Rachel Caine – Tinte und Knochen (Die Magische Bibliothek 01)

Dark Academia hoch zwei

Die Bibliothek von Alexandria ist die mächtigste Organisation der Welt. In jeder Stadt gibt es eine Zweigstelle, und die Bibliothekare sind einflussreiche Männer und Frauen, die über das Wissen der Menschheit herrschen. Der private Besitz von Büchern ist strengstens verboten. Jess Brightwell liebt Bücher, auch wenn er nur illegal mit ihnen zu tun hat. Er stammt aus einer Schmugglerfamilie, die Bücher auf dem Schwarzmarkt verkauft. Jess‘ Leben ändert sich von Grund auf, als sein Vater ihn als Spion in den Orden der Bibliothekare eingeschleust. Jess reist nach Alexandria, um in der Großen Bibliothek seine Ausbildung zu machen. Dort kommt er einer gewaltigen Verschwörung auf die Spur – und stellt fest, dass den Großmeistern der Bibliothek ein einzelnes Buch mehr wert ist als ein Menschenleben … (Verlagsinfo)

Die Autorin

Rachel Caine, »New York Times«- und internationale Bestsellerautorin, hat bereits als Buchhalterin, professionelle Musikerin und Schadensermittlerin gearbeitet, und war Geschäftsführerin in einem großen Unternehmen, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete und mit zahlreichen Fantasy- und Mysteryserien große Erfolge feierte. Sie lebte mit ihrem Mann, dem Künstler R. Cat Conrad, in Texas. Rachel Caine verstarb 2020.

Die Magische Bibliothek

1) Tinte und Knochen (Mai 2023)
2) Papier und Feuer (15.5.2024)
3) Asche und Feder (14.8.2024)
4) Feuer und Eisen (16.Juli 2025)

Handlung

Jess Brightwells Vater ist ein Londoner Bücherschmuggler, ein sehr riskantes Geschäft. Denn die Bibliothek von Alexandria und ihre Angestellten beanspruchen des Monopol auf buchbasiertes Wissen und haben schon viele Erfindungen wie etwa den Buchdruck mit beweglichen Lettern unterdrückt – und deren Erfinder unschädlich gemacht. Demzufolge sind Bücher extrem wertvoll. Die Garda genannte Polizei von London ebenso wie die Bibliothekspolizei verfolgen jedoch jeden Schmuggler, und jeden, den sie erwischen, erwartet ein schlimmes Ende. Sie verfolgen auch die „Brandschatze“r, die lieber Bücher verbrennen, als sich von der Bibliothek vorschreiben zu lassen, was sie lesen dürfen.

Das weiß auch Jess, als er im Jahr 2025 auf einen neuen Auftrag ausgeschickt wird. Es ist ein dramatisches Spießrutenlaufen. Doch der eigentliche Schock folgt, als er das Buch dem Kunden übergeben hat: Der frisst es vor seinen Augen auf – das letzte und einzige Exemplar von „Die Herstellung von Sphären“ eines gewissen Archimedes. Der Besitz des Buches steht unter Todesstrafe. Der Schock über die Vernichtung dieses einzigartigen Wissens ist niederschmetternd. Nicht einmal sein Vater noch sein Bruder Brendan können Jess wieder aufmuntern.

Sechs Jahre später (2031)

Fortan widmet sich Jess der Aneignung des (verbotenen!) Wissens aus den Büchern, die sein Vater in einem Versteck hortet. Damit ihn sein skrupelloser Bruder Brendan nicht verpfeift, zahlt Jess ihm einen Obolus. Nun verfällt sein Vater auf einen Geniestreich: Da Jess schon fast erwachsen ist, soll er in die Bibliothek selbst zur Ausbildung. Er könnte dann, so der clevere Plan, von innen heraus Bücher stehlen und Informationen weitergeben. Jess glaubt nicht, dass er dafür qualifiziert sei, doch es kommt anders: Er wird zur Ausbildung angenommen.

Die Reise nach Alexandria beginnt mit Terror: Ein Brandschatzer hält erst eine Brandrede, die Jess sehr zu denken gibt („Ein Leben ist mehr wert als ein Buch!“), doch als die Cops der Garda anrücken, setzt sich der Mann mit griechischem Feuer selbst in Brand. Ein Polizist reißt den wie erstarrten Jess um und zerrt ihn an einen sicheren Ort unter einem Waggon. Griechisches Feuer lässt sich nicht löschen, daher muss man warten, bis es sich selbst verzehrt hat. Der Zugverkehr verzögert sich erheblich, und erst Tage später kann Jess die Meerenge von Gibraltar überqueren. Inzwischen hat er in dem Deutschen Thomas Schreiber einen angenehmen Reisebegleiter gefunden. Thomas kommt aus Berlin und will sich den Ingenieuren anschließen.

In Marokko steigen zwei Damen zu, die ebenfalls in Alexandria studieren wollen. Khalila Seif ist die beste ihres Jahrgangs, weiß Thomas: Sie hat als einzige alle Prüfungsfragen richtig beantwortet. Jess erinnert sich seiner Manieren und stellt sich ihr vor. Allerdings verhindert ihr Aufpasser, angeblich ihr Onkel, jede weitere Annäherung. Die zweite Dame erwischt den Zug noch in letzter Sekunde: Graine Wathen stammt aus dem feindlichen Wales. Die Waliser Nationalisten bekriegen die Engländer seit geraumer Zeit und scheinen erfolgreich voranzukommen.

Alexandria

Es sind rund 30 Kandidaten, die sich am Bahnhof von Alexandria instinktiv um den hoch ragenden Thomas Schreiber versammeln. Da begrüßt ein streng und vornehm aussehender Mann die Gruppe: Christopher Wolfe ist ein Manager der Bibliothek – ein „Gelehrter“ – und führt alle zu ihrem Wohngebäude. Sein erstes Bett muss sich Jess erkämpfen: Ein Typ namens Dario Santiago behauptet, er habe dieses Zimmer für sich allein bekommen. Körperliche Gewalt entscheidet die Frage: Jess darf bleiben

Schon am nächsten Morgen muss Jess ungeduscht zur Prüfung: Es sind zwei Tests, doch er besteht. Dann folgt eine Führung, in der er zu seinem Schrecken feststellt, dass ein Seitentrakt der Bibliothek von einem unheimlichen Gefäß unter der Decke beherrscht wird: ein Behälter, der mit Griechischem Feuer gefüllt ist! Mit vereinten Kräften gelingt es ihm, Dario und Thomas, alle 30 Kandidaten in Sicherheit zu drängen. Das bringt ihm Pluspunkte ein, so dass er nicht an der anschließenden Verlosung teilnehmen muss. Die junge Anna und noch jemand werden von Wolfe umstandslos nach Hause geschickt. Widerstand ist zwecklos. Diese strenge Auslese erklärt sich durch die Tatsache, dass nur sechs Plätze zu vergeben hat.

Lektionen

Die Magie, mit der die mächtige Bibliothek arbeitet, ist komplex und vielfältig. Jeder Bürger hat beispielsweise einen „Kodex“ genanntes Tage- und Notizbuch, dessen Inhalt täglich in das Archiv der Bibliothek „gespiegelt“ wird. Die Technik der Spiegelung ist grundlegend, und alle verlassen sich ebenso darauf wie auf die Funktionsfähigkeit ihres Kodexes. Jeder hat zudem ein Blankobuch, in das die Bibliothek ihre Inhalte spiegeln kann, etwa zu Bildungszwecken. Soll ein Inhalt indes endgültig ins Archiv übertragen werden, findet eine Translation statt. Jess fällt auf, dass bei diesen magischen Vorgängen sogenannte „Obskuristen“ am Werke sind, und das ist pure Alchimie. Eine weitere Achillesferse der Bibliothek.

Die Frau aus Oxford

Eines Tages sitzt eine unbekannte junge Frau am Frühstückstisch. Jess hat sich angewöhnt immer als erster zum Frühstück zu kommen, denn dann sind die Brötchen noch warm und der Kaffee noch nicht alle. Sie sieht ausgehungert und abgemagert aus, also gibt er ihr Brötchen, Kaffee und anschließend auch Fleisch und Würstchen. Es ist gleich alles ratzekahl verputzt. Kein Wunder, denn Morgan Hault kommt aus einer von der Walisern belagerten Stadt: Oxford. Jess kann sich einige schlimme Dinge vorstellen, die nach einer langen Belagerung mit den Belagerten passieren. Er ahnt nicht, was es mit Morgan Hault auf sich hat, denn sie ist Nr. 21 und dürfte eigentlich gar nicht hier sein. Ist sie eine heimliche Brandschatzerin, eine Schmugglerin – oder etwas Schlimmeres?

Der Befehl

In einer verschlüsselten Botschaft weist ihn sein Vater an, ein verschollen geglaubtes Original des griechischen Dichters Aristophanes zu besorgen und einem Mittelsmann zu übergeben. Aus einer Villa, die weit außerhalb der Stadt liegt, gelingt es ihm, das Original aus einem Geheimfach zu stibitzen. Doch seine Überraschung ist groß, als sich kein anderer als sein Bruder Brendan als Mittelsmann herausstellt. Offenbar will sein Vater auf Nummer sicher gehen – und behält Jess im Auge.

Als am nächsten Morgen Gelehrter Wolfe eine Razzia in eben dieser Villa anordnet und Jess samt Team mitnimmt, denkt Jess gleich, dass dies kein Zufall sein kann. Oder doch? Er ist jedenfalls der einzige, der das Geheimversteck des Schmugglers aufspürt. Das verrät Wolfe einiges über Jess und dessen Familie.

Nach Oxford

Der nächste Auftrag soll die Prüflinge Wolfes nach Oxford führen, ausgerechnet in die von Walisern belagerte Stadt. Mission: Die dort noch vorhandenen Originale in das Archiv, das sich in der großen Bibliothek befinden, mithilfe magischer Buchklemmen zu transferieren. Das ist war ziemlich nervenaufreibend und kräftezehrend, aber was sie nicht schaffen, dann müssen sie eben im Rucksack aus der Stadt bringen.

Rettungsmission im belagerten Oxford: die literarischen Schätze des Serapeums sollen gerettet werden. Schon der Transport der Studenten dorthin ist von Gefahren und Horror begleitet: Aus dem Inneren der Großen Pyramide der Bibliothek in Alexandria geht es mithilfe einer magischen Vorrichtung durch ein Dimensionstor nach Aylesbury, wo nicht jeder lebend ankommt. Auch Jess verspürt einen gewaltigen Schmerz in seinem Kern, ganz im Gegensatz zu den beiden Frauen Glaine und Morgan.

Doch einer aus ihrer Gruppe ist so schwer verletzt worden, dass er stirbt. Keiner, den Jess genauer kennt. Bemerkenswert findet er, dass der Gelehrte Wolfe sich traut, gegen den Befehl des hohen Archivars zu protestieren – zu Recht, wie sich zeigen soll. Jess macht sich Sorgen um Morgan, denn sie rechnet damit, dass ihr Vater, der in Oxford weilt, sie dort festhalten will. Etwas ist an Morgan, das sie für ihn besonders anziehend macht, und das nicht bloß an ihren magischen Kräften…

In Oxford, das sie nur dank der Autorität der Bibliothek erreichen, stößt Jess auf ein weiteres Mitglied seiner Familie: Cousin Frederick gehört zu den Schmugglern, versteht sich, hält aber auch einen Rückzugsweg bereit. Doch auch die Brandschatzer und Morgans Vater schlafen. Die Stadt wieder zu verlassen, erweist sich als noch schwieriger, als hineinzugelangen…

Mein Eindruck

Ein actionreicher Auftakt mit dramatischem Finale führt den Leser schon im PROLOG direkt in eine gefahrvolle Welt ein, die von der unseren in vielfacher Hinsicht verschieden ist. Statt der römisch-katholischen Inquisition herrscht seit dem 15. Jahrhunderts die große Bibliothek absolut und eifersüchtig über die Verbreitung von Wissen, insbesondere in Büchern und Bauplänen. So wurde bereit 1455 Johannes Gutenberg in den tiefsten Kerker geworfen, weil seine Druckerpresse den Massen erlaubt hätte, Wissen massenhaft und unkontrolliert zu verbreiten (was ja in unserer Welt zur Reformation und der Kirchenspaltung führte). Paris wurde dem Erdboden gleichgemacht, um als abschreckendes Beispiel zu dienen, wozu die Bibliothek bereit ist, um gegen „Ketzer“ vorzugehen.

Unterdrückung

Deshalb hat die Bibliothek, geführt vom Obersten Archivar, vom Magnus Artifex und vor allem von den magiebegabten Obskuristen, eine Armee von Polizisten und Geheimagenten geschaffen, die dafür sorgen soll, dass keine Bücher geschmuggelt werden. Schmuggler wie Jess müssen um ihr Leben fürchten, und tatsächlich wird sein Bruder Liam am Galgen gehängt. Umso vorsichtig ist Jess bei seiner Arbeit, auch als Kandidat. Er nutzt den Geheimcode seiner Familie, aber auch er kann nicht ahnen, dass sein Ausbilder von der Bibliothek geächtet worden ist und nach gewissen ketzerischen Aktionen eigentlich niemanden mehr ausbilden dürfte. Nur die Tatsache, dass seine Mutter die oberste Obskuristin ist, schützt ihn vor einem Ende im Kerker. (Alle diese Fakten erfährt Jess erst Ende seines Prüfungsjahres.)

Die Entdeckung, dass sein eigenes Notizbuch durch Magie abgehört wird, erschüttert Jess‘ Vertrauen in die Bibliothek zutiefst. Die Folgen sind nicht auszudenken: Sein bester Freund, der Deutsche Thomas Schreiber, hat aus Menschenliebe eine Maschine erfunden, die, wie sich nun herausstellt, den Interessen der Bibliothek zuwiderläuft. Und das könnte für Thomas das Todesurteil bedeuten. Zusammen mit Wolfe und dessen Gardehauptmann Santi bricht Jess zu einer nächtlichen Rettungsaktion auf. Ob er noch rechtzeitig eintrifft?

Der Widerstand

So viel Unterdrückung ruft automatisch eine Widerstandsbewegung ins Leben: die sogenannten „Brandschatzer“. Die Brandschatzer tauchen überall auf, wo Jess sie nicht vermutet: mitten im Bahnhof, wo sie einer selbst verbrennt, oder sogar in einer belagerten Stadt wie Oxford. Sie verfügen neben ihrer Entschlossenheit und Wut über eine gefürchtete Waffe: Griechisches Feuer, eine sehr leicht brennbare und kaum löschende Flüssigkeit, die schon in der Antike eingesetzt wurde. Doch als sein Zug von London nach Alexandria nicht nur von grünem Griechischem Feuer in Brand gesetzt wird, sondern auch in einer blendend weißen Explosion vergeht, ahnt Jess, dass es noch eine schlimmere Waffe geben muss.

Liebe

In einer derart gefahrvollen Welt, wo sich Kandidaten zwischen zwei Fronten bewegen müssen, kann es nicht ausbleiben, dass auch Liebe zu einem riskanten Unterfangen gerät. Wem soll man noch trauen, wenn überall Verrat lauert? Und das Fundament der Liebe ist ja Vertrauen. Als sich Jess und Morgan Hault ineinander verlieben, ist das zwar sehr schön mitzuverfolgen, aber die Autorin ist sehr clever und geschickt darin, Fallgruben zu erschaffen, die selbst den verliebtesten Romeo zu einem Judas machen können. Wendungen wie diese lassen selbst Phasen der Ruhe – Jess ist in Oxford schwer verwundet worden – spannend werden.

Die Übersetzung

S. 266: „bis auf die Zähne bewaffnet“. Korrekt sollte es „bis an die Zähne bewaffnet“. Mit deutschen Redewendungen steht die Übersetzerin auf Kriegsfuß.

S. 391: So auch hier: „Schreie, die ihm durch Mark und Beine gegangen waren“: Es ist sind aber keine Beine gemeint, sondern Knochen: „durch Mark und Bein“.

S. 493: „als dieses Pergament zu unterschrieben“: ein Buchstabendreher. Korrekt müsste es „unterschreiben“ heißen.

S. 496: „Schwungvoll klappt[e] er sie zu“: Das E der Vergangenheitsform fehlt.

Unterm Strich

Schon ihrem Zyklus über die Wetterwächter hat sich die Autorin eine in sich stimmige Welt einfallen lassen. Die Welt der Großen Bibliothek erfüllt sämtliche Kriterien für das Muster der „Dark Academia“: Es gibt viel zu lernen, aber schon dieser Prozess ist mit großen Gefahren verbunden. Da sind beispielsweise die Löwen vor jedem Serapion, der lokalen Bibliothek: Sie sind keine Dekoration wie bei uns, sondern können zum Leben erwachen. Auch die drei Direktoren der Bibliothek hüten Geheimnisse, die keiner wissen darf. Kurzum: Die kriminelle Vergangenheit der römisch-katholischen Kirche ist ein Ponyhof im Vergleich zu den Machenschaften der Alexandria-Zentrale.

Zusammen mit einer wendungsreichen Handlung kombiniert diese gefahrvolle Welt das Fundament für einen vierteiligen Zyklus voll Abenteuer, Romantik und Action. Die obendrein lesefreundliche Größe der Schrift trug zu einem meiner erfreulichsten Leseerlebnisse in der letzten Zeit bei. Nur für die paar Fehler in der Übersetzung gibt es Punktabzug.

Gebunden: 509 Seiten.
O-Titel: The Great Library – Ink and Bone, 2015
Aus dem Englischen von Beate Brammertz.
ISBN-13: 9783453274181

www.heyne.de

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