Uwe Beyer (Hrsg.) – Friedrich Hölderlin. 10 Gedichte (Erläuterungen)

Hilfreiche Analysehilfen

Zehn Gedichte Hölderlins, die stellvertretend für das Gesamtwerk des Autors stehen, werden zusammen mit einem ausführlichen Zeilenkommentar, Interpretationshilfen sowie ausgesuchten Forschungsstimmen vorgestellt, ergänzt durch Informationen zum Autor: ‚Diotima – Buonaparte – Da ich ein Knabe war … – Heidelberg – Brod und Wein. An Heinze – Dichterberuf – Patmos. Dem Landgrafen von Homburg – Hälfte des Lebens – Mnemosyne – Der Spaziergang‘. (Verlagsinfo)

Der Herausgeber

Uwe Beyer ist ein ausgewiesener Hölderlin-Experte. „Dr. phil. Uwe Beyer M.A.
• studierte Philosophie, Evangelische Theologie, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Hamburg
• war dort nach seiner Promotion 1990 Lehrbeauftragter am Philosophischen Seminar und Wissenschaftsorganisator (Planung und Durchführung von Ringvorlesungen im Rahmen des öffentlichen Vorlesungswesens)
• gehört zu den Gründungsmitgliedern der seit 2006 bestehenden Evangelischen Stadtakademie Aachen (ESA) und hat deren Leitbild formuliert
• Ist publizistisch vor allem als Herausgeber von Sammelbänden tätig – der jüngste, die deutsch-chinesische Anthologie “Corona-Rhythmen. Zwei Mal zwanzig Zeitgedichte”, ist im Dezember 2021 erschienen
• Schreibt als Autor wissenschaftliche Bücher und Aufsätze bevorzugt über philosophische und theologische Themen“ (Quelle: Impuls-philosophie.de)

Vorwort

In seinem VORWORT stellt er Hölderlin und dessen Generation vor, die sich in einer kulturellen Krise befand: Revolution in Frankreich, Invasion, Untergang des alten Deutschen Reiches anno 1806, Flucht der Geliebten, Flucht aus Jena und vieles mehr. Ein kurzer Lebenslauf Hölderlins folgt, denn der klassizistische Dichter, geboren 1770 in Nürtingen, lebte zum Erstaunen seiner Freunde und Kritiker trotz einschneidender Erfahrungen (Entmündigung 1803) noch bis 1843 in Tübingen.

Die Ausgabe

Der Herausgeber stützt sich nicht einfach auf die Reclam-Ausgabe „Sämtliche Werke“ von 2000, sondern auf die Stuttgarter Ausgabe „Sämtlicher Werke“ von 1943-1985 – und korrigierte diese scheinbar endgültige Version noch einmal anhand der Erstdrucke und Handschriften. Dabei nahm er die Korrekturen der Stuttgarter Ausgabe wieder zurück. Ein bemerkenswert werktreues Vorgehen.

Faksimiles wie etwa von „Mnemosyne“ und „Patmos“ zeigen Hölderlins schwierig zu entziffernde Handschrift. Die Transkription von „Mnemosyne“ legt die zahlreichen Korrekturen offen. Faksimiles von Porträts, Stadtansichten und Seminarstundenplänen erschließen ein wenig das Umfeld des Dichters.

Der Herausgeber begründet seine Auswahl der zehn Gedichte – sie bilden einen repräsentativen Querschnitt, quasi in Stichproben. Seine These aus einem Buch über Hölderlins Werke vor 1800 lautet: „Sie (die Gedichte vor 1800) werden besonders daraufhin gedeutet, wie sich Hölderlins Geschichtsphilosophie in Wechselwirkung mit seiner Biographie entwickelt.

Es zeigt sich, dass Hölderlin den Sinn des eigenen Lebens mit der Perspektive einer versöhnt in Frieden lebenden Menschengemeinschaft zu verknüpfen sucht: ein existentielles Anliegen, das sich als Hauptursache für seine spätere soziale Isolation und geistige Zerrüttung erkennen lässt.“ (gefunden auf Amazon.de)

Die Gedichte

Hier folgen keine Inhaltsangaben, denn diese liefert ja das Buch. Aber hier sind einige der „üblichen Verdächtigen“ versammelt, die für Hölderlin-Fans unverzichtbar sind.

1) Diotima (= Susette Gontard) (Zyklus ab 1796)
2) Buonaparte (1797)
3) Da ich ein Knabe war (1797/98)
4) Heidelberg (ca. 1800)
5) Brod und Wein (1801, VÖ 1806)
6) Dichterberuf (1798, 1800, 1801)
7) Patmos (1803; „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“)
8) Hälfte des Lebens (1803, VÖ 1804)
9) Mnemosyne (zwischen 1801 und 1806, siehe „Musen“)
10) Der Spaziergang (1810)

Anmerkungen

Zu jedem ausgewählten Text hat Beyer die Quellen ausfindig gemacht, die ja immerhin schon über 200 Jahre alt sind. Manche der Quellen liegen in unterschiedlichster Fassung vor, was die Auswahl nicht gerade erleichtert. Somit ist die Schilderung der Entstehungsgeschichte unumgänglich – und uns sehr willkommen. So erfahren wir erstaunt, dass ausgerechnet Schiller zu Hölderlins Gegnern gehöre und der Idealismus, der – von Fichte & Co. – in Jena gelehrt wurde, toxisch auf Hölderlin wirkte, so dass er Reißaus nahm.

Die Besonderheiten der jeweiligen lyrischen Form – Ode, Elegie, Hymne usw. – werden erläutert, woran sich die sehr notwendigen Anmerkungen anschließen. Denn der Dichter war zwar ein Experte der Form, aber auch ein Nutzer der zeitgenössischen Schriftsprache. Und diese weicht von der heutigen Sprache und Schreibweise erheblich ab: „Bord“ statt „Brot“, „streken“ statt „strecken“ usw. Diese Stellen werden im „Zeilenkommentar“ berücksichtigt und erklärt.

Analysen

Hier zitiert der Herausgeber verschiedene „Forschungsstimmen“. Dies stammen von Dozenten aus der Nachkriegszeit bis in die Zeit um das Jahr 2000. Selbst bei einem so kurzen Gedicht wie „Hälfte des Lebens“, einem der neun „Nachtgesänge“, zeichnen sich daher ganz erhebliche Meinungsverschiedenheiten ab. Der Leser ist dadurch in der Lage, sich sein eigenes kritisches Urteil zu bilden – oder diese Quellen in eigenen Arbeiten zu zitieren. Denn der Herausgeber selbst enthält sich einer eigenen Interpretation. Der Grund ist leicht ersichtlich: Es gibt einen gesonderten RECLAM-Band mit „Interpretationen. Gedichte von Friedrich Hölderlin“.

Unterm Strich

Hier könnte selbst ein Hölderlin-Kenner, wofür ich mich gehalten habe, noch sehr vieles entdecken, sowohl die Person des Dichters und seine Werke betreffend, aber auch das geistige und kulturell-politische Umfeld betreffend. Wie eingangs erwähnt, war zwischen 1789 und 1806 sehr vieles in Mitteleuropa im Umbruch: das alte Heilige Römische Reich deutscher Nation ging unter (Hölderlin war auf dem Reichstag in Regensburg), die Österreicher und ihre Koalitionsarmee wurden besiegt, die Preußen wurden besiegt, und Deutschland war auf einmal französisch.

In dieser turbulenten Zeit versucht der klassisch gebildete Dichter Hölderlin alles miteinander in Einklang und auf einen Nenner zu bringen. Es gelingt ihm nur, bis er 33 wird, dann entmündigt man ihn, stellt ihn unter Kuratel und bringt ihn in Tübingen in einem kleinen gelben Turm unter. Dort lebt er noch erstaunlich lange Zeit.

Seine Dichtung folgt den Zwängen der Zeit und des Lebens. Aus den hoch fliegenden Oden und Elegien wird 1810 ein sehr konventionelles Reimgedicht, das „Der Spaziergang“ heißt. Früher hätte es vielleicht „Wanderung zum Olymp“ geheißen.

Die Anmerkungen erschließen die ausgewählten zehn Texte und deren Entstehungsgeschichte. „Forschungsstimmen“ bieten Interpretationsmöglichkeiten und Ansätze für die Kritik. Der Herausgeber enthält sich der eigenen Stimme, sondern macht vielfältige Angebote. Der Grund ist leicht ersichtlich: Es gibt einen gesonderten RECLAM-Band mit „Interpretationen. Gedichte von Friedrich Hölderlin“. Eine Bibliographie führt zu den primären Quellen und der umfangreichen Sekundärliteratur weiter. Ein Abbildungsverzeichnis liefert Beschreibungen und Quellen zu den elf Illustrationen und Faksimiles.

Mit einem Preis von 7 Euronen für 255 Seiten gehört dieses illustrierte Buch zu den preiswertesten Hölderlin-Ausgaben überhaupt. Denn die Preise für literaturwissenschaftliche Fachliteratur sind in den letzten Jahren quasi durch die Decke gegangen. Das zeigt sich auch bei den Gebrauchtpreisen: 29 oder 42 Euro sind keine Seltenheit, seitdem das Buch bei Reclam nicht mehr angeboten wird, zumindest online (auch nicht bei Amazon.de).

Fazit: volle Punktzahl.

Taschenbuch: 255 Seiten
ISBN-13: 9783150160619

www.reclam.de

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