Stanislaw Lem – Die lymphatersche Formel (Hörspiel)

„Die lymphatersche Formel“ behandelt ein Thema, das seit E. A. Poe und Meyrinks „Der Golem“ zu großen Visionen in Literatur und Film geführt hat: den Wahnsinn eines genialen Wissenschaftlers, der fatale Konsequenzen hat.

Der Autor

Stanislaw Lem, geboren am 12. September 1921 in Lwòw, dem galizischen Lemberg, lebt heute in Krakow. Er studierte Medizin und war nach dem Staatsexamen als Assistent für Probleme der angewandten Psychologie tätig. Privat beschäftigte er sich mit Problemen der Kybernetik, der Mathematik und übersetzte wissenschaftliche Publikationen. 1985 wurde Lem mit dem Großen Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet und 1987 mit dem Literaturpreis der Alfred Jurzykowski Foundation. Am bekanntesten wurde er für die literarische Vorlage für zwei Filme: „Solaris“, das 1961 veröffentlicht wurde.

Wichtige weitere Bücher Lems:
Eden, 1959
Summa technologiae, 1964
Der Unbesiegbare, 1964
Kyberiade
Der futurologische Kongress, 1971 (gehört zum Ijon-Tichy-Zyklus)

Die Inszenierung des Hörspiels

Der WDR produzierte dieses Hörbuch 1973 unter der Regie von Friedhelm Ortmann. Der Text wurde von Dieter Hasselblatt für die Lesung eingerichtet. Hasselblatt war selbst ein wichtiger Hörspielautor.

Die Buchvorlage stammt aus „Nacht und Schimmel“, ein Erzählband Lems, der erstmals 1971 beim Insel-Verlag erschien, später in der „Phantastischen Bibliothek“ des Suhrkamp-Verlags. Ich habe den gesprochenen Text mit dem gedruckten verglichen und musste feststellen, dass massive Streichungen vorgenommen wurden. Aber es war zu erkennen, dass diese durchaus sinnvoll waren. So fielen beispielsweise Nebenhandlungen ebenso weg wie allzu wissenschaftliche Erläuterungen. Kurzum: Der Vortrag konzentriert sich auf das Wesentliche.

Alleiniger Sprecher ist der damals bekannte Bühnen- und TV-Schauspieler Martin Held. Er ist ein wahrer Könner der Sprechkunst.

Handlung

Von Anfang bis Ende handelt es sich bei dem Text um eine Ich-Erzählung, sozusagen um die Memoiren eines früheren Wissenschaftlers. Er wendet sich allerdings in einer konkreten Alltagssituation an seinen Zuhörer. Dieser scheint ebenfalls ein Wissenschaftler zu sein, denn er liest im Café das „Journal of Biophysics“. Doch der Sprecher sieht keineswegs wie ein Standeskollege aus der Biophysik aus, sondern wie ein Bettler. Gestatten? Ammon Lymphater (ausgeprochen: lümpater), 60 Jahre alt.

Schon frühzeitig hatte sich Lymphater vor dreißig Jahren von den Forschungsansätzen seiner Kollegen abgewandt, um einen eigenen Denkansatz zu verfolgen. Wie der im Einzelnen aussieht, tut wenig zur Sache. Doch es führte dazu, dass er sich mit seinen Vorgesetzten überwarf und schließlich, ermöglicht durch eine Erbschaft, Privatgelehrter wurde. Genau wie Viktor Frankenstein.

Er fragt sich: Was hat die Natur nicht bauen können, um Gedächtnis- und Lerninhalte weiterzugeben? Er stößt auf den Stoff Acanthoidin, den die Rote Amazonasameise Acanthis Rubra Willinsoniana erzeugt. Ein alter Kollege namens Shentarl verrät ihm, wie das Insekt von Willinson am Amazons entdeckt wurde, doch auf dem Rücktransport einige Exemplare bei einem Unfall in felsigem Gelände strandeten. Bemerkenswerterweise wussten diese dort sofort etwas mit einem Beutetier anzufangen und konnten so überleben. Woher stammte dieses Wissen? Diese Frage interessiert Lymphater brennend. Ließe sich künftig Wissen durch Pillenschlucken übertragen?

Lymphater konstruiert einen künstlichen Menschen, dem er besondere Fähigkeiten anhand seiner Entdeckungen verleiht. Wie überrascht er ist, dass dieser seine Gedanken lesen kann und ihm auch ansonsten überlegen ist! Immerhin bedankt dieses Wesen sich bei seinem Schöpfer als dem Wegbereiter seiner Rasse. Er hält sich für die nächste Stufe der Evolution, die den Homo sapiens ablösen wird.

Doch es gibt noch eine zweite Variante der Lymphaterschen Formel. Was würde sie hervorbringen, wenn er sie anwendete, fragt sich der Forscher. Würde er, als dritte Stufe, einen synthetischen Gott erschaffen? Nun wird Lymphater bange vor seiner eigenen Überheblichkeit und er macht dem ganzen Spuk ein Ende.

Allerdings … so wie es ihm gelungen war, auf die Formel zu stoßen, so könnte es auch einem anderen Biophysiker gelingen, wie es sein Übermensch vorausgesagt hatte. Deshalb späht er auf allen Plätzen nach Leuten, die eventuell ein „Journal of Biophysics“ lesen. Und dann weiß er, was er zu tun hat …

Mein Eindruck

Nicht viel anders als Lymphater erging es bekanntlich Baron Frankenstein. Auch er schuf ein künstliches Wesen, das wie ein Mensch aussah. Allerdings ist dieses Wesen des Öfteren als „Monster“ bezeichnet worden, was natürlich nicht besonders nett ist. Seine Erfinderin Mary Shelley bezeichnete Frankenstein als „modernen Prometheus“ in Rückgriff auf die alte römisch-griechische Sage, wonach Prometheus die Menschen aus Lehm und dem Licht der Sonnen geschaffen habe. Frankensteins Geschöpf ist eine Zerrbild, eine Verhöhnung des Menschen.

Kein Frankenstein

Lymphaters Geschöpf ist etwas völlig anderes. Es ist die Weiterentwicklung des Menschen, seine nächste Stufe. Dafür spricht schon seine Fähigkeit des Gedankenlesens, eventuell sogar der Telepathie. Dummerweise wird diese Stufe ihren Schöpfer verdrängen und abschaffen. Das hat in vielen Science-Fiction-Romanen entsprechende Schreckensvisionen erlaubt, besonders vor dem Hintergrund eines Atomkriegs, dessen Fallout zu Mutanten führen könnte. Man lese dazu Philip K. Dick.

Wissenschaft vs. Gott

Lymphater kann sich noch etwas weitaus Schlimmeres vorstellen: einen synthetischen Gott, ein allmächtiges Wesen, das den Menschen versklaven würde. Genau an diesem Punkt kommt er als Kybernetiker und Biophysiker an seine Grenzen. Die Wissenschaft der automatischen Steuerung, auch Kybernetik genannt (von kybernetes: Steuermann), ist – wenigstens theoretisch – in der Lage, ein beliebig komplexes System zu erschaffen, das in sich geschlossen ist.

Ein Gott, das dieses System, wie auch immer, hervorbringen würde, könnte aber per definitionem nicht mehr gesteuert werden. Dadurch würde er das System transzendieren und in Frage stellen. Er wäre in der Lage, es abzuschaffen oder sogar so zu modifizieren, dass es einen ganz anderen Zweck als vorgesehen erfüllt. Schaurige Aussichten, in jedem Falle. Und deshalb muss Lymphater den Gott verhindern, will er nicht seine Existenzberechtigung als Forscher verneinen.

Mal konkret: Stammzellenforschung

Dies ist das Dilemma der Wissenschaft: Sie kann nur in einem geschlossenen System agieren, doch wenn sie sich selbst hinterfragen soll, benötigt sie ein äußeres Bezugssystem. Woher nehmen? Nun, da gäbe es die Religion, die Moralphilosphie, all die Rechtssysteme. Man wende diese Systeme von Werten einmal auf die Stammzellenforschung an, und schon steckt man in Lymphaters Dilemma. Nur dass seines viel größer ist. Der Wissenschaftler heute ist noch kein Gott, aber er könnte einer werden. Und welches Wertesystem wollte ihn dann steuern?

Humor

Natürlich steckt in Lymphaters „dunklem Drang“ à la Faust eine tiefe Ironie. Sein kluger Kopf ist in der Lage, die Abschaffung des Menschengeschlechts herbeizuführen. Dies führt natürlich die Wissenschaft und all ihre hehren Zile ad absurdum. Doch vielleicht hat sie dies ja schon getan? Robert Oppenheimer und seine Kollegen entwickelten schließlich die Atombombe. Und ein paar Jahrzehnte später ist die Menschheit in der Lage, sich gleich mehrfach zu vernichten: der so genannte Overkill. Bei so viel Ironie vergeht einem allerdings das Lachen.

Die Inszenierung des Hörspiels

Martin Held spricht einen Monolog. Nun ist dies eine Literaturform, die eine große Tradition hat. Man muss nicht auf Hamlet zurückgreifen, um ein Beispiel anzuführen, es genügt bereits Kafkas bekannte Rede eines Affenmenschen. Die Identität des Sprechers ist bei Kafka aber nicht sofort klar, sondern stellt sich erst im Laufe der Rede als der Clou heraus. Die Rede dient seiner Charakterisierung.

Genauso verhält es sich mit dem Monolog, den der Charakterdarsteller Martin Held gestaltet. Man muss wirklich sagen „gestaltet“, denn er folgt keinerlei Vorgaben, sondern einzig und allein seinem künstlerischen Empfinden und Urteil. Zunächst geht seine Rede stockend und zögerlich voran, denn er hat Hemmungen, sich dem unbekannten Standeskollegen anzuvertrauen. Doch mit vorschreitendem Gespräch wird sein Redefluss leichter und lebendig, seine Schilderungen werden anschaulich und zunehmend begeistert. Man kann sich gut seine Arm- und Handbewegungen dabei vorstellungen, seine Miene, seine Augen. Kurzum: die Figur erwacht zum Leben.

Und mit dem versiegenden Redefluss verschwindet der Forscher, und der Bettler kommt wieder zum Vorschein. Nur um schließlich wieder vollends in der Vergangenheit zu versinken. Seine einzige Existenzform scheint nur noch seine Geschichte zu sein.

Unterm Strich

Von den vier Neuerscheinungen, die der Audio-Verlag im September 2004 im Bereich Science-Fiction-Hörspiel herausgebracht hat, ist Lems Geschichte die mit Abstand anspruchsvollste, aber auch die tiefschürfendste. Nicht nur das Thema Frankenstein und der Neue Übermensch erfordert eine entsprechende Vorbildung, auch die Form der Darbietung verlangt ein hohes Maß an Konzentration.

In jedem Fall ist dieses Hörbuch nicht für Leute der MTV-Generation geeignet, die sich nicht lange auf eine Sache konzentrieren können und sich nicht die Mühe machen wollen, auf einer abstrakten Ebene (jener der Wissenschaft) zu denken. Wer diese Voraussetzungen mitbringt, wird mit einem Stück Literatur belohnt, das äußerst intelligent, sehr ironisch und darüber hinaus von einem echten Könner sprachlich in Szene gesetzt ist. Ohne Martin Helds Leistung würde diese tour de force nur halb so gut wirken, wenn überhaupt. Und allemal besser als der gedruckte Text, der nun wirklich keinerlei Rücksicht auf MTV-Jünger mehr nimmt.

Umfang: 56 Minuten auf 1 CD