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Smith, Lisa J. – Im Zwielicht (Vampire Diaries 1, Hörbuch)

Die „Vampire Diaries“ laufen seit einiger Zeit erfolgreich auch im deutschen Fernsehen. Die Serie basiert auf der Jugendbuchreihe gleichen Namens der amerikanischen Autorin Lisa J. Smith. Fürs Fernsehen entdeckt wurde der Stoff sicherlich im Kometenschweif der momentanen Twilight-Euphorie und tatsächlich werden Fans vor Freude jubilieren, bietet „Vampire Diaries“ doch einen praktisch baugleichen Plot, und das, obwohl Smith den ersten Teil der Reihe bereits 1991 veröffentlichte.

_Elena ist die_ Königin ihrer Highschool: Bildhübsch und beliebt, hält sie sich einen Hof Freundinnen, die sie umschwirren wie die Motten das Licht. Alle Jungs liegen ihr zu Füßen und sie hat die freie Auswahl, wem sie ihre Gunst gewähren will. Bisher war der nette Matt Mann der Stunde gewesen, doch während der Sommerferien ist Elena aufgegangen, dass sie eigentlich nur mit Matt befreundet sein will. Also macht sie mit ihm Schluss, mal ganz nebenbei auf dem Schulweg. (Ein Tipp an die jugendlichen Leser: Es handelt sich hier um Fiktion, dass das Ende einer Beziehung jemals so harmonisch und geradezu kuschelig über die Bühne geht, ist relativ unwahrscheinlich – nur so als Rat für den weiteren Lebensweg.)

Somit ist Elena frei für neue Abenteuer. Wie gut, dass es da prompt einen Neuzugang in ihrem Jahrgang gibt – den feschen (Italiener!) Stefano Salvatore, der stilsicher im Porsche vorfährt und die getönte Sonnenbrille auch im Unterricht nicht abnimmt. Hach, wie romantisch! Elena ist sofort Feuer und Flamme und macht es sich zur Aufgabe, Stefanos Herz zu erobern. Dabei geht sie vor, als handele es sich um einen Geschäftsplan und nicht um Herzensangelegenheiten. Sich Stefano zu angeln wird zum Selbstzweck. Dass sie ihre Freundinnen auf einem Friedhof mit Blut schwören lässt, ihr bei der Um-den-Finger-wickel-Aktion immer beizustehen, ist da nur die Krönung der pubertären Hysterie.

Kurzum, Stefano erweist sich als harter Brocken. Er scheint völlig immun gegen Elenas sprühenden Charme und ihre überdurchschnittliche Schönheit zu sein. Doch halt! Natürlich ist das nur ein literarischer Kniff, um das Unausweichliche etwas hinauszuzögern und die reichlich konfliktarme und geradlinige Handlung auf Romanlänge zu strecken. Denn selbstverständlich ist Stefano verknallt in Elena, nur trägt er – natürlich! – ein dunkles und gefährliches Geheimnis mit sich herum und will deshalb jeden von sich fernhalten. Schließlich ist Stefano ein Vampir aus dem Florenz des 15. Jahrunderts und Elena sieht haargenau aus wie seine damals verflossene Catarina, die ihn und seinen Bruder Damon zum Vampir machte, nur um sich dann (gekränkte Eitelkeit) durchs Sonnenlicht zu einem Häufchen Asche verbrennen zu lassen.

Aber „Im Zwielicht“ wäre kein ordentliches Jugendbuch, wenn nicht alles doch noch in die richtigen Bahnen gelenkt würde: Stefano und Elena finden schließlich zueinander und Elena ergeht sich in schwülstigen und endlosen Tagebucheinträgen über die Schicksalhaftigkeit ihrer Liebe. Nebenbei taucht auch noch Damon auf, der ein paar Leute umbringt, um Stefanos Aufmerksamkeit zu erregen (Stefano erweist sich allerdings als ziemlich träge in dieser Hinsicht) und die Geschichte generell etwas aufzumischen. Bevor das alles jedoch zu einem Höhepunkt führen kann, beendet Lisa J. Smith ihr Buch einfach, genau da, wo andere Autoren ihren Showdown einbauen würden. Die Erzählung endet damit so unvorhergesehen und abrupt, dass man zunächst annimmt, einfach vergessen zu haben, eine weitere CD einzulegen. Doch dem ist nicht so, Lisa J. Smith beendet den ersten Teil ihrer Reihe tatsächlich mitten in der Szene, gerade als ob ihr die Puste ausgegangen wäre. Sehr schade.

_Smiths „Vampire Diaries“_ können wirklich nur jugendlichen Leserinnen uneingeschränkt empfohlen werden. Für diese hat sie einen Roman voller romantischer Klischees verfasst, die man so hochdosiert nur in jungen Jahren gut finden kann. Dass sie dabei ihre Protagonistin Elena praktisch als die Oberzicke der Schule charakterisiert, ist noch ihr größter Fehler. Elenas Oberflächlichkeit äußert sich vor allem in ihrer Fokussierng auf das Äußerliche: Darauf, wie sie erscheint, welches Bild sie bei anderen erweckt. Dass Stefano dabei nur das letzte Accessoire in ihrer Beliebtheitskollektion ist (oder zumindest so erscheint), stößt beim Leser sauer auf und macht die beiden nicht gerade zu Vorbildern in Sachen schicksalhafter Liebe. Zwar meint Elena, unsterblich in Stefano verliebt zu sein, doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie sich eigentlich nur in ihrer Eitelkeit gekränkt fühlt, weil er ihr so lange widersteht. Denn das facht ihr Interesse erst recht an – dieses ewige gefühlsmäßige hin und her, das zu keinem wirklichen Ergebnis führt, mag für das anvisierte Publikum (Mädchen zwischen 13 und 17) wirklich spannend sein. Alle mit etwas mehr Jahren auf dem Buckel werden sich von der generellen emotionalen Unreife der Charaktere wohl eher genervt fühlen und froh sein, dass sie die Pubertät bereits hinter sich gelassen haben.

CBJ Audio hat „Im Zwielicht“ als gekürzte Lesung auf vier CDs veröffentlicht, wobei es ausnahmsweise wirklich keine Rolle spielt, dass der Roman für die Hörbuchfassung etwas zusammengeschrumpft wurde. Da die Handlung und die Charaktere relativ eindimensional daherkommen, hat man beim Hörbuch nie den Eindruck, wichtige Entwicklungen zu verpassen. Sprecher Adam Nümm schafft das Kunststück, den Text absolut ironiefrei zu lesen (großes Lob!), ihm also immer mit dem nötigen Ernst zu begegnen, den Fans der Reihe erwarten werden. Von Zeit zu Zeit sind Tagebucheinträge Elenas eingesträut (gelesen von Jennie Appel), die man wohl getrost hätte kürzen können, da sie die Handlung nicht vorantreiben. Allerdings wurden sie vermutlich zumindest in Teilen erhalten, um dem Originalsound des Buches nahezukommen. Mehrwert bieten sie jedenfalls nicht.

_Abschließend kann man_ sagen: Ein empfehlenswertes Hörbuch für alle, die lieber hören als sich das Buch vorzunehmen. Allerdings sollten sich Erwachsene möglichst fernhalten, außer sie stehen noch in gutem Kontakt zu ihrem inneren Teenie.

|4 Audio CDs
gelesen von Adam Nümm
ISBN-13: 978-3837104295
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_Lisa J. Smith beim Buchwurm:_
[Engel der Verdammnis (Night World 1)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6012
[Prinz des Schattenreichs (Night World 2)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6013
[Jägerin der Dunkelheit (Night World 3)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6014

Minte-König, Bianka – Estelle – Dein Blut so rot (Die dunkle Chronik der Vanderborgs 1)

Bianka Minte-König schreibt eigentlich Jugendbücher für pubertierende Mädchen, gern auch mit tatkräftiger Unterstützung ihrer eigenen Tochter Gwyneth Minte. Mit „Estelle – Dein But so rot“ jedoch, dem ersten Teil der „Dunklen Chronik der Vanderborgs“, wagt sie sich nun vor ins Erwachsenengenre, leicht zu erkennen an der blassen Schönheit auf dem Cover, die lüstern-mysteriös vom Buchdeckel herabschaut. Es fehlt eigentlich nur noch der halbnackte, langhaarige Mann, der sie in seine Arme schließt, um programmatisch klarzumachen, worum es in „Estelle“ geht: Denn natürlich handelt es sich beim vorliegenden Roman um eine dieser Vampirromanzen, die momentan den Buchmarkt zu überschwemmen drohen und innerhalb klar abgesteckter Handlungsschemata immer wieder die gleiche Geschichte erzählen. Immerhin hat Bianka Minte-König versucht, dem Genre ihren eigenen Stempel aufzudrücken, unter anderem auch, indem sie die Handlung ganz bodenständig nach Deutschland verlegt. Zumindest für große Teile …

_Wir befinden uns_ im Berlin der Jahrhundertwende. Vanderborg ist ein Tüftler, der von allem fasziniert ist, was mit Elektrik und Strom zu tun hat. Für den Großen Pilati, einen Zauberkünstler, baut er Maschinen, um dessen Illusionen überhaupt erst möglich zu machen. Seine neueste Erfindung ist eine Vampirfangmaschine, und weil so ein Vampir eine absolute Attraktion in Pilatis Bühnenshow wäre, fährt Vanderborg – seinen Sohn Friedrich, seine Tochter Estelle und eben jene Maschine im Gepäck – nach Polen, um sich dort einen Vampir zu fangen. Das kann so schwierig schließlich nicht sein! Leider geht die ganze Aktion jedoch vollkommen schief. Estelle wird während der Fangaktion vom Blitz getroffen. So scheint es jedenfalls. Was jedoch weder Vanderborg noch Friedrich begreifen ist, dass ihnen tatsächlich ein Vampir ins Netz gegangen ist: Im entscheidenden Moment ist nämlich die Vampirin Eleonore in Estelle gefahren, um fortan in deren Körper zu leben.

Für sie ist es eine Chance und ein Neuanfang. Mit Vanderborg und Friedrich fährt sie zurück nach Berlin. Zwar stellt sie bald fest, dass sie immer noch ein Vampir ist (so verträgt sie kaum Sonnenlicht und braucht regelmäßig Blut), doch eröffnen sich ihr auch ganz neue Möglichkeiten. Zusammen mit den beiden Männern fährt sie zur Weltausstellung nach Paris, da der Große Pilati dort eine Anstellung hat. Seine Illusionsmaschinen werden jedoch nicht geliefert und die ganze Reise endet in der Katastrophe – und in der Pleite. Den Karren aus dem Dreck zu ziehen fällt an Estelle. Sie soll den reichen Bankier Karolus Utz heiraten, um die Familie wieder solvent zu machen. Die Ehe steht jedoch unter einem schlechten Stern. Utz ist nicht gerade ein vorbildlicher Ehemann. Er hat eine Geliebte, die Estelle verabscheut. Doch kann Estelle Utz diese Tatsache moralisch bald nicht mehr vorwerfen, denn als sie den Soldaten Amadeus kennenlernt, beginnt auch sie eine Affäre. Das kann natürlich nicht endlos gut gehen, doch zunächst kommt der Erste Weltkrieg dazwischen und Liebesdinge müssen hintan gestellt werden.

_In vielerlei Hinsicht_ ist „Estelle“ ein Roman wie tausend andere. Die Hauptfigur ist eine vom Schicksal gebeutelte Heroine, wunderschön und eigentlich gutherzig, der jedoch aufgrund der äußeren Umstände ein tragisches Schicksal zugefallen ist. In Estelles (bzw. Eleonores) Fall begann alles damit, dass der Gutsherr ihres Dorfes sie töten ließ. Sterbend, verfluchte sie ihn und sein Geschlecht und kam als Wiedergänger wieder, um jeden in der Familie des Gutsherren ins Jenseits zu befördern. Dass diese Art der Vampirwerdung auch innerhalb des Romans eine Sonderstellung einnimmt (alle anderen Vampire werden klassisch durch Biss vampirisiert), wird zwar thematisiert, jedoch nie logisch aufgeklärt. Vermutlich ging es Minte-König allein darum zu zeigen, dass Eleonore unschuldig an ihrem Schicksal ist, um ihr keine Lesersympathien zu entziehen.

Und natürlich gibt es eine überlebensgroße, alles verschlingende Liebe. Zunächst fühlt sich Estelle zwar zu Friedrich hingezogen, bemerkt aber bald, dass dies eine Sackgasse ist. Nicht nur würde die Welt eine solche Partnerschaft für Inzest halten, auch überkommt sie jedes Mal der Blutdurst, wenn sie Friedrich nahekommt. Als sie dann jedoch Amadeus kennenlernt, wird alles anders. Ihr innerer Vampir meldet sich nicht, wenn sie sich küssen. Das einzige, was zwischen ihnen steht, ist Utz. Zwar versucht Estelle halbherzig, die Affäre zu beenden, doch wird daraus nichts. Eine überlebensgroße Liebe wäre schließlich nicht überlebensgroß, wenn nicht er androhen würde, sich zu erschießen, sollte sie sich entscheiden, ihn nicht wiederzusehen. Und sie wäre ebenso wenig überlebensgroß, würde sie nicht praktisch an Melancholie eingehen, wenn sie von ihm getrennt ist. Dass solcherart destruktive Gefühle nicht wirklich etwas mit Liebe, sondern eher mit pathologischer Besessenheit zu tun haben, wird natürlich nicht thematisiert. Schließlich ist es ein Topos des Liebesromans, dass A ohne B nicht leben kann – eine sehr literarische Vorstellung, die sich im wahren Leben in der Regel nicht bestätigt (zum Glück).

Von den Charakteren und der Liebesgeschichte ist also kaum Überraschendes zu erwarten. Die Beschreibung der Liebesszenen dümpelt auch eher zwischen durchschnittlich und geradezu unterirdisch dahin. Minte-König beweist zumindest genügend Geschmack, die Bettgeschichten nicht überhand nehmen zu lassen und die entsprechenden Szenen immer der eigentlichen Handlung unterzuordnen. Wenn aber Estelle beispielsweise mit ihrem Liebhaber schläft und seine männliche Schönheit vor sich ausgebreitet sieht “wie ein geschmeidiges Wild, frisch erlegt, dem Jäger zum baldigen Genusse präsentiert”, dann ist das so unappetitlich wie metaphorisch schief. Da schaudert es den Leser unwillkürlich. Liebe mag zwar durch den Magen gehen, aber das Sprichwort bezieht sich wohl eher nicht auf einen derartigen Vergleich.

Was „Estelle“ aus der reinen Schnulze heraushebt, ist das gut ausgearbeitete Setting. Dass Bianka Minte-König in Berlin geboren wurde, zeigt sich deutlich. Die Stadt beschreibt sie mit einem guten Blick fürs (auch historische) Detail und so wird der Moloch Berlin bald selbst zum überzeugendsten Charakter innerhalb des Romans. Ebenso gut gelingen ihr die vielen kleinen literarischen Anspielungen, von denen der eine Leser wohl mehr, der andere weniger versteht. So gibt sie literarischen Größen Cameo-Auftritte (z.B. Georg Heym oder Georg Trakl). Sie lässt den berühmten Zille ein Porträt von Estelle malen und legt den handelnden Figuren wiederholt literarische Zitate in den Mund. Diese Passagen geben der doch recht geradlinigen und klischeehaften Handlung eine weitere Dimension und zeigen deutlich die germanistischen Wurzeln der Autorin. Da „Estelle“ noch zwei weitere Romane folgen sollen, darf man gespannt sein, welcher literarischen Epoche sich Minte-König dann so leidenschaftlich widmet.

_Wer Paranormal Romances_ bzw. Vampirroman(z)en mag, der ist mit „Estelle“ in jedem Fall besser bedient als mit der amerikanischen Massenware, die im Buchhandel erhältlich ist. Bianka Minte-König hat sich mit dem gut recherchierten historischen Setting viel mehr Mühe gegeben als es im Liebesroman-Genre in der Regel üblich ist. Dass die Liebesgeschichte dennoch in vorgefertigten Bahnen verläuft, ist vermutlich den Anforderungen des Genres und den Vorlieben des Publikums geschuldet.

|Broschiert: 423 Seiten
ISBN-13: 978-3800095247|

http://www.otherworldverlag.de

Bolaño, Roberto – Chilenisches Nachtstück

Letztes Jahr erschien posthum „2666“ von Roberto Bolaño. Vom Verlag als „Jahrhundertroman“ gepriesen, kommt er auch wie ein Backstein daher – über eintausend Seiten, die erst einmal erobert werden wollen. Wer sich als Leser zunächst lieber eine kleinere Dosis Bolaño verabreichen möchte, dem sei sein „Chilenisches Nachstück“ empfohlen, ein schmaler Band, der aber unbedingt neugierig auf mehr macht. Schließlich kam der 2003 verstorbene Bolaño ohnehin erst spät zu literarischem Ruhm, es gibt also noch einiges zu entdecken!

Das Nachtstück liest sich wie ein Fiebertraum, denn das ist es auch. Es handelt sich um die fiebrigen Gedanken des Sebástian Urrutia Lacroix kurz vor dessen Tod. Im Bett liegend und Gevatter Tod praktisch schon im Zimmer sehend, wehrt er sich vehement gegen die Vorhaltungen des in der zukünftigen Erzählung immer wieder auftauchenden vergreisten Grünschnabels, offensichtlich eine Personifikation des Gewissens Lacroix’. Als Priester, Dichter und Literaturkritiker hat er sich immer der Wahrheit verpflichtet gefühlt, versichert er zunächst überzeugend, denn „der Mensch hat die moralische Verpflichtung, sich für seine Handlungen verantwortlich zu erklären“. Das klingt zunächst edel und bewundertswert, doch stellt sich bald heraus, dass Lacroix es mit seinen hehren Moralansprüchen selbst nie so genau genommen hat.

Zunächst lässt er jedoch sein Leben Revue passieren: Wie er nämlich als junger Priester und Autor in spe den Literaturkritiker und -förderer Farewell kennenlernt, in seinem Einflussbereich ungefähr vergleichbar mit einem chilenischen Reich-Ranicki. Von Farewell wird er in die literarischen Zirkel eingeführt, er lernt Pablo Neruda kennen und versucht sich an ersten Literaturkritiken, die er von nun an regelmäßig in der Zeitung veröffentlichen soll, bis er sich selbst den Ruf eines einflussreichen Kritikers erarbeitet hat.

Episodenhaft werden dann verschiedenen Stationen in Lacroix’ Leben geschildert: Wie er Europa bereist, um heraus zu finden, wie man Gotteshäuser vor Taubenscheiße schützen kann, wie er sich an Lyrik probiert. Und es geht um den Literaturbetrieb, immer und immer wieder. Schließlich wird die Erzählung jedoch in den Ereignissen der späten 70er Jahre kulminieren – in der Regierung Allendes und dem darauffolgenden Putsch durch die Militärjunta Pinochets. Solcherart weitgreifende politische und gesellschaftliche Ereignisse sind jedoch nur ein Ärgernis für Lacroix. Als Allende an die Macht kommt, verweigert er sich dem gesellschaftlichen Umsturz quasi durch innere Emigration: Er liest die Griechen: „Allende fuhr nach Mexiko und zu den Vereinten Nationen in New York, und es geschahen mehr Attentate, und ich las Thukydides.“ So geht das seitenweise – es spielen sich politische Umbrüche ab und unser Priester vergräbt sich in jahrtausendealten Schriften, anstatt am historischen Moment vor seiner Haustür teilzuhaben.

Als dann Pinochet an die Macht kommt, wird er von der Junta als Lehrer für Marxismus engagiert, denn Pinochet will lernen, seine Feinde besser einzuschätzen. Lacroix fügt sich, freut sich über das Kompliment ein guter Pädagoge zu sein und findet Pinochet „überaus reizend“. Seiner Aufgabe geht er nach, ohne die Hintergründe zu hinterfragen als ginge es einzig um Wissensanreicherung zur Erbauung der Teilnehmer.

Sein Ausflug in politische Sphären ist nur scheinbar von kurzer Dauer. Während der Diktatur, als eine strenge Ausgangssperre verhängt wird, treffen sich die Intellektuellen von Santiago bei Maria Canales, einer angehenden Schriftstellerin, die ihr Wohnzimmer in einen Salon verwandelt, wo sich mehrmals wöchentlich Schriftsteller und Maler über Kunst, Literatur und Kultur im allgemeinen auslassen. Nur zufällig verschlägt es einen der stark angeheiterten Gäste in den Keller des Wohnhauses, wo er eine gefesselte und geknebelte Person auf einem Bett vorfindet. Doch anstatt das Gesehene anzusprechen, schließt er die Tür und kehrt ins Wohnhaus zurück. Erst nach Pinochets Sturz stellt sich heraus, dass Marias Mann zur Geheimpolizei gehörte und den Keller für Verhöre nutze. Nicht aber für Morde – außer einer der Gefangenen sei zufällig an der Folter gestorben.

Hätte Lacroix das wissen können? Ahnen können? Hätte er handeln können oder sollen? Vollmundig sagt er von sich selbst: „Ich wäre imstande gewesen und hätte etwas gesagt. Aber ich habe nichts gesehen. Ich habe nichts gewusst, und dann war es zu spät.“ Ist es tatsächlich so einfach? Wohl kaum. Denn um seinem eigenen moralischen Anspruch zu genügen, hört er bewusst weg, sieht bewusst weg (und liest griechische Klassiker), damit er am Schluss behaupten kann, doch von nichts gewusst zu haben. Er wäscht seine Hände in einer Unschuld, von der er genau weiß, dass er sie teuer erkauft hat.

Lacroix hält sich für einen Intellektuellen, einen empfindsamen Menschen. Dass allein schon stellt ihn moralisch über die breite „barbarische“ Masse Chiles, von denen viele einfach nichts wissen. Diese Arroganz, diese Ich-Bezogenheit der Kultur ist es, was Bolaño verurteilt. So lässt er beispielsweise Pinochet erläutern, dass er drei Bücher geschrieben habe (und unzählige Artikel) und „niemand hat mir dabei geholfen“ versichert er, ganz so, als sei der Akt des Bücherschreibens das, was einen Menschen adelt. Als mache ihn diese Tatsache allein zu einem grundsätzlich besseren Menschen. Und hier scheitert eben auch Lacroix selbst, der als Literaturkritiker durchaus Einfluss gewinnt, aber nie über den Literaturbetrieb hinaus auf das große Ganze blickt – bis zum Moment seines Todes, indem auch er seine Augen nur noch mit Mühe vor vergangenen Fehlern verschließen kann. Für ihn zählt einzig das geschriebene Wort, politische Ereignisse oder moralische Verantwortung fallen nicht in seinen Einflussbereich. Doch kann das Leben wirklich so einfach sein? Kann man sich so ein reines Gewissen bewahren?

„Chilenisches Nachtstück“ könnte ein schweres Buch sein. Wer es aufschlägt, wird nicht einen Absatz finden. Wer es anliest, wird schnell feststellen, dass wörtliche Rede in der Erzählung Lacroix’ quasi verschwindet. Sätze ergießen sich über mehrere Seiten, Erzählstränge gehen mühelos ineinander über. Und trotzdem liefert Bolaño ein Büchlein, das sich unglaublich leicht liest, sodass man als Leser all seine Konzentration auf das Gesagte lenken kann, ohne das „wie“ überdenken zu müssen. Was nicht heißt, dass das weniger beeindruckend wäre. Dass beides hier so elegant ineinander läuft, ist sicherlich auch der Arbeit des Übersetzers Heinrich von Berenberg zu verdanken.

Bolaños „Chilenisches Nachtstück“ weist mit seiner universalen Problematik weit über Chile hinaus. Ganz persönlich darf sich jeder Leser fragen, wovor er die Augen und Ohren verschließt. Und wie er meint, am Sterbebette den vergreisten Grünschnabel ruhig stellen zu können.

|Taschenbuch: 160 Seiten
ISBN-13: 978-3423138802
Originaltitel: |Nocturno de Chile|
Deutsch von Heinrich von Berenberg|

Cornwell, Bernard – brennende Land, Das

Wenn man sich durch das umfangreiche (und immer weiter wachsende) Werk von Bernard Cornwell arbeitet, dann ist anzunehmen, dass man nach erfolgter Lektüre viel schlauer ist als zuvor. Zumindest, was englische Geschichte, Politik und Kriegshandwerk angeht, denn dies sind Cornwells Leidenschaften, die in seinen Romanen immer wieder das Grundgerüst bilden.

In „Das brennende Land“ entführt Cornwell seine Leser in das England des 9. Jahrhunderts, wobei es jedoch vermessen wäre, hier schon von „England“ zu sprechen. Stattdessen bedecken die Länder Wessex, Northumbrien und Mercien große Teile der Landschaft, die wir heute als England kennen. Held (im wahrsten Sinne) der Geschichte ist Uthred, ein Kriegsherr, dessen Eid ihn an König Alfred von Wessex bindet. Damit ist er jedoch weniger glücklich, denn Alfred ist ein Christ und umgibt sich mit einer stattlichen Anzahl von Mönchen, die auf den Heiden Uhtred herab blicken. Dieser wiederum hält das Christentum für eine lächerliche Religion, lässt es sich jedoch nicht nehmen, in brenzligen Situationen nicht nur zu seinen eigenen Göttern, sondern auch zu diesem ans Kreuz genagelten Christus zu beten. Man kann schließlich nie wissen …

Alfreds Hofstaat provoziert einen Eklat, der Uthred dazu bringt, seinen Eid auf Alfred zu brechen und stattdessen nach Norden zu gehen. Eigentlich will er mit Wessex auch gar nichts zu tun haben. Viel lieber würde er Bebbanburg, seine Heimat im Norden, wieder einnehmen. Doch dazu braucht er Gold und Männer – in dieser Reihenfolge. Also plant er, Skirnir zu überfallen, da er erfahren hat, dort solle sich ein Schatz befinden. Der Überfall gelingt zwar, doch fällt die Beute weit weniger reichlich aus als erhofft, und so steht Uthred immer noch am Anfang seines Plans. Bevor dieser jedoch weiter gedeihen kann, ruft ein anderer Eid ihn über Umwege zurück an Alfreds Seite und er muss ein weiteres Mal dessen Reich vor einfallenden Feinden schützen.

Bei „Das brennende Land“ handelt es sich um den fünften Band in Cornwells |Uthred|-Serie. Zwar kann man sich auch ohne Vorkenntnisse auf den Roman einlassen, doch wird man mehr aus der Lektüre mitnehmen, wenn man auch die Vorgängerbände kennt. So sind die politischen Verwicklungen, die Cornwell beschreibt, durchaus kompliziert und bei den unzähligen fremdartigen Namen wird es ohne Vorkenntnisse noch schwerer, den Überblick zu behalten, wer mit wem verbandelt, verfeindet oder verbündet ist. Eine kleine Hilfestellung bei der Orientierung bieten eine Karte, eine Liste mit Ortsnamen (und ihrer zugehörigen englischen Entsprechung) und ein Stammbaum der Wessex’schen Königsfamilie. Gerade die Liste der Ortsnamen ist eine echte Hilfe, da man ohne sie kaum erraten würde, wo man sich geographisch gerade befindet: Dass Cent der alte Name für die Stadt Kent ist, ist noch naheliegend. Aber wer käme schon darauf, hinter der Ortsbezeichnung Eoferwic das heutige York zu vermuten?

Den Großteil der auftauchenden Personennamen muss man sich jedoch selbst merken, wobei nur eine Handvoll davon wirklich wichtig ist. Cornwell konzentriert sich hauptsächlich auf seinen Protagonisten (darum ist der Roman wohl auch in der Ich-Form geschrieben) und arbeitet Nebencharaktere eher uninspiriert ab. Die Krieger in Uthreds Diensten bleiben, bis auf ein oder zwei Ausnahmen, durchweg farblos, und selbst der großen Gegenspielerin des Romans, der ambitionierten Skade, vermag er kaum Profil zu verleihen. Als machthungrige Schönheit hängt sie sich jeweils an den Mann, der den meisten Erfolg verspricht, und lässt ihn in dem Moment fallen, in dem ein besseres Exemplar vorbeireitet. Sie ist kaltherzig, berechnend und grausam. Doch mehr als pure Machtlust um ihrer selbst willen mag Cornwell ihr als Motivation nicht zugestehen. Es ist ein wenig schade, dass ein Charakter, der so viel Profil vermuten lässt, im Roman dann fast nichts davon einlöst.

Was Cornwell jedoch bei seinen Nebencharakteren einspart, das verwendet er samt und sonders auf Uthred, der als schillernder Kriegsheld gezeichnet wird und doch nicht eindimensional bleibt. Er ist ein echter Macher, ein Pläneschmieder und furchteinflößender Kämpfer. Kurzum, er ist ein echter Mann, der andere Männer nur dann schätzt, wenn sie mit seiner Kraft und Potenz mithalten können (darum wohl auch seine Abneigung gegen das Christentum, da ihm alle Christen als verweichlicht erscheinen). Er ist großspurig und neigt etwas zum Protzen, doch selbst diese Eigenschaften machen ihn nicht unsympathisch, sicherlich, weil der Leser realisiert, dass Uthred genügend Grund zur Eitelkeit hat. Und doch: Selbst er findet sich wiederholt als Opfer verschiedener Ränkespiele wieder und muss sich in Situationen ergeben, die sich seiner Einflussnahme entziehen. So findet er sich gänzlich gegen seinen Willen auf Alfreds Seite wieder, hat aber keine andere Möglichkeit, als zu versuchen, in der Situation etwas Positives zu finden. Ihr entfliehen kann er ohnehin nicht.

Ebenso interessant wie Uthred ist Cornwells Beschreibung des Konflikts zwischen dem aufkommenden Christentum und den alten Göttern. Uthred hängt dem nordischen Götterkreis an und wird am christlichen Hof Alfreds eigentlich nur noch geduldet, weil er so ein erfolgreicher Heerführer ist. Dass der Kampf der Religionen durchaus blutig geschlagen wurde, während andererseits in vielen Fällen auch ein friedliches Nebeneinander möglich war, das will Cornwell beschreiben. Und es gelingt ihm eindrücklich.

„Das brennende Land“ ist ein Roman für alle, die an der frühen Geschichte Englands interessiert sind und die sich – lesend, selbstverständlich – auch gern ein wenig ins Schlachtengetümmel werfen. Denn eins ist klar: Ohne eine ordentliche Schlacht lässt Cornwell keinen seiner Romane enden!

|512 Seiten, broschiert
ISBN-13: 978-3499254147
Originaltitel:| The Burning Land|
Übersetzung: Karolina Fell|
http://www.rowohlt.de
http://www.bernardcornwell.net

_Bernard Cornwell auf |Buchwurm.info|:_
[„Stonehenge“ 113
[„Die Galgenfrist“ 277
[„Der Bogenschütze“ (Auf der Suche nach dem Heiligen Gral 1) 3606
[„Der Wanderer“ (Auf der Suche nach dem Heiligen Gral 2)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=3617
[„Der Erzfeind“ (Auf der Suche nach dem Heiligen Gral 3) 3619
[„Sharpes Feuerprobe. 1799: Richard Sharpe und die Belagerung von Seringapatam“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5208
[„Sharpes Sieg. 1803: Richard Sharpe und die Schlacht von Assaye“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5829
[„Das Zeichen des Sieges“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6223

Allende, Isabel – Insel unter dem Meer, Die

_Isabel Allende ist Spezialistin_ für Romane über starke Frauen. Da kommt es auch vor, dass ihre starken Frauen dermaßen unabhängig, freiheitsliebend und übergroß sind, dass der Leser sie für überzeichnet halten könnte, wüsste er nicht, dass Allende selbst diese unglaubliche Stärke und den unbändigen Lebenswillen mit ihrer eigenen Vita immer und immer wieder bewiesen hat. Dass sie, durchaus vom Leben gebeutelt, letztendlich doch immer das Positive in einem Schicksalsschlag sehen kann und nach vorne schaut, ist beeindruckend. Dass sie diese lebensbejahende Stärke mit immer wieder neuen Melodien in ihren Romanen besingt, ist keineswegs langweilige Wiederholung. Es ist Beweis dafür, dass hier eine Autorin ihr Thema gefunden hat – ein Thema, das sich immer wieder auf neue und überraschende Weise interpretieren lässt.

In Isabel Allendes neuem Roman, „Die Insel unter dem Meer“ (ein Euphemismus für das Jenseits), heißt diese starke Frau Zarité. Gleich im ersten Kapitel lernen wir sie als gestandene Frau mittleren Alters kennen, die geliebt und gelitten hat, und uns wird ihre Geschichte versprochen. Doch dann geht es eine ganze Weile erst mal gar nicht um Zarité, denn Isabel Allende hat sich mit „Die Insel unter dem Meer“ ein groß angelegtes Panorama vorgenommen, einen Historienroman allererster Güte.

Die Bühne bietet Saint-Domingue, Ende des 18. Jahrhunderts. Saint-Domingue, das heutige Haiti, war damals französische Kolonie und Exporteur von Zucker. Die zahlreichen Zuckerplantagen, von französischen Kolonialisten geführt, wurden von zahllosen Sklaven bewirtschaftet, die so schlecht behandelt wurden, dass sie in der Regel nach einigen Monaten „verschlissen“ waren und ersetzt werden mussten. In dieses Land, das irgendwo zwischen französischer Hochkultur und gesetzloser Barbarei schwankt, verschlägt es den jungen Toulouse Valmorain. Dessen Vater führte bisher die familieneigene Zuckerplantage, damit die Familie in Frankreich gut leben konnte. Doch nun liegt er im Sterben und Valmorain muss notgedrungen das Zepter übernehmen. Schnell stellt er fest, dass seine aufgeklärten Ansichten, von den aktuellen französischen Philosophen beeinflusst, ihm hier kaum weiterhelfen. Und so akzeptiert er bald ohne jede geistige Gegenwehr die Sklaverei als gottgegeben und unausweichlich, überlässt jedoch die wirklich brutalen Züchtigungen seinem Aufseher und beruhigt sich damit, dass Neger ohnehin weniger Schmerzempfinden haben als Weiße.

Als er auf Kuba seine Frau Eugenia kennenlernt und diese schließlich mit auf die Plantage bringt, kauft er für sie die neunjährige Zarité, damit diese der Herrin zur Hand geht. Bald stellt sich heraus, dass Eugenias Psyche der neuen Umgebung nicht standhält und so sorgt sich Zarité nicht nur um den Haushalt und um den neugeborenen Stammhalter Maurice, sondern auch um Eugenia, die immer mehr dem Wahnsinn verfällt und schließlich stirbt. Währenddessen befiehlt Valmorain Zarité des nächtens in sein Bett, vergewaltigt sie wiederholt und zeugt mit ihr zwei Kinder. Es sind die Kinder, ihre eigenen und auch Maurice, die sie von nun an an Valmorain binden. Selbst als sie die Möglichkeit zur Flucht hat, bleibt sie. Und als der Sklavenaufstand Valmorains Plantage zu überrennen droht, rettet sie ihn – wieder um der Kinder willen. Es verschlägt die beiden nach New Orleans, wo Zarité schließlich ihre Freiheit erzwingt und Valmorain ein zweites Mal heiratet.

_“Die Insel unter dem Meer“_ ist einer dieser historischen Romanen, in denen man sich wunderbar verlieren kann. Das Setting ist exotisch und schon darum ist man fasziniert von all den unbekannten Farben, Lauten, Landschaften und Menschen, die Isabel Allende im Verlauf des Romans zu einem riesigen Wandgemälde fügt. Selbst, als die Handlung nach New Orleans wechselt und die Charaktere die grüne, ungebändigte Hölle des Dschungels gegen die anspruchsvolle und vergnügungssüchtige kreolische Gesellschaft eintauschen, bleibt der Roman voller Sinneseindrücke. Tatsächlich gelingt ihr die Beschreibung New Orleans‘ besser als die der haitischen Plantagen, denn Isabel Allende ist eine Frau der Genüsse und derer bieten sich in dieser großstädtischen Gesellschaft einfach mehr: Da wird geschlemmt und geliebt, gestorben und duelliert, dass es eine Freude ist.

Schade daran ist einzig, dass die Protagonistin des Romans einer der uninteressantesten Charaktere ist. Auch Isabel Allendes Versuch, Zarité durch einzelne, in Ich-Form erzählte Kapitel, erfahrbarer zu machen, scheitert auf ganzer Linie. So unterbricht sie den Fluss der Handlung immer wieder, um Zarité selbst ihre Sicht der Dinge erzählen zu lassen. Doch diese Passagen bleiben blass und wirken seltsam fern. Stattdessen hat man den Eindruck, Zarité wäre der roten Faden, der alle anderen Charaktere dieses Romans verbindet. Und derer gibt es viele. Da wäre natürlich zunächst Valmorain zu nennen, dessen Ansichten über die Sklaverei im Allgemeinen und den Neger im Besonderen große Teile der Erzählung einnehmen. Die Widersprüchlichkeiten in seiner Argumentation sind dabei ein Reiz der Figur. Dass Freiheit offensichtlich ein Gut ist, dass für sich selbst Wert hat, will ihm nicht in den Kopf. Schließlich hat Zarité doch bei ihm alles, was sie braucht. Er sorgt gut für sie, meint er zumindest. Wozu sie also ständig auf ihre Freilassung drängt und diese schlussendlich sogar erpresst, will ihm nicht in den Kopf. Er fühlt sich gar von ihr verraten, als wäre er es, dem hier Unrecht getan wurde. Diese widersprüchliche Argumentationskette lässt vermuten, dass Valmorains gebildeter Verstand anders kaum mit den Gegebenheiten umgehen könnte. Denn im Gegensatz zu seinem Sohn, der zu seinen Überzeugungen steht und gegen die Sklaverei kämpft, ist Valmorain eigentlich zu feige und zu bequem, um an den Zuständen etwas ändern zu wollen. Er arbeitet lieber innerhalb des Systems und baut außerhalb von New Orleans die modernste und menschenfreundlichste Plantage auf. So als wären eine wasserdichte Hütte, regelmäßige Mahlzeiten und eine notdürftige medizinische Versorgung genug Bezahlung für die erzwungene Unfreiheit der Sklaven.

Dann wäre da noch Violette, die freie Mulattin, die als Konkubine große Erfolge feiert und schließlich durch die Heirat mit einem Franzosen in der Gesellschaft aufsteigt. Oder Tante Rose, die Voodoo-Priesterin, die mit Kräutern allerlei Krankheiten heilen kann und sich einen so guten Ruf erarbeitet hat, dass sogar ein französischer Arzt ihre Bekanntschaft sucht, um von ihr zu lernen. Oder Zacharie, der Sklave, der mit seinem herrschaftlichen Benehmen Ärger heraufbeschwört und dafür mit seinem schönen Gesicht bezahlen muss.

_Es gibt also viel_ zu entdecken in Isabel Allendes Roman. Dass da einiges zu bunt und zu überzeichnet gerät, ist fast verzeihlich. So lässt sie es sich nicht nehmen, gegen Ende auch noch eine Inzestbeziehung einführen zu müssen, deren Brisanz fast gänzlich unter den Teppich gekehrt wird, da der viel größere Tabubruch offensichtlich die Gemischtrassigkeit der Eheleute ist. Dass Zarité nach vielen Schicksalsschlägen dann doch Frieden mit der Welt schließt und bei sich selbst ankommt, erwartet man von Isabel Allende. Und sie enttäuscht nicht. Im Großen und Ganzen ist „Die Insel unter dem Meer“ nämlich eine runde Sache.

|Hardcover: 557 Seiten
Originaltitel: La isla bajo el mar
ISBN-13: 978-3518421383|
[www.suhrkamp.de]http://www.suhrkamp.de

_Isabel Allende auf |Buchwurm.info|:_
[„Im Bann der Masken“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=605
[„Die Stadt der wilden Götter“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1431
[„Im Reich des goldenen Drachen“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1432
[„Zorro“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1754
[„Inés meines Herzens“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4229
[„Das Siegel der Tage“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5269
[„Mein erfundenes Land“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=2979

Harris, Charlaine – Vampirgeflüster (Sookie Stackhouse 9)

_Die „Sookie Stackhouse“-Serie:_

01 [„Vorübergehend tot“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=788
02 [„Untot in Dallas“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=939
03 [„Club Dead“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1238
04 [„Der Vampir, der mich liebte“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=2033
05 [„Vampire bevorzugt“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=3157
06 [„Ball der Vampire“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4870
07 [„Vampire schlafen fest“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5450
08 [„Ein Vampir für alle Fälle“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6161
09 _“Vampirgeflüster“_
10 „Dead in the Family“ – noch kein dt. Titel –
11 „Dead Reckoning“ (im Original: 26. Mai 2011)

_Vampire, Wergeschöpfe, Hexen_, Elfen und allerlei andere interessante Wesen sind fester Bestandteil von Charlaine Harris‘ Serie um die gedankenlesende Kellnerin Sookie Stackhouse. Der mittlerweile neunte Band, „Vampirgeflüster“, ist nun auch auf Deutsch erschienen und es ist logisch, dass sich in so vielen Romanen ein ziemlich umfangreiches Universum aufbauen lässt. Vor allem auch, weil Harris sich nie mit dem einmal erreichten Stand zufriedengibt. Anstatt beim Leser eine gewisse Gewöhnung zu riskieren, führt sie einfach eine neue Gattung Geschöpfe ein. Im letzten Band, [„Ein Vampir für alle Fälle“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6161 waren das Elfen gewesen. Und natürlich nutzt Charlaine Harris den neuen Roman nun, um etwas mehr mit ihren neuen literarischen Spielzeugen anzufangen.

Doch von Anfang an: Vor Jahren schon waren die Vampire in einem medialen Rundumschlag an die Öffentlichkeit getreten, um ihre Existenz kundzutun. Im Großen und Ganzen hat dieser Schritt den Vampiren nur Vorteile gebracht – nur ganz wenige Bürgerrechte sind ihnen noch verwehrt. Die Wergeschöpfe wagen zu Beginn von „Vampirgeflüster“ nun auch endlich diesen Schritt. Auf allen TV-Stationen gleichzeitig präsentieren sie sich der Welt. Sicherlich, man rechnet mit Zwischenfällen (aus diesem Grund hat sich auch Bill im Merlotte’s postiert – um im Notfall eingreifen zu können), doch zunächst scheint es so, als würde die große Nachricht gut aufgenommen.

Doch schon bald wandelt sich der Eindruck. Jasons untreue (und schwangere) Ehefrau Chrystal wird nämlich bald darauf tot vor dem Merlotte’s aufgefunden – halb verwandelt und an ein großes Holzkreuz genagelt. Der Verdacht liegt also nahe, dass hier jemand aus Hass auf die Wergeschöpfe gehandelt hat. Verdächtige wollen sich jedoch nicht einfinden und weder kann Sookie etwas in den Gedanken der Leute lesen, noch können Chrystals Verwandte eine Fährte erschnuppern. Somit verliert sich das Verbrechen zunächst in einer Sackgasse.

Sookie hat ohnehin bald andere Probleme. Ihr Urgroßvater Niall steckt nämlich in Schwierigkeiten. Meist halten sich die Elfen in einer Art Parallelwelt auf und so gibt es zwischen Menschen und Elfen kaum Berührungspunkte. Doch Niall hat einen Narren an Sookie gefressen und das merken bald auch seine Feinde, die wollen, dass die beiden Welten endgültig voneinander abgetrennt werden. Es kommt zum Krieg zwischen den rivalisierenden Gruppen und natürlich befindet sich Sookie mitten in der Schusslinie. Den ersten Attentäter kann sie noch – mehr zufällig als tatsächlich vorsätzlich – mit einem Spaten niederstrecken (Eisen wirkt auf Elfen tödlich), doch dann wird sie gefangen genommen …

_Das Positive zuerst:_ Im Gegensatz zum Vorgänger, „Ein Vampir für alle Fälle“, gibt es in „Vampirgeflüster“ tatsächlich wieder eine nachvollziehbare Handlung – diesmal sogar bestehend aus einem A- und einem B-Plot. Eine ganz klassisch erzählte Geschichte also. Zwar ist es ein bisschen schade, dass die große und lang angekündigte Enthüllung der Wergeschöpfe dann doch nicht der zentrale Konflikt des Romans ist, sondern sich eher als eine Art Red Herring für die Mordgeschichte herausstellt. Trotzdem, dass die Wergeschöpfe nun auch endlich ihre Existenz ihre publik gemacht haben, verändert Harris‘ Welt grundlegend und man darf gespannt sein, welche Langzeitfolgen sie in zukünftigen Bänden noch aus dem Hut zaubert.

Auch gibt es endlich wieder mehr Vampirsichtungen zu vermelden. Nachdem Eric ja im letzten Band kaum Interessantes zur Handlung beitrug und man von Bill schon seit Längerem nichts Konstruktives mehr erwartete, hat Charlaine Harris sich nun endlich entschieden, beiden wieder etwas mehr Platz einzuräumen. Das wurde aber auch Zeit! In einem Eric-typischen Schachzug, bringt dieser Sookie dazu, mit ihm den Bund der Vampirehe einzugehen, ehe sie noch weiß, wie ihr geschieht. In der Vampirgesellschaft gelten sie nun also als verheiratet (ein Schritt, den Eric natürlich nur unternommen hat, um Sookies Sicherheit zu gewähren) und die Arme verbringt den Rest des Romans damit, herausfinden zu wollen, was genau das nun eigentlich bedeutet. Zumindest führt es schon mal dazu, dass die beiden sich wieder näherkommen. Und auf derartige Szenen hat die geneigte Leserin wahrlich lange genug gewartet! Doch auch Bill bekommt diesmal seine kleine Szene im Rampenlicht und diese ist so wirkungsvoll platziert, dass man sich fragt, ob Harris plant, Sookies Beziehungsdurcheinander etwa noch einmal auf den Kopf zu stellen. Man darf gespannt sein!

Und dann wären da natürlich noch die Elfen, die Harris gleichermaßen faszinierend und mysteriös gestaltet. Zwar nimmt ihr Krieg einen großen Teil des Romans ein, doch wird man aus ihnen trotzdem nicht wirklich schlau. Da geht es dem Leser wie Sookie selbst, die von Niall zwar nach wie vor hingerissen ist, die aber auch weiß, dass Elfen – im Gegensatz zu all den anderen Supras in ihrer Umgebung – wirklich in eine andere Sphäre gehören. Mit Niall wird sie nie ein normales Familienleben genießen können und dieser Tatsache ist sie sich immer bewusst. Zwar kämpfen beide für ihre wachsende Zuneigung zueinander, doch wissen sie immer, dass diese eigentlich zum Scheitern verurteilt ist. Eine traurige Sache …

_Allerdings hat man_ als Leser immer noch das Gefühl, Charlaine Harris tanze in ihren Romanen einfach auf zu vielen Hochzeiten. Es haben sich derartig viele Charaktere und Charakterbeziehungen angehäuft, dass es einfach unmöglich ist, allen ausreichend Raum zu geben. Harris versucht es trotzdem und ist zum Scheitern verurteilt. Anstatt sich tatsächlich auf die Hauptelemente ihrer Handlung zu konzentrieren (der Mord an Chrystal und der Elfenkrieg) lässt sie sich ständig hinreißen, Umwege zu nehmen. Immer wieder lässt sie sich von Nebensächlichkeiten ablenken (so zwingt sie dem armen Leser eine groß angelegte Szene auf, in der Sookie nichts anderes tut als Unkraut zupfen – da hätte definitiv ein Lektor eingreifen müssen). Das führt wieder nur dazu, dass der Roman zerfasert und eben nicht wie aus einem Guss wirkt – zum Glück ist dieser Makel in „Vampirgeflüster“ nicht so offensichtlich wie im Vorgängerband.

Trotzdem. Alles in allem hat Charlaine Harris mit „Vampirgeflüster“ endlich wieder einen spannenden Teil ihrer „Southern Vampire Series“ auf die lesenden Massen losgelassen. Er mäandert nicht ganz so ziellos umher wie der Vorgänger. Harris hält die Zügel etwas fester in der Hand und so hat auch der Leser mehr Spaß bei der Lektüre.

|Taschenbuch: 352 Seiten
Originaltitel: Dead and Gone
ISBN-13: 978-3423212229|
[www.dtv.de]http://www.dtv.de

_Charlaine Harris bei |Buchwurm.info|:_
[„Grabesstimmen“ (Harper Connelly 1)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4704
[„Falsches Grab“ (Harper Connelly 2)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5608
[„Ein eiskaltes Grab“ (Harper Connelly 3)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6318

Pratchett, Terry (Autor) / Thalbach, Katharina (Sprecherin) – Ruhig Blut! (inszenierte Lesung von der Scheibenwelt)

„Die Scheibenwelt“ könnte man wohl guten Gewissens als Terry Pratchetts Opus Magnus bezeichnen. „Ruhig Blut!“ (oder „Carpe Jugulum“, wie der Roman im Original heißt) ist mitten aus dieser ausufernden Serie heraus gegriffen und doch verspricht der Autor auf seiner Webseite, man könne an jeder Stelle der Scheibenwelt einsteigen. Und so sollte es auch kein Problem darstellen, sich das von Katharina Thalbach meisterhaft eingelesene Hörbuch vorzunehmen und sich in diese bizarre Scheibenwelt entführen zu lassen, die trotz alle ihrer seltsamen Bewohner unserer eigenen Welt doch auf verwirrende Weise ähnelt.

_Worum geht es?_ Dem Königspaar von Lancre ist ein Töchterchen geboren worden. Zur bevorstehende Taufe lädt König Verence natürlich das unterschiedlichste Volk ein und weil er ein besonders offenherziger und moderner König sein will, verschickt er auch an die gräfliche Familie Elstyr eine Einladung … ein großer Fehler, wie sich bald herausstellt. Denn bei den Elstyrs handelt es sich um Vampire, äh, Vampyre, die sich das Königreich Verences unter den Nagel reißen wollen.

Und zunächst sieht es auch so aus, als hätten die Vier leichtes Spiel. Graf Elstyr ist ebenfalls ein moderner Mann und hat mit klassischer Konditionierung seine Vampirfamilie dazu gebracht, sich vor den traditionellen Vampirwaffen nicht mehr zu fürchten. So hat er seine Kinder mit Weihwasser bespritzt und mit Knoblauch bekocht, damit sie davon abkommen, sich vor diesen Dingen zu fürchten. Gleichzeitig besitzen die Vampyre die Fähigkeit, die Gedanken der umgebenden Menschen zu beeinflussen, sodass plötzlich alle auf der Tauffeier die Vampyre für sympathisch und ungefährlich halten.

Alle? Nicht alle, denn der tapsige Om-Priester Hilbert Himmelwärts und Agnes Nitt, die Hexe mit der gespaltenen Persönlichkeit (in der rundlichen Hexe steckt noch eine viel schlankere Person – und vorlauter ist sie auch) können der Massensuggestion auf seltsame Art widerstehen. So liegt es an ihnen, Lancre vor der vampirischen Übernahme zu beschützen. Mit Verstärkung von Königin Margrat und der schrulligen Oma Wetterwachs machen sie sich auf zum Vampirschloss, um die Vampyre auf eigenem Terrain zu schlagen.

_Terry Pratchett braucht_ eine Weile, bis sein Roman in Schwung kommt. Zunächst wird Lancre mit seinen urigen Gestalten beschrieben, um die Stimmung für die folgende Handlung aufzubauen. Dabei erwächst der besondere Witz zunächst daraus, dass wir es mit völlig abwegigen Charakteren zu tun haben – Zwerge, Vampire, Hexen, Phönixe -, die aber dennoch all den menschlichen Schwächen und Ticks unterworfen sind, die wir von uns selbst kennen. So hat selbst Hexe Agnes trotz ihrer Zauberkünste mit Übergewicht zu kämpfen und muss sich von ihrem schlankeren Selbst Perdita bissige Kommentare anhören.

Wenn dann endlich die Vampyre auftauchen, kann auch die Handlung richtig losgehen. Und obwohl alle Charaktere dieses Buches mit Ironie angelegt sind, so sind die Vampyre hier doch die Stars der Geschichte. Papa Graf entlarvt all die Vorstellungen, die man über Vampyre hat, als festgefahrene und überflüssige Traditionen, die es abzulegen gilt. Dies wirkt umso komischer, als die Familie einen Dienstboten mit sich führt (eine Art Erbstück), der schon dem Vampyr-Vorgänger gedient hat. Das war nämlich ein echter Vampyr! Spielte des nächstens auf seiner Orgel mit extraordinären Geräuschen (Quietschen, Schreie, Wolfsgeheul), um dann Jungfrauen zu jagen – aber nur, wenn sie auch im Negligée gut aussahen. Währenddessen pflegte Diener Igor im Keller die Spinnweben und hantierte so lange an der Eingangstür herum, bis der Quietschton perfekt war. Das waren noch Zeiten, findet Igor, nicht so wie der neue Herr mit seinen modernen Ansichten. Überhaupt gar kein richtiger Vampyr ist das!

Terry Pratchett macht sich gnadenlos über all die Vorstellungen lustig, die wir heute von Vampyren haben – und die hauptsächlich durch Filme (die von Hammer nämlich) geprägt sind. Da gibt es das Theatercape, die Tatsache, dass möglichst viele Requisiten herumhängen sollten, aus denen sich Kreuze basteln lassen, Pflöcke, Weihwasser, alte Schlösser und quietschende Türen. Prachett fährt also das durchschnittliche Inventar eines Vampirfilms auf und zeigt all die unlogischen Einzelheiten, über die sich der aufmerksame Zuschauer schon immer wunderte. All dies hat sich so festgefahren, dass es sogar den Vampyren zuwider ist.

„Ruhig Blut!“ macht Spaß – eigentlich. Katharina Thalbachs Leseleistung schwankt irgendwo zwischen grandios und absolut genial. Was diese Frau mit ihrer Stimme anstellen kann, lässt den Hörer nur sprachlos staunen. Jeder Charakter (und derer gibt es viele) bekommt bei ihr eine ganz eigene Stimme, eine eigene Intonation und in vielen Fällen sogar einen eigenen liebenswerten Sprachfehler. Dies allein macht das Hörbuch absolut lohnenswert.

Doch wo Licht ist, dort gibt es auch Schatten. Denn leider wurde der Roman gekürzt und zwar stellenweise relativ unelegant. So hat man als Hörer wiederholt das Gefühl, Dinge verpasst zu haben. Unter den Kürzungen leiden damit sowohl die Logik der Handlung als auch die beißende Satire gegenüber den fortschrittlichen Elementen des Romans – sowohl König Verence als auch Graf Elstyr. Da bietet der Roman definitiv mehr Witz und Ironie, beim Hörbuch sind große Teile leider der Schere zum Opfer gefallen.

_Für jene, die_ also einen ungefähren Eindruck von der Scheibenwelt erlangen wollen, ist „Ruhig Blut!“ vermutlich ein ebenso guter Einstieg wie jeder andere. Wer allerdings die volle Dosis Pratchett genießen möchte, der sollte sich weiterhin an das geschriebene Wort halten.

Galchen, Rivka – Atmosphärische Störungen

Rivka Galchens Debutroman „Atmosphärische Störungen“ war in den USA ein Erfolg und heimste positive Rezensionen unter anderem im „New Yorker“ ein. Die Autorin, geboren 1976 in Kanada und aufgewachsen in den USA, verwebt in ihrem ersten Roman Psychiatrie, Meteorologie und ihre eigene Familiengeschichte zu einer höchst seltsamen Geschichte über die Liebe beziehungsweise deren Abwesenheit. Eine illustre literarische Mischung also.

_Es geht um_ Leo Liebenstein. Leo ist Psychiater und sein interessantester Patient im Moment ist Harvey, der sich einbildet eine Art Geheimagent zu sein. Von seinem Arbeitgeber, der Royal Academy of Meteorology, erhält er Aufträge, die verschlüsselt auf Seite 6 der Tageszeitung zu lesen sind. Dann verschwindet er oftmals für Tage, um seinen Auftrag auszuführen, während seine Mutter – wenig überraschend – umkommt vor Sorge. Doch das soll fürs Erste nicht so wichtig sein.

Statt dessen sieht sich Leo eines Tages bei seiner Heimkehr mit einer bösen Überraschung konfrontiert: Die junge, hübsche Frau, die plötzlich die Wohnung betritt, sieht zwar aus wie seine Ehefrau Rema. Trotzdem ist er überzeugt, dass sie es nicht ist. Sie hat einen Hundewelpen dabei – dabei mag Rema doch gar keine Hunde. Und andere Details stimmen ebenfalls nicht, kleine Ticks der „alten“ Rema, die die neue eben nicht besitzt. Kurzum, Leo ist überzeugt, seine Frau sei verschwunden, während eine Doppelgängerin mit ihm Tisch und Bett teilt. Also macht er sich schließlich auf die Suche nach der echten Rema. Eine Suche, die ihn in deren Heimatland Argentinien, zu Remas Mutter und schlussendlich zur Royal Academy of Meteorology führt, die ihm prompt einen Job anbietet. Und da wird dann auch Harvey wieder wichtig.

_Das Zentrum der_ Geschichte bildet Leo, er ist Galchens Versuchsobjekt. An ihm arbeitet sich die Autorin ab und schickt ihn abwärts in die unlogischen Tiefen der menschlichen Psyche, um dem Leser eines zu zeigen: Leo, der Ich-Erzähler, ist unzuverlässig. Das wird relativ schnell klar, denn erste Zweifel stellen sich bereits ein, als er steif und fest behauptet, die Rema in seinem Bett sei eine Doppelgängerin. Seine erzählerische Unzuverlässigkeit potenziert sich im Verlauf des Romans und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, hier in Echtzeit zu beobachten, wie ein Mensch dem Wahnsinn anheim fällt. Ironie des Schicksals: Leo ist eben Psychiater. „Es gab eine Zeit, da glaubte man, alle, die sich um Geisteskranke kümmern, würden selbst geisteskrank, und als Harveys Nachricht eintraf, streckte diese Vorstellung – die Ansteckung – ihre leichenblasse Hand aus der Vergangenheit nach meinem Geist aus“, sinniert Leo an einer Stelle des Romans. Was Leo lange nicht realisiert, ist, dass diese „leichenblasse Hand“ nicht nur nach ihm ausgestreckt wird, sondern dass sie ihn auch berührt, ihn packt und nicht mehr loslässt. Zwar wird er irgendwann Zweifel an seiner geistigen Gesundheit hegen, doch er ist Wissenschaftler. Und mit logischen Argumenten – oder dem, was er als logisch empfindet – kommt er zu dem Schluss, dass er eben nicht an einer Psychose leidet.

Nichts ist also eindeutig. Bedeutungen werden den Dingen immer von Menschen zugeschrieben und diese bringen ihre eigene Geschichte und Mentalität mit, die die Bedeutungsfindung beeinflusst. Dass nichts festgeschrieben, nichts eindeutig zuzuordnen ist, ist ein immer wiederkehrendes Thema in „Atmosphärische Störungen“. Harvey reinterpretiert die Artikel auf Seite 6, bis sie für ihn eine geheime Botschaft ergeben – einen meteorologischen Auftrag, den es zu erfüllen gilt. Leo macht es genauso. Das Diagramm eines Modellsturms, das er bei seiner Suche nach Rema in einem meteorologischen Artikel findet, wird zum Rorschach-Test. Immer wieder zieht es ihn zu dieser Grafik und jedes Mal schreibt er ihr neue Bedeutungen zu: Mal sieht sie aus wie Rema, mal wie ein einsamer Mann in einer Landschaft. Nie jedoch sieht sie für Leo aus wie das, was sie eigentlich ist: eben der Querschnitt eines Modellsturms. Und so wimmelt es im Roman nur so von Verständnisproblemen, von Freudschen Fehlleistungen und Bedeutungsübertragungen. Am enthüllendsten ist das Prinzip, wenn Leo sich einer schlecht übersetzten Speisekarte gegenüber sieht, wo aus einem Sangria Grande im Englischen plötzlich „bloody great“ wird. Ein Übersetzungsfehler und die Bedeutung hat sich vollkommen gewandelt – so wie sich Bedeutungen in „Atmosphärische Störungen“ eben auch ständig im Wandel befinden, wenn sie die Übersetzungsmaschine Leo Liebenstein durchlaufen.

Als Erzähler ist Leo also unzuverlässig. Der Leser kann nicht darauf vertrauen, dass Leo die Wirklichkeit genau – und eben wirklich – abbildet. Die Frage, die sich daraufhin geradezu aufdrängt, ist: Geht das überhaupt? Kann man Wirklichkeit objektiv abbilden? Gibt es eine Wirklichkeit oder ist es nicht eher so, dass es für jedes Individuum eine eigene Wirklichkeit gibt, eine Rorschach-Wirklichkeit, der immer wieder neue Bedeutungen eingeschrieben werden können? Das zumindest ist Galchens Überzeugung und um diese zu illustrieren, zieht sie Vergleiche zwischen der Realität, der Psychiatrie und der Meteorologie, dem Fachgebiet ihres Vaters Tzvi Gal-Chen, der ebenfalls im Roman auftaucht. Wiederholt erfährt der Leser nämlich, dass es unmöglich ist, das Wetter präzise vorauszusagen, weil man nicht einmal genug Daten hat, um sagen zu können, wie das Wetter in diesem Moment ist. Galchen möchte diesen Grundsatz auf unser Leben übertragen wissen: Nichts ist gewiss.

Nichts ist gewiss, schon gar nicht die Liebe. Denn darum geht es ja im Grunde: Leo liebt Rema, doch Rema ist plötzlich weg. Oder ist es vielleicht genau andersherum? Weil die Liebe sich verflüchtigt, bildet Leo sich ein, dass sei gar nicht die echte Rema, die da durch die Tür kommt. Er vermisst seine Frau mit ganzer Hingabe oder vermisst er vielleicht eher, was er einmal mit ihr hatte? All diese Gedankengänge drängen sich auf, doch ist Leo eben auch hier eine erzählerische Niete. Zwar analysiert er seine Situation wieder und wieder aufs genaueste. Doch kommt er eben zu Erkenntnissen, die verschoben, verschroben – eben ver-rückt klingen.

_Rivka Galchens Debut_ ist in seiner literarischen Methode faszinierend und überaus ambitioniert. Zwar ist der Roman gleichzeitig unglaublich kopflastig, doch versucht Galchen die intellektuellen Kapriolen ihrer Prosa mit kleinen Witzen aufzulockern. Dazu gehört eben auch, dass sie ihren eigenen Vater auftauchen lässt, der aus dem Jenseits mit Leo via BlackBerry kommuniziert. Da muss man schon schmunzeln, keine Frage!

|Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
ISBN-13: 978-3498025120
Originaltitel: |Atmospheric Disturbances|
Deutsch von Grete Osterwald|
http://www.rowohlt.de/

Safier, David – Plötzlich Shakespeare

David Safier hat sich im deutschen Sprachraum einen Namen mit leicht lesbaren Komödien gemacht, die auf fantastischen und vollkommen abtrusen Grundideen basieren. In seinem Erstling [„Mieses Karma“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=3977 ging es um Kim, die von einem Waschbecken erschlagen und – wegen Ansammlung schlechten Karmas – nur als Ameise wiedergeboren wurde.

In [„Jesus liebt mich“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5337 traf Marie (!) auf Jesus, der (natürlich in seinem Erstjob als Zimmermann) den Dachstuhl ihres Vaters reparieren sollte. An abwegigen Ideen mangelt es Safier also nicht. Das beweist er erneut in „Plötzlich Shakespeare“, wo er eine weibliche Protagonistin in ein total verrücktes Abenteuer wirft.

_Es geht um_ Rosa. Diese ist ziemlich deprimiert, da ihre große Liebe Jan demnächst das Ehegelübde ablegen will – allerdings mit einer anderen Frau. Ihr Plan, Jan mit einer großen Szene zurückzugewinnen, geht gründlich schief und so sitzt sie auf ihrer heimischen Couch und bläst Trübsal. Einzig Holgi, Rosas schwuler Freund, hält ihr das Händchen und empfiehlt ihr als Therapie einen One-Night-Stand. Rosa hat zwar ihre Zweifel, trotzdem lässt sie sich mit dem Schürzenjäger Axel ein. Die beiden gehen in den Zirkus, wo die Nummer des Hypnotiseurs Prospero Rosas Aufmerksamkeit erregt. Vor Publikum führt er Rückführungen durch, um Menschen ihre eigentliche Bestimmung aufzuzeigen. Rosa, die bestimmungstechnisch gerade absolut in den Seilen hängt, fühlt sich angesprochen. Nach der Vorführung landet sie in Prosperos Wohnwagen und der schickt sie prompt in ein früheres Leben.

Und klar, Rosa war natürlich nicht irgendwer: Sie findet sich im Körper von William Shakespeare wieder, der gerade versucht, einem Duell aus dem Weg zu gehen, ein Liebesgedicht für den Geheimdienstchef von England zu schreiben und den Earl of Essex mit der Gräfin Maria zu verkuppeln (Dramatiker zu sein, ist eben auch kein einfacher Job). Rosa ist ziemlich überfordert: Sie findet sich nicht nur in einem anderen Jahrhundert, sondern auch in einem männlichen Körper wieder. Und darüber hinaus soll sie auch noch gute Reime schreiben. Zwar wollte sie als Kind immer Musicalautorin werden, doch hatte es dafür eben nicht gereicht – aus gutem Grund, wie sie bisher dachte.

Shakespeare – als körperlose Stimme in Rosas Kopf – und Rosa raufen sich schließlich zusammen und bestehen alle möglichen Abenteuer bis Rosa die von Prospero gestellte Aufgabe erfüllt und herausfindet, was die wahre Liebe ist. Und der Leser darf abwechselnd schmunzeln oder laut loslachen, wenn Rosa mal wieder in ein Fettnäppchen tritt.

_Safier bringt in_ seinem Roman gleich zwei Erfolg versprechende literarische Konzepte zum Einsatz: Zum Einen ist „Plötzlich Shakespeare“ eine Zeitreisegeschichte mit all den Fallstricken, die so etwas mit sich bringt. Rosa hat keine Ahnung vom England des 16. Jahrhunderts. Ständig eckt sie mit Modernismen an oder ist unfähig, der Queen den nötigen Respekt entgegen zu bringen. Der Clash von Moderne und Vergangenheit ist immer wieder faszinierend zu beobachten, wobei man anmerken muss, dass Safier sich nicht wirklich lange mit historischer Recherche aufgehalten hat. Es gibt auffallend wenige historische Details und kaum etwas, dass man nicht aus „Shakespeare in Love“ oder auch „The Tudors“ hätte lernen können. Dadurch bleibt die historische Kulisse eben nur das – eine Kulisse, die kaum mit Leben gefüllt wird. Daraus hätte man definitiv mehr machen und damit dem Zeitreiseaspekt mehr Würze geben können.

Zum Anderen ist „Plötzlich Shakespeare“ eine Genderswap-Geschichte, es geht also darum, dass ein Charakter das Geschlecht wechselt. Und auch hieraus erwächst natürlich Komik. Shakespeare der Schürzenjäger wird, nachdem Rosa quasi „in ihn gefahren ist“ plötzlich zum Mönch. Rosa mag ihren neuen Körper nicht nackt sehen, sie mag ihn weder waschen, geschweige denn in ihm Sex haben. Während Shakespeare von den Möglichkeiten schwer angetan ist (wäre das doch die Gelegenheit, mal herauszufinden, wie sich Sex aus der anderen Perspektive anfühlt), ist Rosa hauptsächlich peinlich berührt.

Leider ergeht sich Safier häufig in Klischees oder wenig überraschenden Handlungselementen. Daraus macht er auch keinen Hehl, schließlich startet der Roman mit den Worten: „Au Mann, ich war ja so etwas von einem Frauenklischee!“ Und ja, Rosa ist eine Figur, die man so schon hundertmal gesehen hat. Sie ist ein bisschen pummelig, unglücklich verliebt, hängt in einem unbefriedigenden Job fest und ihr bester Freund ist schwul und dick (Marke Dirk Bach – knuddelig, aber harmlos). Darum liest sich „Plötzlich Shakespeare“ auch wie eine bunte Mischung aus „Bridget Jones“ und „Shakespeare in Love“. Tiefgang braucht der Leser also nicht zu erwarten und auch sprachlich ist dieses Potpourrie reichlich anspruchslos. Rosas Text ist mit Lachern gewürzt und betont flapsig dahin geschrieben. Shakespeare allerdings ist weit weniger gelungen, schließlich fühlte sich Safier offensichtlich nicht bemüßigt, ihm wenigstens die Anmutung eines historischen Charakters zu geben. Zu allem Überfluss ist Safier als Lösung für das Genderswap-Problem nichts besseres eingefallen, als Rosas und Shakepeares Erzählung nebeneinander zu stellen – wobei Shakepeare durch kursiven Text gekennzeichnet ist. Das reißt den Text künstlich auseinander und unterbricht den Lesefluss – ständig muss man sich mitten in einer Szene mit einem Wechsel des Erzählers auseinandersetzen. Das macht keinen Spaß und wirkt irgendwie uninspiriert. Das Problem des Perspektivwechsels hätte man sicherlich auch eleganter lösen können.

_“Plötzlich Shakespeare“ ist_ ein Buch für alle, die leichte Kost mit Lachergarantie suchen und denen es auch nichts ausmacht, wenn ein Roman gegen Ende ins Süßliche abdriftet (gerade gegen Ende greift Safier mit Genuss in den Schmalztopf). Als Urlaubslektüre ist Safiers Roman durchaus geeignet – wer allerdings eine wirklich überzeugende Zeitreisegeschichte erwartet, wird enttäuscht.

David Belbin – Der Hochstapler

Wenn man die Inhaltsangabe zu David Belbins Roman „Der Hochstapler“ liest, könnte man schnell auf die Idee kommen, die Geschichte drehe sich um einen gewieften und erfolgreichen Fälscher literarischer Manuskripte. Jemand, der ein seltenes Talent besitzt und in der obskuren Ecke seiner Begabung Millionen scheffelt, schnelle Autos fährt und an jedem Finger eine Blondine hat. Dem ist jedoch mitnichten so, und dass Belbins Protagonist Mark Trace – trotz des Namens, der wie aus einem Spionagethriller gegriffen klingt – kein solcher Held ist, wird schon nach den ersten Seiten klar.

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Dierssen, Oliver – Fledermausland

Es war einmal vor nicht allzu langer Zeit, dass der Heyne Verlag einen Schreibwettbewerb ins Leben rief: „Schreiben Sie einen magischen Bestseller“ hieß der Slogan und gesucht waren Manuskripte zu den Themen Fantasy, Mystery und Science Fiction. Mit über 1400 eingereichten Manuskripten wurde der Verlag praktisch erschlagen – und mehrere Büros sicher bis an die Schmerzgrenze zugemüllt. Doch nach heroischer Sichtung der Papierberge wurden fünf Finalisten ausgewählt. Oliver Dierssen mit seinem Roman „Fledermausland“ war einer davon.

Heyne hat nun eben diesen Roman mit einer putzig-trotteligen Fledermaus auf dem Cover (und fast schon in Großdruck – die Brillenträger der Republik bedanken sich herzlich) herausgebracht und bewirbt ihn als den „definitiven Vampirroman für die Generation Praktikum“. Das klingt zwar lustig, aber macht auch misstrauisch – schließlich führen die Superlative von Verlagswerbesprüchen in der Regel immer zu Enttäuschungen. Und tatsächlich stellt sich bei der Lektüre heraus, dass „Fledermausland“ nicht wirklich ein Vampirroman ist. Und ein Praktikum macht auch niemand.

_Stattdessen geht es_ um Basti. Man könnte ihn als sympathischen Loser bezeichnen, denn er hängt ein bisschen in den Seilen. Seinen Zivildienst hat er in einem Otterzentrum absolviert und eigentlich sollte er sich jetzt für einen Studienplatz bewerben. Doch so richtig bekommt er das nicht auf die Reihe, denn die Bewerbungen stauben in seiner Nachttischschublade einfach so vor sich hin. Immerhin wohnt er nicht mehr zu Hause, aber das auch nur, weil seine Eltern ihm monatlich Geld zukommen lassen, von dem er die Miete seiner bescheidenen Bleibe bestreiten kann. Ansonsten arbeitet er in einem Asiashop – Integration mal umgekehrt. In seiner Freizeit ist er in Kim verknallt, doch die hat sich gerade von Andi getrennt und ist dementsprechend spröde. Sie widersetzt sich Bastis tolpatschigen Annäherungsversuchen ein ums andere Mal, obwohl Basti praktisch seine ganzen Ersparnisse auf den Kopf haut, um sie wiederholt ins Kino ausführen zu können. Und zu allem Überfluss lebt er auch noch in Hannover. Hannover! Was soll da schon Spannendes passieren?

So einiges, wie Basti bald feststellen soll. Nachdem nämlich eines Nachts eine Fledermaus durch sein geöffnetes Schlafzimmerfenster fliegt und ihm Panikattacken beschert, nehmen die Dinge ihren Lauf. Als er einen Notruf absetzt („Hilfe! Fledermaus in meinem Zimmer!“) erscheint nicht das DRK, sondern der MAD. Einige Tage später ist plötzlich seine Wohnung blitzblank und ein russischer Hausgeist nistet sich unter der Spüle ein. Die GEZ in Form dreier Kampfzwerge verhört ihn wegen seinem Kontakt zu Kim (und natürlich wegen seiner unangemeldeten Rundfunkgeräte). Und ja, es gibt Vampire, Uno spielende Zombies und am Schluss ein Happy End.

Als dann aber Kim plötzlich verschwindet und klar wird, dass sie wegen Kontakts mit einem Hominiden vor Gericht gestellt wird, macht sich Basti auf, um seine Kim heldenhaft zurück zu gewinnen.

_Das klingt alles_ nach ziemlich viel Buch, gerade für einen Debutroman. Tatsächlich hat man auf den 500 Seiten jedoch kaum Gelegenheit, sich zu langweilen. Das liegt zum Einen am Ich-Erzähler Basti und den Gedanken und Beobachtungen, die Dierssen ihm in den Mund legt. Das liest sich alles flüssig, unglaublich kurzweilig und stellenweise flapsig. Kurzum: Dierssens Stil macht einfach Spaß, vor allem, weil er trotz des betont umgangssprachlichen Erzähltons präzise Beobachtungen und überraschende Details in seine Handlung einfließen lässt.

Und zum Anderen liegt es ganz einfach daran, dass Dierssen sich bei allerlei Mythen bedient und diese augenzwinkernd neuinterpretiert. Denn Basti lebt zunächst in unserer „ganz normalen“ Welt, bis Vampire, Zwerge und Dämonenkatzen in diese wohlbekannte Realität einbrechen. Er wehrt sich lange gegen die Erkenntnis, dass es solcherlei Dinge tatsächlich geben könnte und daraus erwächst die Komik des Romans. Klar, thematisch liegt das irgendwo zwischen [„American Gods“ 1396 und „Neverwhere“ (Dierssen lässt einen Charakter sogar „Willkommen in der Unterwelt“ sagen). Der Roman ist allerdings stark auf deutsche Befindlichkeiten zugeschnitten. Das geht bei der GEZ los und hört bei der Bielefeld-Verschwörung auf.

Für einen Erstlingsroman liest sich „Fledermausland“ erstaunlich flüssig. Sicher, ein paar Szenen hätten gekürzt (oder gelöscht) werden können – so führt beispielsweise der obligatorische Elternbesuch in Bastis Wohnung nirgendwohin. Doch lässt sich nicht leugnen, dass Dierssen ein begabter Erzähler ist, dem es gelingt, humorige Fantastik für den deutschen Sprachraum mit originellen oder gar kauzigen Charakteren auf die Beine zu stellen. Einzig Kim bleibt etwas blass und erscheint mehr und mehr wie ein ferner Schwarm und nicht wie die unsterblich Geliebte, für die Basti mehr schlecht als recht Kopf und Kragen riskiert (er ist eben kein geborener Held).

_Bleibt zu hoffen_, dass Dierssen auch in Zukunft mit so guten Romanideen gesegnet ist!

|Taschenbuch: 448 Seiten
ISBN-13: 978-3453266636|

Tanja Heitmann – Wintermond

Tanja Heitmann ist auf das Geheimnisvolle und Düster-Romantische abonniert. In ihrem ersten Roman „Morgenrot“ ging es um das mittlerweile klassische Thema: Sie, unschuldig und jung, verliebt sich in ihn – seines Zeichens Vampir. Heutzutage muss auch eine solch problembehaftete Konstellation zum Happy End führen, doch bevor die Büchernärrin und der dämonische Vampir endgültig zusammen kommen durften, mussten viele Prüfungen bestanden werden und es wurde generell viel gelitten.

Tanja Heitmann – Wintermond weiterlesen

Lumley, Brian – Necroscope 3 – Kreaturen der Nacht

Buch 1: [„Das Erwachen“ 779
Buch 2: [„Vampirblut“ 843

Die große Schlacht ist geschlagen und Schloss Bronitzi liegt in Trümmern. Und eigentlich hat der Angriff der Tatarenzombies, mit dem der Vorgängerband [„Vampirblut“ 843 endete, auch alle bisher wichtigen Charaktere von Brian Lumleys „Necroscope“-Reihe dahin gerafft. Doch man kennt das ja aus Literatur und Film … manchmal kommen sie eben wieder.

_Und so startet_ das dritte Hörbuch der Reihe, „Kreaturen der Nacht“, vergleichsweise gemächlich. Auf Schloss Bronitzi wird aufgeräumt. Da gerade zufällig zur Stelle, wird Felix Krakowitsch von Breschnew persönlich zum neuen Leiter des E-Dezernats ernannt. Seine Aufgabe ist es zunächst, die Zombies aus dem Weg zu schaffen und Dragosanis Leiche sorgfältig zu verbrennen. Allerdings ist Breschnews nächster Auftrag reichlich seltsam: Krakowitsch soll mit dem englischen Gegenstück zum E-Dezernat Kontakt aufnehmen. Und das mitten im Kalten Krieg!

Währenddessen ist Harry Keogh, der Necroscope, zwar tatsächlich immer noch tot, aber da er schon vor seinem Ableben das Reisen im Möbius-Kontinuum gemeistert hatte, ist er eben doch immer noch irgendwie gegenwärtig. Momentan lebt er im heranwachsenden Körper seines eigenen Sohnes weiter und in dieser geisterhaften Erscheinung stattet er auch Alec Kyle, dem Chef der englischen Psi-Abteilung, einen Besuch ab. Harry hatte nämlich viel Zeit und Gelegenheit, mit den Toten zu sprechen und so hat er Kyle einiges über die Vampire im allgemeinen und Tibor Ferenczy im besonderen zu berichten.

Und so springt die Handlung um einige Jahrhunderte in die Vergangenheit, um zu verfolgen, wie der aus einer Bauernfamilie stammende Tibor sich zum Soldaten hoch arbeitet. Schließlich schickt ihn sein Dienstherr auf die Burg des Fetor Ferenczy. Doch auf dieser Burg gehen seltsame Dinge vor sich. Und Tibor, der zunächst noch meint, die Oberhand zu haben, muss schnell feststellen, dass er gegen Fetor nicht ankommen kann. Dieser ist nämlich ein Vampir und hat beschlossen, Tibor sein einziges Ei einzupflanzen.

_Dass Tibor letztendlich_ gefangen in einem Grab in der Walachei enden wird, weiß der Leser aus den vorhergehenden Bänden. Was neu ist, ist das Wissen, dass er nicht nur Dragosani seinen Stempel aufgedrückt hat. Denn 1977 verunglückte ein Ehepaar nicht weit von seinem Grab. Der Mann verblutete, doch die Frau wurde nur ohnmächtig. Tibor tut sich an ihr gütlich – und an ihrem ungeborenen Kind. Dieses Kind, die Mutter wird ihn Julian nennen, entpuppt sich als ein wahrer Damien. Er ist sonderbar, wird von der Schule geworfen, ist einsiedlerisch und versucht sich offensichtlich an seltsamen Experimenten im elterlichen Keller. Mit Julian wird also noch zu rechnen sein!

An die neue Gangart in „Kreaturen der Nacht“ muss man sich erst einmal gewöhnen. Dragosani ist hinüber (endgültig?), Harry agiert nur als Wissensvermittler, Kyle wieder nur als Zuhörer. Lumley hat einen großen Teil seines Personals in der Schlacht um Schloss Bronitzi ins Gras beißen lassen und so konzentriert er sich nun entweder auf neue Charaktere oder auf Hintergrundinformationen zu bekannten Figuren wie Tibor. Das gibt dem Hörbuch eine andere Richtung und man muss sich zunächst einmal damit abfinden, dass die Handlung um die E-Dezernate kaum voran getrieben wird, bevor man sich auf die historischen Ereignisse um Tibor einlassen kann. Wobei diese nun nicht besonders spannend sind. Sicher, in einer Endlosserie wie „Necroscope“ darf es dem Autor auch gestattet sein, die Vergangenheit der Charaktere zu beleuchten. Doch die Vampirwerdung Tibors schreitet recht langsam voran. Bevor er überhaupt auf Fetor trifft, hat man als Hörer den Eindruck, der Großteil des Hörbuchs wäre damit vorüber gegangen, wie Tibor den Berg zu dessen Burg hinauf läuft. Eine recht unnötige Verzögerungstaktik, die die Spannung so lange hinauszögert, bis sie vollkommen verloren gegangen ist.

Interessanter ist da schon Julian, dessen Platz im großen Ganzen bisher noch nicht erkennbar ist, der aber offensichtlich selbst schon einige Ambitionen hat. Lumley liefert nur die Draufsicht, zeigt nur, wie andere Charaktere Julian wahrnehmen, und das ist eine ungemein effektive Technik, um beim Hörer ein unbestimmtes Grauen zu erzeugen. Julian wird hoffentlich in zukünftigen Bänden noch eine tragende Rolle spielen!

_Abschließend lässt sich_ sagen, dass „Kreaturen der Nacht“ vom Hörer eine Neuorientierung verlangt. Plötzlich sind nicht mehr die Spionage-Abteilungen der Mittelpunkt der Handlung (zumindest für den Moment), sondern es geht ausschließlich um Hintergrundinformationen zu verschiedenen Charakteren – hauptsächlich Tibor und Julian. Das verlangt vom Hörer eine Umstellung in seiner Erwartungshaltung. Daran muss man sich also erst gewöhnen. Auch daran, dass dem Hörbuch dadurch ein zentraler Konflikt fehlt. Und so scheint „Kreaturen der Nacht“ entweder ein Lückenfüller oder eine Brücke zwischen den einzelnen Bänden zu sein. Das Hörbuch ist teilweise langatmig, doch gibt Lumley mit seiner weit ausholenden Erzählung auch eine erste Ahnung davon, welch umfassendes Universum er mit seiner Romanreihe schaffen möchte.

Harris, Charlaine – Ein eiskaltes Grab (Harper Connelly 3)

_Harper Connelly:_
Band 1: [Grabesstimmen 4704
Band 2: [Falsches Grab 5608
Band 3: _Ein Eiskaltes Grab_

Harper Connelly und Tolliver Lang sind keine Geschwister. Zwar traten sie in den vergangenen zwei Bänden zunächst als solche auf, aber damit ist es offenbar vorbei. Schon im letzten Band bemerkte Harper, dass sich ihre Beziehung zu ihrem Halbbruder (keine Blutsverwandtschaft) langsam wandelt und mittlerweile besteht auch Tolliver darauf, dass er nicht als ihr Bruder vorgestellt wird. Die Lektüre von „Eiskaltes Grab“, des dritten Bands der Reihe um Harper Connelly, verspricht also interessant zu werden!

_Diesmal verschlägt es_ Harper und Tolliver in das kleine Städtchen Doraville. In den vergangenen Jahren sind dort immer wieder Jungen verschwunden – acht insgesamt. Der damalige Sheriff hat der Suche nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt und statt dessen angenommen, dass es sich um jugendliche Ausreißer handelt. Doch nun wurde Sandra Rockwell zum neuen Sheriff gewählt und sie ist gänzlich anderer Meinung. Unterstützt in ihrer Annahme wird sie von Twyla Cotton, der Großmutter eines der Jungen. Da diese finanziell gut dasteht, hat sie beschlossen, die neuerlichen Ermittlungen anzuschieben, indem sie Harper engagiert, um die Leichen der vermissten Jungen zu finden.

Und das klappt auch ganz gut. Twyla, Harper und Tolliver fahren einige Orte an, die Twyla für verdächtig hält und tatsächlich findet Harper in einer Scheune ein Massengrab. Sogar mehr als die bisher vermissten Jungen liegen dort begraben. Sie wurden entführt, vergewaltigt, gefoltert und schließlich getötet. Harper ist genauso erschüttert wie die Einwohner der Stadt Doraville. Bisher hatte sie es nämlich noch nie mit einem Massenmord zu tun und die Grausamkeit der Taten ist nur schwer zu ertragen. Da Harper und Tolliver noch Zeugenaussagen machen müssen, können sie die Stadt nicht verlassen. Doch während sie fest sitzen, wird Harper brutal zusammen geschlagen. Und den Mörder gilt es ja auch noch zu finden.

_Harris versucht viel_ in dem schlanken 300-seitigen Buch unterzubringen. Da wäre auf der einen Seite der brutale Mord an den Jungen und die Tatsache, dass sie vergewaltigt und gefoltert wurden, um einem kranken Hirn sexuelle Lust zu verschaffen. Den Leser stößt das ebenso ab wie Harper und Tolliver. Harris konzentriert sich in der Serie bevorzugt auf Mordfälle, die an die Nieren gehen – meistens schon wegen der Jugend der Opfer. Harpers Abscheu, die Trauer der Einwohner, die Wut der Polizei, das Einfallen der Journalistenmeute – all das beschreibt Harris mit einem sehr genauen Blick für Details. Besonders überzeugend gelingt ihr dabei die Reaktion der Einwohner. Zwar stehen die meisten Harpers Begabung skeptisch gegenüber, doch sind sie gleichzeitig bereit, Harpers Einsatz zu würdigen. Und so wird sie zu einem Gedenkgottesdienst eingeladen, bei dem ihr viele der Anwesenden danken. Die Szene ist ergreifend, gerade weil Harper bisher mit ihrer Gabe auf so viel Widerstand und Feindschaft gestoßen ist.

Natürlich wollen auch die Menschen von Doraville ihr nicht nur Gutes. Zumindest der Mörder hat allen Grund sauer zu sein, schließlich hat sie ihm sein perfektes Verbrechen zunichte gemacht. Und so ist der Angriff auf Harper natürlich kein Zufall, auch wenn die Polizei ihm zunächst kaum Bedeutung bei misst. Mit einer Kopfwunde und einem angebrochenen Arm außer Gefecht gesetzt, bleibt Harper nichts anderes übrig, als in der Stadt aus zu harren. Und bei der Gelegenheit kann sie auch gleich den Mordfall lösen, schon allein aus Eigenschutz!

Der zweite Handlungsstrang des Romans ist die Beziehung zwischen Harper und Tolliver. Denn auch Tolliver will mittlerweile mehr von Harper als nur schwesterliche Gefühle. Sie bekommen die Chance ihre Beziehung neu zu definieren, als sie während eines Eissturms in einer Blockhütte am See festsitzen – der perfekte Ort für ein romantisches tête-à-tête. Glücklich über diese neue Ebene in ihrer Beziehung, rückt der aktuelle Mordfall für eine Weile in den Hintergrund und Harper und Tolliver nehmen sich die Zeit, den anderen nochmal ganz neu kennen zu lernen. Doch natürlich eignen sich einsam gelegene Blockhütten für zweierlei Dinge: Romantik und gruselige Action à la „The Last House on the Left“. Charlaine Harris nutzt das Setting für beides und so muss die arme Harper schlussendlich in der Wildnis vor dem wahnsinnigen Mörder fliehen. Genau der Showdown, den man sich als Leser erhofft hat! Es bleibt also bis zur letzten Seite spannend.

Allerdings sollte auch erwähnt werden, dass Harris in dem ohnehin schmalen Band viele Wiederholungen aus früheren Bänden einfügt, um neue Leser an die Hand zu nehmen. So erfährt man wieder und wieder, dass Harper und Tolliver eine schwere Kindheit hatten – ohne dass Harris der Erkenntnis Neues hinzufügen würde. Deren entfremdete Restfamilie (und Harpers veschollene Schwester) werden dem Leser immer wieder in Erinnerung gerufen, doch wäre es schön, wenn diese auch endlich eine tragende Rolle in der Reihe spielen würden. Irgendwann wird dieser Konflikt sicherlich in den Vordergrund rücken müssen – die Frage ist nur, für welchen Band der Reihe Harris sich das aufsparen wird.

_Trotzdem ist „Eiskaltes_ Grab“ wieder eine spannende Lektüre für eine mittellange Bahnfahrt: Eines dieser Bücher, die man mit Begeisterung in einem Rutsch verschlingen kann.

|Taschenbuch: 304 Seiten
ISBN-13: 978-3423211963
Originaltitel: |An Ice Cold Grave|
Deutsch von Christiane Burkhardt|
[www.dtv.de]http://www.dtv.de
[www.charlaineharris.com]http://www.charlaineharris.com

_Charlaine Harris beim Buchwurm:_

|Sookie Stackhouse:|
[Vorübergehend tot 788
[Untot in Dallas 939
[Club Dead 1238
[Der Vampir, der mich liebte 2033
[Vampire bevorzugt 3157
[Ball der Vampire 4870
[Vampire schlafen fest 5450
[Ein Vampir für alle Fälle 6161

Moor, Dieter – Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht. Geschichten aus der arschlochfreien Zone

Ja, ich gestehe: Ich bin Brandenburgerin, hier geboren und aufgewachsen. Und eigentlich ist es auch ganz nett hier. Eigentlich, denn das wiedervereinigte Deutschland scheint für das märkische Land nur Spott und Kritik übrig zu haben, und so hat man uns in den vergangenen zwanzig Jahren eingeredet, in Brandenburg gäbe es nichts: keine Wirtschaft, keine Infrastruktur, keine netten Leute, weder Berge noch Meer. Kurzum – nichts, was das Land für einen Besucher auf irgendeine Weise interessant machen würde. Dass die Brandenburger selbst massenhaft die Flucht ergreifen, um in den goldenen Westen rüberzumachen, gibt dem Argument nur noch mehr Überzeugungskraft. Denn wenn es nicht mal die Ureinwohner hier aushalten, wer sollte es dann?

Offensichtlich gibt es da doch noch jemanden: Den Schweizer Fernsehmoderator Dieter Moor nämlich hat es genau in die brandenburgische Provinz verschlagen, in die sonst keiner will. Zusammen mit seiner Frau Sonja hat er sich einen Gutshof gekauft, hat in der Schweiz seine sieben Sachen (und die Pferde, Esel, Gänse, Katzen, Hunde) eingepackt und sich ins Abenteuer gestürzt. In seinem fiktionalisierten Erfahrungsbericht „Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht“ hat er nun seine Erlebnisse aufgeschrieben – eine Liebeserklärung an eine vergessene Gegend und ihre Menschen.

Natürlich weiß auch Moor um die Vorurteile. Zu Beginn des Buches rekapituliert er sie noch einmal für den Leser: „Höchste Arbeitslosigkeit Deutschlands. Dumpfe Ossis. Alkoholiker und Neonazis. Die gesunde Bevölkerung flieht. Zurück bleiben die Loser, die Alten, die Gescheiterten, die Kaputten.“ Das klingt nicht so, als müsse man da unbedingt hin. Und tatsächlich, Moors Start in dem kleinen Kaff, das er Amerika nennt (und das tatsächlich Hirschfelde heißt) ist alles andere als vielversprechend. Die Straße ins Dorf ist gesperrt. Als er schließlich ankommt, sind die Vormieter noch nicht ausgezogen. Die erste Nacht im neuen Heim wird von feiernden Dorfbewohnern gestört, die unterm Schlafzimmerfenster singend vorbeiziehen. Die Gänse werden praktisch sofort vom Fuchs gefressen. Hinter den nächsten Bäumen befindet sich ein Flughafen und der Bauer von nebenan verpachtet sein Land für Techno-Partys. Das klingt, als hätte sich Amerika gegen die Zugezogenen verschworen und Familie Moor hadert mit ihrer Entscheidung. Am Ende wird jedoch trotzdem noch alles gut ausgehen – was in einem Buch über einen „Quasi-Wessi“, den es in den wilden Osten verschlagen hat nicht gerade eine Selbstverständlichkeit ist.

Sicher, Moor kann ein Dickkopf sein. So sieht er nicht wirklich ein, warum es im Dorfladen (Glückwunsch, wie viele brandenburgische Käffer haben so etwas noch?) keine Frischmilch gibt. Er bohrt und fragt, bis die blondierte Verkäuferin irgendwann nachgibt. Doch grundsätzlich ist seine Stärke (und damit die Stärke seines Buches) die Fähigkeit, sich auf Neues einzulassen und immer zu versuchen, aus den Gegebenheiten das Beste zu machen. Die preußische Geradlinigkeit hat es ihm angetan und den spröden Charme der Dorfbewohner entlarvt er als solchen, anstatt ihn als bloße Unfreundlichkeit hinzustellen. Der Brandenburger ist eben kein Südländer, er schließt nicht sofort Freundschaft. Statt dessen beobachtet er zunächst skeptisch, er fremdelt erst eine Weile bis er mit Neuem warm wird. Dieter Moor macht das nichts aus, er ist bereit zu warten und wird schließlich für seine Mühe belohnt. Er fügt sich ein ins Dorf, beweist, dass er von Landwirtschaft Ahnung hat und wird schlussendlich in die Dorfgemeinschaft aufgenommen. Und wenn er sich noch an seinem ersten Abend im neuen Dorf über den Lärm der Feiernden ärgerte, so endet das Buch versöhnlich. Denn nun ist er es selbst, der mit seinen neugewonnenen Freunden laut singend über den Dorfanger torkelt. Spätestens hier sollte dann auch dem letzten Leser klarwerden: Dieter Moor ist angekommen.

Moors Erfahrungsbericht ist unterhaltsam und lässt schmunzeln. Das Buch lebt vor allem von den Brandenburger Originalen, die er hier verewigt. Da wäre an vorderster Front Bauer Müsebeck zu nennen, ein Mann weniger Worte, der stattdessen anpackt und aushilft, wann immer es ihm möglich ist. Überhaupt ist Amerika ein Dorf voller tatkräftiger Menschen – ein schöner Gegensatz zu der weitverbreitenden Ansicht, der gemeine Ossi könne nur kuschen und stillhalten.

Vielleicht hilft Moors Buch, Brandenburg etwas beliebter zu machen und mit ein paar Vorurteilen aufzuräumen. Für Leser aus der Mark ist die Lektüre zumindest ein erhellendes Erlebnis. Denn wie Bauer Müsebeck fragt man sich zwangsläufig: „Sie sind Österreicherin, Frau Moor, Ihr Mann Schweizer. Warum um Gottes willen verlassen Sie ihre wunderschönen Länder und kommen ausgerechnet hierher?“ Weil es eben doch schön hier ist. Und lebenswert auch. Manchmal braucht es halt den Blick eines Fremden, um einem die Augen für die Schönheit der Heimat zu öffnen. Und mal ehrlich, wer könnte sich dieser Schönheit verschließen, wenn der Rotmilan in einem azurblauen Himmel kreist, unter ihm die knallgelben, sich ewig hinziehenden Rapsfelder?

Wobei, eigentlich haben wir es insgeheim schon immer gewusst. Oder um es mit einer anderen Figur des Buches zu sagen: „Schon in Ordnung, dass de meine Heimat schön finden tust. Isse ja schließlich auch, wa?“ Dem gibt es nichts hinzuzufügen.

|Taschenbuch: 304 Seiten
ISBN-13: 978-3499624759|

Restrepo, Laura – Land der Geister

In Laura Restrepos 2004 in Kolumbien veröffentlichten und jetzt auf deutsch erschienenen Roman „Land der Geister“ geht es um ein Geheimnis – ein durchaus würdiges Thema für eine Erzählung. Aguilar, ein Ex-Literaturprofessor in Bogotá und momentan Tierfutterausfahrer, besucht für ein verlängertes Wochenende seine zwei Söhne aus erster Ehe. Seine jetzige Ehefrau Agustina bleibt derweil allein zu Hause. Und obwohl sie in bester Stimmung ist, als Aguilar aufbricht (sie ist eben dabei, das Wohnzimmer moosgrün zu streichen – eine Farbe, die das Feng-Shui für „Paare wie sie“ empfiehlt), ist sie wie ausgewechselt, als Aguilar nach vier Tagen heimkehrt.

Ein anonymer Anrufer trägt ihm auf, seine Frau aus dem Hotel Wellington abzuholen. Dort findet er sie verwirrt und stumm – kurzum mit psychischem Knacks – vor. Zurück in ihrer Wohnung ändert sich die Situation kaum. Agustina stellt überall Schalen mit Wasser auf und schweigt darüber, was während Aguilars Abwesenheit passiert ist. Dieser wiederum wird vom Gedanken gepeinigt, dass Agustina im Wellington ein Stelldichein mit einem Liebhaber hatte. Doch dann taucht plötzlich Tante Sofi auf, eine verschollene Verwandte Agustinas, die sich ihrer verwirrten Nichte annimmt und sich rührend um sie kümmert. Und so endlich erhält Aguilar erste Einblicke in die Gründe für Agustinas Wahnsinn.

„Land der Geister“ ist ein Roman der Überraschungen und literarischen Winkelzüge, ein Angebot der kolumbianischen Autorin Restrepo zum mitfühlen und mitwundern. Denn das voran gestellte Geheimnis, der seltsame Wahnsinn Agustinas, ist der zentrale Knackpunkt des Romans, an dem sich die gesamte Handlung aufhängt. Dabei geht es nicht nur um Agustina und Aguilar. Vielmehr ist das ungleiche Paar (er – linker Intellektueller, sie – Geldadel, die mit ihrer Familie gebrochen hat) nur der Anlass, um ein breites Panorama zu spannen. So erzählt Restrepo von Agustinas Eltern und Großeltern, beleuchtet deren Lebensumstände und Familien, skizziert Kolumbien in all seiner Widersprüchlichkeit. Und immer wieder unterbricht sie ihre eigenen Erzählfäden, um scheinbar unzusammenhängende Szenen aus verschiedenen Zeiten wie Puzzleteile gegeneinander zu setzen. Nur, um den Leser am Ende erkennen zu lassen, dass all diese kleinen Teile schlussendlich wirklich ein großes Bild ergeben.

Dabei vermutet man als Leser zunächst, dass „Land der Geister“ eine sehr persönliche, sehr kleinteilige Geschichte erzählt – die Geschichte eines Ehepaars oder einer Familie. Wie Aguilar vermutet man den Grund für Agustinas Wahnsinn in einer Affäre, die wohl schief gelaufen ist. Man nimmt an, dass es Restrepos Bestreben ist, Charaktere in ihren Beziehungen zueinander darzustellen – in Liebesbeziehungen, Familienbeziehungen, Abhängigkeiten. Und natürlich ist das tatsächlich ihre Absicht. Doch je länger man liest, desto mehr bricht die Umwelt – Politik, Wirtschaft, Kriminalität – in die Geschichte ein und es wird deutlich, dass die Charaktere nicht unabhängig von dieser Umwelt existieren bzw. existieren können. Was auf der Straße, im Land passiert, beeinflusst Familien und deren Beziehungen und so stellt sich schließlich heraus, dass Agustinas Zustand eben nicht nur eine persönliche Komponente hat.

Denn Restrepos Roman spielt im Bogotà der 1980er Jahre – eine turbulente Zeit für Kolumbien, und zwar nicht im positiven Sinne. Dass das Leben weder einfach noch sicher war, wird an mehreren Stellen deutlich, etwa wenn Charaktere überlegen, ob eine Straße befahrbar ist (Antwort: Nein, denn sie wird von der Guerilla überwacht) oder wenn mitten in der Stadt Bomben explodieren. Zu dieser Zeit befand sich Kolumbien unter dem Einfluss des Medellin-Kartells, einer Drogenorganisation unter Führung von Pablo Escobar, der auch in „Land der Geister“ eine Nebenrolle spielt. Repräsentiert wird die Arbeitsweise des Drogenkartells im Roman allerdings durch Midas MacAlister, einen Ex-Freund von Agustina, der sich aus armen Verhältnissen durch Geldwäsche nach oben gearbeitet hat und nun monetär den alteingesessenen Geldadel des Landes längst überholt hat – eine Tatsache, die ihm ungemeine Befriedigung verschafft. An Midas zeigt Restrepo, wie der Aufstieg um jeden Preis und ohne Gewissen funktioniert, ohne die Figur zum Buhmann zu machen. Er bleibt immer irgendwie sympathisch. Ein echter Gewissenskonflikt für den Leser!

„Land der Geister“ ist allerdings kein einfaches Buch, auch keines, das man in einem Rutsch verschlingen könnte – dafür ist Restrepos Erzählung zu anspruchsvoll und zu dicht. Restrepos Technik, den sie Reportage-Stil nennt, macht das Lesen zu einem besonderen, jedoch auch von Frustrationen geprägten Erlebnis: Es gibt keine Absätze, keine wörtliche Rede und schon gar keine verlässlichen Erzähler. Restrepo schreibt, als würde sie die mündlichen Aussagen ihrer Charaktere stenographieren. Dabei wechselt sie sprunghaft die Perspektive (um vom Ich- zum personalen Erzähler zu wechseln, braucht sie in der Regel nur einen Nebensatz), den Erzähler oder die Zeitform. Lässt man sich auf diese Technik ein, erhält man den Eindruck, die handelnden Figuren erzählten selbst – unverfälscht und damit eben auch fehlerhaft. Gleichzeitig verlangt dieser Stil dem Leser aber auch einiges ab, denn wie in einer mündlichen Erzählung auch gibt es Abschweifungen und Verzögerungen. Um Ermüdungserscheinungen beim Lesen vorzubeugen, empfiehlt es sich daher, sich den Roman in kleinen Dosen zu Gemüte zu führen. Das führt auch dazu, den bis ins letzte geschliffenen Stil der Autorin (der nur eben nicht danach aussieht) besser genießen zu können.

|Taschenbuch: 384 Seiten
ISBN-13: 978-3630621739
Originaltitel:| Delirio|
Deutsch von Elisabeth Müller|
http://www.luchterhand-literaturverlag.de

Birkegaard, Mikkel – Bibliothek der Schatten, Die

Bücher sind magisch. Einmal zur Hand genommen, können sie im Kopf des Lesers ganze Welten erstehen lassen. Sie können entführen, verzaubern und gefangen nehmen. Das Medium Buch verdient also selbst die literarische Betrachtung. Das dachte sich auch der dänische Autor Mikkel Birkegaard, der mit seinem Debutroman „Die Bibliothek der Schatten“ 2007 in seinem Heimatland einen Überraschungserfolg landete. Nun ist sein literarischer Thriller auch auf deutsch erschienen: ein Schmöker von 500 Seiten, der zum Eintauchen einlädt. Denn Birkegaards Grundidee ist zunächst durchaus interessant:

_In seinem Universum gibt_ es ganz besondere Menschen, die sogenannten Lettori, die die Fähigkeit haben, Leseerfahrungen zu beeinflussen. Manche dieser Lettori sind Sender – begabte Vorleser, die die Reaktion des Zuhörers auf den Text bewusst steuern können. Andere hingegen sind Empfänger – sie hören jeden gelesenen Text und können dadurch Einfluss auf den Leser nehmen.

Luca Campelli, seines Zeichens Antiquitätenhändler, ist ein solcher Lettore. Gleich zu Beginn des Romans ereilt ihn jedoch der Tod und so wird sein Sohn Jon, ein erfolgreicher Anwalt, in die Geschichte hinein gezogen. Er erfährt, dass sein Vater eine ganze Schar Lettori um sich gesammelt hatte und schließlich stellt sich heraus, dass Jon selbst der bisher fähigste Sender ist. Er kann nicht nur Emotionen im Zuhörer, sondern sogar physische Manifestationen hervor rufen.

Das ruft eine weitere, bisher im geheimen agierende Lettori-Organisation auf den Plan, die aus ihren Talenten praktischen Nutzen ziehen will. Mit den Mitgliedern an der richtigen Stelle (z. B. in der Nähe eines Politikers oder Wirtschaftsbosses) könnten sie das Weltgeschehen nach ihrem Gutdünken dirigieren. Und natürlich möchten sie Jon in die Finger bekommen, denn seine Fähigkeiten wären bei ihren Weltübernahmeplänen äußerst hilfreich!

_Das Positive zuerst_: Der Roman ist bei dem Verlag Page & Turner erschienen und der Name ist hier Programm. Tatsächlich liest sich „Die Bibliothek der Schatten“ durchaus flüssig und man hat selten Gelegenheit, sich zu langweilen. Birkegaard ist ein passabler Erzähler und fähig, den Leser bei der Stange zu halten. Sein erzählerisches Können rangiert allerdings im Mittelfeld, einen Sprühregen an originellen Einfällen darf man nicht erwarten.

Tatsächlich scheut sich Birkegaard nicht, eine ganze Reihe Klischees zu bedienen. Das beginnt mit einer reichlich uninspirierten Liebesgeschichte und endet mit der Tatsache, dass er als Gegenspieler für Jon eine uralte Geheimorganisation aus dem Hut zaubert, die die Weltherrschaft übernehmen will und sich bei ihren Zusammenkünften Umhänge mit Kapuze anzieht. Dass zwischen diesen Polen dann nicht mehr viel Originelles passiert, versteht sich von selbst. Auch nimmt er den logischen Aufbau seiner Thriller-Elemente etwas zu ernst. Er weiß um die wichtige Regel, dass Hilfsmittel, Erkenntnisse oder Figuren nicht einfach aus dem Nichts auftauchen dürfen. Sie müssen bereits an früherer Stelle eingeführt worden sein, damit sie später mit einem Knall wichtig werden dürfen. Birkegaard befolgt diese Regel mit geradezu penibler Akribie, was allerdings dazu führt, dass der Leser diesen Kniff bald durchschaut. Ab diesem Moment, der mit der Erkenntnis einher geht, dass der Roman keinen Überschuss enthält und stattdessen jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werden muss, fällt es leicht, Birkegaards nächste Schritte und die Wendungen der Geschichte vorauszusagen. Eine Tatsache, die naturgemäß das Tempo aus der Erzählung nimmt und Überraschungsmomente eliminiert.

Ein viel größeres Problem ist jedoch die Idee der Lettori selbst. So charmant und zauberhaft sie anfangs auch klingt, ist sie leider nicht tragfähig genug für einen Roman dieser Dimension. Birkegaard nimmt sich selbst den Wind aus den Segeln, indem er versucht, die Wirkkraft der Lettori psychologisch bzw. wissenschaftlich zu erklären. Das wirkt bemüht und keineswegs überzeugend, vor allem, da es einfacher gewesen wäre, die Lettori einfach als fantastisches Element zu akzeptieren und entsprechend auszugestalten. Auch ist Birkegaard leider nicht in der Lage, den Zauber des Lesens in Worte zu fassen bzw. das Eintauchen in einen Text literarisch überzeugend zu gestalten. Trotzdem widmet er sich diesem Element wiederholt und ausführlich, was beim Leser zu Ermüdungserscheinungen führt. Am deutlichsten wird dies während des Showdowns in der Bibliothek von Alexandria, in dem mehrere Lettori aus einem Buch lesen und im Kopf der jeweils anderen Empfindungen entstehen lassen. Das erscheint als Auflösung eines Verschwörungsthrillers unglaublich abstrakt und statisch. Diese Szene – durchaus lang und komplex – führt über weite Stellen nämlich nirgendwohin und Birkegaard verwirrt den Leser nur, indem er ständig zwischen der Realität (einige Männer stehen auf der Bühne und lesen) und der Lettore-Empfindung (Gewitterwolken, Sturm, Blitze – das ganze Repertoire) hin und her springt. Diese beiden Handlungsebenen gelingen Birkegaard kaum, eine Tatsache, die sich im gesamten Roman widerspiegelt. Mehrdeutigkeiten, Anspielungen, literarische Witze oder gar Intertextualität sind seine Sache nicht, jedoch sind dies alles Zutaten, die man in einem Buch über Bücher erwarten würde. Stattdessen ist bei Birkegaard alles wörtlich zu nehmen und wenn er auf andere Werke Bezug nimmt, dann passiert auch das nur deutlich und eindimensional ausgesprochen, nämlich zum Beispiel, wenn jemand die Titel in einem Bücherregal vorliest. So erklärt der Autor dem Leser vollkommen unverschlüsselt, in welcher Tradition er sein Buch gesehen haben will (Stichwort: „Der Club Dumas“ oder „Der Name der Rose“ – beide Titel werden namentlich erwähnt), anstatt dem Leser Hinweise zu bieten und ihm selbst die Deutung zu überlassen. Dergestalt enthält er dem Leser viel Genuss vor, denn er ist im Ganzen zu deutlich und spricht zu viel aus. Denn als Leser eines literarischen Rätsels wie „Die Bibliothek der Schatten“ eines sein will, möchte man gefordert werden und sein eigenes literarisches Wissen mit dem des Autors messen. Birkegaard jedoch ist übervorsichtig und erklärt lieber einen Großteil der Faszination seiner Geschichte weg.

_Und so ist_ „Die Bibliothek der Schatten“ zwar ein unterhaltsames und spannendes, aber eben auch ziemlich eindimensionales Werk geworden. Buchliebhaber sollten das bedenken, wenn sie sich auf die Lektüre einlassen. Wer sich einen angenehmen Abend mit Verschwörungstheorien und Geheimnissen machen will, den wird Birkegaards Erstling nicht enttäuschen. Wer darüber hinaus jedoch auch literarische Happen genießen möchte, dem wird wahrscheinlich beim Lesen der Magen knurren.

|Gebundene Ausgabe: 512 Seiten
ISBN-13: 978-3442203628
Originaltitel: |Libri di Luca|
Deutsch von Günther Frauenlob und Maike Dörries|

Benecke, Mark (u.a.) – Vampire unter uns!

Mark Benecke kennen die meisten Deutschen als den Mann mit den Maden, Fliegen und sonstigen weniger kuscheligen Insekten. Als Kriminalbiologie ist es seine Spezialität, die Liegezeit von Leichen an Hand von Krabbeltieren festzustellen. Darüber hinaus ist er ebenfalls ziemlich umtriebig – mit zahlreichen populärwissenschaftlichen Büchern, der Mitarbeit an diversen Fernsehmagazinen, Talkshow-Auftritten und einer eigenen Sendung im Radio hat er sein faszinierendes, wenn auch fast schon skurril anmutendes Thema in die deutschen Haushalte geschmuggelt.

Schon weniger bekannt dürfte sein, dass Benecke, wenn er von der Beschäftigung mit den Toten genug hat, sich den Untoten zuwendet. Er ist nämlich Präsident der deutschen Sektion der Transylvanian Society of Dracula. Und in dieser Funktion macht auch sein Name auf dem schmalen Bändchen „Vampire unter uns!“ Sinn, das in seiner ursprünglichen Form eine Sammlung von Texten nur für die Mitglieder der Dracula-Gesellschaft war.

Dabei ist Benecke nicht der alleinige Autor, vielmehr teilt er sich die Autorenschaft mit weiteren Vampir-Afficionados, Wissenschaftlern und Künstlern und verspricht im Vorwort ein „gemischtes Sammelsurium“, das den Leser bei der Lektüre erwartet. Und tatsächlich ist „Vampire unter uns!“ nicht das ultimative Werk zum Thema Vampir (unmöglich). Es ist noch nicht mal eine abschließende Beschäftigung mit einem der vielen Teilaspekte des Vampirismus. Statt dessen geben die zehn teilweise reich bebilderten Artikel Einblicke in die Materie und machen Lust auf mehr.

„Vampire gibt es“, meinte Benecke selbstsicher in einem Interview mit den Stuttgarter Nachrichten im Jahr 2008. Und wer nun stutzt, weil er einem hochdekorierten Wissenschaftler und Forensiker eine solch absurde Aussage nicht zugetraut hätte, der wird bei der Lektüre von „Vampire unter uns!“ schnell eines Besseren belehrt. Gleich zu Beginn präsentiert er dem verwunderten Leser einen Vampirfall aus dem Rumänien des Jahres 2003 (!), in dem die Familie eines verstorbenen Lehrers dessen Leiche heimlich exhumierte, das Herz heraus schnitt, verbrannte und dann die Asche, in Wasser aufgelöst, zu sich nahm, weil sie der festen Überzeugung war, dass ihr toter Verwandter sie nachts als Vampir heimsuche. Wer also glaubte, der Vampirglauben sei der Aufklärung zum Opfer gefallen, der wird hier überraschende Gegenbeweise finden.

Wem Rumänien zu weit weg ist, der sollte getrost weiter lesen. Denn es ist wahrscheinlich, dass der Leser selbst schonmal einem Vampir begegnet ist. Vielleicht hat er in der Straßenbahn neben ihm gesessen oder vielleicht wohnt er sogar nebenan. Tatsache ist, dass sich viel mehr Vampire in Deutschland tummeln, als man vielleicht denkt – sie sind eben wirklich unter uns. Dabei ist nicht unbedingt vom Bela-Lugosi-Vampir die Rede, der im schwarzen Cape und mit getürktem Akzent bei Tag zu Staub zerfällt. Vielleicht ist es der psychische Vampir, der seinem Opfer Lebensenergie stiehlt. Oder es ist der Sanguinarier, der seinem Partner oder seiner Partnerin bei besonderer Gelegenheit gern mal ein paar Tropfen Blut abzapft. Diese Vampyre – das „y“ ist die Unterscheidung zum fiktiven Blutsauger und bezeichnet eine Lebensart – existieren, aber sie sind nicht untot. Vampyre als eine Randerscheinung der schwarzen Subkultur zeigen eine große Bandbreite und Beneckes Artikel beschreibt anschaulich, fundiert und mit unverkennbarer Sympathie von den Vampyren und ihren Communities. Er wirbt für mehr Akzeptanz, indem er Einblicke gibt und die Andersartigkeit der Subkultur zwar benennt, andererseits aber eindringlich – und vor allem überzeugend – davor warnt, sie als Spinner abzutun. Der Beitrag einer Psychologin schlägt in dieselbe Kerbe: Wer dachte, Menschen, die sich die Zähne anspitzen und sich für Vampyre halten, haben automatisch einen Dachschaden, werden hier eines Besseren belehrt. Das Trinken von Blut lässt sich noch nicht mal als psychologische Störung einordnen, solange es in beiderseitigem Einvernehmen statt findet. Na, da ist ja alles im grünen – bzw. blutroten – Bereich!

Doch es geht nicht nur um Subkultur. Schließlich handelt es sich um eine Schriftensammlung der Society of Dracula und da macht es nur Sinn, irgendwann den Bogen vom Vampir zu Dracula zu schlagen. Natürlich muss da der Name Vlad Tepes fallen und natürlich muss es um Transsilvanien gehen. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang ein im Buch abgedrucktes Interview mit Nicolae Paduraru, dem 2009 verstorbenen Gründer der Transylvanian Society of Dracula. Eigentlich war er im sozialistischen Rumänien Fremdenführer gewesen und hatte noch nie etwas von Dracula gehört. Tatsächlich wurde der vampirische Graf nämlich von englischen und amerikanischen Touristen eingeschleppt, für die sich Rumänien seit den 1960er Jahren öffnete. Paduraru, der das Potenzial erkannte, führte Dracula-Touren ein und baute schließlich sogar ein Dracula Hotel. Das Interview mit Paduraru zeigt sehr deutlich das gespaltene Verhältnis, das die Rumänen zu Dracula haben – schließlich hat der schriftstellernde Ire Bram Stoker ihnen den Vampir praktisch aufgehalst. Und nun müssen sie sehen, wie sie die Legende am besten zu Geld machen. Paduraru hat definitiv seinen Teil dazu beigetragen!

Sicher, dass der Name Mark Benecke groß auf dem Buchcover prangt, sorgt für ein größeres Leserinteresse. Und vielleicht gelingt dem schmalen Band so auch der Weg in das ein oder andere Bücherregal, wo es ansonsten nicht gelandet wäre. Zu wünschen wäre es dem Buch. Denn der Vampir ist nicht nur Trend, nicht nur Modeerscheinung. Er spricht etwas in uns an und es wird immer Menschen geben, die diesem Ruf folgen, um ihren Hals verführerisch zum Biss zu neigen. Inmitten des momentanen Vampir-Booms rund um Mitternächte, Mittagsstunden und Abendröte vermittelt „Vampire unter uns!“ eindrucksvoll die beruhigende Botschaft, dass der Vampir/Vampyr nicht ausstirbt – auch, wenn der Trend vorbei ist und für all die Edwards dieser Welt der letzte Sargdeckel gefallen ist. Zum Glück!

|Gebundene Ausgabe: 112 Seiten
ISBN-13: 978-3939459248|

Wellington, David – Vampirfeuer

Band 1: [„Der letzte Vampir“ 4613
Band 2: [„Krieg der Vampire“ 5894

Vampire sind einfach nicht tot zu kriegen, das muss auch Laura Caxton langsam einsehen. In David Wellingtons Debutroman „Der letzte Vampir“ war sie eher zufällig in eine Vampirjagd geraten, doch seither lassen sie die Blutsauger nicht mehr los. Im zweiten Teil musste sie schon gegen eine ganze Hundertschaft von Untoten antreten. Nur knapp war sie mit dem Leben davon gekommen, ihren Vampirjägerausbilder Arkeley hatte es jedoch erwischt: Um Caxtons Leben zu retten, hatte er sich einverstanden erklärt, selbst zum Vampir zu werden. Sein Versprechen, zurück zu kommen und sich von Caxton endgültig töten zu lassen, hat er allerdings nicht gehalten.

Der dritte Band der Reihe, „Vampirfeuer“, setzt zwei Monate nach den verheerenden Ereignissen von Gettysburg ein. Caxton hat mittlerweile ihre eigene Abteilung bekommen – die SSU, Special Subjects Unit -, die sich vor allem mit der Vampirbedrohung befassen soll. Klar, die Unit besteht eigentlich nur aus Caxton und ihrem Kollegen Glauer, klar auch, dass sie komplett unterfinanziert ist. Und trotzdem – Caxton ist jetzt die offizielle Stelle für Vampiraktivitäten aller Art. Ihr Hauptaugenmerk liegt allerdings darauf, endlich Arkeley zu finden und dingfest zu machen. Da kommt es ihr sehr ungelegen, dass sie zwar zu einem viel versprechenden Tatort gerufen wird, sich der böse Vampir aber am Ende als Emo-Teenager mit Schminke und angeklebten Elfenohren herausstellt. Caxton ist entnervt, doch Glauer vermutet hinter der Attacke mehr und macht sich über das Tagebuch des selbsternannten Vampirs Rexroth her.

Gleichzeitig tritt auch Arkeley wieder in Aktion. Offensichtlich gefällt ihm seine Vampirexistenz, obwohl er sich wohl einsam fühlt. Und so bietet er nacheinander den Mitgliedern seiner Familie an, sich ihm doch anschließen. Welches Muster er verfolgt, wird Caxton leider erst klar, als bereits zwei Familienmitglieder tot sind, weil sie Arkeleys großzügiges Angebot abgelehnt haben. Und so gilt es, seine verhuschte Tochter und seinen bockigen Sohn gegen ihren Willen vor den scharfen Reißzähnen ihres Herrn Papa zu beschützen.

„Vampirfeuer“ erscheint etwas gemäßigter als seine beiden Vorgänger. Zwar beginnt der Roman gleich mit einem Kracher – einer ordentlichen Vampirjagd, ein paar Toten und spritzendem Blut -, doch Wellington konzentriert sich diesmal über weite Strecken auf einen konventionellen Krimiplot: Caxton versucht verzweifelt, Arkeleys Versteck ausfindig zu machen und Wellington folgt ihren Schritten minutiös und lässt den Leser miträtseln, was der böse Vampir wohl als nächstes geplant hat. Solide Polizeiarbeit steht also im dritten Teil der Reihe im Vordergrund, doch natürlich wird diese auch regelmäßig von actionlastigen Szenen unterbrochen – ganz abgesehen davon, dass der Roman mit einem im wahrsten Sinne heißen Showdown endet.

Großen Wert legt Wellington auf die charakterliche Entwicklung seiner Heldin Laura Caxton. Ihre Beziehung zu Arkeley war nie eitel Sonnenschein, war nie von persönlicher Sympathie geprägt. Zu Beginn verurteilte Caxton Arkeley noch wegen seinen Wildwest-Methoden und wegen seiner Unfähigkeit, an etwas Anderes als an die Vampirjagd zu denken. Umso interessanter, dass Caxton nun immer mehr in seine Fußstapfen tritt, manchmal gar, ohne es selbst zu merken. Ihre Freundin Clara foppt sie damit jedoch nicht. Sie meint über Arkeley: „Zuerst bringt er dich in Gefahr. Er hat dich zu seinem Vampirköder gemacht. Dann hat er dich zu einem echten Vampirkiller gemacht. Jetzt verwandelst du dich richtig in ihn. Vielleicht endest du auch genauso wie er. Dazu bereit, alles zu tun, nur um den Kampf fortzusetzen. Dazu bereit, schreckliche Dinge zu tun.“ Wer weiß, Claras Worte könnten prophetischen Charakter haben …

Arkeley zu finden und unschädlich zu machen ist für sie zur fixen Idee geworden, dem sich alles andere – auch persönliche Beziehungen – unterzuordnen hat. So ist ihre Denkweise zwar nachzuvollziehen, schließlich stellen die Vampire eine beängstigende Bedrohung dar. Gleichzeitig jedoch zeigt Wellington Caxtons langsames Abdriften in den Wahn. So scheut sie sich nicht, eine Leiche auf dem Polizeiparkplatz selbst zu verbrennen, weil sie kein Krematorium auftreiben konnte, das die Einäscherung noch am selben Tag vornehmen will. Dass Caxton nicht mehr klar denken kann, wenn es um Vampire geht, machen auch ihre manchmal sprunghaften und unlogischen Entscheidungen deutlich. Wie gut also, dass sie Glauer an ihrer Seite hat, einen herzensguten Cop, der auch viel besser mit Zivilisten umgehen kann als sie und der ihr ständig ins Gewissen redet und ihr klar zu machen versucht, dass sie als Dirty Henriette nicht weiterkommt: „Sie müssen vorsichtiger mit den Menschen in ihrer Umgebung sein. Vielleicht ist Ihnen ja egal, ob sie leben oder sterben …“ Und tatsächlich, Caxton wird zwar kurzfristig von Gewissensbissen geplagt, wenn sie Polizisten in den Tod schickt, doch letztendlich zählt für sie nur das große Ganze. Und unter großen persönlichen Opfern wird sie es auch schaffen, Arkeley schlussendlich zu stellen. Doch wird sie die Konsequenzen dafür tragen müssen, denn ihre Kompetenzen hat sie bereits weit überschritten.

Man muss es sagen: Wellington wird von Buch zu Buch besser. Zwar hat er den Horror- und Ekelfaktor in „Vampirfeuer“ um einiges herunter geschraubt, doch als Erzähler hat er sich seit seinem ersten Roman stetig weiter entwickelt und ein Universum geschaffen, dass auch im dritten Band weder langweilt noch stagniert. Langsam schließt sich der Kreis zum ersten Band, in dem noch Arkeley der große Vampirjäger war. Caxton hat in jeder Hinsicht seinen Platz übernommen. Doch heißt das tatsächlich, sie tut es ihm in jedem Fall gleich? Wird Clara recht behalten, wird Caxton vielleicht selbst als Vampir enden? Da muss man wohl einfach abwarten – der Folgeband ist in den USA bereits erschienen und kommt sicher bald auch in unsere Buchläden.

|Broschiert: 382 Seiten
ISBN-13: 978-3492267212
Originaltitel: |Vampire Zero|
Deutsch von Andreas Decker|
http://www.piper.de/

_Wellington beim Buchwurm:_
[Stadt der Untoten 4980

Cornwell, Bernard – Zeichen des Sieges, Das

Bernard Cornwells „Das Zeichen des Sieges“, das macht der relativ austauschbare deutsche Titel nicht auf Anhieb klar, ist ein Roman über die englisch-französische Schlacht bei Azincourt. Diese Schlacht von 1415, bei der Henry V. einem weit größeren französischen Heer gegenüberstand und trotzdem – entgegen aller Wahrscheinlichkeit – gewann, ist ein Teil des kollektiven englischen Bewusstseins. In die Literaturgeschichte ist sie spätestens mit Shakespeares Bearbeitung des Stoffes in „Henry V.“ eingegangen. Der zentrale Monolog, Henrys „St. Crispinus-Rede“, ist seitdem zum Vorbild für Dutzende aufpeitschende Reden eines Feldherrn vor seiner verschreckten Armee geworden – entsprechende Szenen zum Beispiel aus „Braveheart“ oder auch „Der Herr der Ringe“ stehen damit alle in Shakespeares – und damit auch in Azincourts – Tradition.

Cornwell versucht gar nicht erst, damit zu konkurrieren. Anstatt die Ereignisse aus der Sicht Henrys oder zumindest eines seiner Adligen zu erzählen, sucht er sich einen ziemlich unwahrscheinlichen Protagonisten für seinen Roman aus: den Waldhüter Nicholas Hook. Hook ist zwar nicht unbedingt einfältig, aber überdurchschnittlich gebildet ist er auch nicht. Er ist ein guter Bogenschütze und das ist es, was ihm zunächst den Hals rettet. Denn gleichzeitig ist er auch vom Pech verfolgt, was dazu führt, dass er als Vogelfreier endet, weil er einen Priester schlägt (der gerade dabei war, ein Mädchen zu vergewaltigen – Hook hat also bei aller Tolpatschigkeit das Herz auf dem rechten Fleck). Doch bevor Hook nun in der Versenkung verschwinden kann, nimmt ihn Lord John Cornewaille unter seine Fittiche, der auf der Suche nach Soldaten für Henrys Feldzug in französisches Territorium ist.

Und so findet sich Hook bald bei der langwierigen Belagerung von Harfleur wieder. Er erlebt mit, wie Henrys Armee durch die Ruhr dezimiert wird und wie die Belagerung für die Engländer letztendlich nur erfolgreich verläuft, weil Harfleur schließlich kapituliert. Mittlerweile ist jedoch zu viel Zeit vergangen und die Armee ist zu stark geschwächt, um den Feldzug weiter fortführen zu können und so beschließt Henry, nach Calais (damals englisch) zurück zu marschieren. Doch bei Azincourt stellen sich dem traurigen Häufchen Engländer dann doch noch die französischen Truppen entgegen: Eine scheinbar ausweglose Situation.

Cornwell ist nicht umsonst einer der erfolgreichsten Autoren historischer Romane. Mit Hilfe genauester Recherche und literarischer Begabung schafft er es, komplizierte historische Zusammenhänge verständlich und sogar kurzweilig dar zu stellen. Bei ihm sind weder Belagerung noch Schlacht eine simple Fußnote. Stattdessen wirft er den Leser mitten hinein in diese doch sehr fremde Welt des Mittelalters und lässt ihn mit den Figuren mit fiebern. Auch wenn man den Ausgang der Schlacht kennt, gelingt es Cornwell doch immer wieder, so viel Spannung aufzubauen, dass man beim Lesen an seinen Geschichtskenntnissen zweifelt – vielleicht haben die Engländer ja doch verloren?

Ein besonderer Glücksgriff ist Cornwell mit seinem Protagonisten Hook gelungen. Man könnte in ihm durchaus den typischen Landbewohner seiner Zeit sehen. Bis er in Henrys Armee landet, hat er noch nie über den Tellerrand der Provinz geschaut. Er kennt nur sein Dorf, nur seine eigene kleine Familienfehde. Politik? Religion? Die größeren Zusammenhänge? Ein König, der die Krone von Frankreich beansprucht? Das sind alles böhmische Dörfer für Hook. Davon hat er keine Ahnung – und vor allem verspürt er auch kein großes Bedürfnis, an seiner Ignoranz etwas zu ändern. Große Gedanken sind also seine Sache nicht. Als er über Henrys Ansprüche auf den französischen Thron nachdenkt, kommt er zu folgendem Schluss: „Hook verstand den Streit nicht. Er hatte nur verstanden, dass es irgendwo in der Familiengeschichte des Königs eine Hochzeit gegeben hatte, die Henry auf den französischen Thron führte, und vielleicht war er der rechtmäßige König von Frankreich und vielleicht auch nicht, doch das kümmerte Hook nicht.“ Was ihn kümmert ist, dass Lord John ihn gut behandelt, dass er weiß, wo der Feind steht und dass sein Langbogen einsatzbereit ist.

Der Langbogen ist in dieser Geschichte nämlich von zentraler Bedeutung. Die englischen und walisischen Bogenschützen waren Henrys entscheidender Vorteil gegenüber den Franzosen, und indem Cornwell einen Bogenschützen zum Protagonisten macht, kann er dem Leser gleichzeitig viel über das Thema Langbogen erklären. So lernt man nicht nur, wie ein Bogen oder wie Pfeile hergestellt werden, sondern unter anderem auch, welche Kraft es kostet, einen Langbogen überhaupt zu spannen. Das ist nämlich viel schwerer als es aussieht!

In der abschließenden Schlacht bei Azincourt zieht Cornwell dann alle Register. Mehr als einhundert Seiten lang schildert er die Angriffe der verschiedenen Parteien, die Schlachtordnung, den Morast, durch den die Soldaten waten müssen und auch die hinderlichen Rüstungen, die zwar einigermaßen vor Pfeilen schützen, die einen aber auch blind und schwerfällig machen. Hier, mitten in der Schlacht, fühlt sich Cornwell sichtlich zu Hause. Mit vielen Details – und selbstverständlich sind diese zum größten Teil blutiger und brutaler Natur – malt er ein Schlachtengemälde, das den Leser mit nimmt – ihn begeistert, ängstigt, fasziniert. Denn natürlich ist so eine Schlacht keine glorreiche Angelegenheit: „Dies war nicht der Ort für die feine Anmut eines Turnierkämpfers, nicht der Ort, um Kunstfertigkeit am Schwert zu zeigen, dies war ein Ort zum Abschlachten und Töten, zum Hacken und Verwunden, ein Ort, den Feind das Fürchten zu lehren.“ Und genau das machen Hook und seine Kumpane auch, als Leser sollte man also einen starken Magen mit bringen.

Mit „Das Zeichen des Sieges“ ist Cornwell wieder ein mitreißender Historienroman gelungen, der neben sympathischen Charakteren und Spannung als schönen Nebeneffekt auch noch einiges an geschichtlichem Wissen wirklich anschaulich und verständlich vermittelt. Ach, und unterhaltsam ist der Roman natürlich auch noch!

|Gebundene Ausgabe: 560 Seiten
ISBN-13: 978-3805208789
Originaltitel: |Azincourt|
Deutsch von Karolina Fell|
http://www.rowohlt.de/
http://www.bernardcornwell.net/

_Bernard Cornwell beim Buchwurm:_

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[Der Bogenschütze (Auf der Suche nach dem Heiligen Gral 1) 3606
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