Der

Die 32-jährige Autorin Alexandra Kui(tkowski) legt nach ihrem erfolgreichen Jugendroman „Ausgedeutscht“ aus dem Jahre 1998 ihr erstes Erwachsenenbuch vor, nämlich den Kriminalroman „Nebelfelsen“, der im fiktiven Harzort Grauen spielt. Alexandra Kui lebt als Songwriterin und freie Autorin auf dem platten Land bei Hamburg.

_Grauenvolles aus dem Harz_

Schon in ihrem Urlaub in Pompeji denkt Antonia Czechy darüber nach, einfach alles aufzugeben und davonzulaufen, um ein neues Leben zu beginnen. Spontan will sie ihren überaus korrekten Freund Kai, der als Werbetexter arbeitet, vorwarnen, doch dieser reagiert nur genervt und will Antonia nicht ernst nehmen. Zurück in Hamburg, legt Antonia sich dermaßen mit ihrem Chef an, dass dieser ihr den Job kündigt. Nachdem sie ihre Arbeit als Fotografin in Hamburg los ist, reist Antonia ohne Verabschiedung und ohne Gepäck in das Harzer Städtchen Grauen, in welchem ihre beste Freundin Cleo sich das Leben genommen hat.

Genau zur Walpurgisnacht trifft Antonia in Grauen ein und läuft auf der Suche nach geeigneten Fotomotiven durch die Straßen. Dort sieht sie auch einen kleinen Mann im offensichtlich selbstgestrickten Ringelpulli, der mitten im Harz Flamencogitarre spielt. Als Antonia genug hat von dem Hexentreiben in Grauen, stellt der Gitarrenspieler sich ihr als Tom Sturm vor und bittet sie um die Fotos von der Walpurgisnacht. Bei dieser Gelegenheit lernt die junge Hamburgerin den Chefredakteur des Lokalblattes „Harzer Kurier“ kennen, der ihr eine Stelle als Fotografin bei der kleinen Zeitung anbietet.

Nach einer mit Tom Sturm durchzechten Walpurgisnacht erwacht Antonia in einer kleinen Pension bei der beleibten Kneipenwirtin Ulli, die sie am vergangenen Abend mit Bier versorgt hat. Antonia nimmt den Job beim Harzer Kurier an, da sie der Faszination der geheimnisvollen Nebelfelsen und ihrer eigenen verkorksten Vergangenheit nicht entkommen kann. Als sie oben auf den Felsen steht und in die nebelverhangene Tiefe blickt, ist sie nahe davor, sich selbst in die Tiefe zu stürzen. Der kleine Ort Grauen lebt vom Sensationstourismus rund um die Klippenspringer, die für ihren Selbstmord in den Harz reisen.

Auch Cleos Selbstmord lässt Antonia nicht los, hinzu kommt die aufkeimende Liebe zwischen ihr und Tom Sturm, der sie sich bald nicht mehr entziehen kann. Doch irgendetwas scheint Tom zu verbergen, auch die ansonsten so gutmütige Ulli möchte Antonia vor Tom warnen, doch die ist auf diesem Ohr taub und zieht bald zu ihrem neuen Freund und dessen zwei Töchtern in das „Muschelhaus“. Aber auch bei Antonia wachsen mit der Zeit Skepsis und Angst, denn mit den Nebelfelsen und Toms Familie scheint etwas nicht zu stimmen …

_Kuis Bild vom Harz_

Alexandra Kui, die selbst als Volontärin bei der Goslarschen Zeitung im Harz gearbeitet hat, zeichnet in ihrem Roman ihr persönliches Bild von der Harzer Landschaft und besonders dem erdachten Ort Grauen, der durch die Todesspringer an den Nebelfelsen zu trauriger Berühmtheit gelangt ist. Die Beschreibung der Szenerie des Harzes ist dabei sehr gelungen, der Ort Grauen wird dem Leser eindrucksvoll präsentiert und steht einem direkt vor Augen, auch die Nebelbänke an den Schläferklippen kann man sich bildlich vorstellen. Für mich hatte dieses Buch daher einen besonderen Reiz, da ich nicht nur die erwähnten Orte wie Goslar, Braunschweig und Wernigerode kenne, sondern auch die berühmten Walpurgisfeste im Harz; so konnte ich beim Lesen mein eigenes Bild vom Harz mit dem der Autorin vergleichen, was das Buch zu einem interessanten Leseereignis für den Harzer Ortskundigen macht. Ganz entgegen zu meinen sonstigen Lesevorlieben hätte ich mir in diesem Buch noch mehr Lokalkolorit gewünscht, da ich im Harz aufgewachsen bin und noch mehr über Alexandra Kuis Bild vom Harz hätte erfahren wollen.

_Personelle Schwächen_

Obwohl das Buch auf der Titelseite mit der Bezeichnung „Kriminalroman“ wirbt, stehen die Charaktere im Mittelpunkt des Buches, vor allem die 27-jährige Antonia Czechy aus Hamburg und der 52-jährige Chefredakteur Tom Sturm sind hier zu nennen. Alexandra Kui räumt den beiden in ihrem Roman viel Platz ein, lässt eine Liebesgeschichte entstehen, die allerdings von vielen Streitereien und Problemen gekennzeichnet ist. Beide Menschen erscheinen kompliziert und schwer durchschaubar, leider bleibt selbst die Vergangenheit der Ich-Erzählerin Antonia hierbei größtenteils unklar. Ihre Verhaltensweisen waren mir daher oftmals unverständlich, in vielen Situationen reagiert sie völlig unangemessen und geht an die Decke, ohne dass dem Leser klar wird, was die Gründe für diesen Ausbruch sind. Am Rande wird erwähnt, dass Antonia vor ihrer eigenen Vergangenheit davonlaufen will, vor den Erlebnissen in Kalifornien mit ihrem Exfreund Cire und vor dem Selbstmord ihrer besten Freundin, den Antonia immer noch nicht verarbeitet oder verstanden hat. Aus ihrer Vergangenheit erfahren wir einiges, dennoch werden uns zu viele Informationen vorenthalten, beispielsweise, was aus Cire geworden ist, der nebenbei häufiger erwähnt wird, aber ansonsten völlig im Dunkeln bleibt, oder auch, was hinter der Verbindung zwischen Cleo und Tom steckt, von der Antonia erfahren musste. Dennoch ist genau diese Vergangenheitsbewältigung verbunden mit einer ehrlichen Selbstkritik der Ich-Erzählerin das Thema des Buches. Schade, dass Alexandra Kui uns nicht mehr Facetten ihrer Romanfigur präsentiert hat, die ihre Eigenarten erklärbar gemacht hätten, denn so wirkt Antonia unecht und manchmal auch unreif, sie reagiert zu häufig zu übertrieben, um Sympathien für sie entwickeln zu können oder sich gar mit ihr identifizieren zu können. Dabei gefiel Antonia zunächst gut und wirkte interessant, erst später summierten sich ihre komischen Anwandlungen zu sehr und ihre Liebschaft zu ihrem Chef machte sie leider nicht sympathischer.

Auch die Figur des Tom Sturm wird einem nicht erklärbar, obwohl er neben Antonia den größten Raum im Buch erhält. Die Beziehung zwischen den beiden wird schnell zu einem Hauptthema des Romans und verdrängt die geheimnisvollen Nebelfelsen aus der Erzählung. Allerdings wirkt ihre Annäherung und plötzliche Verliebtheit zu gekünstelt, da Antonia zuvor offen ihre Abneigung Tom gegenüber zum Ausdruck gebracht hatte. Zu sehr fallen also ihre neu entwickelten Gefühle vom Himmel, ich habe sie nicht nachvollziehen können.

Viel authentischer und natürlicher wirkt dagegen die Kneipenwirtin Ulli, die sich mit mütterlicher Sorge um ihren neuen Pensionsgast Antonia kümmert, ihr neue Kleidung kauft und sie liebevoll bekocht. Auch wenn Ulli an manchen Stellen nichts über ihre frühere Beziehung zu Tom Sturm erzählen mag und sich mit geheimnisvollen Andeutungen begnügt, bleiben ihre Handlungen stets nachvollziehbar.

_Von Krimi keine Spur_

Durch die Ankündigung eines Kriminalromans mit finalem Showdown hatte ich mich auf eine falsche Fährte leiten lassen und vermutet, einen spannungsgeladenen Roman lesen zu können, doch hier wurde ich enttäuscht, denn obwohl die Nebelfelsen an vielen Stellen als mystisch und mit besonderer Anziehungskraft versehen beschrieben werden, bleiben sie schnell hinter Toms und Antonias Beziehung zurück. Der Leser muss sich mit einigen Hinweisen am Rande, bezogen auf die sogenannten Schläferklippen, begnügen, von Krimi ist allerdings keine Spur. Auch Spannung wird nur wenig aufgebaut, da die spärlichen Andeutungen in Bezug auf Tom und seine dubiose Vergangenheit nicht ausreichen, um den Leser an das Buch zu fesseln. Erst spät kommt die Handlung ins Rollen, als Antonia entscheidende Hinweise auf die Mutter von Toms jüngerer Tochter erhält, die sie aufhorchen lassen. Doch ist sofort offensichtlich, was hinter der Geschichte stecken muss und was damals passiert ist, sodass am Ende kaum Überraschungen bleiben.

Mit ihrem Showdown kann Alexandra Kui nicht überzeugen. Zu konstruiert wirkt die Auflösung der Geheimnisse um die Nebelfelsen und um Tom Sturm, hier greift Kui in die Trickkiste, um ihrem Buch etwas Spannung hinzuzufügen, doch vergallopiert sie sich dabei. Das Ende hinterlässt daher einen faden Beigeschmack beim enttäuschten Leser, ein etwas weniger sensationelles Buchende wäre realistischer und auch zufriedenstellender gewesen. Schade, dass die Autorin an dieser Stelle ein wenig über das Ziel hinausgeschossen ist.

_Viel gewollt und wenig geschafft_

Alexandra Kui wollte scheinbar zu viele verschiedene Dinge in ihr nur 300-seitiges Buch packen. So beginnt das Buch zunächst mit Antonias Beziehungs- und Jobproblemen, der Leser wird mit geheimnisvollen Andeutungen zu ihrer Vergangenheit und Cleos Selbstmord gelockt, anschließend reisen wir gemeinsam in das düstere Örtchen Grauen mit den nebelverhangenen Schläferklippen. Gerade in Grauen treffen wir auf skurrile und merkwürdige Personen, die oftmals in ihren Handlungsweisen zu übertrieben agieren, aber offensichtlich einiges zu verbergen haben. Besonders Tom Sturm muss einige Leichen im Keller begraben haben, das wird aus den zarten Andeutungen der Bewohner deutlich. An dieser Stelle entdeckt Antonia plötzlich ihre Gefühle für Tom, die zu einer turbulenten und problematischen Beziehung führen, in der auch noch zwei Töchter des Chefredakteurs auftauchen und eine Rolle spielen. Kui greift zu viele Aspekte in ihrer Erzählung auf und vergisst dabei, ihre Kriminalgeschichte weiterzuentwickeln, Spannung aufzubauen und am Ende allen aufgegriffenen Handlungsfäden ein passendes Ende zu verleihen. Es bleiben zu viele Fragen offen, sodass das Buch keine runde Sache geworden ist, auch in ein Genre ist der Roman schwierig einzuordnen, da von Kriminalgeschichte wenig zu spüren war.

Insgesamt kann das Buch als Kriminalroman nicht überzeugen, da kaum Spannung aufgebaut wird, sondern die handelnden Charaktere im Zentrum des Buches stehen. Insbesondere die beginnende Beziehung zwischen der jungen Hamburgerin Antonia Czechy und dem alternden Lokalchef Tom Sturm steht hier im Vordergrund, dennoch bleiben die Hintergründe etwas im Unklaren. Die aufkeimende Liebe fällt vom Himmel, da Ich-Erzählerin Antonia zuvor zu oft betont hatte, dass sie den kleinen Mann im Ringelpulli nicht ausstehen kann. Alexandra Kui hält sich in ihren Beschreibungen manchmal zu sehr auf, im Grunde genommen nebensächliche Dinge wie Antonias Einstieg in Toms Band werden zu sehr ausgebreitet und bremsen den Spannungsbogen deutlich aus. Auch die Nebelfelsen werden nur am Rande erwähnt und rücken schnell in den Hintergrund. Leider kann auch das Buchende nicht überzeugen, sodass der Roman für Harzer durch die bekannten Orte durchaus lesenswert ist, aber nicht dazu verlocken kann, das Buch weiterzuempfehlen oder gar ein zweites Mal zu lesen.

Ferreras, Pipín – Tiefenrausch

Francesco „Pipín“ Ferreras ist nach eigener Auskunft schon als Kind mehr Fisch als Mensch gewesen. Im bereits revolutionär angegammelten Kuba der 1960er Jahre bleibt ihm trotz castrogläubiger Eltern der Glanz des realen Sozialismus‘ verborgen. Pipín geht lieber tauchen und entwickelt dabei rasch bemerkenswerte Talente, die indes lange brachliegen müssen: Kuba ist kein Ort, an dem man wassertaugliche Bürger schätzt; Miami, die Höllenstadt des Erzteufels USA, liegt verführerisch nahe am Horizont.

Aber zum Ruhme Kubas lässt Fidel Castro den jungen Mann schließlich doch seine Tauchkunststücke auf der ganzen Welt vorführen. Pipín entwickelt sich rasch zu einem der besten Apnoetaucher der Welt: Mit nur einem Atemzug taucht er möglichst rasch und tief ins Meer, um erst Minuten später wieder aufzutauchen – „No Limits“ nennt sich dieses nutzlose, ja lebensgefährliche Gladiatorenspiel, das die Medien zunehmend fasziniert. Pipín will endlich an die Weltspitze, will viel Geld verdienen. 1993 flieht er aus Kuba und fängt ein neues Leben als professioneller Extremtaucher an.

Nach schwierigen Anfangsjahren kann er an seine früheren Erfolge anknüpfen. Er tritt im Fernsehen auf, wird interviewt, von Sponsoren umworben – und taucht tiefer und tiefer. Privat sieht es eher düster aus. Der junge Mann kann ist bereits zweimal geschieden und gilt als jähzorniger Kotzbrocken. 1996 lernt Pipín die deutlich jüngere Meeresbiologin Audrey Mestre kennen. Eine Liebe epischen Ausmaßes entspinnt sich, zwei Herzen schlagen fürderhin im Einklang & was der Hollywood-Klischees mehr sind. Vor allem aber findet Audrey Geschmack am Apnoetauchen. Sie übertrifft ihren Seelenverwandten, bald Ehemann und Lehrmeister bald deutlich.

Diese Gunst der Stunde will der in die Jahre kommende Pipín nutzen. Statt selbst zu tauchen, vermarktet er seine zunehmend erfolgreiche Frau. Audrey ist jung, hübsch und ertaucht zuverlässig Spitzentiefen. So kommt sie dem Weltrekord für Männer und Frauen immer näher. Eines Oktobertages im Jahre 2002 will sie ihn endgültig brechen und 170 Meter Wassertiefe erreichen. Sie schafft es, aber zurück an die Oberfläche findet sie nicht mehr …

Die Geschichte von Pipín & Audrey adelt ein Buch, für das sich ansonsten wohl nur die kleine Schar der Extremsportler interessieren würde. Aber „Tiefenrausch“ kann mit einer grandiosen Lovestory prunken – mit einer tragischen sogar, was ja den Kaufdrang der Tränendrüserdrücker-Fraktion seit jeher beflügelt. Gut, dieser Pipín Ferreras ist nicht gerade Brad Pitt – er bezeichnet sich selbst treffend als „glatzköpfigen, machohaften Kubaner“. Seine Ungeduld, seinen alle Grenzen der Vernunft sprengenden Ehrgeiz, seinen Neid auf – womöglich erfolgreiche – Konkurrenten spart er in der Aufzählung seiner Unarten lieber aus und lässt sie vorsichtig in seine biografische Rückschau einfließen.

Audrey dagegen muss wohl ein Engel auf Erden (bzw. unter Wasser) gewesen sein. Pipín sagt es uns in jedem Satz und wer’s immer noch nicht glauben mag, für den gibt es unzählige ganzseitige Fotos – farbig und schwarzweiß -, die immer wieder Audrey, Audrey, Audrey zeigen: beim Training, beim Gewinnen, bei Tanz mit einem erstaunten Rochen … Es will kein Ende nehmen, „Tiefenrausch“ ist ein gedruckter Audrey-Schrein.

Da gibt es freilich einige Schönheitsfehler. Vor allem müssen wir uns darauf verlassen, was Pipín Ferreras uns über seine Liebe und seine Tauch-Obsession erzählt. Audrey können wir ja leider nicht mehr fragen. Der Skeptiker weiß: Engel auf Erden gibt es eigentlich nicht. Kein Mensch ist ohne Fehler und Tadel, sonst wäre er ziemlich langweilig. Was Pipín selbst angeht, so spart er (s. o.) nicht mit Schlägen gegen die eigene Stirn. Er übernimmt sogar die Mitschuld für ihren Tod. Offensichtlich ist „Tiefenrausch“ einer von vielen Versuchen Ferreras, den tragischen Tod von Audrey zu verarbeiten.

Zumal dieser einerseits auf ein banales Versehen zurückzuführen ist: Der Luftsack, der Audrey an die Oberfläche tragen sollte, war nur teilweise gefüllt. Niemand hatte das nachgeprüft, stattdessen verließ sich ein Teammitglied auf das andere. Unter Wasser fehlte ein Begleittaucher; der Rekordversuch fand trotzdem statt – bisher war ja stets alles gut gegangen. So ging es weiter; eine Kette von minimalen Versäumnissen führte direkt in die Katastrophe. Man war eingelullt von der spielerischen Eleganz, mit der Audrey immer neue Rekordtiefen erreichte. Das machte leichtsinnig, was kein guter idealer Zustand ist, wenn einem 170 Meter unter Wasser die Luft wegbleibt.

Andererseits ist Pipín Ferreras die treibende Kraft hinter Audrey Mestre – und oft genug wohl ihr Dämon. Sie tauchte nach eigener Auskunft einfach gern, er machte daraus ein Rekordgeschäft. Wieso sie sich dagegen nicht wehrte, muss offen bleiben; Ferreras drückt sich in diesem Punkt recht vage aus und schwadroniert von der Macht der Liebe, die sich für ihn und Audrey vor allem unter Wasser entfaltete und das delfingleiche Paar als kosmische Einheit funktionieren ließ. (Allerdings merkt er sehr richtig an, dass er seiner lungenstarken Gattin keinen Sack mit Steinen um den Hals gebunden und sie dann ins Meer gestoßen hat; Audrey war erwachsen.) Außenstehende, d. h. Nicht-Apnoeisten, könnten das sowieso nicht verstehen. Damit liegt er zweifellos richtig; der boshafte Skeptiker mag zum Beispiel einwenden, man könne sich auch einen Backstein auf den Kopf schlagen, um Gott und viele Sterne zu sehen – und das ohne besondere Lebensgefahr. Genau die ist aber integraler Bestandteil des Extremsports, auch wenn das lieber nicht so deutlich formuliert wird.

Wie jeder Paulus blickt auch Pipín Ferreras mit wehmütigem Stolz auf seine Saulus-Jahre zurück. Natürlich findet er die weltweite Jagd nach immer neuen „No Limits“-Rekorden verwerflich, seit Audrey umkam und er nicht mehr mittun kann und mag. Bis er zu dieser Einsicht gelangte, war Ferreras jedoch die treibende Kraft unter den Apnoe-Extremtauchern dieses Planeten. Endgültig „geheilt“ von seinem Tauchwahn ist er wohl doch nicht; die Grenzen zwischen Sport und Spinnerei sind meist fließend.

Was man nicht Ferreras sondern eher seiner (nur auf dem inneren Titelblatt erwähnten) „Mitautorin“ Linda Robertson (Pipín hat übrigens schon mehrere Bücher „schreiben lassen“, da er sich eigentlich nicht zum Literaten berufen fühlt, aber kein Problem damit hat, seine erzählten Tauch- und Lebensgeschichten in gut honorierte Prosa verwandeln zu lassen) ankreiden muss, das ist sicherlich der schauerliche Auftritt Audreys als glücklicher Geist aus dem Jenseits, der dem gebrochenen Pipín bei dessen Gedächtnis- Rekordtauchgang von 2003 unter Wasser ein letztes Hallo zuwinkt. Solcher Schwachsinn wäre ansonsten nur verzeihlich, wenn der arme Pipín doch ein wenig zu lange die Luft angehalten hätte … Vielleicht ist diese Passage auch nur ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung von James Cameron. Der Regisseur von „Titanic“, der seit 1997 keinen Spielfilm mehr gedreht hat (bis auf zwei Dokumentationen), aber dem Meer treu geblieben ist, plant angeblich, Pipín und Audrey zu Helden eines neuen, nassen Blockbusters zu erheben (worauf man sich lieber nicht verlassen sollte).

Bova, Ben – Asteroidenkrieg, Der

Ben Bova (* 28.11.1932) ist ein Urgestein der amerikanischen Science-Fiction. Das Werk des ehemaligen Präsidenten der |SF Writers of America| und der |National Space Society| zeichnet sich durch die Nähe zum aktuellen Stand der Technik aus. Bovas Romane spielen in einer nicht allzu fernen Zukunft und basieren auf Technologien und Annahmen, die schon bald Wirklichkeit werden könnten. Bova weiß, wovon er spricht: Während des „Space Race“ zur Zeit des Kalten Krieges war er am Projekt Vanguard beteiligt, dem ersten amerikanischen Satelliten und Antwort auf Sputnik I.

Im Jahre 1992 begann Bova mit „Mars“ eine neue Schaffensphase, die von Fans als seine „Grand Tour“ durch das Sonnensystem bezeichnet wird. Was als abenteuerliche, sehr realitätsnahe Reise durch das Sonnensystem begann und mit dem inoffiziellen Starterband „Mars“ zumindest inhaltlich noch überzeugen konnte, flachte in den Folgebänden „Rückkehr zum Mars“, „Venus“, „Jupiter“ und [„Saturn“ 557 leider immer mehr ab.

Noch hat Bova zwar nicht alle Planeten des Sonnensystems beehrt, aber auch vor kleineren Planetoiden macht er nicht Halt: Dem Asteroidengürtel ist sogar ein auf drei Bände angelegter Minizyklus in der „Grand Tour“ gewidmet, dessen Auftakt „Der Asteroidenkrieg“ ist.

_Not macht erfinderisch_

Irgendwann im 21. Jahrhundert geht es der Menschheit an den Kragen: Zusätzlich zur Klimakatastrophe, die sich in Überschwemmungskatastrophen äußert, die bereits weite Teile der uns bekannten Welt unter Wasser gesetzt haben, kommt ein chronischer Mangel an Energie und Rohstoffen. Das Verhältnis zu den Mondkolonien ist gespannt, die Regierungen der Erde stehen modernen Technologien wie der Nanotechnologie ablehnend gegenüber und sind mehr damit beschäftigt, ihre eigenen Pfründe zu sichern, anstatt sich um die Zukunft der Menschheit zu sorgen.

Der Raumfahrtunternehmer Dan Randolph ist ein Visionär und Idealist, der die Lösung dieser Probleme im Erzreichtum des Asteroidengürtels sieht. Nur leider gibt es noch keine Antriebe, die eine effiziente Nutzung der dortigen Ressourcen ermöglichen würden. Randolph ist gezwungen, ein Zweckbündnis mit dem schmierigen Magnaten Martin Humphries zu schließen: Ein neuartiger Fusionsantrieb und geächtete Nanotechnologie würden erstmals die Möglichkeit eröffnen, seinen Plan in die Realität umzusetzen.

Im Gegensatz zu Randolph ist sein Partner jedoch kein Wohltäter, sondern ein Schwein. Randolph möchte persönlich an der Reise zu den Asteroiden teilnehmen – für Humphries die Gelegenheit, ihm eine tödliche Falle zu stellen und sich im Falle seines tragischen Ablebens Randolphs Firma |Astro Manufacturing| einzuverleiben … ohne Macht und Reichtum teilen zu müssen.

_Weltraummüll_

Eine vielversprechende Story – zudem mit einem verkaufskräftigen Titel und einem wirklich sehr schönen, thematisch passenden Titelbild von [Thomas Thiemeyer]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=25 versehen.

Begeisterung kann dennoch nicht aufkommen – dafür Entsetzen. Das kommerzielle Szenario ist für Bova-Kenner nichts Neues, neue Ideen gingen ihm offenkundig bereits schon auf halber Strecke zwischen Mars und Jupiter aus. Der Idealist und Menschenfreund sowie der korrupte Kapitalist, der auch vor Mord nicht zurückschreckt, sind nur einige der vielen Klischees, die Bova bis zur Neige ausschöpft. So sind die beiden Pilotinnen der Starpower I vermutlich aus einer Trash-SciFi-Parodie entlehnt: Die flachbrüstige Farbige Pancho Lane, eine der Hauptfiguren des Romans, mit dem Charme und der Sturheit eines Terriers, sowie die dumpfbackige Amanda, kurz Mandy, die mit Raumanzug sprengender Oberweite als ihr intellektueller Gegenpol und Lustobjekt nahezu aller männlichen Figuren fungiert.

Derartig abgeschmackte Konstruktionen hätte man nicht einmal im Jahre 1960 als Groschenheft veröffentlichen können, zumal sie sich mit dem sonst eher ernsten und fundierten Hintergründen des Romans beißen; Bova ist als Vertreter realitätsnaher SF bekannt und schreibt auch dementsprechend. Doch um an einigen Stellen die Handlung voranzutreiben, fiel Bova nichts Besseres ein, als Pancho Lane einen Unsichtbarkeitsanzug zur Verfügung zu stellen, mit dem sie nach Belieben spionieren kann. Zu allem Überfluss wird er ihr von einem guten Kumpel geliehen – wie praktisch. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, verliebt sich Fiesling Humphries in Mandys Kurven und entwickelt Heiratsgelüste – doch fatalerweise will sie unbedingt das sabotierte Raumschiff zum Asteroidengürtel steuern. Von der armen Wissenschaftlerin, deren Nanobots von Humphries als Waffe missbraucht werden, obwohl sie doch aller Welt den Nutzen dieser segensbringenden Technologie zeigen will, möchte ich gar nicht erst reden. Nur so viel: Humphries erpresst sie mit dem Leben ihrer Enkel auf der Erde …

Leider stellen diese Plattheiten den Großteil der Handlung dar. Glänzen kann Bova gelegentlich mit seinem Sachverstand und Wissen, zum Beispiel wie das Leben in Mondstädten aussehen könnte. Anstelle hier jedoch zu punkten und zu faszinieren, reduziert Bova diesen Teil auf ein Minimum. Stattdessen nimmt ein notgeiler Zollbeamter, der Mandy gerne ausgiebig kontrolliert und grundsätzlich jede Frau zum Essen einlädt, den größten Teil der Handlung auf dem Mond ein. Das soll vermutlich der sonst ziemlich faden, sich dahinziehenden Handlung ohne jegliche Spannungselemente Würze verleihen. Anstatt ausgeklügelte Konzernintrigen zu bieten, blamiert sich Bova mit erschütternd naiven Konstruktionen. Durch die Ermordung des Mehrheitseigners möchte Humphries eine ganze Firma schlucken. Man sollte keine weiterführenden Erklärungen erwarten, wie das gehen soll, weder Bova noch Humphries scheinen sich darüber weitere Gedanken gemacht zu haben, zumal Bova selbst am Ende des Romans zeigt, wie blauäugig Humphries Plan ist.

_SciFi oder Trash?_

Was ist nur in Bova gefahren. Derartig altbackene Storys lieferten nicht einmal genrefremde Notbehelfs-Autoren in den zahllosen gefloppten SF-Serien der 60er Jahre. Selbst diese hätten es jedoch nicht geschafft oder gewagt, ein Minimum an Handlung ohne jeglichen Spannungsbogen auf 461 Seiten aufzublasen.

Scheinbar fiel auch Bova auf, wie blutleer und hölzern sich seine Asteroidenexpedition liest. Sie im Jahr 2003/4 mit derart veralteten Klischees „aufzupeppen“, ging jedoch gehörig daneben. Es bleibt die Frage, worüber Bova in den folgenden beiden Bänden des Minizyklus schreiben wird. Bereits in diesem Roman geizte er mit seinen sonstigen Stärken und demonstrierte bei allem Respekt vor den interessanten Thematiken Asteroidenbergbau und der Macht großer Konzerne in der Zukunft eine erschreckende Ideenlosigkeit; man könnte fast meinen, es fehle ihm an Motivation. Für peinlichste Banalitäten ist er sich dagegen nicht zu schade. Die Übersetzung ist gelegentlich sehr holprig, die unterirdische Qualität vieler Dialoge möchte ich jedoch eher dem Autor anlasten.

An diesen Roman wurden leider sowohl ein wunderbares Titelbild als auch eine vielversprechende Thematik vollkommen verschwendet.

Homepage von Ben Bova:

Ben Bova

Richard Condon – Der Manchurian Kandidat

Das geschieht:

1951 gerät in Korea ein US-amerikanischer Spähtrupp in einen chinesisch-sowjetischen Hinterhalt. Die Männer werden in die nordostchinesische Mandschurei verschleppt, wo sie der Neurologe Yen Lo einer neuen Form der Gehirnwäsche unterzieht. Aus jungen Patrioten werden kommunistisch programmierte „Schläfer“, die als Kriegshelden in die USA zurückkehren, während sie weiterhin geistig „ferngesteuert“ werden.

Sergeant Raymond Shaw ist ein idealer (mandschurischer) Kandidat für dieses Projekt. Als Sohn einer einflussreichen Familie hat er Kontakte bis ins Weiße Haus. Er sieht gut aus und kommt in den Medien an. Das verschafft ihm die notwendige Bewegungsfreiheit. Richard Condon – Der Manchurian Kandidat weiterlesen