King, Stephen – Achterbahn

Dieser Telefonanruf beschert Alan Parker, Student an der University of Maine, den Schock seines 21-jährigen Lebens: Ein Schlaganfall hat seine Mutter Jean niedergestreckt. Kritisch sei ihr Zustand nicht, wird ihm versichert. Trotzdem macht sich der junge Mann sofort auf den weiten Weg nach Hause. Dummerweise steht sein Wagen in der Werkstatt; er entschließt sich zu trampen. Eine Weile geht alles gut. Alan nähert sich seinem Ziel, bis er schließlich doch auf einem einsamen Wegstück mitten in der Nacht strandet. Seine Stimmung hebt sich nicht, als er bemerkt, dass er am Rande eines alten Friedhofs steht. Ein Grabstein scheint ihn magisch anzuziehen – wie Alan der Inschrift entnehmen kann, liegt hier ein gewisser George Staub begraben, der zwei Jahre zuvor umgekommen ist.

Staubs Grab versetzt Alan in unerklärliche Furcht. Er verlässt den Friedhof fluchtartig und beglückwünscht sich, als er auf der einsamen Straße endlich ein Auto näher kommen sieht. Der Fahrer hält und lässt ihn einsteigen, doch schon nach wenigen Minuten kriecht in Alan die Angst hoch, den Fehler seines Lebens begangen zu haben. Sein Chauffeur ist unzweifelhaft tot, offensichtlich bei einem furchtbaren Unfall ums Leben gekommen. Alan erhält Gewissheit, als sich sein Gegenüber ihm vorstellt: Es ist George Staub, der als Bote des Todes aus dem Jenseits berufen wurde, um Alan vor eine grausame Wahl zu stellen: Er soll entscheiden, wen er mit sich nehmen soll – den Studenten oder seine kranke Mutter. Alan kämpft mit sich, bis die Angst siegt und er Staub das Leben der Mutter anbietet. Staub wirft ihn aus dem Wagen und verschwindet. Alan steht wieder dort, wo die unheimliche Reise begann – am Friedhof.

Er ist fest davon überzeugt, seine Mutter nur noch tot anzutreffen, als er Stunden später das Krankenhaus seines Heimatortes erreicht. Doch Jean lebt; sie erholt sich langsam, und Alan erkennt den wahren Schrecken, den er durch seine Entscheidung heraufbeschworen hat: Staub wird seine Mutter holen – nur eben nicht sofort! Die nächsten Jahre widmet Alan der ängstlichen Sorge um Jean, aber allen Bemühungen zum Trotz steigt sie eines Tages doch in die Achterbahn des Todes …

Ein weiterer Titel des Multimedia-Phänomens Stephen King wird angezeigt – jedes Mal scheint sich bei dieser Gelegenheit über die Büchertische dieser Welt eine Sturzflut zu ergießen, die alle anderen Titel fortreißt und nur die Werke des Meisters zurücklässt. Normalerweise wirft dies keine Probleme auf; der durchschnittliche King-Roman weist allein aufgrund seiner Dickleibigkeit ein enormes Beharrungsvermögen auf.

Aber King war und ist immer für eine Überraschung gut. Dieses „Buch“ zählt gerade 95 Seiten und ist eigentlich gar keines, sondern eine Novelle (eine Literaturform, die man als Kreuzung zwischen Roman und Kurzgeschichte bezeichnen könnte). „Riding the Bullet“ – im Deutschen höchst einfallslos mit „Achterbahn“ übersetzt – kommt durch seine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte zur Ehre einer separaten Veröffentlichung. King hat diese Novelle ursprünglich exklusiv für das Internet geschrieben.

„Achterbahn“ stellt also so etwas wie einen Versuchsballon dar. Das Ergebnis ist entsprechend: ein Nichts von einer Geschichte, die eine dürftige Idee inspirationsarm auswalzt. Sollte sich King über die Vermarktungsfrage hinaus überhaupt den Kopf über „Achterbahn“ zerbrochen haben, gipfelten seine Gedanken offenbar höchstens in der fatalistischen Erkenntnis, dass das Leben von einem Moment auf den anderen vorbei sein kann; und zwar unabhängig davon, was wir Menschen dafür oder dagegen tun. An sich eine ziemliche Binsenweisheit, aber dass King über dieses Thema ins Grübeln gekommen ist, lässt sich durchaus nachvollziehen. Im Sommer des Jahres 1999 ist er während eines Spaziergangs von einem betrunkenen Autofahrer überfahren und schwer verletzt worden.

Sein Novellchen hat inzwischen in der Kurzgeschichten-Sammlung „Im Kabinett des Todes“ seinen endgültigen Platz gefunden. Dort gehört es auch hin. Es zwischen eigene Bücherdeckel zu pressen, kann man nur als Geschäftemacherei im Vertrauen darauf werten, dass die Stephen-King-Gemeinde nicht an sich halten kann, sobald sie den Namen ihres Idols liest. Allerdings hält sich bei einem niedrigen Verkaufspreis der Verdruss immerhin in Grenzen.

Koontz, Dean – Phantom – »Unheil über der Stadt«

Snowfield, ein Städtchen hoch in den Bergen des US-Staates Kalifornien, der nicht nur aus verbrannter Wüste und Hollywood besteht, sondern auch des Winters touristisch einiges zu bieten hat. Folgerichtig herrscht in Snowfield in der zweiten Jahreshälfte Hochbetrieb, und der kleinen Schar emsig im Fremdenverkehr tätiger Einheimischer steht eine zehnfache Übermacht vergnügungssüchtiger Urlauber gegenüber.

Noch herrscht jedoch die Ruhe vor dem Sturm an diesem schönen Spätsommertag, den die Ärztin Jennifer Paige für die Rückkehr nach Snowfield gewählt hat. Nach dem Tod der Mutter hat sie beschlossen, ihre erst vierzehnjährige Schwester Lisa zu sich zu nehmen. Der Empfang könnte allerdings schlechter gar nicht sein: Die Straßen des Ortes sind wie ausgestorben, und dann entdeckt Lisa in der Küche des schwesterlichen Hauses die Leiche der Haushälterin, die dort vor ganz kurzer Zeit unter mysteriösen, sichtlich unerfreulichen Umständen ihr Leben verloren haben muss.

Der Sheriff muss her – oder müsste, denn außerhalb der Saison hält nur Deputy Paul Henderson, gerade 24 Jahre alt geworden, die Stellung in Snowfield. Aber auf seine Hilfe kann ohnehin nicht gerechnet werden, denn die Paige-Schwestern finden auch ihn tot in der Polizeistation. Stichprobenartige Exkursionen in die Häuser der Stadt führen entweder in verlassene Räume – oder zu weiteren Leichen, die zum Teil grausam verstümmelt wurden. Außerdem mehrt sich für Jennifer und Lisa der Verdacht, aus den Schatten beobachtet zu werden.

Hilfe von außen wird gerufen. Aus Santa Mira, dem nicht weit entfernten Sitz der County-Verwaltung, macht sich Sheriff Bryce Hammond mit fünf erfahrenen Deputies auf den Weg nach Snowfield. Als sie dort ankommen, lässt der unsichtbare Gegner die Deckung allmählich fallen – und beginnt die Neuankömmlinge brutal zu verfolgen. Während sich die Reihen lichten, igelt man sich ein und hofft auf Rettung und Aufklärung durch General Galen Copperfield und die örtliche Zivilschutzeinheit, der Sheriff Hammond mehr Kompetenz zutraut als der eifrigen, aber schlecht ausgebildeten Nationalgarde. Eine Spur hat man inzwischen auch entdeckt: eine mysteriöse Nachricht, die da lautet |“Timothy Flyte. Der Alte Feind“|.

Ahnungslos fragt sich eben dieser Timothy Flyte im weit entfernten London gerade, ob er wohl endlich wieder auf die Gewinnerseite des Lebens überwechseln kann. Vor Jahren hat er seine akademische Karriere und seinen Professorentitel verspielt, als er mit seiner gewagten Theorie an die Öffentlichkeit trat, die Menschheit sei weder die einzige noch die erste Intelligenz auf dieser Erde. Seit Urzeiten müsse sie sich den Planeten mit einer Art protoplasmatischer Riesenamöbe ausgesprochen fremd- und bösartigen Charakters teilen, die jedes Lebewesen perfekt zu imitieren weiß, sobald sie es absorbiert und dabei seinen Intellekt und seine Fähigkeiten übernommen hat. In regelmäßigen Zyklen falle dieser quasi unsterbliche „Alte Feind“ über die meist ahnungslosen Menschen her und mäste sich an ihren, bevor er sich wieder in eine Art Winterschlaf zurückzöge, bis man ihn vergäße – so Professor Flytes These. Ihm wird bald die Chance geboten, sie in der Realität zu überprüfen, denn die Presse bekommt Wind von seiner Existenz und lässt ihn kurzerhand nach Snowfield einfliegen, wo ihn auch die Behörden gespannt erwarten. Im inzwischen großräumig abgeriegelten Ort beginnt ein tödliches Katz-und-Maus-Spiel, bei dem die Rollenverteilung wechselt, denn der Alte Feind schlägt zwar gern aus dem Hinterhalt zu, aber er wird mächtiger und verliert bald seine Scheu vor einer offenen Konfrontation – und er liebt es, wenn Todesangst seine menschliche Beute würzt, bevor er sie sich schnappt …

Der typische Koontz-Bestseller besonders der letzten Jahre ist eine vielhundertseitige Verfolgungsjagd, hinter der eine notdürftig zusammengezimmerte Allerweltsstory und grob geschnitztes Schablonen-Personal zum Vorschein kommen, sobald die Handlung einmal zur Ruhe kommt. Rau und irgendwie unfertig wirken diese Romane, als habe sie ihr Verfasser noch im Entwurfsstadium auf den Buchmarkt geworfen: Wieso sich unnötige Arbeit mit einer Überarbeitung machen, wo doch die Verkaufszahlen stimmen, mag sich Koontz sagen, während er sich dem nächsten Werk zuwendet; möglicherweise spielt auch die Ungeduld des Workaholics, der in schlampiger Hast mindestens zwei voluminöse Neutitel pro Jahr produziert, wie man es wohl nennen muss, eine gewichtige Rolle.

Der Ärger des erfahrenen Lesers wird um so größer, als er weiß, dass Koontz viel mehr zu Stande bringt, wenn er gut aufgelegt ist bzw. sich Zeit nimmt, seine Geschichte zu erzählen. „Watchers“ (1987, dt. „Brandzeichen“) war so ein Titel, und auch „Phantom“ gehört dazu. Die Geschichte ist sauber konstruiert, wird spannend und trügerisch einfach erzählt und besticht durch eine kunstvoll geschürte, lange am Leben erhaltene Atmosphäre stetiger Bedrohung. Hier treibt Koontz das Konzept des Monsters, das am intensivsten dort wirkt, wo es sich der Leser im Hinterkopf selbst zusammenbauen muss, fast schon auf die Spitze, aber er kommt durch damit!

1983 war H. P. Lovecrafts |Cthulhu|-Saga dem Mainstream-Publikum weiterhin unbekannt, und Stephen Kings Brachial-Epos „It“ (1986; dt. „Es“) lag noch in der Zukunft. So konnte Koontz mit dem „Alten Feind“ praktisch Neuland betreten und die Galerie der literarischen Ungeheuer (Frankenstein-Monster, Vampir, Werwolf, Mumie etc.) mit ihrem vielleicht letzten Archetypus bereichern: dem urzeitlichen Gestaltwandler – ein Zwischending aus Außerirdischem und Mutanten, wie es schon wenig später die Gen-Labore des Z-Films (u. a. daran zu erkennen, dass Lance Henrikson oder Doof Lundgren mitspielen) zu Hunderten ausspeien würden. Diese Chance hat er gut genutzt!

„Phantoms“, der Film von 1998, prunkt mit einem Drehbuch von Koontz persönlich und einer ebenso hochkarätigen wie interessanten Besetzung, die aktuelle Jungstars (Ben Affleck, Rose McGowan) und Hollywood-Altstars ohne abgesicherten Rentenanspruch (Peter O’Toole) vor der Kamera vereint. Die Regie von Horror-Routinier Joe Chappelle („Halloween“ 5 u. 6) ist handwerklich sauber, die Effekte sind sorgfältig (und zum Teil überraschend deftig) in Szene gesetzt, aber der Gruselspaß bleibt trotzdem aus, weil der Zuschauer jedes Bild, jede Figur, jeden Dialog schon aus tausend anderen mittelmäßigen Phantastik-Streifen zur Genüge kennt. Fatal ist zudem die formale Nähe zu den TV-Miniserien, die um die Romane des angeblichen Koontz-Konkurrenten Stephen King gesponnen werden. Statt eigene Wege zu gehen, folgte man dem bewährten, aber wenig aufregenden Muster.

Koontz ist da nicht von Schuld frei zu sprechen, denn gar zu offensichtlich treten im Film die Sünden zu Tage, die auch das Buch kennzeichnen. Die Figuren werden weniger eingeführt und entwickelt, sondern in ihre literarische Welt geworfen, wo sie primär vor dem Phantom fliehen und sich verstecken müssen. Sobald sie zur Ruhe kommen, wird es heikel, denn wirklich echt wirken sie nicht. Gänzlich misslungen ist Koontz zum Beispiel die Figur der jungen Lisa Paige. Sie verhält sich wenig kindgerecht ihrer mehr als doppelt so alten Schwester absolut ebenbürtig, redet auch so und hält sich im Übrigen wie ihre Mitstreiter strikt an das Klischeemuster, das für die Bewohner von Monstern belagerter amerikanischer Kleinstädte obligatorisch zu sein scheint und sie zuverlässig dorthin neugierig ihre Nase stecken lässt, wo es dunkel ist und garantiert das Böse lauert.

Rätselhaft bleibt die Klärung der Neuausgabe von „Phantoms“. Dean Koontz hat die Aktualisierung seiner alten Romane (die sich auf diese Weise ein weiteres Mal gut vermarkten lassen) fast zu einem Markenzeichen erhoben. Mit dieser Praxis bewegt er sich im Einklang mit dem Zeitgeist, für den die Grenzen zwischen Original, Urversion, Neufassung oder Remake eines Werkes sich immer rascher auflösen. Was noch irgendwie verständlich ist, wenn zum Beispiel zwischen „Prison of Ice“ von 1976 und dem Relaunch „Icebound“ von 1995 (dt. „Eisberg“) die bösen Sowjet-Kommunisten als von der Geschichte inzwischen aus dem Rennen geworfene Bösewichter weichen mussten, bleibt hier unklar: Stichproben machen deutlich, dass es zwischen „Unheil über der Stadt“ von 1983 und „Phantom“ von 1998 so gut wie keine Unterschiede gibt.

Was hat Koontz hier also „bearbeitet“? Hier und da hat er die Geldausgaben seiner Protagonisten der Inflation angepasst, die Rechenleistung der eingesetzten Computer-Software oder den Gentechno-Bubble auf den neuesten Stand gebracht. Aber einschneidende Veränderungen sind unterblieben, was sein Werk weiterhin recht anachronistisch wirken lässt – was ist von einer Geschichte zu halten, die jetzt angeblich auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert spielt, in der aber an keiner Stelle ein Handy auftaucht? Kein Wunder, denn in diesem Fall müsste die Phantomjagd ganz anders aussehen!

Genauso seltsam ist das Mysterium der doppelten Übersetzung. Während 1986 Wolfgang Crass „Phantoms“ ins Deutsche übertrug (und dabei gute Arbeit leistete), löste ihn nun Ulrike Laszlo ab. Angeblich stützte sie sich auf Koontz‘ Neufassung, doch auch hier stellt sich bei der Nachprüfung heraus, dass die neue Übersetzung der alten praktisch Wort für Wort folgt! Auch Kürzungen oder Auslassungen lassen sich im alten Text nicht feststellen.

Dean Koontz besitzt eine offizielle Website, die – wie es einem Erfolgsautor seines Kalibers zukommt – von seinem Hausverlag opulent gestaltet und mit Inhalten (und Werbung) bestückt wird: http://www.randomhouse.com/features/koontz. In Deutschland erweist das Publikum dem Meister seine Referenz; hier ist die wohl beste (wenn auch nicht unbedingt g u t e …) Seite wohl http://www.deankoontz.de.

Richard Morgan – Das Unsterblichkeitsprogramm

Vermutlich würde es uns geringfügig irritieren, wenn ein mehr als dreihundert Jahre alter Milliardär unsere Dienste als Privatschnüffler in Anspruch nähme, um dessen eigene Ermordung zu untersuchen – jemand hat ihm den Schädel mit einem Energieblaster weggepustet. Dass wir selbst gerade erst erschossen wurden, ließe die Situation dabei nicht gerade unkomplizierter erscheinen.

Was hier auf den ersten Blick ausgesprochen absurd wirkt, ist in einer gut vierhundert Jahre in der Zukunft liegenden Wirklichkeit weit weniger anormal, als man zunächst glauben möchte. In der Welt von Richard Morgans Debütroman „Das Unsterblichkeitsprogramm“ (Originaltitel: „Altered Carbon“, 2002) hat die Menschheit eine nahezu vollständige Kontrolle über Informationen und benutzt dieses Wissen unter anderem dazu, sämtliche Hirn-Inhalte zu extrahieren, zu speichern und bei Bedarf zurückzukopieren – in den meisten Fällen allerdings in einen anderen Menschenkörper. Diese sterblichen Hüllen sind daher auch zu |Sleeves| degradiert, sie werden getragen und gewechselt wie Anzüge, können gemietet, verkauft und eingelagert werden und haben zumeist höchstens nostalgischen und emotionalen Wert für den jeweiligen Träger.

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King, Stephen – Danse Macabre – Die Welt des Horrors

Im Jahre 1978 feierte Stephen King just seinen Durchbruch als Schriftsteller. Zu diesem Zeitpunkt konnte er noch nicht ahnen, welches Ausmaß sein Ruhm und vor allem die Verkaufszahlen seiner Bücher in den folgenden Jahren erreichen würden. Der junge King hatte deshalb ein offenes Ohr für seinen damaligen Verleger, der ihm, dem besten, aber noch jungen Pferd in seinem Autorenstall, einen Vorschlag machte: Er sollte eine Abhandlung über das Unheimliche in seinem gesamten Spektrum – Bücher, Filme, Fernsehen etc. – schreiben!

So absurd war der Gedanke nicht. Zum einen sollte das spätere „Danse Macabre“ kein „richtiges“ Fachbuch werden, das akademischen Ansprüchen genügen musste, sondern durfte populärwissenschaftlich und allgemeinverständlich gehalten werden. Zum anderen war Stephen King durchaus prädestiniert für eine solche Aufgabe. Seit frühester Jugend liebte er den unterhaltsamen Horror in allen seinen Spielarten. Mit der gesunden Neugier des wahrhaft Wissbegierigen hatte er Berührungsängste vor „Schund“ und Trash gar nicht erst aufkommen lassen: Der junge Stephen sah, las und hörte alles mit derselben Neugier. Gleichzeitig begann er bald, sich Gedanken über das zu machen, was ihm so große Freude bereitete. Auf dem College lernte King schließlich, wie man Fakten sammelt, auswertet und präsentiert; die Fans wissen selbstverständlich, dass der Meister seine berufliche Laufbahn als Universitätsdozent begann. Dass er damit ziemlich erfolglos blieb, war wohl nicht seine Schuld. So schlecht kann er aber nicht gewesen sein, wenn man „Danse Macabre“ als Maßstab für den Seminarleiter King werten möchte.

Ein „Insider“, der seine Arbeit reflektieren, in ihren thematischen Gesamtzusammenhang stellen und das Ergebnis auch noch verständlich ausdrücken kann, ist ein Geschenk für jene, die sich über diese Arbeit informieren möchten. „Danse Macabre“ ist weit mehr als der Beweis für Kings immenses Wissen über die Welt und das Wesen des Horrors, sondern darüber hinaus ein Sachbuch, das sich trotz seines eindrucksvollen Umfangs genauso spannend wie ein King-Roman lesen lässt. Kein Wunder: Weil ihn das Medium Sachbuch der Verpflichtung zu akademischer Sachlichkeit enthebt, kann King es sich leisten, seine Ausführungen mit autobiografischen Einsprengseln anzureichern.

Wo viel Licht, da viel Schatten, wie es so schön heißt … So lehrreich und unterhaltsam Kings Plaudereien über die Welt des Unheimlichen sich lesen – eine grundsätzliche Frage bleibt nach der Lektüre unbeantwortet: Welchen Sinn macht „Danse Macabre“ heute eigentlich noch? Entstanden ist dieses Buch im Jahre 1981. Seit dem „Redaktionsschluss“ hat sich der Inhalt nicht mehr geändert. Kings allgemeingültige Ausführungen über das Wesen des Horrors bleiben davon weitgehend unberührt. Doch zwei Jahrzehnte sind eine kleine Ewigkeit, wenn sie in der populärkulturellen Welt verstreichen.

Zudem kannte schon 1988, als die erste Erstausgabe von „Danse Macabre“ erschien (damals im |Heyne|-Verlag), das deutsche Publikum die meisten Filme, auf die King sich bezieht, höchstens vom Hörensagen. Dank der Freiwilligen Selbstkontrolle und ähnlicher Einrichtungen (die vorgeben, keine Zensur auszuüben, die es ja offiziell in diesem unseren Lande nicht mehr gibt …) wird sich daran auch nichts ändern.

Noch einmal viele Jahre später sind Kings Referenzwerke, die ihm der Verdeutlichung seiner Aussagen dienen, endgültig im Museum (bzw. auf der Müllkippe) für Filmgeschichte gelandet. Schlimmer noch: Die Zeit ist nicht stehen geblieben. Ob gedruckt oder gedreht – die Historie des Horrors hat sich seit 1981 mehr als nur entwickelt, sondern ist durchaus ganz neue Wege gegangen. Darüber hinaus haben viele Schlüsse, die King einst guten Gewissens und nicht selten genial gezogen hat, in der Zwischenzeit eine Neubewertung erfahren.

Es ist müßig darüber zu spekulieren, wieso ein hoffnungslos veraltetes Buch in neuem Gewande, aber inhaltlich völlig unverändert neu aufgelegt wird: Sein Autor heißt Stephen King, und der gehört heute genauso zu den Stars der Horrorszene wie 1981. Die seither (bzw. seit der deutschen Ausgabe von 1988) herangewachsenen Fan-Generationen werden die Gelegenheit, neue, d. h. bisher nie gelesene Worte aus der Feder des Meisters zu lesen, begeistert wahrnehmen. Erst während der Lektüre wundert sich der oder die Leser/in womöglich darüber, dass gleich zwei Dezennien (Freddy! Jason! Michael Myers 2ff.!) durch völlig Abwesenheit glänzen. Bedauerlich, denn was hätte King wohl zur „Scream“-Trilogie, zum „Blair Witch“-Phänomen, usw. zu sagen – die Liste der wichtigen oder „nur“ interessanten Etappen auf dem Weg zum Horror von Heute ist schier endlos.

Leider ist Stephen King schon lange dem Stadium entwachsen, in dem man ihn mit Geld oder sanfter Überredung zu literarischem Schaffen veranlassen könnte – in unserem Fall ist damit natürlich die vollständige Überarbeitung und Ergänzung von „Danse Macabre“ gemeint. So wird vor allem ein nostalgisches Interesse befriedigt, wobei diese Zielgruppe womöglich eher schmal bleibt.

Stephen King – Christine

Das geschieht:

Es ist Liebe auf den ersten Blick, als Arnie Cunningham, gerade 17 geworden, Christine begegnet – einem feuerrot-weiß lackierten, haifischflossengezierten Plymouth Fury des Baujahres 1958. In Libertyville, einem Städtchen im US-Staat Maine, ist Arnie, der intelligent aber keine Sportskanone ist sowie von heftiger Akne heimgesucht wird, der Prügelknabe seiner Highschool. Nur die Freundschaft zum baumlangen Football-Spieler Dennis Guilder verhindert, dass die Jugend von Libertyville den Außenseiter endgültig ausradiert.

Niemand weiß, dass Arnie hinter einer Maske aus Gleichmut sehr wohl seinen Groll nährt und Rachepläne schmiedet. Das macht sich Christine zunutze, die weniger ein Auto, sondern eine Metall gewordene und von einem bösen Geist beseelte Todesmaschine ist und sich als Instrument der Vergeltung anbietet, die Arnie in Libertyville üben will. Stephen King – Christine weiterlesen

Fantasy als Flucht und Fluch

Im Zentrum der Kritiken an Peter Jacksons „Herr der Ringe III“ stand nicht, dass es gleich ganze sechs regenbogenfarbene Enden gab. Und kritisiert wurde auch nicht, dass das Pathos von Freundschaft und Tapferkeit, Macht und Versuchung fast zu schwer auf den Schultern der Protagonisten lastete. Nein, schlecht abfinden konnte man sich damit, dass es eben der letzte Teil war. Das Ende. Wenn es um den Abschied von altvertrauten Anderswelten geht, spricht selbst aus dem hartgesottenen Kritiker der Fantasy-Fan. Und der gibt sich mit einem läppischen Dreiteiler nicht zufrieden. Der ärgste Feind ist nicht Sauron. Es ist das Licht im Kinosaal, das den Träumer wieder in den profanen Alltag zurückholt.

Der Fantasy-Fan sehnt sich nach dem Vertrauten und dem Fremden gleichermaßen. Er möchte eine Welt, die anders ist, als die, in der er lebt. Eine Alternativwelt, in der Gut und Böse klar getrennt sind, in der noch Raum für Magie, Abenteuer und wahre Freundschaft ist. Und in der ein Held noch ein Held sein kann. Denn jeder Held ist bekanntlich nur so gut wie das Böse, gegen das er ankämpft, böse ist. Doch gleichzeitig sollen diese Welten mit der Zeit so vertraut werden, dass man sich in ihnen ebenso bewegen kann wie in der eigenen. Lieber eine Geschichte in zehn Bänden als zehn neue Bücher.

_Die Undurchschaubarkeit der Welt als Genre_

Mit Hilfe von Filmen und Büchern begibt sich der Fan ins Phantastische, um für einen Moment den Altlasten der Aufklärung zu entkommen. Um einer Realität zu entfliehen, die dem Menschen zwar eine bis ins Detail begreifbare Welt liefert, aber es ihm nahezu unmöglich macht, diese Detailfülle noch zu durchschauen. Das ist nicht nur die Hauptantriebskraft von Fantasy-Literatur, es ist auch der Generalvorwurf, der ihr gemacht wird: Lesen als purer Eskapismus, als Ausstieg aus einer allzu komplex und unverständlich gewordenen Realität.

Doch gerade der in der Fantasy-Literatur thematisierte Grundkonflikt, der Zusammenstoß zweier unvereinbarer Realitätsebenen, ist nicht als reiner Fluchtreflex abzutun. Er macht eben diese Welt-Bewusstseinskrise zum Ausgangspunkt. Fantasy erhebt die Undurchschaubarkeit der Welt wie kaum ein anderes Genre zum literarischen Prinzip. Damit reiht sie sich in die Kette der phantastischen Literatur und befriedigt das unerfüllte Bedürfnis nach Unerklärlichkeit in einer Welt, die dem Leser als erklärlich dargelegt wird, die er aber dennoch nicht versteht.

Tolkiens Mittelerde steht nicht ohne Grund im Zentrum des Fantasy-Booms. Seit Erscheinen des Epos muss sich jeder Fantasy-Autor an der gigantischen Saga messen lassen. Dabei wurde das Werk zunächst wenig beachtet und erst in den 1960er Jahren in den USA zum Bestseller und zum Wegweiser für die anspruchsvolle High-Fantasy. Tolkiens Werk machte aus Fantasy ein Genre, auch wenn bereits William Morris 1896 mit seinen Romanen wie „Die Quelle am Ende der Welt“ das Fundament für High-Fantasy gelegt hatte. Morris war der Erste, der eine gänzlich fiktive mittelalterliche Welt mit eigener Geographie und Geschichte als Folie für seine Heldengeschichten entwarf.

Mit Tolkiens Entdeckung kam der große Aufbruch in das viel versprechende Terrain der Alternativwelten. Fantasythemen hatten von nun an Hochkonjunktur und dienten als Aussteigerlektüre einer studentenbewegten Zeit, die in Mittelerde eine willkommene Gegenwelt zu Vietnam-Krieg und Rassenkonflikten gefunden hatte.

_Sturm auf den Thron_

Seitdem haben viele versucht, den Thron zu stürmen und in den Olymp der High-Fantasy aufzusteigen. Doch nach echten Weltengründern mussten die Fans lange vergeblich suchen. Viele Geschichten kranken daran, dass sie von Tolkien-Epigonen verfasst sind, aber nichts wirklich Neues erschaffen. Fast ein halbes Jahrhundert hat es gedauert, bis ein Autor mit einer selbstständigen Weltschöpfungsidee aufwarten und den hungrigen Lesern ein eigenständiges Universum präsentieren konnte: „Otherland“ von Tad Williams. Ein 3650 Seiten starkes Universum, das sich in kein bekanntes Schema pressen lässt, das seinem Autor aber dennoch, zwischen Fantasy, Science-Fiction, Cyberpunk, Abenteuerroman, Märchen und Krimi changierend, den Titel |Tolkien des 21. Jahrhunderts| von der Literaturkritik eingebracht hat.

Natürlich hat Williams in seiner „Otherland“-Tetralogie das Genre nicht neu erfunden. Auch seine Geschichte basiert auf dem Gut-Böse-Schema, auch seine Helden machen sich auf die Suche nach dem „Gral“, der die Welt vor dem Untergang bewahren soll. Aber Williams Tetralogie ist vor allem deshalb ein Novum, weil er das Basismaterial des Genres auf die Verhältnisse der Multimediawelt des 21. Jahrhunderts hochrechnet. Viele Fantasy-Autoren versuchen, ihre Leser in den Alternativwelten vor den Bedrohungen der Industrialisierung, der Preisgabe des Unerklärlichen, zu bewahren. Williams spitzt die Bedrohung der Technik zu, indem er sie eng an das Urvertraute von mehreren Jahrhunderten Literaturgeschichte koppelt. Er lädt seine Anleihen aus Mythologie und Weltgeschichte mit der Technologie von heute auf und erschafft so eine prozessorengesteuerte Gegenwelt, die den Leser ebenso absorbiert und erschreckt wie die Protagonisten.

_Die Magie der Technik_

Im Zentrum der Geschichte steht eine Gruppe multinationaler Helden, die im Internet einen geheimen Bereich entdecken, dessen Kunstwelten wie real erscheinen und dennoch die Grenzen der Wirklichkeit sprengen. Das „Otherland“ ist ein elektronisches multidimensionales Universum, errichtet von einer mächtigen Organisation der reichsten Männer der Welt. Diese Elite der Gralsbruderschaft ist drauf und dran, den nächsten evolutionären Schritt zu wagen – den Übergriff der VR (Virtual Reality) auf das RL (Real Life). „Otherland“ verheißt den Gralsbrüdern, was bereits die Cyber-Gnostiker düster prophezeiten: das ewige Leben. Das menschliche Gehirn wird gescannt, aus dem Gefängnis des Körpers befreit und als Sicherungskopie im elektronischen Netzwerk vor Alter und Krankheit bewahrt. Der ultimative Logout aus dem RL und der Eintritt in die VR. Doch die künstliche Intelligenz des Betriebssystems, „des Anderen“, verwendet als Ressourcen einige als Biochips missbrauchte Kinder, die in einem mysteriösen Koma auf den Intensivstationen der nicht-virtuellen Welt liegen. Um hinter die Ursachen dieser um sich greifenden Kinderkrankheit zu kommen, ist die bunt gemischte Heldentruppe ins mysteriöse Innere von „Otherland“ aufgebrochen, wo sie sich durch Fantasy-Landschaften kämpfen müssen, die gleichermaßen kühnsten Phantasien wie finstersten Albträumen entsprungen sind.

So wie Walter Benjamin gefordert hat, es sei jeweils die Aufgabe der Kindheit, eine „neue Welt in den Symbolraum einzubringen“, liegt Williams’ Leistung darin, die altbekannten Grenzen des Genres Fantasy mit den Möglichkeiten der neuen Medien zu erweitern, mit Hilfe der technologischen Ära eine neue Art von Magie und Unerklärlichkeit zu importieren. Damit zeigt er, wie sich literarische und mystische Vorbilder nicht nur variieren, sondern durch die Einbettung in einen veränderten Kontext auch zu neuen Erkenntnissen führen lassen – High-Fantasy als Wirklichkeit eines Grenzübertritts, der nicht nur trivial-eskapistisch, sondern erkenntnisfördernd ist. Damit entzieht sich „Otherland“ dem allgemeinen Vorwurf, Fantasy-Literatur sei stets Fluchtliteratur.

Das heißt nicht, dass der Leser nach der letzten Seite das Buch aus der Hand legt und freudig ins Hier und Jetzt zurückkehrt. Der Abschied tut weh. Williams selbst sagt: „Wenn die Figuren gestorben sind, sind sie gestorben. Wenn sie noch leben, leben sie. Es ist zu spät, etwas zu ändern. … Aber das Ende einer solchen mehrbändigen und vielschichtigen Odyssee ist nie wirklich befriedigend – einfach weil es kein sauberes, glattes Ende gibt.“ Kein Weltenbauer gibt seine Schöpfung gern aus der Hand. Deshalb gibt es wohl bald den Film zum Buch, das Computerspiel zum Film und die Actionfiguren zum Anfassen. A never ending story.

Tad Williams: Otherland. Stadt der goldenen Schatten. Band I. Klett-Cotta, Stuttgart 1998, 26,50 €.
Tad Williams: Fluss aus blauem Feuer. Band II. Klett-Cotta, Stuttgart 1999, 26,50 €.
Tad Williams: Berg aus schwarzem Glas. Band III. Klett-Cotta, Stuttgart 2000, 26,50 €.
Tad Williams: Meer des silbernen Lichts. Band IV. Klett-Cotta, Stuttgart 2002, 26,50 €.

Wer’s in preiswerterer Ausstattung mag:

Tad Williams
[Otherland 1-4]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3608934251/powermetalde-21
Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring
2004, 4 Bände, ca. 3655 Seiten, broschiert
(Orig.: Otherland, Daw Books, New York)
EUR [D] 59,90
sFr 100,00
ISBN: 3-608-93425-1
erschien am 1. September 2004

_Wiebke Eymess_
|Dieser Essay wurde mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung des Magazins für Literaturkritik und literarische Öffentlichkeit, [_lit04.de_,]http://www.lit04.de/ veröffentlicht.
Es handelt sich hierbei um eine Kooperation des Instituts für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin und des Studiengangs für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus der Universität Hildesheim; die Herausgeber sind Stephan Porombka (Hildesheim) und Steffen Martus (Berlin).|

Mamczak, Sascha / Jeschke, Wolfgang (Hrsg.) – Science Fiction Jahr 2004, Das

Im neunzehnten Jahr seiner unverwüstlichen Existenz präsentiert sich |Heynes| „Science Fiction Jahr“ [Der Lektor zuckt geringfügig zusammen.] nicht nur äußerlich im neuen, schmucken Gewand, sondern inhaltlich geordnet. Elf Großkapitel beinhalten die trotzdem meist bekannten Kategorien. Der Auftakt ist freilich spezifisch: Das „SF Jahr 2004“ hat nun einen Themenschwerpunkt und liefert auf mehr als 250 seiner 1047 Seiten einen Abriss der Geschichte eines heiß geliebten und viel geschmähten Genres: der Space Opera.

„Die neue Space Opera“: Nie flogen sie erfolgreicher, die Riesenraumschiffe der Zukunft; sie durchmessen Raum und Zeit und durchqueren galaktische Imperien, deren menschliche oder außerirdische Bewohner von recht gegenwärtigen, aber ins Gigantische übersteigerten Alltagsproblemen umgetrieben werden. Wieso dies einst so gern gelesen ward, eine gewisse Zeit als literarisch (und auch sonst) verwerflich galt und heute wieder ganz im Trend liegt, erläutern uns Fachleute aus dem In- und Ausland mittels einschlägiger Exempel.

So informiert David G. Hartwell über den erstaunlichen Paradigmenwandel, den die Space Opera zwischen ihren primitiven Anfängen und ihrem Aufstieg zur SF-Literatur der Gegenwart erfuhr. John Klute, berühmter SF-Kritiker und inzwischen selbst Autor, verwirrt mit einem wenig aussagekräftigen Artikel, in den sich kräftige Eigenwerbung für sein Werk mischt. Thomas M. Disch präsentiert eine wunderbare Zeitreise in die „Prähistorie“ der Science-Fiction und beleuchtet das Werk der Pioniere Jules Verne und H. G. Wells aus bisher unbekannten Winkeln, wobei sich einige Überraschungen und Neubewertungen ergeben, die u. a. den Franzosen vom Ruch des chronisch kritiklosen Fortschrittsanbeters befreien. Eric Simon arbeitet ein weiteres Kapitel der lange hinter dem Eisernen Vorhang verborgenen „Ost-SF“ auf und präsentiert mit Sergej Snegow den prominentesten (und wohl auch einzigen) Space-Opera-Verfasser der seligen UdSSR.

Natürlich findet daneben die aktuelle Space-Opera-Szene ausführlich Berücksichtigung. Sie wird am Beispiel ihrer derzeit prominentesten Vertreter (Peter F. Hamilton, Dan Simmons, Vernon Vinge, Ken MacLeod, Iain Banks und David Weber) aufgerollt. Dazu gesellt sich (verdient) der wieder in die |Heyne|-Familie aufgenommene (und folglich verstärkt zu vermarktende) deutsche Repräsentant: unser Perry Rhodan, dessen Abenteuer die Themen der modernen Space Opera präziser aufgreifen als das die Kritik einem „Groschenheft- Helden“ zugestehen mochte.

Abgeschlossen wird der „Space Opera“-Komplex durch einen umfangreichen Artikel von Uwe Neuhold, der die Technik der Weltraumspektakel auf ihren Realitätsbezug abklopft. Das schwankt zwischen berechtigter Skepsis (Beamen, Subraum, Zeitmaschine) und der sympathisch naiven Hoffnung auf eine freundliche, an Forschung, Geld oder Wundern reichere Zukunft.

„Bücher und Autoren“: Hier weitet sich die thematische Bandbreite über die „Space Opera“ hinaus und arbeitet einige Kapitel der SF-Historie auf. Michael K. Iwoleit beginnt unter dem Titel „Mythen der nahen Zukunft“ mit einer Betrachtung der „Muster und Quellen im Werk J. G. Ballards“, der seit jeher von der Kritik mehr geschätzt wird als von den Lesern, die von diesem Verfasser intellektuell deutlich stärker gefordert (und belohnt) werden als von (allzu) vielen anderen Vertretern des Genres. Dass auch heute SF- Schriftsteller gibt, deren Werk anspruchsvoll ist, ohne damit das Publikum abzuschrecken, belegt Ralf Reiter in seinem Text „Auf den Schultern von Riesen“ über die Romane von China Miéville, einem neuen Star am SF-Himmel.

Kurios mutet Linus Hausers Erinnerung an eine merkwürdige Episode der Science-Fiction an. „Schweden im Weltall“ befasst sich mit den Zukunftsfantasien des „Jungdeutschen Ordens auf dem Planeten Värnimöki“. Wir erfahren quasi nebenbei, dass sich „völkische“ Tendenzen auch in der doch scheinbar dem Zukünftig-Irrealen verhafteten SF-Szene der frühen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts feststellen lassen. Gleitend ist der Übergang zu nationalsozialistisch-faschistischem Gedankengut: Es gab (und gibt) eben keine Nischen, die SF eignet sich als Instrument politischer und sozialer Propaganda so gut wie jede andere Sparte der Literatur.

An zwei Pioniere des Phantastischen erinnern Karlheinz Steinmüller und Erik Simon. „Der erste letzte Mensch“ ist ein Werk der ganz frühen Science-Fiction, das anders als Mary Shelleys „Frankenstein“ unverdient in Vergessenheit geriet. Steinmüller geht der Lebensgeschichte seines Verfassers Cousin de Grainville (1746-1805) nach und rekonstruiert den Weg eines Klassikers, der jetzt wieder in deutscher Übersetzung greifbar ist (wo er – da sollte man Realist bleiben – weiterhin ein Nischendasein fristen wird).

Erik Simon lässt Leben und Werk des russischen SF-Autors Igor Moshejkos Revue passieren, der unter dem Pseudonym Kir Bulytschow schrieb. Für den westlichen Leser, der diesseits des „Eisernen Vorhangs“ aufwuchs, sind die spezifischen Schwierigkeiten, mit denen Schriftsteller in einem Regierungssystem zu kämpfen hatten, das auch als „Kulturdiktatur“ bezeichnet werden könnte, schwer oder gar nicht verständlich. Insofern ist Simons Beitrag auch wertvoll als Information, die über die SF hinausgeht.

Gundula Sell schließt dieses Großkapitel des „SF Jahrs“ mit dem Aufsatz „Bücher statt Plüschtiere! Die neue Fantasy im Zeichen der Globalisierung“. Es geht um Harry Potter, Artemis Fowl und weitere Neustars des Genres, das durch pubertäts- und sonstwie realitätsgeplagte Junghelden irgendwie an Wert gewonnen hat, auch wenn der Autorin nicht recht gelingen will, uns zu sagen wie, so dass sie sich im Finale in den Gemeinplatz von der „guten“ Literatur flüchtet, die uns einerseits zum (Nach-)Denken bringt und uns andererseits an „künftige Bruchstellen“ des Alltags bringt. Aha … (Gundula Sell, Ex-Bürgerin der DDR, ist es übrigens auch, die gleich auf zwei Seiten über ihre Befindlichkeit als Konsumgeisel des überheblich-ungastlichen Westens Auskunft gibt, bevor sie mit dem eigentlichen Beitrag anhebt – das „Jahrbuch“ bietet schon immer Raum auch für persönlichen Reminiszenzen.)

Die beiden Interviews des „SF Jahrs 2004“ bleiben dieses Mal deutschen SF-Schaffenden vorbehalten. Andreas Eschbach berichtet anlässlich seines neuen Bestsellers „Der Letzte seiner Art“ von seinem oft turbulenten Alltag als Schriftsteller und seinen Erfahrungen mit Verlagen, Film und Fernsehen. Robert Feldhoff gewährt Einblick in das Räderwerk der größten SF-Serie der Welt: „Perry Rhodan“ hat im 21. Jahrhundert teilweise unauffällige, teilweise gravierende Veränderungen und Überarbeitungen hinter sich, über deren Gründe hier Näheres zu erfahren ist.

Nach der „Fiction“ geht das „Jahrbuch“ nun zur „Science“ über: 1993 erregte Vernor Vinge mit seiner Theorie der „technologischen Singularität“ gewaltiges Aufsehen. Ihre „Geburt“ erfolgt seiner Ansicht nach zu dem Zeitpunkt, an dem die „KI“ (die „Künstliche Intelligenz“) – ein alter, aber allmählich greifbar werdender Traum – das Stadium erreicht, da sie der menschlichen gleichkommt und sie schließlich übertrifft, was auf einen Schlag die bisher bekannten Regeln der menschlichen Entwicklung außer Kraft setzen würde. Vinge zieht nach zehn Jahren Bilanz und kommt zu dem Schluss, dass er eigentlich Recht hatte: Besagten Quantensprung erwartet er weiterhin circa 2030, und er ist guten Mutes, dass die KI der Menschheit einen gewaltigen technologischen und geistigen Fortschritt bescheren wird.

Es fällt auf, dass Vinge sehr „US-amerikanisch“ argumentiert, d. h. in seiner Singularität recht naiv vor allem einen Segen sieht. Sein Landsmann Alex Steffen unternimmt es, den |advocatus diaboli| (oder Spielverderber) zu mimen bzw. gewisse Aspekte anzusprechen, die Vinge einfach ausblendet, weil sie seine Vision beeinträchtigen würden. Unter dem Titel „Was passiert, wenn die Technik den Rahmen sprengt?“ stellt Steffen vor allem die ketzerische, aber überaus kluge Frage, wer denn diese schöne neue Welt bezahlen wird oder kann. Falls die Schere zwischen künstlich erschlauter Elite und armem Pöbel gar zu deutlich klafft, könnte dies die Quelle für einen Klassenkrieg der futuristischen Art werden.

Wolfgang Neuhaus zeichnet in „Eine kurze Zukunftsgeschichte der Technologie“ Leben und Werk des Freeman Dyson nach, dem das seltene Kunststück gelang, als Wissenschaftler „Kultstatus“ à la Einstein oder Hawkins zu erlangen. Neuhaus stellt einen breitfächrig gebildeten, unkonventionellen Denker vor, der sich zurückhaltend Gedanken über die Zukunft der Menschheit in und außerhalb ihrer Welt macht, sich dabei durchaus irrt und bereit ist dies zuzugeben.

Michael K. Iwoleit macht uns mit einer bilderstürmerischen Gruppe von Computerwissenschaftlern bekannt, die das Wesen der Welt entdeckt zu haben glauben: „Das Matrix-Enigma“ ist der etwas boshafte Titel dieses Beitrags. Er spielt auf die gleichnamige Schwurbel-SF-Filmtrilogie an, welche die Welt, in der wir leben, als rechnergenerierte Illusion“entlarvt“. Dem ist tatsächlich so, meinen besagte Forscher: Auch wenn keine durchgeknallten Computerviren die Menschenpuppen tanzen lassen, ist das Universum ihrer Meinung nach ein kosmischer Rechner, dessen Bausteine sich letztlich auf ein Grundelement reduzieren lassen: die Information. Im Verbund bilden diese Informationen die Bestandteile des Universums. Zu denen gehören auch wir Menschen, so dass es sein könnte, dass „Gott“ ein Überwesen ist, in dessen Notebook ein Programm namens „Universum-Simulation“ läuft …

Den längsten Beitrag des „Jahrbuchs“ liefert Rüdiger Vaas mit „Die ferne Zukunft des Lebens im All“. Ein bisschen knapper hätte es auch getan (zumal der Verfasser vor allem eigene Beiträge aus früheren Jahren „recycelt“), aber es braucht zugegebenermaßen Raum, wenn der Autor mit Jahrmillionen, dann Milliarden und schließlich mit Zahlen jongliert, an deren Ziffernschwanz sich ein Elefant Gassi führen ließe. Was geschieht mit der Erde, dem Sonnensystem, dem Universum – und mit uns Menschen? Gehen wir irgendwann mit unserem Heimatplaneten unter? Nehmen wir ihn ins Schlepptau und suchen uns einen neuen Ankerplatz, wenn unsere Sonne dereinst platzt? Oder bauen wir uns einen neuen Stern? Der wissenschaftlichen Fantasie scheint da keine Grenze gesetzt zu sein. Vaas listet übersichtlich die seltsamsten Theorien auf, die vor allem eines beweisen: Der Mensch ist erstaunlicher Denkleistungen fähig, wenn man ihn denn lässt und nicht endgültig durch globalisierte Manager-Dummköpfe und Kosten-Nutzen-Sparschweine ersetzt.

Ebenfalls Rüdiger Vaas schließt das „Science“-Kapitel mit einer kundigen Vorstellung gelungener Wissenschaftsbücher des Jahres 2003 ab. Nun wird es unterhaltsam und multimedial:

„Film“: Aufgelistet und kommentiert werden Kinofilme und TV-Premieren des Jahres 2003, hinzu kommen (Fernseh-)Wiederaufführungen klassischer Lichtspiele – dies sogar doppelt, denn es dürfen sich gleich zwei Spezialisten (bzw. ein Einzelkritiker und ein Kritikerduo) äußern. Sie kommen zu dem leider gut begründbaren Schluss, dass 2003 (nicht nur) dem Freund des phantastischen Films zum Jubel wenig Anlass gab. Lahme Fortsetzungen und missglückte Comic-Adaptionen beherrschten vor allem das auf Instant-Blockbuster fixierte Hollywood, dem entsprechende Flopp-Quittungen an den Kinokassen ausgestellt wurden.

Warum dieses Elend im Jahrbuch gleich zweifach kommentiert wird, bleibt schleierhaft, zumal sich die Kritiker in ihren Urteilen recht einig sind. Doch man ist rasch froh über die Texte von Lutz Gräfe und Jürgen Wimmer, da ihr Kollege Peter M. Gaschler sich offenbar im freien Assoziieren übt und seine Leser mit einer Flut stakkatohafter Satzfragmente zu ertränken droht, in der ponkiehaft nachgedrechselte Wortspielchen treiben. W a s er zu sagen hat, ist ihm offensichtlich weniger wichtig als das W i e – dies mit dem Ergebnis, dass sich wohl primär der Autor selbst an seinem Geistreichtum berauscht haben dürfte.

Das Kapitel „Hörspiel“ listet und wertet die aufs Ohr zielenden phantastischen Beiträge eines SF-Jahres und ist damit dieses Mal rasch fertig, da sich die Zahl der einschlägigen Spiele sowie ihre Qualität in einem beklagenswert überschaubaren Rahmen hält.

„Comic“: Die „Siebte Kunst“ ist bekanntlich aus dem Medium SF nicht wegzudenken. Helmut Kaspar blickt unter dem Titel „Der Weltraumhumorserienwettlauf – ost-west-deutsche Sektion“ auf ein Kapitel Comic-Geschichte zurück, das man in diesem Umfeld nicht erwartet hätte. Aber es gab ihn: Humor in Deutschland-West und Deutschland-Ost, und das sogar im ansonsten auch mit dem Zeichenstift geführten „Kalten Krieg“, der auch im Weltraum erbittert geführt wurde.

„Computer“: Gespielt wurde auch 2003, was die Daumen hergaben. Eine ganze Reihe neuer Games für PC und Konsole/n kamen auf den Markt, die hier jeweils kurz vorgestellt und auf ihren Spielspaß sowie ihre Funktionstüchtigkeit überprüft werden. Kritik kommt dabei nicht zu kurz, auch wenn sich die Auswahl vernünftigerweise auf die besser gelungenen Spiele beschränkt. (Diese lassen sich übrigens in die Kategorien „Ballern“, „Taktieren“ und „Taktieren mit Ballern“ einteilen.) Hinzu kommt dank des Fortschritts immer stärker die kreative Nutzung der Technik, die auch dem Privatmann die Herstellung eigener „Spielfilme“ ermöglicht, welche inhaltlich und formal nicht selten Erstaunliches zu bieten haben.

„Rezensionen“: Aus dem SF-Repertoire deutscher Verlage werden einige für repräsentativ gehaltene Titel ausgewählt und vorgestellt, was den Verfassern Gelegenheit zu ausführlichen Exkursen gibt, die über das jeweilige Buch hinaus sekundärliterarische Einblicke in die aktuelle Science-Fiction-Szene bieten. Besondere Berücksichtigung findet dabei die SF von jenseits des „Eisernen Vorhangs“, deren Geschichte für den westlichen Interessenten noch manchen weißen Flecken ausweist.

Fachkundige Rezensionen liest der SF-Fan gern, entgeht ihm doch in der zunehmend zersplitterten deutschen Verlagswelt leicht der eine oder andere interessante Titel. Das (bekannte) Problem ist dabei: Wie objektiv ist der Rezensent? Er (oder sie) ist es im Grunde nie, was ja auch einen großen Reiz ausmacht. Schlimm wird es, wenn der Kritiker sich an den eigenen Worten berauscht oder gar einen Feldzug für oder gegen ein Einzelwerk, einen Autoren oder ein Genre vom Zaun bricht. So weit kommt es im „SF Jahr“ nicht. Dennoch wirft die Auswahl der besprochenen Titel Ratlosigkeit auf – noch immer scheint didaktisch begründbare Unleserlichkeit als Qualitätsmerkmal zu gelten. Die „großen“ |Heyne|-Titel sind natürlich dabei – so viel Eigenwerbung muss sein, zumal sie begründet ist: Zwar nur mehr selten, aber immer noch bringt |Heyne| richtig gute SF, d. h. keine Simpel-Module breit getretener Endlos-Zyklen heraus.

„Marktberichte“: Die SF-Szene wird jeweils in den Regionen Deutschland, USA und Großbritannien in Zahl, Tabelle (unbedingt Lupe bereit legen!) und Wort vorgestellt. Knapp aber umfassend werden anhand der Aktivitäten der Verlage (Bücher, Hefte, Magazine) die relevanten Marktentwicklungen in 2003 nachgezeichnet, die wichtigsten Autoren und ihre Werke genannt. Weiterhin gibt es einen Ausblick auf kommende Attraktionen (von denen die meisten unübersetzt bleiben werden). Eine Würdigung der im vergangenen SF-Jahr verstorbenen Genre-Schriftsteller schließt jedes der drei Unterkapitel ab.

Den Schlusspunkt des „SF Jahrs 2004“ bildet wie immer die „Bibliografie“ der Anno 2003 im |Heyne|-Verlag erschienenen, der Phantastik zuzurechnenden Titel, geordnet in ihrem ersten Teil nach Reihen und Nummern, im zweiten nach Autoren.

Damit ist es vollbracht; das SF-Feld ist abgeräumt und kann für das kommende Jahr neu bestellt werden. Das „Jahrbuch“ wird uns hoffentlich auch 2005 wieder beschert; man hat sich an dieses segensreiche, weil umfassende, kompetent informierende Monumentalwerk gewöhnt.

Wobei sich dieser Segen freilich leicht in einen Fluch verwandeln kann. In dem Bestreben, noch den letzten Genrebrocken zu erhaschen, verwandelt sich das „SF Jahr“ mehr und mehr in eine kommentierte Mega-Statistik. Muss denn wirklich jedes halbwegs der Phantastik zuschlagbare Werk vorgestellt werden? Wen interessiert das außer den fanatischen Komplettisten? Wären denn nicht aussagekräftige Beispiele nützlicher, denen – soll’s denn unbedingt vollständig sein – eine kurze Aufstellung der übrigen Titel folgt? Sind nicht Analysen des Gesamtbildes dem Leser wertvoller? Jetzt muss er es sich aus vielen Einzelstücken selbst zusammensetzen. Na gut, wir Deutsche gelten ja als Detailfanatiker, so dass sich diese Fragen womöglich als ketzerisch von selbst erledigen …

Wohlgemerkt: Diese Kritik zielt nicht auf die Themenwahl. Die ist ohnehin ein Angebot der Herausgeber, über das der Leser sich freuen oder unzufrieden sein kann. Allen kann man es bekanntlich niemals Recht machen. Es ist auch gar nicht nötig; jede/r wird Artikel von Interesse finden. Die übrigen lassen sich überspringen.

Curtis Richards – Halloween

Haddonfield, ein kleines Städtchen im US-Staat Illinois, Heimstatt braver Bürger, die das Schicksal in dieser Halloween-Nacht des Jahres 1978 auf eine harte Probe stellt. Sie werden dieses Mal endgültig begreifen, dass es den Schwarzen Mann wirklich gibt, nachdem er hier schon einmal eine Kostprobe seines Könnens geliefert hat: Am 31. Oktober 1963 war das Böse in den sechsjährigen Michael Myers gefahren. Stimmen hatte er schon vorher gehört, die ihn zu üblen Taten verleiten wollten, aber erst in dieser seltsamen Nacht, in der die Toten ihre Gräber und böse Geister die Hölle verlassen dürfen, übernahm ein uralter, aus Nordirland angereister keltischer Geist das Kommando über sein Hirn und ließ ihn die große Schwester meucheln. Sie hatte es aber verdient, denn sie war ein böses Mädchen, das mit dem nichtsnutzigen Freund Schlüpfriges trieb, statt brav zu bleiben und sich für den zukünftigen Ehemann aufzusparen.

Sein dämonischer Auftrag, das US-Kleinbürgertum von verdorbenen Elementen zu reinigen, sowie das Wissen darum, dass dies mit einem großen Tranchiermesser am eindrucksvollsten gelingt, hilft Michael über die langen, öden Jahre hinweg, die er in Smith’s Grove, der Anstalt für geisteskranke Kriminelle, schmachten muss. Er entwickelt sich zum Schrecken der übrigen Insassen – und zum Lebensinhalt des Psychiaters Sam Loomis, der bis auf den Grund von Michaels Seele schaut und dort unten Satan winken sieht. Zukünftig fühlt sich der Doktor berufen, seinen Lieblingspatienten von der Welt fernzuhalten. Auf Lebenszeit will er Michael in Smith’s Grove eingesperrt wissen, doch leider findet der einsame Rufer in der Wüste kaum Unterstützung, was auch daran liegen mag, dass Dr. Loomis selbst kein besonders einnehmendes Wesen ist, sondern ein ungehobelter Fanatiker, der den Behörden ob seiner ständigen Eingaben und Warnungen vor dem angeblich vom Teufel besessenen Michael Myers mehr oder weniger als Querulant gilt. Derweil entwickelt sich Michael recht unbehelligt zu einem schweigsam brütenden jungen Mann mit erstaunlichen Körperkräften, aber ohne Moral und Mitgefühl. Nicht lange nach seinem 21. Geburtstag bricht er aus und macht sich daran, Haddonfield einen Besuch abzustatten.

Noch schneller als der berüchtigste Sohn der Stadt ist allerdings Dr. Loomis, der sogleich ahnt, wohin es Michael zieht. Den typisch begriffsstutzigen Kleinstadt-Sheriff nur widerwillig an der Seite, streift er mit gezückter Waffe durch das nächtliche Haddonfield, wo ein inzwischen leider maskierter Irrer zwischen den allgegenwärtigen Halloween-Gauklern gar nicht mehr auffällt. Dessen Auge ist inzwischen mit mordlüsternem Wohlgefallen auf Laurie Strode, süße 17, und ihre jugendlichen Freunde gefallen. Auch diese denken leider immer nur an das Eine und müssen daher bestraft werden – eine Aufgabe, der sich Michael Myers mit der ihm eigenen Kompromisslosigkeit zu widmen beginnt …

„Halloween“, der Horrorfilm von 1978, gehört zu den großen Erfolgen der Kinogeschichte. Seit einem Vierteljahrhundert spült er viel Geld in diverse Kassen, ist zeitlos spannend und kann mit Fug und Recht als Kultklassiker seines Genres gelten. Dafür ist weniger die schon damals nicht gerade originelle Geschichte vom blutrünstigen Buhmann, der nicht zu stoppen ist, verantwortlich, sondern ein John Carpenter auf der Höhe seiner Fähigkeiten, dem es als Drehbuchautor gelang, die Story virtuos auf das Wesentliche zu beschränken, während er als Regisseur alle Register des Filmhandwerks zog. Was weiter wurde, wissen wir nur zu gut. Maskierte Munkelmänner schwärmten in Legionsstärke aus, um ansehnlichen Teenagern mehr oder weniger einfallsreich das Lebenslicht auszublasen. Auch Michael Myers wurde zum cineastischen Wiedergänger, der inzwischen zum achten Male eine ganz neue Generation von Gruselfans heimsuchte.

Die enorme (aber im Gegensatz zu den Aufgüssen verdiente) Popularität des ersten „Halloween“-Streifens scheint das eigene Studio überrascht zu haben. Wie sonst lässt sich erklären, dass das unvermeidliche „Buch zum Film“ letzterem erst mit einjähriger Verspätung folgte? Geschrieben hat es Curtis Richards aber offensichtlich sehr viel früher, denn es beinhaltet Szenen aus Drehbuchfassungen, die den Weg in das endgültige Script nicht fanden. Hinzu kommen Episoden, die er sich selbstständig aus dem Hirn gewrungen hat, um der wie gesagt simplen Story Tiefe zu verleihen.

Freilich ist dieser Curtis Richards ein jämmerlicher Schriftsteller oder besser Schreiberling, der es sich förmlich zur Aufgabe gemacht hat, gegen sämtliche Regeln zu verstoßen, die eine logische oder wenigstens spannende Geschichte entstehen lassen könnten. So ist es zwar verständlich, wenn er Michael Myers als Individuum zeichnet und mit einer Vergangenheit ausstattet, doch er vergisst darüber, dass diese Figur überhaupt nur funktioniert, solange sie dem Zuschauer oder Leser fremd und rätselhaft und dadurch unheimlich bleibt. Nun zu lesen, wie Michael sich in seiner Zelle angeregt mit Dr. Loomis unterhält (!) und diesem enthüllt, dass einst der Geist eines pubertierenden Druiden-Jünglings (!!) Gewalt über ihn gewann, zerstört nachhaltig den Eindruck des untoten Bösen, das einfach nur ist und Unheil über die Welt bringt. Wieso setzte Carpenter seinem Film-Michael wohl eine Maske auf und ließ ihn nie ein Wort verlieren? Auf diese Weise wurde die letzte Verbindung zum Menschen Michael Myers gekappt, der sich in eine Unperson verwandelte. Richards scheut dagegen nicht einmal davor zurück, immer wieder hinter diese Maske zu blicken, uns Michaels Gedanken und Gefühle zu schildern und ihn als Ausgeburt der Hölle gründlich zu entzaubern.

„Halloween“ lebt vom Reiz des nicht Erklärten. In Haddonfield haben sich tatsächlich die Pforten der Hölle geöffnet. Die Konsequenzen sind schlicht und ergreifend furchtbar – und im Film kommt dies auch wunderbar über. Bewegung, Licht und Schatten und die geniale Musik (noch einmal Carpenter) lassen vergessen, dass „Halloween“ nichts als eine Hetzjagd über Tisch und Bänke ist. Insofern hatte Richards natürlich einen schweren Stand, denn auf dem Papier wird diese Eindimensionalität gnadenlos offengelegt. Michael Myers darf keine Persönlichkeit besitzen, und seine Gegner und Opfer benötigen sie nicht.

Aber halt, in einem Punkt weichen Carpenter und – auf den Spuren des Meisters – notgedrungen auch Richards von diesem Muster ab. Schon die zeitgenössische Kritik war bass erstaunt, welchen konservativen bis reaktionären Ton „Halloween“ anschlägt. Vom „New Cinema“ der 70er Jahre keine Spur; stattdessen müssen wir Wertvorstellungen erkennen, die ungefiltert den Geist der Fünfziger atmen. Michael Myers jagt und tötet stets die „schlechten“ Jungs und vor allem Mädels – jene, die nicht auf ihre Eltern, die Lehrer, den Pfarrer, den Sheriff hören, sondern gegen die Regeln verstoßen, ungehorsam sind, nicht fleißig lernen, sich aufreizend kleiden, schminken, rauchen, haschen oder dem Sex vor der Ehe frönen und – das schlimmste Verbrechen – womöglich Vergnügen daran finden: |“Während Lauries Reize bescheiden unter unauffälligen Kleidern und einer eigentlich biederen Frisur versteckt waren, trug Linda hautenge Jeans und Pullover, bunte Bänder im Haar und schrie mit ihrem gesamten Erscheinungsbild praktisch jedem, der es sehen wollte, ‚Hier gibt’s Sex!‘ zu.“| (S. 76) Das ist anscheinend ein todeswürdiges Verbrechen in Haddonfield. Die angepassten, vernünftigen, langweiligen Kids kommen dagegen durch, um ihre freudlose Existenz fortsetzen zu können.

Tritt uns die hölzerne Laurie Strode nicht in Gestalt der fabelhaften Jamie Lee Curtis, sondern als literarische Figur des Curtis Richards entgegen, ist sie einfach nur unerträglich in ihrem selbstgefälligen Puritanismus. Sie überlebt letztlich, weil sie mit dem Höschen auch das Hirn frei hält und ihr daher im entscheidenden Moment einfällt, wie der aufrechte Amerikaner dem Bösen entgegentritt: schwer bewaffnet und noch brutaler als der Gegner nämlich. Sollte Carpenter dies alles ironisch gemeint haben (wofür allerdings keine Indizien sprechen), hat sich dieser Ansatz im „Buch zum Film“ in Luft aufgelöst.

Doch selbst dort, wo Richards sich darauf beschränkt, die Filmstory nachzuerzählen, erleidet er kläglich Schiffbruch. Ihm gelingt es, jegliche Spannung zu töten und die wunderbare, gleichermaßen morbide wie kitschige Halloween-Kulisse links liegen zu lassen. Allerdings wird er dabei hierzulande kräftig unterstützt von einem geradezu kriminell unfähigen Übersetzer, der nie auch nur das geringste Gespür für den Text erkennen lässt, den er anscheinend Wort für Wort in eine dem Deutschen ähnliche Sprache übertragen hat. Eine schauerliches Lese-Erlebnis fürwahr, aber keines, das für den gewünschten Gruselspaß sorgen könnte!

Sinn, Hans-Werner – Ist Deutschland noch zu retten?

Der Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung hat ein fast 500 Seiten starkes Buch geschrieben. Beinhaltet es gute Ratschläge für eine kränkelnde Wirtschaft oder macht sich Sinn eher der sozialen Brandstiftung schuldig?
Eine Rezension aus der [Zeitschrift für Sozialökonomie,]http://www.sozialoekonomie.de/de/dept__3.html Folge 141, Juni 2004.

Ist Deutschland noch zu retten? Wer weiß. Wer aber wissen will, wo es demnächst langgeht, der kann sich bei Sinn schon mal vorab informieren: Für ihn ist der Arbeitsmarkt |im Würgegriff der … hemmungslosen Kartellpolitik der Gewerkschaften, die … herausgeholt haben, was nur eben ging. … Es geht auch nicht an, dass sich der Staat noch länger zum Komplizen der Gewerkschaften macht und ihre Hochlohnpolitik durch den Kündigungsschutz ermöglicht. …| Das kann so nicht bleiben, das stehen wir nicht durch.

Für völlig unzureichend hält Sinn die läppischen |…Vorschläge der Hartz-Kommission, die wenig bewirken und niemandem wehtun. Nein, wir brauchen viel stärkeren Tobak: Weniger Staat und weniger Steuern. …| Eine wirklich radikale Steuerreform. Steuern auf Kapitalerträge (z. B. Zinsen) verletzen für ihn das Postulat der Gerechtigkeit, weil sie diejenigen, die ihr Vermögen sparen, statt es sofort zu konsumieren, bestrafen und sind deshalb allenfalls mit 20 Prozent anzusetzen. Und weiter: |Zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit müssen die Stundenlöhne fallen.| Damit das besser durchgesetzt werden kann: |Der gesetzliche Kündigungsschutz muss fallen und … sollte nicht nur für Kleinbetriebe, sondern für alle Betriebe abgeschafft werden, denn … auf einem sich selbst überlassenen Arbeitsmarkt, der unter Konkurrenzbedingungen arbeitet, bedarf es keines besonderen Kündigungsschutzes, um Arbeitsplatzsicherheit herzustellen, denn auf einem solchen Markt herrscht Vollbeschäftigung.|

Unterstützt werden soll die Absenkung der |… künstlich hoch gehaltenen Löhne …| außerdem durch die Reduzierung der staatlichen Lohnersatzleistungen. Die für 2005 vorgesehene |Abschaffung der Arbeitslosenhilfe … reicht aber bei weitem nicht, denn die Sozialhilfe ist viel zu hoch …| Also runter damit um 33 Prozent. Allerdings darf man sich jetzt – so möglich – was dazuverdienen, was ja nicht so schwer sein kann, weil ja jetzt wieder alles boomt. Jedenfalls kommt es auf die Nachfrage ausdrücklich nicht an. Dies festzustellen, ist Sinn besonders wichtig und er widmet deshalb der Frage der Nachfrage ein extra Unterkapitel, in dem u. a. steht: |Nein, mehr gesamtwirtschaftliche Nachfrage und mehr Kaufkraft ist es wirklich nicht, was Deutschland braucht.| Alle, die das anders sehen, sind ökonomische Laien und heißen |Dr. Fritzchen Müller|.

Sinn bezeichnet sich selbst als |Arzt der „ökonomischen Schulmedizin“|, der in Abgrenzung zu |Homöopathen und Heilpraktikern … das Skalpell und harte Medikamente verordnet|, will für seine Kinder, denen er sein Buch auch widmet, ein |besseres, ein wirklich zukunftsfähiges Deutschland| und beruft sich u. a. auf Willy Brandt, der ihm doch sicher Recht gäbe, wenn er noch leben würde, meint er. Fairerweise sei zugestanden, dass die umfangreiche Schrift durchaus vielgestaltig ist und dass Sinn mit gar manchem tatsächlich Recht hat: So ist ihm vollumfänglich zuzustimmen, wenn er konstatiert, dass ganz offensichtlich aufgrund eines Kunstfehlers die Körperschaftssteuer seit 2001 fast komplett weggebrochen ist und seitdem Deutschland alleine deshalb mit jährlich 20-25 Mrd. Euro weniger auskommen muss, dass Subventionen der industriellen Vergangenheit (Kohle) idiotisch sind, dass im Rahmen der Neugestaltung der Rente Kinderaufzucht bzw. Kinderlosigkeit mit zu berücksichtigen ist, dass sich die Gewerkschaften in den 60ern und 70ern wohl besser um die Mitbeteiligung („Sparlohn“ statt „Barlohn“) als um die Mitbestimmung gekümmert hätten.

Sehr recht hat er auch, wenn er feststellt, |… dass man die wirtschaftliche Vereinigung der bei-den Landesteile als gescheitert ansehen kann|. Denn: |… die Regierung Kohl hat die wirtschaftliche Vereinigung mit absurden Versprechungen und irrealen Politikprogrammen vergeigt. Die Bürger der neuen Länder sind bettelarm in die Marktwirtschaft gekommen, weil versäumt wurde, das diffuse Volkseigentum des kommunistischen Staates in privatrechtliche Anspruchstitel umzuwandeln. Es ist der ökonomische Grundfehler der Vereinigungspolitik, … dass den neuen Bundesbürgern kein Eigentum am ehemals volkseigenen Vermögen zuerkannt, doch ein viel zu hoher Lohn versprochen wurde.| Per deutsch-deutscher Währungsunion wurden die ostdeutschen Löhne zunächst vervier- bzw. verfünffacht und anschließend in merkwürdiger Eintracht zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern nochmals verdreifacht. Damit war man dann die ostdeutsche Konkurrenz nachhaltig los: |Der historische Grund für das offenkundige Misslingen der deutschen Vereinigung liegt im Vorauseilen der Löhne vor der Produktivität…| Das Ergebnis ist eine Zuschussökonomie, die um fast 50 Prozent mehr verbraucht als sie selbst erzeugt und vom Westen alimentiert werden muss; ein Zustand, der weltweit einmalig und auch historisch ohne Beispiel ist.

Vor dem Hintergrund seiner Einsicht in die ostdeutsche Misere ist es absolut unverständlich, dass Sinn nun meint, auch für Gesamt- bzw. für Westdeutschland zu hohe Löhne erkennen zu müssen. Denn hier liegen die ökonomischen Fakten nicht nur anders, sondern genau anders herum! Alleine seit dem Fall der Mauer hat sich die Produktivität in Gesamtdeutschland – also das Verhältnis der erzeugten Güter und Dienstleistungen zur dafür eingesetzten Arbeitszeit – verdoppelt. Bekanntermaßen kann man das von den Löhnen nicht gerade sagen: Nachdem die (inflationsbereinigten) Reallöhne seit Kriegsende zwar zunehmend schwächer, aber eben doch immer angestiegen sind, ist seit Mitte bis Ende der 90er Jahre eine Tendenz zur Stagnation zu beobachten; Ergebnis der immer wieder angemahnten „Lohnzurückhaltung“, jeweils begründet mit der deutschen Wettbewerbsfähigkeit respektive der Standortfrage. Die Fähigkeit der Deutschen, das von ihnen Erzeugte auch wirklich selber nachzufragen und zu verbrauchen, wird also immer schwächer, diese Nachfragelücke und die solcherart induzierte Arbeitslosigkeit also immer größer. Was nimmt es da Wunder, dass das Wachstum zurückgeht und ebenfalls stagniert? Die deutsche Wachstumsschwäche ist eine Binnenschwäche. Das bestreitet übrigens auch niemand ernsthaft. Denn über die Erfolge im Exportbereich können wir uns nicht beklagen: Deutschland ist Weltmeister im Exportieren! Auch preisbereinigt ist der deutsche Export – u. a. als Ergebnis der „Lohnzurückhaltung“ – in den letzten fünf Jahren nochmals um fast 50 Prozent gestiegen. Kein Land auf der Welt – auch flächen- wie bevölkerungsmäßig viel größere nicht – exportiert mehr als unseres: Allein ein Zehntel des gesamten Welthandels bestreitet Deutschland ganz alleine. Doch damit nicht genug: Deutschland ist gleich noch mal Weltmeister; und zwar beim Exportüberschuss! Kein Land auf der Welt liefert an den Rest der Welt so viel mehr als es vom Rest dieser Welt einkauft. Besonders atemberaubend wirkt dieses Faktum vor dem Hintergrund der Tatsache, dass mit der ehemaligen DDR mitten in Deutschland ein Gebiet sitzt, das für sich genommen gewissermaßen Weltmeister im Importüberschuss (s. o.) ist, was den gesamtdeutschen Exportüberschuss logischerweise reduziert, der gesamtdeutschen Weltmeisterschaft im Exportüberschuss aber ganz offensichtlich gar keinen Abbruch tut. Der deutsche Exportüberschuss ist nun auch die Erklärung dafür, dass die durch die Nachfragelücke im Binnenbereich induzierte deutsche Arbeitslosigkeit nicht noch viel größer ist. Auch Sinn würde nicht bestreiten können, dass unsere Arbeitslosigkeit ohne die dramatischen Exportüberschüsse noch dramatisch höher wäre als ohnehin.

Was nun angesichts dieser Ausgangssituation Sinn will – und alle, die Sinn-gemäß argumentieren, wollen – ist Folgendes: Löhne und staatliche Lohnersatzleistungen werden gesenkt; bei Sinn also um bis zu 30 Prozent, und zwar dergestalt, dass die Absenkung bei den unteren Einkommen größer ausfällt als bei den höheren. „Stärkere Lohnspreizung“ heißt das. Dabei soll übrigens der Sinn der Absenkung der Sozialhilfe ausdrücklich darin bestehen, insbesondere auf die untersten Lohngruppen auszustrahlen; will meinen, den Druck auf sie zu erhöhen. Allerdings würden die Kapitaleinkommen dadurch zunehmen. Das müsse man in Kauf nehmen, weil Deutschland als Gesamtganzes dadurch gewinnt, stärker wächst als vorher. Wie das? Ist nicht die Konsumquote um so niedriger, je höher die Einkommen sind und andersrum und deshalb die aggregierte Gesamtnachfrage einer Volkswirtschaft um so niedriger, je stärker die Ungleichverteilung ist? Auch Sinn würde wohl kaum bestreiten, dass durch die von ihm vorgeschlagenen Lohnsenkungen die Binnennachfrage weiter geschwächt wird. Aber das macht ja nichts, weil wir jetzt unsere „Wettbewerbsfähigkeit“ wiedergewonnen haben. Will heißen: Die ja nun noch größere Nachfragelücke im Binnenbereich wird nunmehr komplett durch Exporte kompensiert; so lange, bis auf diese Art und Weise auch der letzte deutsche Arbeitslose in Lohn und Brot gekommen ist.

Der Sinn-Plan funktioniert. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Rest der Welt es einfach so hinnimmt, dass wir dem Rest der Welt dann doppelt und dreifach so viele Exportprodukte um die Ohren hauen wie bislang schon der Fall, dass wir unseren Außenhandelsüberschuss immer weiter ausweiten und deshalb das Außenhandelsdefizit andernorts immer weiter zunimmt, dass wir unsere binnenbedingte Arbeitslosigkeit bis zum letzten Mann exportieren und sie deshalb entsprechend andernorts ebenfalls zunimmt, und dass das Ganze andernorts nicht als pure Aggression empfunden wird. Dann, aber nur dann, funktioniert der Sinn-Plan. Wenn es aber andernorts ebenfalls Experten gibt, die für ihre eigenen Volkswirtschaften ähnlich glorreiche Vorschläge machen wie Sinn für die unsere, wovon wir getrost ausgehen dürfen, dann funktioniert der Sinn-Plan natürlich nicht. Dann wäre auch andernorts außer einer stärkeren Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen und einer entsprechenden Ausweitung deflationärer Tendenzen nichts gewonnen und die deutsche Wettbewerbsfähigkeit in Relation zum Rest der Welt wäre völlig unverändert. Sinn müsste dann – konsequenterweise – erneut die verlorengegangene bzw. noch immer nicht wiederhergestellte Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft anmahnen. Und dreimal dürfen wir raten, welchen Lösungsvorschlag er uns dann unterbreiten würde. Ist Sinn noch zu retten?

Wer weiß. Was wir aber wissen, ist: So kann es nicht gehen. Ein John Maynard Keynes hätte im Rahmen des nach ihm benannten Planes einem Deutschland wie dem heutigen ganz eindeutig und unmissverständlich nicht etwa eine Absenkung, sondern im Gegenteil ein Anheben der Löhne empfohlen. Ja, ist der denn verrückt? Nein, keineswegs. Keynes wusste noch: So wie ein Land, das Importüberschüsse zeitigt, über seinen Verhältnissen lebt, so lebt ein Land mit Exportüberschüssen unter seinen Verhältnissen; und im Falle Deutschlands eben in dramatischer Größenordnung. Wenn dieser Situation nicht durch Lohnanhebung im Binnenbereich begegnet wird, dann bringt man die Menschen in diesem Land, die nämlich übrigens diese Exportüberschüsse erarbeitet haben, nicht nur um die vollständigen Früchte ihrer Arbeit, sondern man nimmt den Volkswirtschaften andernorts auch die Luft zum Atmen: Denn der solcherart andernorts erzwungene permanente Importüberschuss verhindert den Aufbau einer gesunden Binnenwirtschaft und zwingt in die Verschuldung und ihre Konsequenzen, weil dieser Importüberschuss nur finanziert werden kann mit geliehenem Kapital, welches aus den Überschussländern stammt.

Aber jetzt ist ja Globalisierung und entsprechend steht die Drohung der Abwanderung von Arbeitsplätzen im Raum. Diesbezüglich ist zunächst festzustellen, dass Deutschland ganz offensichtlich ein sehr guter Standort ist; und zwar auch und gerade für Investoren, die hierzulande, auch und gerade im internationalen Vergleich, sehr gute Gewinne erwirtschaften können, u. a. weil sie eben nicht (mehr) befürchten müssen, dass die Gewerkschaften bis zur Schmerzgrenze gehen. Aber es ist verständlicherweise noch verlockender, den VW in der Slowakei zum dortigen Lohnniveau zu schrauben, um ihn anschließend hierzulande zu deutschen Preisen zu verkaufen, auch wenn klar sein muss, dass das nicht sehr lange gut gehen kann. Es kann aber vor allem auch nicht angehen, dass – u. a. mit dem weinerlichen Argument, die Menschheit gehöre doch zusammen – sämtliche Dämme für Kapital und Güter eingerissen werden, um anschließend – nunmehr wieder hübsch in nationalstaatlicher Konkurrenz argumentierend – zu fordern, Steuern und Löhne zu senken, um „internationale Konkurrenzfähigkeit wiederherzustellen“. Und um spätestens dann, wenn man andernorts ebenfalls auf den Trichter gekommen ist, diese Forderung – mit derselben wohlfeilen Begründung – zu wiederholen. Dieser Trick ist schon mal probiert worden; nicht nur aufgrund der Lobby der Industrie, sondern auch und gerade auf Ratschlag der „Experten“. Es ging gründlich daneben. Man nannte das Weltwirtschaftskrise. Die Konsequenzen sind bekannt.

Eine der Konsequenzen war die Etablierung eines theoretischen Gegenentwurfes – Keynesianismus genannt – zur herrschenden Lehre, die nach dem Desaster eine Zeit lang auch recht kleinlaut war, weil ihre Gleichgewichts-Phantasmagorien mit der Realität ganz offensichtlich nichts zu tun haben. Weil aber die Borniertheit nicht ausstirbt, geht das jetzt alles wieder von vorne los. Wenn Bertolt Brecht Recht hatte mit seiner Feststellung, Geschichte wiederhole sich nicht, es sei denn als Farce, dann ist das ja jetzt wohl die Farce. Nein: Die Suppe, die global eingebrockt wurde, muss jetzt auch global wieder ausgelöffelt werden. Das demokratische Korrektiv des ökonomischen Systems, das alleine in der Lage ist, der permanenten Neigung zur Nachfragelücke dieses Systems entgegenzuwirken und es somit letztlich auch vor sich selbst zu schützen, ist durch den Globalisierungsprozess auf nationalstaatlicher Ebene verlorengegangen. Wenn jetzt schon die Überschussländer anfangen, ihre Löhne zu senken, dann gnade uns Gott. Wenn es uns aber gelingt, das demokratische Korrektiv des ökonomischen Systems ebenfalls zu globalisieren, dann sind wir noch zu retten, und Deutschland auch, und Sinn auch.

_Aus: |Zeitschrift für Sozialökonomie|, Folge 141, Juni 2004._
http://www.sozialoekonomie.de/de/dept__3.html

Speer Morgan – Das Erbe von Spiro Mound

Das geschieht:

Fort Smith, ein kleiner Ort im US-Staat Oklahoma, gleicht in diesem heißen Sommer des Jahres 1934 einem Pulverfass. Die Wirtschaftskrise hält das Land im Würgegriff. Weil es kein soziales Netz gibt, droht den zahlreichen Arbeitslosen eine Hungersnot. Niemand fühlt sich für sie verantwortlich, jeder meidet die Unglücklichen, um nicht daran erinnert zu werden, wie nah das Elend ist. Aufruhr liegt in der Luft. Sündenböcke werden gesucht. Der Ku-Klux-Klan tritt offen auf. Rassismus ist geduldete Alltäglichkeit. Die Gesetzeshüter sind korrupt, sie werden von prominenten ‚Geschäftsleuten‘ wie Will Mackey oder Bill J. Goback geschmiert.

Der Vertreter der Staatsanwaltschaft hat es doppelt schwer: Tom Freshour ist ein „Halbblut“, wie man in diesen Tagen sogar in der Zeitung schreiben darf – ein halber Indianer, der dem Establishment zudem übel aufgefallen ist, weil er gegen diverse Missstände vorgegangen ist. Speer Morgan – Das Erbe von Spiro Mound weiterlesen

Philip Kerr – Newtons Schatten

Das geschieht:

Um die Jahreswende 1696/97 herrscht nicht nur in London, sondern in ganz England Unruhe. Nicht der Krieg gegen Frankreich erregt die Gemüter: Die Regierung hat den Einzug der alten Silber- und Goldmünzen befohlen, deren Edelmetallgehalt inzwischen ihren Nominalwert überschreitet. Sie sollen neu geprägt werden: ein normaler Vorgang, der hier jedoch völlig planlos umgesetzt ist, denn während ein Großteil des ‚alten‘ Geldes bereits einkassiert wurde, kommt die königliche Münzanstalt im Tower zu London mit dem Prägen der neuen Geldstücke einfach nicht nach. Es sind zu wenige Münzen im Umlauf, was der Wirtschaft stark schadet. In der Münze selbst herrschen Unfähigkeit und Korruption. Diebe und Falschmünzer stehlen Prägestöcke und füllen sich die Taschen.

Die Regierung hat deshalb einen neuen Aufseher über die Münzanstalt gesetzt: Der Physiker und Astronom Dr. Isaac Newton musste den Posten übernehmen. Mit dem ihm eigenen Elan hat er sich auf die Aufgabe gestürzt und entpuppt sich wider Erwarten als richtiger Mann am rechten Ort. Aber Newton macht sich viele Feinde. Rigoros räumt er mit Schlendrian und Schurkerei in der Münze auf und verdirbt vielen Strolchen das Geschäft. Auch die „Ordnance“, die eigentliche Festungsbesatzung, hasst die Münzbeamten, die man ihr im Tower vor die Nase gesetzt hat. Newton heuert deshalb einen Gehilfen an, der ihm gleichzeitig als Leibwächter dient. Als solcher bekommt der junge Christopher Ellis, ein verkrachter Jurastudent, bald viel zu tun. Sein unlängst verschwundener Amtsvorgänger wird ertränkt im Wassergraben des Towers entdeckt. Philip Kerr – Newtons Schatten weiterlesen

Deschler, Netti, Kolb u. a. – SkullCrusher – Free Your Mind And Free Your Soul

Liebe Freunde der gepflegten Metal-Unterhaltung, es ist wieder soweit: Der SKULLCRUSHER geht in die elfte Runde und bietet mal wieder bestes Heavy-Metal-Entertainment.

Dieses Mal gibt’s für die traditionelle Fraktion ausführliche Interviews mit METAL CHURCH (plus History), Adrian Smith von IRON MAIDEN und EDGUY, für Fans der extremeren Sparte gibt es Lesenswertes von KRISIUN, INCAPACITY und MONSTROSITY und auch der Underground wird mit den Death-Thrashern von NECROID und der Todesbrigade von BLOODSTAINED COFFIN prima abgedeckt. Desweiteren finden sich noch Gespräche mit den finnischen Newcomern von ALTARIA, ACHERON-Leader Vincent Crowley, HAN JIN OAKLAND (sehr cool), PSYCHOTRON, CRUACHAN und ANVIL, die, wie im SKULLCRUSHER halt üblich, Unterhaltung, massig Information und Humor miteinander verbinden wie in kaum einem anderen Fanzine.

Desweiteren warten Harald Drescher und sein Team wiederum mit einigen coolen Specials auf, wie zum Beispiel einem lustigen Gespräch mit dem `Film-Regisseur´ von „Der Henker“ (stark!), einem Kreativworkshop zum Thema Metal-Kasperletheater (Kult!) und einem Report unter dem Titel `Der Metal-Beichtstuhl´, bei dem man auf seltsame Art und Weise herausfinden kann, ob das eigene Metal-Gewissen auch wirklich rein ist und außerdem erfährt, wie die sieben Todsünden des Metals lauten.

Auf den letzten Seiten gibt es dann noch einen `Kommentar zur Lage der Nation´, der dieses erneut sehr gelungene Magazin beschließt. Saubere Arbeit und ein Kompliment an das Team des SKULLCRUSHER für dieses tolle 48-seitige Heft.

Mehr Infos gibt es hier:

SKULLCRUSHER Magazine
c/o Harald Deschler
Jörgstr. 9
88410 Bad Wurzach

oder schaut mal nach unter:

http://www.skullcrusher.net

Asimov, Isaac – Best of Asimov

Isaac Asimov (1920-1992) hat in seiner langen SF-Karriere ab 1939 neben vielen Romanen – die immer noch bekanntesten und beliebtesten entstammen dem 1951 gestarteten |Foundation|-Zyklus – naturgemäß auch zahllose kürzere Erzählungen veröffentlicht, viele davon gerade in seiner frühen Phase für das Pulp-Magazin |Amazing Stories| seines Entdeckers und Förderers John W. Campbell. Die Behauptung, bei der hier vorliegenden Sammlung handle es sich um das Beste, was der SF-Pionier im Story-Bereich geschaffen hat, darf aber gleich aus mehreren Gründen nicht ganz so ernst genommen werden. Zum einen stammt „The Best of Isaac Asimov“ im Original bereits aus dem Jahr 1973 und wurde 1983 bei Bastei-Lübbe auch schon mit der Bandnummer 24113 veröffentlicht. Und auch wenn der Autor seine Glanzzeit und besonders auf dem Kurzgeschichtensektor produktivste Phase in den vierziger und fünfziger Jahren hatte, werden damit die fast 20 letzten Jahre seines Schreibens schlicht unterschlagen. Was hier ebenfalls fehlt, sind seine Robotergeschichten. Die wurden zwar an anderer Stelle oft genug veröffentlicht, doch dies trifft für einen Großteil der hier versammelten Storys ebenfalls zu, zählt also nicht als Entschuldigung. Gerade die Robotergeschichten sind nun einmal ein wesentlicher Bestandteil des Asimov’schen Schaffens. Dies wird dieser Tage gerade durch eine auf diesem Werk basierende Verfilmung namens „I, Robot“ gezeigt. Die Zusammenstellung besorgte Asimov übrigens auch nicht selbst, sondern ein namentlich ungenannter Herausgeber, so dass man über die getroffene Auswahl durchaus geteilter Meinung sein kann. Asimov gibt das im Vorwort in ungewohnt bescheidener Manier zu und schreibt, eigentlich solle das Buch besser den Titel „Die recht guten und recht typischen Geschichten Isaac Asimovs“ tragen – so viel dazu.

Höhepunkt der zwölf Storys ist „Und Finsternis wird kommen…“ (Nightfall) aus dem Jahr 1941, eine Geschichte, welcher der Autor ob ihres enormen Erfolgs recht hilflos gegenübersteht und von der er selbst erklärt, sie sei nicht seine persönliche Favoritin. Der SF-Leser an sich widerspricht dieser Meinung gern und häufig, immer wieder wird „Und Finsternis wird kommen…“ unter den beliebtesten Kurzgeschichten aller Zeiten genannt. Der Reiz dieser faszinierenden Story liegt vor allem in ihrem beeindruckenden Szenario: Der ungewöhnliche Plot – die Welt Lagash wird nur in großen Abständen mit völliger Dunkelheit konfrontiert, da ansonsten immer eine der Sonnen am Himmel steht, was in unschöner Regelmäßigkeit die Zivilisation in völligem Wahnsinn zerbrechen lässt und sie auslöscht – hat sicherlich den Löwenanteil am hohen Beliebtheitsgrad. Stilistisch ist Asimov in dieser frühen Phase sicher nicht völlig ausgereift, sondern noch sehr den |Pulps| verhaftet. Das heißt keineswegs schwach, eher einfach, fast naiv gehalten, aber auch in der relativ nüchternen Manier durchaus ansprechend. Die Charaktere dürften zweifelsfrei noch schärfer gezeichnet sein. Erst Robert Silverbergs Romanfassung, deutsch als „Einbruch der Nacht“ bei |Heyne| erschienen, hilft dem Manko der etwas wissenschaftlich-sterilen Protagonisten dann ab. Die Original-Geschichte zählt aber allein wegen der ungewöhnlichen Idee, von der sie lebt, verdientermaßen zu den Klassikern der SF der vierziger Jahre.

Die erste verkaufte Story des Autors, „Havarie vor Vesta“ (Marooned off Vesta, 1939), kann besonders durch die Plausibiltät gefallen, mit der sich die havarierten Raumfahrer an Bord der Silver Queen aus ihrer scheinbar aussichtslosen Lage retten. Ein früher Verweis auf Asimovs spätere Ausflüge ins Krimigenre? Sprachlich ist das Debüt ebenfalls sehr einfach gehalten, auch hier lebt die Geschichte mehr von der Idee. Genau zwanzig Jahre später wurde dann „Jahresfeier“ (Anniversary) geschrieben, das die Charaktere der Geretteten noch einmal aufgreift und schließlich gemeinsam mit „Havarie vor Vesta“ in |Amazing Stories| abgedruckt wurde, eben um den Geburtstag der ersten Story Asimovs gebührend zu feiern. Mehr Krimi als SF, ist diese Geschichte die wohl schwächste der hier vertretenen, da die Lösung des Falls den Leser hilflos zurücklässt und ihm kaum eine Chance bietet, wenigstens mitzuraten, wer denn nun der Täter war.

Der gereiftere Asimov begegnet dem Leser in der erstmals 1972 veröffentlichten Story „Spiegelbild“ (The Mirror Image), die auch ein Wiedersehen mit dem Detektiv Elijah Baley und dem Roboter R. Daneel Olivaw aus den frühen Romanen „Die Stahlhöhlen“ (The Caves of Steel) und „Die nackte Sonne“ (The Naked Sun) parat hält, die später in der |Foundation|-Fortschreibung auch wieder auftauchen. Zwei Wissenschaftler beschuldigen sich darin gegenseitig des geistigen Diebstahls. Baley droht an dem Fall zu verzweifeln, kann ihn dann aber dank seiner eigenen Logik – die den Roboter verblüfft – doch aufklären. Ein weiterer Kriminalfall wird in „Das Nullfeld“ (The Billard Ball) gelöst. Hier steht allerdings nicht die Frage nach dem Täter im Raum, sondern die Überlegung, ob Zufall oder Absicht die Tat lenkten und wie sie überhaupt möglich war. Eine reizvolle Story.

„Geschichte eines Helden“ (C-Chute), ursprünglich in |Galaxy| veröffentlicht, hat dann mehr von einer typischen SF-Story der frühen fünfziger Jahre. Während eines Kriegs zwischen Menschen und den Kloros, einer Insektenrasse, wird die Besatzung eines irdischen Raumschiffs gefangen genommen. Ausgerechnet der unscheinbare Buchhalter Randolph Mullen avanciert unter den Gefangenen zum Helden und findet einen Weg zur Flucht. Flott zu lesen, recht farbige Charaktere und damit eine der besseren Storys des Buchs. „Das Chronoskop“ (The Dead Past) kann ebenfalls durch die starken Charaktere, die in vielen Nuancen geschildert und so lebendig werden, überzeugen. Die weiteren Storys: „Die Verschwender vom Mars“ (The Martian Way), „Die in der Tiefe“ (The Deep), „Der Spaß, den sie hatten“ (The Fun They Had), „Wenn die Sterne verlöschen“ (The Last Question) sowie „Die schwindende Nacht“ (The Dying Night).

Alles in allem eine gute Zusammenstellung typischer Asimov-Geschichten, nicht das Beste, aber doch mehr Gutes als Schlechtes.

_Armin Rößler_ © 2001
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung unseres Partnermagazins [Buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de/ veröffentlicht.|

Dickinson, Peter – Suth und Noli (Die Kinder des Mondfalken)

Seit den Romanen von Jean M. Auel um ihre Urzeit-Heldin „Ayla“ sind Bücher über die Frühgeschichte der Menschheit nicht mehr aus den Regalen wegzudenken. Ob für Erwachsene oder Kinder – es scheint die Autoren zu faszinieren, 40.000 oder gar 200.000 Jahre in die Vergangenheit zu gehen und sich das Leben damaliger Menschen (oder Menschenvorfahren) vorzustellen. So geht es auch dem Engländer Peter Dickinson. Seine Geschichten um die „Kinder des Mondfalken“ erschienen in Deutschland bereits als Buch für Kinder und Jugendliche bei |Carlsen|. Für die Taschenbuchausgabe hat man die beiden ersten Bände in einen zusammengefasst.

Der Stamm der Mondfalken ist überfallen und in eine viel unwirtlichere Gegend vertrieben worden. Die Überlebenden wollen beim Marsch durch die Wüste die Kleinsten und Schwächsten zurücklassen, aber der Junge Suth, der auf der Schwelle zum Erwachsensein steht, und das Mädchen Noli, das immer wieder Visionen hat, lassen das nicht zu. Sie trennen sich vom Stamm und retten die Kinder. Auf sich allein gestellt, versuchen sie zu überleben, was nicht immer leicht ist.

Dann aber finden sie Aufnahme bei einem anderen Stamm. Suth begreift nach und nach, dass sie seine Gruppe dabehalten wollen, um das Blut des Stammes, in dem immer mehr missgebildete Kinder geboren werden, aufzufrischen. Er versucht das zu verhindern, doch selbst Noli scheint von der Magie der Anführerin des Stammes gefangen. Dann zwingt ein Vulkanausbruch die Kinder des Mondfalken zu einer Entscheidung. Sie kommen nur knapp mit ihrem Leben davon und finden in einem anderen Tal Zuflucht, wo Humanoide leben, die sie bisher nicht als Menschen betrachtet haben. Jetzt müssen sie lernen, ihre Vorurteile zu vergessen, damit auch sie hier eine Heimat finden können …

In einer bewusst einfachen Sprache schildert Peter Dickinson die Erlebnisse der Frühmenschenkinder erst aus der Sicht von Suth, dann von Noli. Jedes Kapitel wird von einer sogenannten „Ursage“ begleitet, die das Selbstverständnis und die Vorstellungswelt der jungen Helden und die Gründe für ihr Handeln plausibler macht. Er bringt dem Leser auf höchst lebendige Weise den Alltag, die Sorgen, Nöte aber auch Freuden der Kinder näher, ohne dabei belehrend oder wissenschaftlich zu werden, wenn auch der versteckte Appell an Toleranz und Offenheit nicht fehlen darf. Aber genau diese Dinge werden wohl auch in der Urzeit ein friedliches Miteinander zwischen sich fremden Stämmen und Volksgruppen ermöglicht haben, wenn genug Nahrung da war. Die Kinder sind lebendig geschildert, machen Fehler oder reagieren instinktiv richtig. Sie akzeptieren Dinge, die sind, und lassen auch das Neue zu.

Phantastische Elemente tauchen im Roman eher selten auf, meistens wenn Noli von dem Geist ihres Stammestotems berührt wird und seine Botschaften empfängt, woraufhin der Stamm in eine neue Richtung gelenkt wird.

Die Abenteuer sind klein und meistens alltäglich, wenn man einmal von dem Kampf gegen einen bedrohlichen Löwen absieht. Aber darauf kommt es auch nicht an, da Spannung anders erzeugt wird. Dennoch sollten all jene, die mit als Kinderbücher konzipierten Urzeit-Romanen, nicht viel anfangen können, ihre Finger von dem Roman lassen.

Wer eher ruhige Geschichten mit Mythen und einfachen Abenteuern mag, in dem die Figuren im Vordergrund stehen, wird an den „Kindern des Mondfalken“ seine Freude haben.

_Christel Scheja_ © 2004
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung unseres Partnermagazins [Buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de/ veröffentlicht.|

Stephen King – Duddits: Dreamcatcher

Das geschieht:

Das Leben hat sie gebeutelt: Joe „Biber“ Clarendon, den Hippie-Tischler, der zwanghaft Zahnstocher zerkaut; Pete Moore, den alkoholsüchtigen Autoverkäufer; Henry Devlin, den depressiven Psychiater, für den der Selbstmord bereits beschlossene Sache ist, und Gary „Jonesy“ Jones, den College-Dozenten, der sich gerade langsam von einem schweren Autounfall erholt. Seit einem Vierteljahrhundert kennen sie sich und haben sich niemals aus den Augen verloren. Ein unsichtbares Band verbindet sie – und das buchstäblich, denn das Quartett verfügt über gewisse hellseherische Kräfte.

Trotzdem waren Biber, Pete, Henry und Jonesy nur Waisenknaben gegen den Fünften im Bunde: Douglas Cavell, genannt „Duddits“, ihren geistig behinderten, telepathisch begabten Freund aus der Kleinstadt Derry im US-Bundesstaat Maine, Neuengland. Ihn hat das Quartett aus den Augen verloren. Stephen King – Duddits: Dreamcatcher weiterlesen

Eleanor Herman – Im Bett mit dem König. Die Geschichte der königlichen Mätressen

Eine Geschichte königlicher Geliebter an europäischen Königshöfen; nicht chronologisch geordnet oder die Biografien ausgewählter Damen präsentierend, sondern den zentralen Aspekten des Mätressentums gewidmet: Welcher Herkunft waren diese Frauen, wie erregten sie des Herrschers Aufmerksamkeit, auf welche Weise hielten sie es lebendig, wie sah der Alltag einer Mätresse aus, mit welchen Rivalen und Feinden musste sie rechnen, was geschah mit ihren Kindern, was mit ihr selbst, wenn des Königs Interesse erlosch? Solche und viele andere Fragen werden faktenreich beantwortet. Viele oft bizarre Anekdoten sorgen für ungläubiges Kopfschütteln und Heiterkeit. Der in lockerem Ton gehaltene Text rundet ein historisch nicht sehr tiefgründiges, aber informatives und durchweg lesbares Sachbuch ab. Eleanor Herman – Im Bett mit dem König. Die Geschichte der königlichen Mätressen weiterlesen

Thiede, Carsten Peter / D’Ancona, Matthew – Jesus-Fragment, Das. Kaiserin Helena und die Suche nach dem Kreuz

Jerusalem, 326 n. Chr.: In der Hauptstadt der römischen Provinz Palästina trifft hoher Besuch ein. Trotz ihrer beinahe 80 Jahre hat sich die Kaiserin Helena, Mutter und Mitregentin des Imperators Konstantin, auf eine Reise gemacht, die zwei Jahre dauern und sie 2000 Kilometer weit zu den zentralen Stätten des christlichen Glaubens führen wird. Helena befindet sich auf einer wichtigen Mission; keine anderthalb Jahrzehnte ist es her, dass ihr Sohn das Christentum zur Staatsreligion erhoben hat, nachdem die Christen in den drei Jahrhunderten zuvor immer wieder grausamen Verfolgungen durch die römischen Herrscher ausgesetzt waren. Konstantins und besonders Helenas Gläubigkeit ist echt. Dennoch ist die Grenze zwischen Religion und Politik in dieser Zeit fließend: Konstantins Ruf als von Gott auserwähltes Haupt des Römischen Reiches würde wachsen, wenn es ihm gelänge, das in der Bibel überlieferte Geschehen durch handfeste Beweise zu untermauern. In seinem Namen sollen an solchen geschichtsträchtigen Orten Palästinas Gedenkstätten und Kirchen entstehen.

Helena bereist fast das ganze Heilige Land. Dabei entwickelt sie sich zu Vorfahrin der späteren Archäologen. Mit staunenswerter Energie betreibt sie ihre Nachforschungen – und sie hat Erfolg! Besonders in Jerusalem wird sie fündig: Auf dem Areal des Felsens von Golgatha, der alten Hinrichtungsstätte, wird bei von der Kaiserin durchgeführten Ausgrabungen ein gut erhaltenes Kreuz gefunden, das ein Kopfbrett trägt, auf dem nach römischer Sitte der Name des Verurteilten und sein Verbrechen eingraviert wurde: Jesus von Nazareth, König der Juden …

Die Kaiserin lässt das Kreuz bergen. Es bleibt in Jerusalem und entwickelt sich dort naturgemäß zu einem Objekt der Verehrung für die christlichen Pilger, die in die Stadt kommen, bis es siebeneinhalb Jahrhunderte später in den Wirren der Kreuzzüge verloren geht.

Hier könnte die Geschichte eigentlich zu Ende sein. Doch Kaiserin Helena war nicht nur eine entschlossene, sondern eine vorausschauende Frau. Deshalb beschloss sie, zumindest einen Teil des Kreuzes in ihre Heimatstadt Rom zu schicken. Dieses Fragment – ein Teil des Kopfbrettes – bewahrte sie in ihrem privaten Palast auf, der nach ihrem Tode zur Kirche Santa Croce in Gerusalemme umbaut wurde. Dort trotzte es allen Schicksalsschlägen der wechselvollen römischen Geschichte bis auf den heutigen Tag – ein Objekt, das den Historikern Verdruss und der Kirche Verlegenheit bereitet.

Reliquien – das sind Gegenstände aus dem Besitz oder dem Umfeld „heiliger“ Menschen, aber auch die Überreste solcher Personen selbst, denen Wunderwirkung zugeschrieben wird. Darüber hinaus besitzen sie für die Gläubigen eine besondere Anziehungskraft. Obwohl man meinen sollte, dass die Bibel sich mit der Geschichte vom ungläubigen Thomas zu diesem Thema recht deutlich – und ablehnend – geäußert hat, fällt es den Menschen leichter zu glauben, wenn sie etwas sehen, das sie daran erinnert, wieso sie glauben. So ist es kein Wunder, dass besonders während des Mittelalters, als die Religion ein fester Bestandteil des Alltagslebens wurde, Reliquien eine ganz besondere Bedeutung erlangten.

Jede neu errichtete Kirche benötigte eine Reliquie, die Gläubigen wünschten sich Reliquien – und zwei oder drei oder noch mehr Reliquien waren besser als eine Reliquie; kein Wunder, dass der Kult außer Kontrolle geriet, absurde Blüten trieb und ins Zwielicht geriet. Mit den mirakulösen Artikeln wurde bald ein schwunghafter und einträglicher Handel getrieben. Die Grabstätten bekannter Heiliger wurden förmlich durchpflügt, ihre Überreste buchstäblich in kleine Stücke gerissen und dorthin transportiert, wo schon die Empfänger voller Sehnsucht und mit gezückter Börse darauf warteten. Die Frage der Authentizität stand dabei – weil geschäftsschädigend – nicht unbedingt im Vordergrund; auf diese Weise dürfte so mancher arme Wicht, der den Reliquienjägern zufällig in die Finger fiel, nach seinem oder ihrem Tode zu unverhoffter Verehrung gelangt sein.

Noch besser gelang das Reliquienfälschen natürlich bei Objekten, die zwar in der Bibel oder den Heiligenlegenden erwähnt, aber nicht weiter beschrieben wurden. Da Glaube bekanntlich Berge versetzt, fanden sich nach und nach und auf wundersame Weise wahrhaft „fantastische“ Stücke wie einige Krüge von der Hochzeit zu Kanaan oder ein Brötchen von der Speisung der Fünftausend an. Kein Wunder, dass die Kirche selbst schließlich die Notbremse zog und den Reliquienkult radikal beschnitt. Da war der Schaden freilich bereits geschehen: In einem Wust zweifelhafter Objekte gingen die wenigen womöglich echten Überbleibsel rettungslos unter.

Seither betrachtet auch die Forschung Reliquien mit tiefem Misstrauen. Es gibt sogar eine Art unausgesprochener Übereinkunft, wissenschaftlich lieber einen Bogen um sie zu machen. Wer sich dem nicht fügen mag, setzt leicht seinen Ruf aufs Spiel.

Die Untersuchung einer „Super-Reliquie“, wie es das heilige Kreuz zweifellos darstellt, ist da verständlicherweise ganz besonders heikel. Die Überlieferungssituation ist nach fast 1700 Jahren denkbar schlecht, und auch am Kreuz haben sich die Reliquienmacher des Mittelalters eifrig versucht. So stellt die vorliegende Untersuchung des Autorenteams Carsten Peter Thiede (Professor für die Geschichte des Neuen Testaments) und Matthew D’Ancona (Wissenschaftsjournalist) tatsächlich den ersten Versuch dar, sich des schwierigen Themas sachkundig und sachlich anzunehmen. (Seltsamer- und vielleicht glücklicherweise konnte das Helena-Kreuz nie so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie das Turiner Grabtuch.) Um es kurz zu machen: Sie haben ihre Arbeit gut getan. Dabei geht es weniger um die Frage, ob denn dieses Kreuzfragment der Kaiserin Helena wirklich echt ist. Für Thiede/D’Ancona steht dies inzwischen außer Frage. Diese Ansicht muss man nicht teilen – nicht einmal nach der Lektüre dieses Buches, denn die Autoren sind seriös genug, die möglichen Argumente gegen ihre Theorie gleich selbst zu nennen – und die Liste ist durchaus lang!

Solche Vorsicht ist selten auf dem Gebiet der „spekulativen“ Geschichtsforschung, gilt es hier doch normalerweise, „sensationelle“ Entdeckungen zu machen und diese auf Biegen und Brechen zu „beweisen“, um Spesengeld und Honorare zu kassieren. Mit besonderer Vorsicht sind daneben noch jene fundamentalistisch verblendeten „Forscher“ zu genießen, wie sie z. B. seit Jahren auf der Suche nach Noahs Arche über die Hänge des Berges Ararat schwärmen … Das ist beileibe kein Witz, sondern in gewisser Weise die logische Fortsetzung der Reliquienjagd Kaiserin Helenas …

Echte Wissenschaft muss misstrauisch und vorsichtig sein, denn hier zählen nur Fakten. Die Urzeit des Christentums liegt nun einmal unter einem dichten Schleier von immerhin zwei Jahrtausenden verborgen, und es ist nicht davon auszugehen, dass sich dieser in absehbarer Zeit und dann vollständig lichten wird. So konnte es faktisch nicht möglich sein, einen der zahlreichen Wissenschaftler, die Thiede/D’Ancona zu Rate zogen, zu der Aussage zu bewegen, dass Helenas Kreuzfragment tatsächlich von dem Kreuz stammt, an dem Jesus einst starb. Viele der gewonnenen Erkenntnisse weisen darauf hin – müssen es aber nicht.

Den ersten Teil dieser Aussage belegt das Autorenteam mustergültig; um den zweiten drückt es sich verständlicherweise ein wenig herum. Auf jeden Fall legen sie ihre Karten auf den Tisch, statt sich die historischen Fakten so herauszupicken und zurechtzulegen, bis sie zur Ausgangsthese passen. Manchmal stellen sie die Geduld des Lesers auf eine allzu harte Probe, wenn sie Seite um Seite noch dem kleinsten Kratzer des Helena-Fragments nachspüren. Aber das Argumentationsgerüst steht solide, das muss man den Autoren zugestehen.

Eine (ketzerische?) Frage bleibt übrigens völlig offen: Welche Konsequenzen hätte es eigentlich, sollte das Kreuzfragment tatsächlich echt sein? Da wurde also um das Jahr 30 womöglich ein Mann hingerichtet, der Jesus von Nazareth hieß, sich als „König der Juden“ bezeichnete und sich nach römischem Gesetz des Landesverrats schuldig gemacht hatte. Bedeutet dies denn, dass dadurch das gesamte Neue Testament schlagartig in den Rang einer authentischen historischen Quelle erhoben würde? Wohl kaum, und so läuft es auch dieses Mal letztlich auf eine Frage des Glaubens hinaus.

„Das Jesus-Fragment“ als Sachbuch ist jedenfalls eine spannende Lektüre – „True Fantasy“, wenn man so möchte. Der Laie lernt eine Menge über so unterschiedliche Themen wie die schwierigen frühen Jahre des Christentums, das Römische Imperium auf einem Gipfel seiner Macht, über Mythologie und die Möglichkeiten (und Grenzen) der modernen Wissenschaft oder die erstaunliche Flexibilität der Katholischen Kirche in der Bewertung ihrer eigenen Geschichte.

Fried, Hel – Tinnitus

Der Tinnitus ist ein beständiges, subjektives Geräusch im Ohr, welches man nicht unterdrücken oder abstellen kann. Ähnlich den Menschen mit dieser Krankheit ergeht es den Telepathen in Hel Frieds Roman. Jeder Mensch mit diesem Talent nimmt beständig ein Signal wahr, welches ihn unwiderstehlich zu einem bestimmten Ort zieht. Leider leben die Telepathen nicht in einer modernen Welt, sondern in einem postapokalyptischen Mittelalter und werden dort als Dämonen betrachtet, weswegen sie gnadenlos verfolgt und getötet werden.

200 Jahre nach der großen Katastrophe macht sich der Telepath Kramsky auf, den Ursprung des Geräuschs zu finden, um, wenn möglich, das Geräusch zu beseitigen, damit andere Telepathen nicht mehr von diesem Zwang erfüllt sind und ein freieres Leben führen können. Auf seinem Weg begegnet er anderen Personen, die entweder selbst Telepathen sind oder damit beschäftigt sind, Telepathen zu töten.

Hel Fried nimmt sich viel Zeit, seinen Hauptakteur darzustellen, seine Beweggründe aufzuzeigen und seinen Hintergrund zu erläutern. Ebenso nimmt er sich die Zeit, andere Personen gründlich einzuführen, bevor er sie oft sehr schlagartig wieder sterben lässt. Dass dabei die Akteure streckenweise dennoch flach bleiben, ist etwas schade. Besonders fällt dies bei Lazarus auf, der durch seine reine Übermenschlichkeit uninteressant wird, obwohl seine Geschichte anfänglich doch neugierig macht.

Dem Autor gelingt es dabei, alle Handlungsbögen wieder zu spannen und jeden Akteur, den er eingeführt hat, am Ende ans Ziel oder in den Tod zu führen (selbst bei Charakteren, die man bereits vergessen hatte). Dabei schöpft er aus einer Fülle von Ideen. Und hier liegt eine der größten Stärken und auch gleichzeitig Schwächen des Buches. Man bekommt zum Ende des Buches hin den Eindruck, als hätte Hel Fried versucht, 90 Prozent aller gängigen Themenkomplexe der Science-Fiction-Literatur in einem Buch unterzubringen. Geheimnisvolle Herkünfte und Mutationen sind nicht nur auf eine Art entstanden, sondern auf gleich drei verschiedene. Außerirdische tauchen auf, eine unheilbare Krankheit, Gentechnologie, Strahlung etc. Und am Ende ist der Ursprung des Ganzen doch in einer einzigen Ursache zu finden. Einen Hintergrund, den man als Leser hinnehmen oder woran man sich stören kann. Eine komplexe Hintergrundgeschichte mit vielen Akteuren, Einflüssen und Wendungen, die am Ende doch nur auf einem Umstand basieren. Der Autor läuft in solchen Fällen Gefahr, des Verdachts des |deus ex machina| ausgesetzt zu sein. So ist die Auflösung am Ende auch unbefriedigend und für meinen Geschmack zu plötzlich. Doch über das etwas abrupte Ende wird man schließlich auch mit dem letzten, nur eine halbe Seite langen Kapitel ein wenig hinweggetröstet.

Alles in allem hat die Lektüre von „Tinnitus“ Freude bereitet, nachdem ich über das erste Kapitel hinweg war, welches mich anfänglich befürchten ließ, dass die Vita des Autors interessanter sein könnte als der Roman. Hel Fried könnte vielleicht ein großer SF-Autor werden, wenn er sich ein wenig mehr Zeit für seine Ideen nehmen würde. Für den kleinen |Eldur|-Verlag ist „Tinnitus“ ein Roman, mit dem er sich durchaus nicht hinter den Großen der Branche verstecken muss. Für den Leser bleibt am Ende auf jeden Fall das Gefühl, einigen interessanten Ideen und Charakteren begegnet zu sein.

[_Kolvar_]http://www.orfinlir.de/
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de/ veröffentlicht.|

King, Stephen – Buick, Der

Statler, eine kleine Stadt im Westen des US-Staates Pennsylvania, keine besonderen Attraktionen, einfach ein Ort, an dem Menschen zusammenleben – mal friedlich, mal auch wieder nicht. Dass zumindest auf den Straßen zwischen beiden Polen die Balance gewahrt bleibt, sichert die Pennsylvania State Police. In der kleinen Polizeikaserne von Statler residieren die Männer (und – der Fortschritt findet schließlich auch die Provinz – seit einigen Jahren einige Frauen) des Troop D. Ihr Dienst ist bei aller Routine hart und nicht ungefährlich; erst im Vorjahr hat ein betrunkener Autoraser den allseits beliebten Kollegen Curt Wilcox umgebracht.

Dessen Sohn Ned ist es, der die einzige echte Sehenswürdigkeit der Stadt entdeckt. Der junge Mann, gerade der High School entwachsen, verdient sich in der Telefonzentrale das Geld für sein Studium, als er im Schuppen B hinter der Kaserne eine erstaunliche Entdeckung macht: Dort steht gut versteckt ein fabelhaft erhaltener Oldtimer der Marke |Buick Roadmaster|, Baujahr 1958, genannt „Buick Eight“, denn acht Zylinder verleihen dem mächtigen Motor Schwung.

Theoretisch jedenfalls, denn tatsächlich ist die Maschine gar keine, wie überhaupt dieser |Buick| kein Auto ist. Statt dessen ist er eine Attrappe in Pkw-Gestalt, das rätselhafte Artefakt einer Intelligenz, die ganz sicher nicht von dieser Welt ist: Obwohl der |Buick| sich aus eigener Kraft überhaupt nicht bewegen kann, öffnet er das Tor in eine andere Dimension, wie sie fremdartiger kaum vorstellbar ist. Troop D ist 1979, vor mehr als zwei Jahrzehnten, in den Besitz des Buick gekommen. Es hatte damals nicht lange gedauert, bis die Polizisten begriffen, dass sie vom Schicksal zu Hütern dieses infernalischen Gefährts bestimmt waren: Der unglückliche Trooper Ennis Rafferty geriet noch am Abend des Fundtages in den Bann des |Buicks|, der eine eigentümliche Anziehungskraft auf Menschen ausübt – und verschwand auf Nimmerwiedersehen.

Seine entsetzten Kollegen beschlossen, die Tragödie zu vertuschen, und das Rätsel selbst zu lüften. Zwanzig Jahre gelingt es erfolgreich, den Wagen vor den vorgesetzten Behörden und der Öffentlichkeit zu verbergen; zwanzig Jahre, in denen besonders Curt Wilcox sich verbissen müht, hinter die Kulissen des |Buicks| zu blicken. Doch dieser bleibt ein Mysterium – ein hochgradig gefährliches dazu, denn obwohl der Buick nicht fahren kann, funktioniert er als Materietransmitter weiterhin hervorragend – und zwar in beide Richtungen! Ohne Vorwarnung sind in diesen beiden Jahrzehnten immer wieder Besucher aus der „Twilight Zone“ im Schuppen B aufgetaucht – unendlich fremde, grässlich anzusehende Kreaturen, die in der für sie giftigen Erdluft rasch zugrunde gingen, aber manchmal lange genug lebten, um ihre unfreiwilligen Gastgeber in Angst und Schrecken zu versetzen.

Das ist die Geschichte, die der faszinierte Ned zu hören bekommt. Es zeigt sich, dass der junge Wilcox von dem |Buick| genauso besessen ist wie der alte: Ned will Gewissheit erzwingen, wo sein Vater scheiterte. Mit vollem Wissen öffnet er die Schleuse zu jener anderen Welt. Darauf hat der |Buick| nur gewartet, und zum ersten Mal spielt er seine Macht voll aus. Die Folgen sind buchstäblich unglaublich …

Schon mit „Duddits – Dreamcatcher“ hatte es sich 2001 angekündigt: Nach seinem schweren Unfall 1999, vor allem aber nach Überwindung seiner langen Alkohol- und Drogenabhängigkeit findet der Schriftsteller Stephen King zu einer Form zurück, die man ihm nach den vielen enttäuschenden Werken der jüngeren Vergangenheit (unter denen das wirr-komplizierte, hohl-geschwätzige Endlos-Epos „Wizard and Glass“, 1997 – dt. „Glas“ – einen traurigen Spitzenplatz einnimmt) gar nicht mehr zugetraut hatte. „From a Buick Eight“ stellt zu „Duddits“ sogar noch einmal eine deutliche Steigerung dar.

Da ist zunächst einmal die wohltuende Kürze des Werkes. Nun sind 500 Seiten nicht gerade wenig, doch im Vergleich zu den immer umfangreicher werdenden King-Geschichten der Jahre bis ca. 2000 eben doch deutlich weniger. (Auch „Duddits“ war bei allen Qualitäten deutlich zu lang.) Nachdem endlich der Profi und Horror-Spezialist Stephen King sein Alter Ego, den Koks-König gleichen Namens, ersetzt hat, wird nun wieder deutlich, was diesen Mann so beliebt und berühmt gemacht hat: Hier ist ein Autor, der das Unheimliche nicht nur in einzelnen Szenen heraufzubeschwören weiß, sondern es in eine Gesamtgeschichte integriert, die kundig die Spannung aufbaut, meisterhaft hält und stetig intensiviert, um in einem furiosen Finale die Fetzen fliegen zu lassen. Da ist es um so erfreulicher, dass es ihm inzwischen gelingt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Überhaupt ist „Der Buick“ im Grunde ein Roman ohne Handlung – da sitzen einige Männer und Frauen und erzählen Geschichten, die sich längst ereignet haben. Und der Buick, der doch die Rolle der Chef-Monsters übernimmt, fährt aus eigener Kraft keinen Millimeter. Das ist von King ebenso boshaft wie klug ausgedacht; er nimmt dadurch vor allem auch den Kritikern den Wind aus den Segeln, die sich darüber mokieren, dass der ohnehin von ihnen gern Geschmähte „schon wieder“ ein Geisterauto ins Zentrum stellt. Dabei sind seit „Christine“ knapp zwei Jahrzehnte verstrichen; bezieht eigentlich Anne Rice soviel Prügel wie King, weil sie seit Jahr und Tag Vampirreißer am Fließband produziert? King selbst hat die (rhetorische) Frage gestellt, welcher wirklich neue Plot denn einem Schriftsteller noch einfallen könnte, der fünfzig Romane verfasst hat. Nüchtern kann er sich jedenfalls heute müheloser denn je gegen die schreibende Konkurrenz wie Dean Koontz oder James Herbert (oder ihr klägliches deutsches Surrogat Wolfgang Hohlbein) behaupten!

So begibt sich Profi King zwangsläufig auf bereits beackerte Felder. Der |Buick Roadmaster| ist eindeutig das Transportmittel eines der legendären „Männer in Schwarz“ (oder „Men in Black“ – die klamottige Variante verbreitet von Zeit zu Zeit in Gestalt des Duos Will Smith/Tommy Lee Jones im Kino Ärger und Langeweile), die als tölpelhafte Kundschafter angeblich außerirdischer Besucher untrennbar zur UFO-Hysterie ab 1950 gehören.

Macht man ihm solche „Anleihen“ nicht zum Vorwurf, bietet „Der Buick“ Spaß und Grusel für viele angenehme Lektüre-Stunden. Natürlich ist dies nicht der fein gesponnene, „psychologische“ Horror (möglichst ohne Gespenst), den die Literaturkritik ebenso wehmütig wie scheinheilig einzufordern pflegt. Der ist aber auch gar nicht Kings Metier, wie er selbst nie müde wird zu erwähnen. Trotzdem lässt sein gern zitiertes Bild vom „Hamburger mit einer großen Portion Fritten“ als Pendant zum typischen King-Roman viel Koketterie erkennen: Er weiß sehr gut, was er kann. Auch „Der Buick“ ist nicht einfach „nur“ spannend. Das Drumherum stimmt: Wieder hat King mit den Männern und Frauen des Troop D nicht nur Pappkameraden geschaffen, sondern echte Menschen, keine Helden oder Schurken, sondern Durchschnittsamerikaner, wie sie so authentisch (und sympathisch) wenigen anderen Autoren gelingen würden.

Apropos Kritik: Ja, es trifft zu, dass King (wieder) zu viel des Guten tut, wenn er seinem Publikum die aus dem Kofferraum des Buicks schlüpfenden Ungetüme in allen Details vor Augen führt. H. P. Lovecraft wurde derselbe Vorwurf gemacht. Seltsamerweise liest man seine Geschichten deshalb heute nicht wenig gern und oft. Es kommt auch hier darauf an, dass man es richtig macht – und der alte Mann aus Maine zieht noch manchen Trumpf aus dem Ärmel; die Episode mit dem im eigenen Saft kochenden Polizeihund Mr. Dillon ist in ihrer Mischung aus Tragödie, Grauen und schwarzer Komik King at his best: Volldampf im Kessel, wenn’s sein muss, und zum Teufel mit den Nörglern!