Eva Maria Mudrich – Das Glück von Ferida

Das größte Verbrechen am Menschen

Wer hat Randolf Manowsky die Erinnerung an die letzten Jahre geraubt? Und wer ist Gwendolyn, der einzige Name, den sein Gedächtnis behalten hat? Diese Fragen zermartern sein Gehirn. Er weiß, dass er das Opfer eines Verbrechens ist, doch er ahnt nicht, dass er Zeuge eines noch viel größeren Verbrechens gewesen ist – des Verbrechens an den Bewohnern von Ferida … (Verlagsinfo)

Die Autorin

Eva Maria Mudrich, geborene Ehrhard (* 13. Juni 1927 in Berlin; † 6. Dezember 2006 in Saarbrücken), war eine deutsche Schriftstellerin. Sie arbeitete bei einer Berliner Tageszeitung und für verschiedene Rundfunkanstalten, war Ehefrau des früheren Feuilleton-Chefs der „Saarbrücker Zeitung“ Dr. Heinz Mudrich und lebte seit 1959 in Saarbrücken.

Unter dem Pseudonym Maren Offenburg schrieb sie in den 1950er Jahren für den Boje Verlag eine Reihe damals populärer Jungmädchen-Bücher wie „Eine Mücke im Eden“, „Du bist nicht allein“ und „Susanne über den Wolken“.

1972 veranstaltete der Westdeutsche Rundfunk ein Preisausschreiben für Science-Fiction-Hörspiele zur Förderung deutscher Nachwuchsautoren. Eva Maria Mudrich gewann mit „Das Glück von Ferida“ (Erstsendung 21. Mai 1973) einen der vier ersten Preise. Es folgten zahlreiche Science-Fiction- und Kriminal- sowie über 100 Kurzhörspiele.

Eva Maria Mudrich wurde mit ihren sozial- und gesellschaftspolitischen Themen eine der Wegbereiterinnen für das anspruchsvolle deutsche Science-Fiction-Hörspiel und schrieb 23 SF-Hörspiele, von denen es 36 verschiedene Produktionen gibt. Für ihr Werk Sommernachtstraum wurde sie 1993 mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet. (Quelle: Wikipedia)

Hörspiele (Auswahl)

• Das Experiment, NDR 1971, Regie: Fritz Schröder-Jahn
• Das Glück von Ferida, SDR 1973, Regie: Andreas Weber-Schäfer
• Krokodile sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren, SDR 1981, Regie: Andreas Weber-Schäfer
• König Knoll, SDR 1984, Regie: Hans Helge Ott
• Nachtschicht, SDR 1989, Regie: Andreas Weber-Schäfer
• Vogel im Käfig, WDR 1989, Regie: Elmar Boensch
• Sommernachtstraum, DW 1992, Regie: Joachim Schmidt vom Schwind

Handlung

Wieder einmal erwacht Randolf Manowsky mit dem Namen „Gwendolyn“ auf den Lippen. Doch er kennt keine Frau dieses Namens, und seine Gattin Susanne wundert sich pikiert über diese unbekannte Nebenbuhlerin. Und Randolfs Töchterlein Anne kann natürlich ebenso wenig gemeint sein wie irgendeine Frau, die er je getroffen hat. Oder doch nicht?

Randolf konsultiert wie schon seit 21 Monaten seine psychologische Beraterin Katharina Anderson, seitdem er von seinem Arbeitsaufenthalt im Norden zurückgekehrt ist. Weiß Katharina vielleicht etwa? Doch ihre Reaktion ist rätselhaft: Sie wirkt auf einmal nervös, sagt, sie habe keine Zeit und lässt sich entschuldigen, dabei warten noch Termine auf sie. Sie hat ihn angelogen, merkt Randolf, und das ist bei einer Beraterin, der er seit 21 Monaten seine privatesten Gedanken und Gefühle offenbart, nicht hinnehmbar.

Wenn er wüsste, dass Katharina sofort dem Internationale Sicherheitsdienst über das Versagen der Gedächtnislöschung bei Manowsky Meldung macht, wäre Randolf noch viel beunruhigter. So aber wundert sich nur, warum er bei Sicherheitsdienst ohne Angaben von Gründen einbestellt und weggesperrt wird. Nein, er habe nichts getan, sagt man ihm, und er sei nur hier zur Beobachtung. Aber warum lässt man ihn dann nicht weg?

Randolf versucht, sich an seine drei Monate im Norden zu erinnern. Dort wo seit dem Atomunglück eine Sperrzone liegt, kümmerte er sich um die Installation von Beobachtungskameras und dergleichen. Ein simpler Job, der ihm leicht von der Hand ging. Wie hieß diese Insel noch gleich? Doch wo die drei Monate Erinnerungen sein müsste, befindet sich bislang nichts außer einem Namen: „Gwendolyn“. Doch endlich tauchen weitere Erinnerungen auf. Gwendolyn ist der Name eines Mädchen auf jener Insel, und jene Insel hieß … Ferida! Genau.

Randolf beschließt, den Sicherheitsdienst und seine Therapeutin zu überlisten, um diesen rätselhaften Erinnerungen auf den Grund zu gehen. Sein Verschwinden löst eine immense Suchaktion in allen Nationen aus, über die der Sicherheitsdienst zum Wohle der Menschheit wacht. Doch Randolf findet unerwartet einen Verbündeten, den unkonventionell denkenden Freund Katharinas, Harry Uhland, einen Lehrer. Und Uhland weiß, wie man dem scheinbar allmächtigen Sicherheitsdienst ein Schnippchen schlägt.

Was mag hinter dem Rätsel von Ferida stecken, fragt sich Randolf. Es gibt einen Mann, der es ihm ganz genau erklären könnte, denn er hat dort ein Experiment durchgeführt, das die Menschheit retten sollte – und das gründlich schiefging …

Mein Eindruck

Randolf Manowsky lebt in der besten aller möglichen Welten, nämlich jener, die sich um ihre Bürger von A bis Z fürsorglich kümmert. Jeder bekommt ein zugewiesenes Heim, eine zugewiesene, nicht von Robotern verrichtete Arbeit, natürlich angemessene Versorgung in jeder Hinsicht, denn die Nahrungsmittelproduktion wurde längst unter die Erde verlegt, ebenso wie die Verteilung dieser Güter.

Der Sicherheitsdienst passt auf, dass sich alle so verhalten, wie es für die Gemeinschaft am besten ist. Störungen werden therapiert. Aber in Randolfs Fall war mehr als eine Therapie notwendig, nämlich eine partielle Gedächtnislöschung, ein schwerer Eingriff. Er war nämlich Zeuge eines Experiments, das die glückliche Welt noch glücklicher machen sollte, indem es die Ursache aller Übel optimiert: den Menschen selbst.

Das Experiment hat in Ferida stattgefunden, wie man sich denken kann, und zwar an den Bewohnern dieser Insel. Die Genmanipulation führte jedoch nicht zum erwünschten Resultat, nämlich „glücklichen Menschen“. Was Randolf am Ende seiner Odyssee nach Ferida (das nur scheinbar einer Atomkatastrophe zum Opfer fiel) vorfindet, sind Menschen, die alle Anzeichen einer Apathie aufweisen und die ihre Toten sprachlos hinunter zum Hafen karren, ohne Lieder oder Zeremonie. Und die Seuchenopfer werden immer mehr, berichtet Randolf von seinem Rundgang.

Sein Bericht wird vom Sicherheitsdienst, der das Experiment einst genehmigte, über die Kameras und Mikrofone, die Randolf seinerzeit installierte, aufgenommen. Professor Borbach, der Initiator und Leiter des Experiments, verfolgt Randolfs Spur und Bericht genau. Doch als Randolf endlich Gwendolyn findet, das Mädchen, das er vor zwei Jahren zurückließ, fällt die Reaktion anders aus als erwartet: Gwendolyn ist wirklich glücklich, findet Randolf, so wie ein Tier glücklich ist, wenn es sich in seiner Herde befindet.

Doch das ist nicht das Ergebnis, das der Sicherheitsdienst wollte, und so drückt dessen vertreter den roten Knopf. Das, was einmal Ferida war, müssen für immer getilgt werden. Denn ein derartiges Glück würde natürlich den Sicherheitsdienst überflüssig machen.

Das Hörspiel Eva Mudrichs warf bereits 1973 wichtige Fragen auf, die bis heute relevant sind: Was ist Glück? Ist es das Glück der größten Anzahl von Menschen? Und wie lässt es sich herbeiführen, durch Selektion, Therapie, Optimalversorgung etc.? Im Fall Ferida wurde zur Genmanipulation gegriffen, um alle aggressiven und „negativen“ Impulse im Keim zu ersticken. Das Ergebnis waren apathische, antriebslose Menschen, die einer Seuche leicht zum Opfer fallen.

Das wirft, wie Randolf sofort erkennt, Fragen nach der Definition von „Glück“ auf. Vielleicht ist „Glück“ etwas ganz anderes als das, was die Weltregierung verwaltet und der Sicherheitsdienst bewacht? Ketzerische Gedanken – und viel zu gefährliche. Ferida muss verschwinden. Doch es gibt noch einen einzigen Menschen, der von Ferida weiß …

Unterm Strich

Schon diese kleine Geschichte für Jugendbuchleser stellt große Fragen. Dabei vergisst die Autorin in der Buchfassung aber nicht, die Spannung aufrechtzuerhalten. Was ist oder war Ferida – dieses Rätsel wird erst ganz zum Schluss gelöst, der Schleier der gelöschten Erinnerung gelüftet.

Die Figuren sind relativ flach gezeichnet, so dass wir es mehr mit Typen zu tun haben als mit „realen“ Menschen. Aber das ist für ein Jugendbuch akzeptabel (es sei denn, die Autorin heißt Astrid Lindgren). Viel wichtiger ist es mitzuverfolgen, wie sich diese Typen angesichts der Krise, die Randolf auslöst, verhalten. Die Therapeutin ist eine Mitläuferin, und Harry Uhland versucht vergeblich, sie zum Widerstand gegen den Sicherheitsdienst zu überreden. Der Vergleich mit der Stasi liegt nahe, wäre da nicht die ansonsten positive Rolle, die die SD-Vertreter spielen. Es ist nur eben so, dass absolute Macht nicht zulässt, dass ein Einzelner wie Manowsky alles „zerstört“.

Prof. Borbach, der Leiter des Ferida-Experiments, ist von überraschend besorgter Natur, denn das Schicksal des Volkes von Ferida liegt ihm wirklich am Herzen. Er weiß, dass er das schlimmste Verbrechen begangen hat: die totale Manipulation von Menschen ohne deren Zustimmung. Deshalb hofft er inständig, dass das, was Manowsky in Ferida findet, ihn wenigstens zum Teil entlastet.

Schließlich Manowsky selbst. Er ist erst ein kleines Rädchen in einer großen Maschinerie, doch als er merkt, dass man ihn betrügt und verrät, wird er – nein, nicht zum Rebellen, sondern zum schlichten Wahrheitssucher. Und es ist genau diese Wahrheit, die das ganze System bedroht. Denn welches System könnte für sich allumfassende und gerechte Fürsorglichkeit beanspruchen, wenn es es einen Teil seiner Schützlinge derart schändlich wie in Ferida hintergangen hat?

Daher reicht es, wenn Manowsky die Handlung voranbringt. Er macht etliche Fehler auf seiner Odyssee, ist beileibe nicht James Bond. Sobald er Ferida erreicht, wissen wir, dass er nicht zurückkehren wird, denn schon lauern die U-Boote des SD auf ihn. Doch was wäre, wenn er ein Mann von Wikileaks wäre, der seinen Fund per Satellitentelefon in die Welt hinausposaunen würde?

„Das Glück von Ferida“ mag ein unscheinbarer Jugendroman sein, doch er stellt Fragen und findet Antworten, die bis heute beunruhigend sind. Was, wenn Aggression und „das Böse“ ein lebensnotwendiger Bestandteil der menschlichen Biologie wären? Würde dies wirklich alle Kriege und Gräueltaten rechtfertigen? Oder müsste man dann doch den Sicherheitsdienst erfinden, um den ewigen Frieden einzuführen? Diese Gedanken führen direkt zur Staatsphilosophie und zur praktischen Politik.

Taschenbuch: 160 Seiten mit Illustrationen
Erstsendung des Hörspiels: 1973
ISBN-13: 978-3505071805

http://www.schneiderbuch.de

Der Autor vergibt: (3.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)