Lässt sich Mutterliebe programmieren?
Im Jahr 2049 haben sich die Lebensbedingungen auf der Erde drastisch verändert. Um den Fortbestand der Menschheit zu sichern, werden Kinder nun von Robotern ausgebrütet und aufgezogen. Um sicherzustellen, dass es den Kindern an nichts mangelt, wurde ein spezielles Computerprogramm, der sogenannte Muttercode, entwickelt, der dafür sorgt, dass die Roboter agieren und empfinden wie ein Mensch. Kai ist so ein Roboterkind. Gemeinsam mit seiner Mutter Rho-Z streift er durch das zerstörte Amerika der Zukunft. Kai ist glücklich, denn Rho-Z umsorgt ihn liebevoll und lehrt ihn alles, was er wissen muss. Doch als die erste Generation der Roboterkinder heranwächst, sollen die Mütter wieder abgeschaltet werden … (Verlagsinfo)
Die Autorin
Carole Stivers wurde in East Cleveland, Ohio, geboren. Sie studierte Biochemie an der University of Illinois, bevor sie in Stanford promovierte. Inzwischen lebt die Autorin in Kalifornien. »Der Muttercode« ist ihr erster Roman. (Verlagsinfo)
Handlung
20.12. 2049.
Die Biochemiker Dr. James Said und Dr. Rudy Garza werden nach Washington, D.C. gerufen, wo sie die Verteidigungsministerin sowie General Blankenship von der CIA und den Analysten Rick Blevins treffen. Der Grund ist einfach: Sie sollen Feuerwehr spielen. Bei einem UNO-Einsatz in Afghanistan haben US-amerikanische Wissenschaftler gegen den Rat des Analysten einen biologischen Kampfstoff freigesetzt. Das Ziel war es, die eigenen Truppen zu schützen, indem der Gegner eliminiert wird.
Dieser Zweck ist auch erreicht worden: Alle Feinde sind tot, aber es gibt eine unvorhergesehene Nebenwirkung: Mikroorganismen der primitivsten Stufe haben die verbreitete DNS, sogenannte IC-NAN, nicht nur aufgenommen, sondern auch mutiert. Jetzt verbreitet sich das IC-NAN unter den Archäen rasant in der afghanischen Wüste. Lässt es sich noch stoppen? Sieht nicht so aus.
2050
Sechs Monate später wird den beiden Biochemikern, die unter der Aufsicht des reaktivierten Colonel Rick Blevins arbeiten, bewusst, dass sie nicht mehr hoffen können, das IC-NAN einzudämmen oder gar zu stoppen, sondern nur noch, die menschliche DNS dagegen resistent zu machen. Zusammen mit der Biochemikerin Rose McBride rufen sie das Projekt „Muttercode“ ins Leben. Sein Hauptquartier hat es in San Francisco (im Presidio) und in Los Alamos, dem ehemaligen Atomtestgelände. Der Zweck des Projekt besteht darin, Militärroboter zu Müttern von menschlichen Babys umzufunktionieren. Doch wie lautet der Code für Mutterliebe?
2052
Sally McBride macht sich unter Blevins Leitung daran, Kandidatinnen als Eispenderinnen zu suchen. Dabei stößt sie auf die Hopi-Indianerin Nova Susquetwa aus Arizona, die derzeit als US-Militärpilotin dient. Nova erzählt, dass ihre Mutter dagegen sei, in dieses Programm aufgenommen zu werden. Und zwar deswegen, weil ihr Vater, ein Schamane der Hopi, das Ende der Welt vorausgesagt habe, und zwar schon vor Jahren. Deshalb überreicht ihr Nova eine Halskette mit einem ganz besonderen Anhänger: das einer silbernen Göttin mit ausgebreiteten Armen. Novas Vater hatte in seiner Vision vom Ende der Welt silberne Vögel gesehen, die wie Götter über dem Land schwebten. In Afghanistan berichten unterdessen Reporter von Hubschraubern, die über das Land ziehen, um den Boden zu verbrennen. Kandahar existiert nicht mehr.
3. März 2054
Der fliegende Militärroboter Rho-Z erhält den Befehl zu landen, um endlich zu gebären. Sie öffnet ihren Geburtskokon und entlässt daraus das Neugeborene namens Kai. Es wiegt 2,5 kg, ist ein Junge und verfügt über einen Telekommunikationschip im Stirnknochen. Damit kann Rho-Z ihm Gedächtnis- und Lerninhalte übertragen.
2060
… ist Kai sechs Jahre alt und kann mit seiner Mutter aufbrechen. Sie fliegen über eine wüste, menschenleere Erde. Ein Jahr später lernt Kai das gleichaltrige Mädchen Sela und deren Mutter Alpha-C kennen. Das Sprechen fällt ihm noch schwer, aber es kommt in die Gänge. Sela berichtet, dass sie einige andere tote Kinder gesehen hat: Deren Geburt war misslungen. Das Wasser wird immer knapper. Zusammen fliegen sie los, um Wasser zu suchen, doch selbst auf den höchsten Gipfeln verdunstet das Wasser sofort, nachdem das Eis geschmolzen ist.
2064
Zwei Jahre lang haben Kai und Sela gesucht. Von einem Campingwagen voller Leichen haben sie ein Mountainbike geliehen und sind damit durch die Lande gefahren. Sie sind auf Karim gestoßen, einen Hindu, auch er ein Überlebender. Zusammen leben sie fortan in seiner Höhle, die über einem Canyon liegt und über eine Quelle verfügt. Doch die Gegend ringsum ist völlig ohne Wasser, und ihr Überleben steht auf Messers Schneide.
2054 bis 2062
Der Untergang der Menschheit vollzieht sich rasend schnell., als IC-NAN beide Ost- und Westküsten der USA wie ein Buschfeuer vernichtet. Colonel Rick Blevins findet kaum noch die Zeit, seine große Liebe Rose McBride aus San Francisco in Sicherheit zu bringen und in Los Alamos ein zweites Zentrum einzurichten. Hier entsteht die Gen5-Reihe der Mutterroboter. Sie sollen schon bald in der Lage sein, Embryonen auszutragen und in der Wüste zur Welt zu bringen, wo sie sie mit Laserkanonen beschützen.
Doch Rick Blevins begeht einen gravierenden Irrtum: Er hält James Said aufgrund von dessen familiärer Herkunft für einen Terroristen – eine Herkunft, von der James erst auf dem Sterbebett seines Vaters erfahren hat. Als die zentralen Server gehackt und das „Projekt New Dawn“ mitsamt „Muttercode“ publik zu werden drohen, wird Washington, D.C., und das naheliegende Fort Detrick von Feinden (die Russen?) bombardiert. Im Militär breitet sich eine Schockwelle aus. Alles kommt zusammen, um in Rick eine panische Kurzschlussreaktion auszulösen: CODE BLACK! Er lässt die Gen5-Flugroboter aufsteigen, um die Kinder in Sicherheit zu bringen – viel zu früh, wie ihn Rose von ferne warnt.
Nun macht sich Rick auf, die Mütter zu und ihre Kinder retten. Doch diese Mission erweist sich beinahe tödlich. Er erwacht im Lager der Hopi-Indianer. Zu seinem großen Erstaunen sind viele von ihnen, die Jahrhunderte lang in Isolation lebten, völlig immun gegen IC-NAN…
Mein Eindruck
Der Leser könnte sich fragen, warum jemand überhaupt von der Zukunft der Mutterliebe nach dem Untergang der Welt, wie wir sie kennen, erzählen sollte. Ganz einfach: Es muss einen Funken Hoffnung geben. Die Frage ist, woher diese Hoffnung kommen könnte und wie die Zukunft aussehen könnte, in der diese Hoffnung keimen könnte. Wie immer liegen die Kräfte und Denkweisen, die konservativ zurückblicken mit denen im Widerstreit, die für die Myriaden Möglichkeiten der Zukunft offen sind. Und es gibt Spielraum für Irrtümer – und Updates. Die Zukunft ist nicht (nur), was wir festlegen, sondern worauf wir uns einlassen.
Allein schon die Idee, militärische Roboter zu „liebenden“ Müttern von Klonkindern umzufunktionieren, ist ganz schön gewagt. Der Buchtitel trifft insofern den Nagel auf den Kopf. Jede Mutter würde den Code anders schreiben, als es Rose McBride hier tut: Schutz durch Verteidigung steht an vorderster Stelle, aber auch Ernährung und Mobilität, sowie Kommunikation. Aber der Code lässt sich nicht nur verbreiten, sondern auch aktualisieren. Das ist die Achillesferse von Rho-Z und Alpha-C: Sobald ein Override-Befehl akzeptiert worden ist, lässt sich das Bewusstsein des Roboters durch ein Update verändern.
Das Finale spannt den Leser auf die Folter: Ist den überlebenden Kindern besser damit gedient, dass ihre Robotermütter stillgelegt werden – oder indem man sie durch ein Updates intelligenter und fürsorglicher macht? Ein Vernichtungskommando ist bereits unterwegs. Wird es gelingen, die Robotermütter und ihre Schützlinge zu bewahren, oder werden alle scheitern? Doch Kinder wie Sela und Kai haben ebenfalls ein Wörtchen mitzureden. Der menschliche Faktor gibt den Ausschlag wie das Zünglein an der Waage. Das ist eine zufriedenstellende Botschaft dieses Romans. Vielleicht sind liebevolle Mütter ja doch die besseren Menschen…
Die Übersetzung
S. 49: Verweis auf „Soylent Green“, den fiktiven Hersteller künstlicher Nahrung aus Harry Harrisons verfilmtem Roman „New York 1999“ („Soylent Green“).
S. 126: „Bei [ihrer] Geburt waren die Kinder scheinbar gesund.“ Das Wort „ihrer“ scheint zu fehlen.
S. 183: “Fob”: Schlüsselanhänger zum Öffnen einer Autotür.
S. 192: “das nicht alle ihre[r] Schutzbefohlenen den gleichen Gefahren ausgesetzt wurden.“ Kann man vermutlich mit und ohne kleines r (für den Genitiv schreiben.
S. 219: “Stammzellen aus den Tracheen“: Da diese Tracheen nicht zu Menschen, sondern zu Menschen (den Hopi) gehören, sollte man wohl von „Luftröhren“ sprechen. Insekten haben Tracheen.
S. 260: “Mehrere untaugliche Produktionsmargen”: Aber Margen sind Profite, nicht Herstellungsstücke, daher sollte man von “Produktionschargen“ sprechen.
Unterm Strich
Dieser Zukunftsthriller liest sich erfreulich flüssig, spannend und bewegend. Die Autorin berichtet sehr kenntnisreich von ihrem eigenen Fachgebiet, der Biochemie. Weibliche Leser, die bereits Mutter sind oder noch werden wollen, werden sich mit dem grundlegenden Generalthema sofort anfreunden können: Lässt sich Mutter-Liebe ebenso übertragen wie bei Menschen, und was passiert, wenn diese Liebe auch eine ganz bestimmte Entscheidung erfordert, die über die Zukunft dieser künstlichen Kinder und Mütter entscheidet?
Das Finale spitzt diese Entscheidung zu einer geschickt eingefädelten Auseinandersetzung zu, die in einem Countdown über das Schicksal der Menschheit entscheidet. Anhand der Danksagung ist ersichtlich, dass sehr viele Mitwirkende an dieser Geschichte wie auch an ihrer Zuspitzung gefeilt haben. Die Erzählweise ist nicht-linear, so dass der Leser nicht schon nach 20 Seiten weiß, wie das Schicksal der Klonkinder und ihrer Roboter-Mütter aussehen wird.
Wie die Geschichte ausgeht, darf hier nicht verraten werden, aber sie bleibt spannend und anrührend bis zum Schluss. Wer befürchtet, dass man hierfür eine Packung Taschentücher bereitlegen sollte, der kann beruhigt sein: Die Wissenschaftlerin der Autorin verkneift es sich, rührselige Szenen zu basteln, nur mehr Sympathiepunkte in der Leserin zu erringen. Aber die Szenen in Los Alamos, als es mit den Teilnehmern am Projekt „Muttercode bzw. New Dawn“ zu Ende geht, können schon ein wenig an die Nieren gehen. Ein nochmaliges Lesen der verwickelten Geschichte könnte durchaus lohnenswert sein.
Taschenbuch: 416 Seiten.
O-Titel: The Mother Code, 2020.
Aus dem Englischen von Jürgen Langowski.
ISBN-13: 978-3453320734
Der Autor vergibt: