Watts, Peter – Blindflug

_Tauchfahrer in die Gedankentiefsee_

Peter Watts hat 1958 in Kanada das Licht der Welt erblickt, um, wie er in seinem eigenen Blog schreibt, zehn Jahre damit zuzubringen, ein paar Titel zu bekommen in der Erforschung der Ökophysiologie von Meeressäugern, und weitere zehn Jahre, in denen er versucht hat, von seinen Qualifikationen zu leben, ohne eine „Hure diverser Interessengruppen“ zu werden. Bis heute konnte er sich nicht entscheiden, ob er sein Leben lieber der Wissenschaft oder dem Schreiben widmen sollte, und hat sich dementsprechend für einen Kompromiss zwischen beidem entschieden.

Herausgekommen ist dabei die „Rifters“-Trilogie, bei der es sich, laut Kritikerstimmen, wohl um eine Art Hard-SF-Version von Schätzings „Der Schwarm“ handelt – kein Wunder eigentlich, bei einem promovierten Tiefseebiologen, mit einem Faible für fantastische Geschichtenerzählerei. Rifters wird gerade von |Heyne| neu veröffentlicht; „Abgrund“ und [„Mahlstrom“ 5745 sind bereits erschienen, „Wellen“ ist geplant für September 2009.

„Blindflug“ hingegen ist ein Einzelroman, mit dem sich Watts aus seiner gewohnten Erzählumgebung hinausbegibt in die Tiefen des Weltraums, wo die Besatzung des Raumschiffs |Theseus| mit außerirdischer Intelligenz in Berührung kommt. Was sich auf dem Klappentext wie banale Standard-Science-Fiction ankündigt, zieht einem schon nach wenigen Seiten einen granitharten Hard-SF-Knüppel über den Schädel.

_Hier gibt es keine Romulaner!_

Am 13. Februar 2082 überzieht plötzlich ein leuchtendes Gitter die Atmosphäre und verlischt dann wieder. Sonden stellen fest, dass sich ein nicht identifizierbares Gebilde im Planetensystem herumtreibt, offensichtlich der Urheber dieser Irrlichter – und keinesfalls menschlichen Ursprungs. Spekulationen laufen heiß. Ein kriegerischer Akt? Kommunikation? Niemand weiß es.

Grund genug, um ein Team von Wissenschaftlern mit dem Raumschiff |Theseus| ins kalte Schwarz zu schicken, um dem irrlichternden Störenfried auf den Zahn zu fühlen. Und tatsächlich führt |Theseus| sie zu einem Artefakt, das den Orbit eines Kometen umkreist; dieses Artefakt, es bezeichnet sich selbst als „Rorschach“, nimmt Kontakt mit der |Theseus| auf. Es dauert jedoch nicht lange, bis dem Team auffällt, wie seltsam die Kommunikationsmuster von Rorschach sind, und so entscheiden sie sich dazu, in das Artefakt einzudringen … Auf einen reißerischen Kommentar bezüglich der Folgen verzichte ich an dieser Stelle.

_Mind Fiction at its best: Ultraspannend, ultrahart!_

Peter Watts ist ein Virtuose des Gedankenexperiments. „Blindflug“ ist ein einziger Ideenrausch, der dem Leser allerdings einiges abverlangt. Das fängt bereits bei den Figuren an: Siri Keeton, ein Synthesist, jemand, den man auf die Kontakt-Mission mitgeschickt hat, weil er den Sinn aus der Kommunikation zwischen den Besatzungsmitgliedern herausfiltern kann; Isaac Szpindel, ein verkabelter Biologe, der mit seinen technologisch potenzierten Sinnen Röntgenstrahlen sehen und Ultraschall schmecken kann; Susan James, eine Linguistin, die ihre Persönlichkeit in drei Sub-Persönlichkeiten aufspalten ließ; Amanda Bates, eine Majorin; und schließlich Jukka Sarasti, ein Vampir.

Tatsächlich ein Vampir, und ich kann kaum Worte für das Gefühl der Erfrischung finden, das mich durchströmt, wenn ich mir vergegenwärtige, wie originell Watts diesen archetypischen Geschichtenschreck aktualisiert hat, wie er ihm den Staub des Gotik-Horrors weggeschrubbt und jede Spur von stereotypem Kitsch hinfortgemeißelt hat, um den Vampir tatsächlich (und nachvollziehbar) in ein Hard-SF-Universum einzubetten, nebst einer wissenschaftlichen, völlig abgefahrenen, restlos faszinierenden Erklärung dafür, warum man Vampiren mit einem Kreuz den Garaus machen kann. Ehrlich, alleine Jukka Sarasti und seine „Kruzifix-Störung“ sind es wert, „Blindflug“ zu lesen.

Aber, wie gesagt, die Story verlangt dem Leser einiges ab. Rayleigh-Grenzen, Hohmann-Bahnen, von Neumann’sche Maschinen, Perigäum, Apogäum und sonstiges Keppler-Kreisbahn-Kauderwelsch aus der Astrophysik trifft auf entsprechende Fachbegriffe aus Philosophie, Soziologie, Linguistik, Kommunikationslehre oder Psychologie. Siri Keeton etwa, ein „nicht-invasiver Beobachter“ auf der Mission, entspringt Ideen aus der Systemtheorie und spielt mit Fragen um Kybernetik I. und II. Ordnung (Kann man Systeme, in diesem Falle die Besatzung der Theseus, beobachten, ohne dass die Beobachtung schon ein Akt der Beeinflussung ist?). Das nur als Beispiel, und als Einschätzungshilfe dafür, was den Leser erwartet, wenn diese abgedrehte Freak-Besatzung auf außerirdisches Leben trifft. Ideen satt.

All diese Ideen sind über ein spannendes Hintergrunduniversum gewoben, über eine Gesellschaft, die zerrissen wurde von wissenschaftlichen Glaubenskriegen, und deren Mitglieder sich jetzt entscheiden müssen, zwischen weltlichem Leben oder einer künstlichen Weiterexistenz in einem virtuellen Himmel. Nur knapp hat Watts diesen Hintergrund eingeführt, gerade so viel Information, wie die Geschichte braucht, um zu funktionieren. Das Gleiche gilt auch für die Figuren. Geschickt eingestreute Rückblenden zeigen ihre Vergangenheit, enthüllen den Motor für ihre Handlungen und funktionieren gleichzeitig als Spannungselement im Handlungsbogen.

_Die Detailbesessenheit eines Wissenschaftlers._

Peter Watts erschöpft sich nicht darin, eine faszinierende Geschichte zu schreiben. Wie es sich für einen guten Wissenschaftler gehört, gibt es einen Anhang, wissenschaftliche Ausführungen zu den Ideen, die in „Blindflug“ stecken, Literaturhinweise, Quellenangaben, Diskussionen. Aber damit nicht genug. Watts‘ Internetauftritt |rifters.com| hält Bildmaterial zum Artefakt bereit, Biographien der Crew, Beschreibungen des Romanuniversums, eine interaktive Darstellung der Theseus, mit Beschreibungen der einzelnen Module und ihrer Funktionsweise, sogar Flash-Videos mit Vorträgen zur Biologie von Vampiren.

„Blindflug“ ist das Beste, was ich seit Jahren gelesen habe, als wäre „Event Horizon“ von Greg Egan neu interpretiert worden. Peter Watts vereint Egans explosiven Ideenreichtung mit einem Händchen für superstraffe Handlung. Manchmal natürlich besteht die Handlung aus wissenschaftlichen und theoretischen Diskussionen, aber alter Schwede, diese Diskussionen haben es in sich und sind mindestens so spannend wie eine plasmaspuckende Weltraumschlacht. Als Schlusswort sei hier vielleicht James Nicoll zitiert, der hat (in etwa) geschrieben: „Sobald ich das Gefühl habe, dass mein Lebenswille zu stark wird, lese ich Peter Watts.“ Nun denn, ihr zynischen Ideenjunkies, das hier ist euer Buch!

|Originaltitel: Blindsight
Aus dem Amerikanischen von Sara Riffel
493 Seiten, kartoniert
ISBN-13: 978-3-453-52364-7|
http://www.heyne.de
http://www.rifters.com