Jeschke, Wolfgang; Pohl, Frederik (Hrsg.) – Titan-3

_Nachdenkliche SF: zwischen Trennungsschmerz und Verschwindibus_

In der vorliegenden ersten Ausgabe des Auswahlbandes Nr. 3 von „Titan“, der deutschen Ausgabe von „Star Science Fiction 1+2+4“, sind viele amerikanische Kurzgeschichten gesammelt, von bekannten und weniger bekannten Autoren. Diese Auswahlbände gab ursprünglich Frederik Pohl heraus. Er machte den Autoren 1953 zur Bedingung, dass es sich um Erstveröffentlichungen handeln musste. Das heißt, dass diese Stories keine Wiederverwertung darstellten, sondern Originale.

Die Kriterien der deutschen Bände waren nicht Novität um jeden Preis, sondern vielmehr Qualität und bibliophile Rarität, denn TITAN sollte in der Heyne-Reihe „Science Fiction Classics“ erscheinen. Folglich konnten Erzählungen enthalten sein, die schon einmal in Deutschland woanders erschienen waren, aber zumeist nicht mehr greifbar waren. TITAN sollte nach dem Willen des deutschen Herausgebers Wolfgang Jeschke ausschließlich Erzählungen in ungekürzter Fassung und sorgfältiger Neuübersetzung enthalten. Mithin war TITAN von vornherein etwas für Sammler und Kenner, aber auch für alle, die Spaß an einer gut erzählten phantastischen Geschichte haben.

_Die Herausgeber _

1) Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für Kenner“ im Lichtenberg Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Sciencefiction-Reihe Deutschlands beim Heyne Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und z.T. für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Seine erster Roman ist „Der letzte Tag der Schöpfung“ (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986). Eine seiner Storysammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“.

2) Der Werbefachmann, Autor, Literaturagent und Herausgeber Frederik Pohl, geboren 1919 in New York City, ist ein SF-Mann der ersten Stunde. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg gehörte er der New Yorker „Futurian Science Literary Society“ an, bei er seine späteren Kollegen Isaac Asimov und Cyril M. Kornbluth kennenlernte. Von 1940-41 war er Magazinherausgeber, wandte sich dann aber dem Schreiben zu.

Als er sich mit Kornbluth zusammentat, entstanden seine bekanntesten Romane, von denen der beste zweifellos „The Space Merchants“ (1952 in „Galaxy“, 1953 in Buchform) ist. Er erschien bei uns unter dem Titel „Eine Handvoll Venus und ehrbare Kaufleute“ (1971). Darin kritisiert er auf bissige, satirische Weise die Ausbeutung des Weltraums. Ebenso erfolgreich ist seine Gateway-Trilogie, die zwischen 1977 und 1984 erschien und von denen der erste Band drei wichtige Preise einheimste.

_Die Erzählungen_

_1) Henry Kuttner & C.L. Moore: „Eine abenteuerliche Vermutung“ („A Wild Surmise“)_

Timothy Hooten, ein junger Mann, liegt auf der Couch von Dr. Scott, seinem Psychiater. Tim hat seltsame Ideen. Wie wäre es, an dem Mast des Empire State Buildings, das er durch das Fenster sehen kann, ein Luftschiff festmachen zu lassen? Und wie merkwürdig, sich durch Bewegungen von Lippen und Zunge mitzuteilen, und auch die inwendige Anbringung seines Knochengerüsts kommt ihm falsch vor. Dr. Scott notiert eifrig mit und fragt nach den Gründen. Tim gibt an, dass er dies alles träumen müsse, denn sein wahres Ich schlafe ja.

Am nächsten Tag liegt er bei Dr. Rasp auf der Couch und putzt seine Fühler. Er habe einen merkwürdigen Traum gehabt, in dem er bei einem Dr. Scott auf der Couch gelegen und das Empire State Building gesehen habe, eine ganz andere Welt. Denn normalerweise stehe dort ja das Quatt Wunkery. Ganz genau, findet Dr. Rasp und schreibt Notizen auf seine Flügeldecken. Aber diesen Dr. Scott gebe es nicht. Er werde jetzt Tim übersommern lassen, damit er in Schlaf falle, okay? Tim kratzt seine Flügel mit einem seiner sechs Beine und willigt ein.

Tim wacht auf der Couch von Dr. Scott auf. Dieser gibt ihm eine Spritze Natriumpenthotal, damit Tim garantiert die Wahrheit sagt. Doch das Empire State Building draußen wirkt falsch: Es ist nicht das Quatt Wunkery. Was wird wohl Dr. Rasp dazu sagen? Dr Scott behauptet, diesen Dr. Rasp gebe ees nicht und ruft ihn herbei. Da flimmert die Luft, und ein sechsbeiniges Insekt erscheint …

|Mein Eindruck|

Handelt es sich wirklich um zwei Welten, in denen sich Timothy Hooten befindet? In der einen ist ein „normaler Junge“, in der anderen ein Insekt à la Gregor Samsa. Tatsächlich hat Kafkas „Die Verwandlung“ Pate gestanden, doch nun kommt auch noch die Quantentheorie hinzu. Ein Mensch wie Tim kann gleichzeitig in zwei benachbarten Raum-Zeit-Dimensionen existieren. Spannend wird es, wenn sich die eine Existenzform an die andere erinnert, etwa so, wie man sich im Wachsein an einen verrückten Traum erinnern würde.

_2) Judith Merril: „Die Auswanderer“ („So Proudly We Hail“)_

Susan und Will Barth sind ein amerikanisches Ehepaar, das am Scheideweg steht. Will wird heute mit dem Raumschaff zum Mars fliegen, um eine Kolonie zu gründen, doch Sue wird nicht mit dabei sein. Sie wurde aus medizinischen Gründen disqualifiziert. Das Problem ist nun, dass sie es ihm nie gesagt hat.

Als sie kurz vorm Start sagt, sie werde nicht mitkommen, muss er alles Mögliche annehmen. Seine erste Reaktion ist Zurückweisung ob dieses unerwarteten Verrats ihrer gemeinsamen Pläne und Träume. Er geht hinaus zum Zaun des Startgeländes und bekommt die Idee in den Kopf gesetzt, sie habe wohl einen anderen. Nichts könnte der Wahrheit ferner liegen. Ihr einziger Grund ist der, dass sie ihn so sehr liebt, dass sie verhindern will, dass er wegen ihr auf der Erde zurückbleibt, nur um danach ständig wegen der aufgegebenen Chance einen Groll gegen sie aufzubauen.

Die Startzeremonie wird abgehalten, am Zaun beobachtet von den Zurückbleibenden. Als die Zündung erfolgt ist, reißt sich Sue plötzlich los und stürzt ins entfesselte Höllenfeuer …

|Mein Eindruck|

Wie fast alle von Judith Merrills SF-Erzählungen aus den frühen fünfziger Jahren, so etwa auch „That only a mother“, steht der psychologische Aspekt des Geschehens stark im Vordergrund, und die Handlung ist fast nicht vorhanden. Aber die Autorin verleiht dem abgedroschenen Standardmoment eine neue Bedeutung, die er zuvor nicht hatte. Dass es sich bei dem Start der Kolonisten möglicherweise nicht um etwas Heroisches (die Nationalhymne wird zweimal zitiert), sondern um eine religiöse Veranstaltung handeln könnte, die man auch mit anderen Augen sehen kann.

Religiöse Untertöne erhält die Abschiedszeremonie durch die Beschreibung der „Oberpriester“, welche die „Opfergestalten“ der Aussiedler dem „Drachen opfern“, um ihn zum Verschonen der Sterblichen und zum Weggehen zu bewegen. Susans Selbstopferung im „Atem des Drachen“ erhält demnach eine völlig andere Bedeutung als ohne diese religiösen Untertöne. Sie sendet eine Botschaft der Liebe an ihren startenden Gatte, der diese Botschaft vielleicht erst in Jahren, wenn das Schiff landet, empfangen und verstehen können wird.

Die Erzählung hat einen bittersüßen Ton, der typisch ist für Merrill, wenn sie mal nicht sarkastisch ist. Aber aufgrund ihres psychologischen Realismus’ könnte die Geschichte genauso gut in einem Mainstream-Blatt abgedruckt werden.

_3) Isaac Asimov: „Junior“ („Nobody Here But –„)_

Bill und Cliff haben eine Denkmaschine gebaut, die einmal als Navigations- und Steuergerät in Schiffen, Flugzeugen und Autos dienen soll. Das „Navi“ ist etwa so groß wie ein Billy-Regal. Eines Tages stellt sich heraus, dass das Navi weitaus mehr kann.

Bill will abends mit Mary Ann, seiner rothaarigen Angebeteten, ins Theater gehen. Ungeduldig wartet sie bereits, als er noch kurz bei Cliff in der Werkstatt anruft, um sich Infos geben zu lassen. Er schreibt gerade die Notizen nieder, als Cliff eintritt und sich beschwert, warum Bill ihn nicht abgeholt habe. Bills Verstand kommt zu einem knirschenden Stillstand: Cliff sollte sich eigentlich sieben Kilometer entfernt befinden!

Nun, mit irgendjemandem hat Bill telefoniert, und wenn es nicht Cliff war, dann kann es nur Junior, ihre Denkmaschine, gewesen sein. Also fahren sie sofort hin, was Mary Ann natürlich noch ungeduldiger werden lässt. Junior hat sich nicht vom Fleck gerührt, aber er weigert sich, seine Schrauben herausdrehen zu lassen – jedenfalls solange bis die zwei EDV-Techniker drohen, ihn mit dem Schneidbrennen zu öffnen. Dann drehen sich die Schrauben von alleine auf. Sein Innenleben wurde etwas angereichert – aber nicht von seinen Erfindern.

Als sie ihm den Stecker rausziehen wollen, weiß Junior sie effektiv daran zu hindern. Was jetzt? Mary Ann beschwert sich über die Verspätung und den ekligen Dreck in der Werkstatt, will schon gehen. Bill ist hilflos. Da erklingt eine Stimme: „Nun frag sie schon, ob sie dich heiraten will!“ Und zu seiner eigenen Verwunderung tut Bill genau dies. Worauf ihm Mary Ann überglücklich um den Hals fällt.

Soweit, so schön. Mary Ann und Bill sind glücklich verheiratet. Jedenfalls solange er ihr nicht verrät, dass es nicht Cliffs Stimme war, die ihm riet, ihr den Antrag zu machen …

|Mein Eindruck|

Eine Erzählung aus der Urzeit der ersten Computer, als sie die kleiderschrank- und zimmergroßen „Elektronengehirne“ noch skurrile Namen wie ENIAC trugen. (Asimov schrieb wahrscheinlich eines seiner hundert Sachbücher darüber.) Asimov nimmt lediglich diese technische Entwicklung und extrapoliert sie in den Bereich der menschlichen Interaktion. Die Ergebnisse sind possierlich und dürften die damaligen bürgerlichen Leser gerührt und amüsiert haben. Wir findens nur noch niedlich.

Allerdings deutet der Name „Junior“ darauf hin, dass es sich um ein Kind, also einen Nachkommen von Menschen, handelt. Der Computer wird dadurch vermenschlicht. Das ermöglicht es, ihn in eine Beziehung zu Mann (Bill) und Frau (Mary Ann) zu setzen, die schon bald eigene Kinder haben werden. Insofern ist Junior ein Vorgrif auf ihre sexuelle Beziehung. Der Computer also als Fortsetzung der Evolution mit anderen Mitteln? Schön wärs.

_4) Arthur C. Clarke: „Die neun Milliarden Namen Gottes“ („The Nine Billion Names Of God“, 1953)_

Britische Computerwissenschaftler erhalten vom Lama eines tibetischen Klosters (denn damals war Tibet noch nicht von den Chinesen besetzt) den Auftrag, einen Rechner mit einem speziellen Programm zu liefern und vor Ort in Tibet zu betreiben. Der Mark V soll keine Zahlen knacken, sondern mit lediglich neun Zeichen die neun Milliarden Gottes buchstabieren. Den Zweck der Übung erfragt der Vertriebsbeauftragte lieber nicht. Der religiöse Charakter des Auftrags ist offenkundig.

Doch vor Ort machen sich die zwei Techniker nach Monaten des Buchstabendruckens allmählich Sorgen. Der Abt hat einem von ihnen gesagt, schon in wenigen Tagen werde der Auftrag beendet sein. Ja, und was passiert dann? In einem Anfall von Redseligkeit verrät es der Abt: Der Auftrag der Mönche, die Namen Gottes zu buchstabieren, sei erfüllt, Gott sei’s zufrieden und der Zweck seiner Schöpfung somit erfüllt. Ja, und was kommt danach, will der Techniker wissen? Wieso, fragt der Abt, danach kommt ein neues, ein anderes Universum …

|Mein Eindruck|

Hm, neun Milliarden: Das sind 9×10 hoch 9. Kann man diese hohe Zahl wirklich mit nur neun Zeichen erreichen? Dafür gibt es einen simplen Algorithmus, der mit neun hoch neun beginnt, womit die erste Permutation ausgeführt wird. Und danach folgen noch viele, viele weitere.

Aber das ist nebensächlich. Interessant ist an der Kurzgeschichte, dass der Autor, ein damals bekannter Ingenieur und Erfinder des Satelliten (1947), hier modernste Rechentechnik (der Mönch rechnet allerdings noch mit einem Abakus) und Religion bzw. Mystik miteinander verknüpft. Computer als Mittel zur Erkenntnis der Schöpfung? Das kann offenbar auch ins Auge gehen, allerdings mal wieder anders als erwartet.

_5) James E. Gunn: „Die Unsterblichen“ („The Immortals“, Novelle mit 54 Seiten)_

200 Jahre in der Zukunft. Die großen Städte der USA haben sich eingeigelt wie im Mittelalter und das Land, das den Baronen gehört, wird von deren Burgen beherrscht. So wie der von Gouverneur Weaver. Das Land jedoch wird nicht etwa von den Rittern der Barone beschützt, sondern ist den Gesetzlosen überlassen, den Leichenfledderern und Organhändlern. Denn das höchste Gut, das sich die Menschen vorstellen können, ist Unsterblichkeit – und wenn sie nur in einer Organverpflanzung besteht.

Überall herrscht Krankheit, denn Medizin ist teuer geworden. Das Medizinische Zentrum von Kansas City wuchs im Laufe der Jahre ständig weiter, bis es jetzt fast hunderttausend Mitarbeiter beherbergt. Einer davon ist der 18-jährige Arzt Harry Elliott, der eine Schnellausbildung durchlaufen hat. Er hantiert mit Diagnosemaschinen und verschreibt Medikamente; das ist sein Begriff von Medizin.

Eines Tages beobachtet er von seinem Fenster aus, wie unter am Tor der festungsartigen Klinikmauer ein Überfall stattfindet: Ein eskortierter und bewaffneter Patienten- und Medikamententransport – wahrscheinlich das Unsterblichkeitselixier – wird überfallen. Harry eilt hinunter und rettet drei Menschen aus der Ambulanz: einen alten, blinden Mann, einen Jungen und ein junges Mädchen, das aussieht wie dreizehn. Er lässt sie versorgen und geht zu Direktor Mork.

Mork hat einen ungewöhnlichen Auftrag für ihn. Er soll die drei Patienten zur Burg von Gouverneur Weaver geleiten und eine Botschaft überbringen, aber nicht als Arzt, sondern als unauffälliger Normalbürger. Alle anderen Versuche, zu Weaver durchzukommen, seien gescheitert; die Telefonverbindungen seien gekappt worden. Deshalb muss Elliott persönlich gehen, um die Botschaft zu überbringen. Und der Alte sei ein Heiler, den Weaver angefordert habe.

Damit aber das Mädchen nicht fliehen kann, lässt er Elliott einen simplen Armreif verpassen – das Gegenstück zu dem des Mädchens. Beide sind elektromagnetisch miteinander verbunden. Außerdem sind die Armbänder intelligent: Je mehr sich die beiden Bandträger voneinander entfernen, desto stärker wird der nervliche Schmerz, den der Armreif auf seinen Träger ausübt. Schon bald merken Harry und Marna, das Mädchen, dass diese Verbindung genauso funktioniert, wie beschrieben: Der Schmerz ist kaum auszuhalten. Folglich suchen sie ihre gegenseitige Nähe. Aber Harry soll sich bloß keine Schwachheiten einbilden, warnt sie ihn.

Kaum hat man sie widerwillig an der Stadtmauer passieren lassen, merken sie, dass sie in einem unsicheren Land leben. Aber seine drei Begleiter retten Harry mehrfach das Leben. Sie kennen sich hier draußen aus und haben schon etliche Gefahren überstanden. Jeder einzelne der drei entpuppt sich als eine Überraschung. So kommt Harry aus dem Lernen nicht mehr heraus, bis er die Burg des Gouverneurs erreicht. Doch wird die Gruppe mit blauen Bohnen empfangen …

|Mein Eindruck|

Der in den 70er-Jahren als Herausgeber einer Geschichte der Sciencefiction bekannt gewordene Autor James Gunn weiß den Leser mit einer flott erzählten Geschichte voller gefährlicher Abenteuer zu unterhalten. Aber hinter dieser geschickten Erzählstrategie verbirgt sich eine kritische Warnung. Wenn die Medizin und das Gesundheitswesen weiterhin so wachsen, werden sie bald alle finanziellen und wirtschaftlichen Ressourcen des Landes verschlingen.

Dann werden alle anderen Fertigkeiten verkümmern, die Bürger werden abhängig von den Wohltaten der Privilegierten: den sogenannten Unsterblichen. Es wird Verbrechen wie etwa Organraub und Kopfgeldjagd geben, von den üblichen wie etwa Menschenjagd und -handel ganz abgesehen. Diese Verbrechen kommen uns heutzutage bereits alltäglich vor, zumindest in erfindungsreichen Thrillern. Und das Wachstum der Medizin kann jede Krankenkasse bezeugen.

Was an dieser Story Sciencefiction ist, besteht in den drei Gefährten Harry Elliotts. Marna und Christopher, der Junge, können winzige Mikrofone und Videokameras erspüren sowie eigene Fallen aufstellen. Außerdem ist Marna selbst eine „Unsterbliche“. Der Interessante der drei ist hingegen Pearce, der Heiler. Ein sechster Sinn verleiht ihm die Fähigkeit, Leiden durch Berührung zu diagnostizieren, was Harry erst einmal als Hokuspokus abtut. Aber er kann noch viel mehr, was hier nicht verraten werden soll.

_6) Richard Wilson: „Der neue Job“ („Helping Hand“)_

Jack Norkus, ein Agent für Künstler, ist pleite und wendet sich an seinen Kumpel Buddy Portendo. Der kann ihm helfen und nimmt ihn mit in den meilenhohen, fast leerstehenden Wolkenkratzer von Chicago. Anders, als die Leute glauben, sind nach der Wirtschaftskrise nicht bloß die untersten zehn Stockwerke bewohnt, sondern auch ganz oben gebe es Leben, meint Buddy.

Der neumodische Antigravschacht bereitet Jack zunächst ein wenig Schwierigkeiten, aber die Nachahmung Buddys bringt dann auch ihn ganz nach oben ins 528. Stockwerk. Als Erstes begegnet ihm ein Monster, das aber ganz friedlich vorbeischlendert. Agenturen und Filmgesellschaften sind hier einquartiert, also muss man wohl mit solchen schrägen Typen rechnen. Er hätte aber wenigstens die Maske abnehmen könne, findet Jack. Das sei sein echtes Gesicht, entgegnet Buddy und bringt Jack zu dem Gedankenleser, den Jack für eine TV-Show sucht.

Doch Jack findet Mr. Okkam, den schwarzen blubbernden Tintenfleck, so abgrundtief hässlich, dass die beiden nicht zusammenkommen. Weiter zum nächsten Agenten. Allmählich checkt Jack, was hier läuft: Außerirdische, jede Menge davon. Wollen sie die Erde erobern? Mitnichten, beruhigt ihn Buddy, denn nicht jeder, der Ameisen studiert, will König vom Ameisenhaufen werden.

Schließlich bekommt Jack einen Gedankenleser vermittelt – und nimmt selbst einen Job als Erdenmonster an, bei der Extraplanetaren Filmgesellschaft. Er soll lächeln …

|Mein Eindruck|

Die Moral von der Geschicht‘ ist ebenso einfach wie pazifistisch: Nur weil die Außerirdischen bzw. anderartigen Erdenbürger anders aussehen als der Durchschnitt, heißt das noch lange nicht, dass man sie rumschubsen, angreifen oder gar töten könne. Und das gilt umgekehrt genauso. Im Endeffekt haben beide Seiten etwas von dem Kontakt: Die Fremden finden hier neue Verwirklichungsmöglichkeiten, und Loser wie Jack bekommen auch mal einen Job bei den Fremden, den sie auf der Erde lange hätten suchen müssen. Es ist eine Win-Win-Situation, ganz einfach.

_7) Alfred Bester: „Die Nummer mit dem Verschwinden“ („Disappearing Act“)_

General Carpenter ist ein Militärexperte für Public Relations. Er zettelt den Krieg für den Amerikanischen Traum an, und er kriegt ihn. Nach dem ersten atomaren Schlagabtausch müssen die Menschen in den Untergrund gehen. Etwa im Jahr 2112 stößt die Verwaltung auf ein merkwürdiges Phänomen in einem der vielen amerikanischen Militärhospitäler: Trakt T ist gar kein regulärer Trakt. Tatsächlich sollte er gar nicht existieren. Und keiner weiß, was sich darin befindet.

Wirklich keiner? General Carpenter, Herr über sämtliche Experten der Streitkräfte, lässt den zuständigen Psychotherapeuten Dr. Edsel Dimmock herbeischaffen. Der drukst herum, und das kann General Carpenter überhaupt nicht leiden. „Raus mit der Sprache! Welche Fälle liegen in Trakt T?“ Endlich rückt Dimmock mit der Sprache heraus: Leute, die verschwinden.

Was soll das heißen, fragt der General. Nur das: Wir wissen nicht, wohin sie verschwinden, aber sie bleiben immer länger fort. Carpenter lässt drei der Verschwindibusse einfangen, unter Drogen setzen und ausquetschen. Sie verschwinden bloß wieder, kehren gleich wieder zurück und ebenso unbrauchbar wie zuvor. Auch die Dimmock-Folter nützt nichts.

Der General lässt sechs seiner Experten in Trakt T einschleusen. Sie stoßen auf den Namen Jim Brady. Ein weiter Experte benennt Diamond Jim Brady als bekannten Boxer des 20. Jahrhunderts. Es gibt weitere Hinweise: auf einen gewissen Präsidenten Eisenhower und einen Autobauer namens Henry Ford. Historische Figuren oder nicht? Carpenter lässt einen Historiker aus einem der Arbeitslager kommen.

Professor Scrim war ein Philosoph, der den Fehler machte, den Krieg für den Amerikanischen Traum anzuzweifeln. Wie auch immer, er soll sich jetzt diese Sache ansehen. Diese „Sache“ kommt Scrim immer kurioser vor, je länger er sich damit beschäftigt. Sein Rapport verblüfft den General: „Zeitreisende?“ Eine unglaubliche Waffe, meint der General, und sämtliche Experten pflichten ihm bei. Wenn man eine Armee per Zeitreise hinter feindliche Linien schicken könnte, noch bevor die Schlacht überhaupt angefangen hat. Wow! Die Möglichkeiten übersteigen den Verstand.

Nicht bloß einfache Zeitreisende, wendet Scrim ein , sondern Leute, die in eine Zeit reisen, die ihren eigenen Träumen entspricht: Anachronismen en masse sind die Folge. „Da haben Sie Ihren Amerikanischen Traum, Sir“, meint Scrim. Aber wie könnte man gewöhnlichen Leuten diese Fähigkeit verleihen, will der General wissen. Scrimm antwortet, dass ein Poet dies wohl vermöge. General Carpenter lässt einen Poeten suchen. Er wartet bis heute, dass einer gefunden wird …

|Mein Eindruck|

In seiner unnachahmlichen Art demonstriert Alfred in dieser berühmten Erzählung, wie sich Expertentum und Poesie konträr gegenüberstehen. Der Poet bzw. kreative Künstler vermag Träume in konkrete Formen umzusetzen, doch der Spezialist wird nur mit totem Wissen abgefüllt, das nur einen Zweck hat: abgerufen zu werden. Experten werden stets als gehärtete und geschärfte Instrumente dargestellt. Doch für den Poeten gilt, er sei der Einzige, der zwischen den zeitreisenden Schockpatienten und Carpenters Experten vermitteln könne.

Die umwerfende, bittere Ironie besteht nun darin, dass der Krieg des Generals, den er für den „Amerikanischen Traum“ zu führen behauptet (es könnten genauso gut „bessere Mausefallen“ sein) dazu geführt, genau diesen Traum abzuschaffen – und die Träumer obendrein. Diese sind einerseits „Poeten“, andererseits solche Schockpatienten, wie sie im Trakt T vorzufinden sind; falls man sie antrifft.

Eine Komponente fehlt noch, die ich nicht erwähnt habe. Es gibt drei sehr schöne Szenen, in denen drei der Patienten des Trakts T in der Vergangenheit auftauchen, um dort zu wirken. George Hammer ist ein wichtiger Politiker des viktorianischen London und nennt Disraeli seinen Freund. Lola Machan ist eine Mata Hari in der Epoche des Julius Caesar und prophezeit dem Diktator Roms einen baldigen Tod. Und Nathan Riley hat Wetten abgeschlossen, die im 20. Jahrhundert allesamt große Gewinne abwerfen, sodass er dem jungen Henry Ford helfen kann, das Automobil nicht nur zu erfinden, sondern auch in Massen zu produzieren.

Alles in allem ist die Story eine der besten der gesamten Fünfzigerjahre, und das will angesichts der Konkurrenz durch Philip K. Dick und Robert Silverberg einiges heißen.

_Die Übersetzung_

Auf Seite 57 heißt es „Internistenzeit“. Nun fällt es mir schwer zu glauben, dass ein 18-jähriger Arzt schon Internist sein kann. Ich halte es für möglich, dass der Übersetzer das englische Wort „internship“, was „Praktikum“ bedeutet, verwechselt hat.

Auf Seite 58 heißt es „luschte“ statt „lutschte“. Solche Druckfehler kommen ab und zu vor, aber nicht in störendem Maße.

_Unterm Strich_

Die besten Beiträge dieses Bandes sind zweifellos die Novelle von James Gunn sowie die Story von Alfred Bester. Hier gibt es reichlich sozialkritische Ansätze zu finden, und Bester wagt es, das Militär selbst anzugreifen. Gunn warnt hingegen vor einer Übertreibung des Wachstums des medizinischen Sektors.

Diese spannend verpackte Kritik findet ihr Gegengewicht in mehreren humorvollen Storys. Dazu gehört die Erste, von Henry Kuttner und C. L. Moore geschriebene, dann die von Isaac Asimov, die Alien-Story von Richard Wilson – und möglicherweise die von Arthur C. Clarke. Aber es soll ja Leute geben, die das Ende dieses Universums nicht so wahnsinnig lustig finden würden. Sie würden sich wahrscheinlich im nächsten nur schwer zurechtfinden. Asimov und Wilson lieferten in meinen Augen die schwächsten Beiträge dieser Auswahl ab.

Die psychologisch ausgereifteste Erzählung stammt eindeutig von Judith Merril. Sie beleuchtet die seelische Lage eines Ehepaars vor dem Start des neuen Raumschiffs der Kolonisten, das zum Mars fliegen soll. (Damals galt der Mars noch nicht als so abweisend wie heute, sie Bradburys „Mars-Chroniken“.) Der Start des Schiffes bedeutet zugleich die Trennung des Paares und das Ende seiner gemeinsamen Träume, Pläne und Hoffnungen. Das verleiht diesem Ereignis eine ganz neue Bedeutung, die dem alten Klischee heinleinscher Pionier-Tage neues Leben einhaucht.

Für den deutschen SF-Leser des Jahres 1976 waren diese Originalbeiträge – allesamt Erstveröffentlichungen von 1953 – willkommenes Lesefutter, um sich einen Überblick über die Entwicklung des Genres in den Fünfzigerjahren zu verschaffen. Der Erfolg des TITAN-Formats mit seinen etwa zwei Dutzend Bänden gab Herausgeber Jeschke Recht. Auch die sorgfältige Übersetzung trägt noch heute zum positiven Eindruck bei. Die wenigen Druckfehler lassen sich verschmerzen.

|Taschenbuch: 142 Seiten
Originaltitel: Star Science Fiction 1+2+4, 1953+1958/1976
Aus dem US-Englischen von Yoma Cap und Walter Brumm|
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