Archiv der Kategorie: Belletristik

Goldstein, Rebecca – 36 Argumente für die Existenz Gottes

_Inhalt:_

Professor Cass Seltzer ist ziemlich überrumpelt. Der freundliche, zurückhaltende Mann ist Religionspsychologe und damit, wie die wunderschöne Psychologin Lucinda Mandelbaum meint, ganz weit am falschen Ende der Psychologie angesiedelt. Lucinda selbst glaubt an Statistiken, am Logik und Mathematik, um den schwammigen Bereich „Psychologie“ zu befrieden und urbar zu machen. „Religionspsychologie“ – hah!

Allerdings ist sie von Cass’ Buch angetan. Cass hatte eine sehr intensive Studienphase bei einem Professor, dessen Genie nahe dem Wahnsinn ankerte und der halb verächtlich und halb ehrfürchtig betrachtet worden war. Cass hatte zu den Ehrfürchtlern gehört, ehe der Professor schließlich völlig überzuschnappen schien, was einen schmerzhaften Abnabelungsprozess ausgelöst hatte. Cass hatte irgendwann zu all den ungeklärten und in seinem Inneren gärenden Fragen aus jener Zeit eine Antwort schreiben wollen.

Heraus kam ein Buch, das die Bestsellerlisten nur so stürmte und Cass völlig unvorhergesehen in die Führungsposition der Atheisten erhob. Der „Atheist mit Herz“, wie sie ihn nennen, weiß nicht so recht, was er mit dem Rampenlicht anfangen soll. Er weiß auch nicht, warum Lucinda ihn liebt. Er nimmt nur beides an, so gut es geht.

Während der Strom der Ereignisse ihn mit fortspült, rekapituliert er, wie es so weit kommen konnte. Und mitten in seine Gedanken platzt Roz, seine Exfreundin aus dem Studium, die immer kommt und geht wie ein Herbststurm. Das Einzige, worauf man sich bei ihr verlassen kann, ist die Tatsache, dass sie immer im Begriff steht, etwas Unkonventionelles zu tun. Der irgendwie gemeinsame Weg der selbstbewussten Frau und des stillen Mannes, der auf verschlungenen Pfaden in skurrilste Situationen führte, wird hier nachgezeichnet. Und alles andere auch: Das Gestern, das Heute, und vielleicht ein bisschen vom Morgen. Und nebenher: 36 Argumente für die Existenz Gottes.

_Kritik:_

Dieser Roman ist ein Appell: Wenn auch schon ersichtlich ist, dass Rebecca Goldstein eher den Gegenargumenten Glauben schenkt, als den Argumenten FÜR die Existenz Gottes, so erklärt sie doch, dass das moralische Handeln im Menschen fest verankert ist. Dieses Buch appelliert ans Gutsein, ohne darauf hinzuweisen.

Wie Goldstein aus Mathematik, Physik, Metaphysik, Philosophie, Psychologie, Lyrik und den Geheimnissen der Kabbala einen Roman gewoben hat, der so menschlich und unmittelbar nah erscheint, dass man die Figuren vor Augen zu haben meint, ist wundervoll. Die Kapitel strotzen nur so vor Wissen. Die Autorin hat sich nicht mit halben Sachen zufrieden gegeben. Die Dozentin für Psychologie, die ihre Promotion in Philosophie gemacht hatte, hat fleißig Recherche betrieben und schön allgemein verständlich ein dichtes Netz aus Zusammenhängen gewoben, um die Zauberhaftigkeit der Welt darzustellen.

Die tiefen Einblicke, die man ins orthodoxe Judentum erhält, sind für Laien wie mich faszinierend. Die alltägliche Situation, aus der heraus plötzlich aus einem Kind ein Genie wird, und die Schlichtheit, mit der lebensumwälzende Entscheidungen getroffen werden – werden müssen -, berühren ganz besonders.

_Fazit:_

„36 Argumente für die Existenz Gottes“ ist ein Roman, wie es sie nur ganz selten gibt: Er hat die Kraft zu verändern. Er stößt das Gehirn an, zeigt Blickwinkel auf, ist herzerwärmend, komisch, ergreifend, lässt andächtig zurück und belehrt, ohne Lehrbuch zu sein. Zwar musste ich das eine oder andere nachschlagen, aber ich habe es gern gemacht, weil alles sich so harmonisch ins Ganze gefügt hat und ich in dieser bunt schillernden schönen Fläche keine weißen Flecken wissen wollte.

Ganz abgesehen von der fiktiven Geschichte, die ein literarisches Geschenk ist, finden sich am Ende wie im Buch von Professor Cass Seltzer die 36 Argumente für die Existenz Gottes: Von den frühesten philosophischen Versuchen bis hin zu neumodernen Spitzfindigkeiten ist alles vertreten. Und jedes Argument wird gefolgt von seinen Gegenargumenten, da ist also für jeden etwas dabei. Und wenn das letztendlich doch auch müßige Gedankenspielerei ist – warum sollte man argumentativ etwas mit Absolutheitsanspruch zu beweisen versuchen, das nicht beweisbar ist? Glaube ist Glaube, punktum. So ist das Buch eine Bereicherung für jeden, der es liest. Tun Sie sich den Gefallen, es ist wunderschön.

|Gebundene Ausgabe: 559 Seiten
Originaltitel: 36 Arguments for the Existence of
God
Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader
ISBN-13: 978-3896674234|
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Antoine de Saint-Exupéry – Der kleine Prinz

Jubiläumsausgabe eines Weltklassikers

Im Jahre 1943 erschien das moderne Märchen „Der kleine Prinz“ des Berufspiloten Antoine de Saint-Exupéry. Dieser hatte in seinen bis dahin 43 Lebensjahren bereits ein aufregendes und gefahrvolles Leben hinter sich gebracht, von dessen Motiven er in diesem und anderen Büchern zehrte. Wie der Ich-Erzähler im „Kleinen Prinzen“, stürzte er mit Flugzeugen in der Wüste ab. Wie der kleine Prinz musste Saint-Exupéry seinen „Planeten“ verlassen und nach Amerika emigrieren, wobei er seinen „besten Freund auf der ganzen Welt“, welchem er das Buch widmete, im besetzten Frankreich zurückließ. Daher schrieb Saint-Exupéry nicht nur ein philosophisches Märchen, sondern setzte sich in der vordergründig märchenhaften Erzählung mit der politischen Lage und gesellschaftlichen Strömungen seiner Zeit sowie seiner privaten Situation als Emigrant und Berufsflieger auseinander. Obwohl der Autor bis zu seinem Tod im Jahr 1944 noch weitere Texte veröffentlichte, blieb „Der kleine Prinz“ sein bekanntestes Werk und begründete seinen Weltruhm.

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Draesner, Ulrike – Vorliebe

_Inhalt:_

Harriet ist sich sicher, dass sie ihr Leben im Griff hat. Sie ist Astrophysikerin und ihre Arbeit bedeutet ihr viel: Sie hat so viel mit Zahlen zu tun, mit dem Erschaffen von Bildern, die man nicht sehen kann, durch Formeln, die beweisen, dass sie da sein müssen. Harriet liebt Zahlen, hat sie schon immer geliebt. Und darüber hinaus gibt es immer noch die kleine, die winzigkleine Chance, einmal ins All zu kommen.

Die Tests laufen gut, sie ist zwar schon relativ alt, aber ihre Ergebnisse sind überdurchschnittlich. Nur das mit dem Rauchen muss sie noch in den Griff bekommen. So, wie sie ansonsten auch ihr Leben im Griff hat, wie gesagt. Ihr Leben mit Freund Ash und dessen Sohn Ben.

Doch es kommt zu einer Verkettung unglückseliger Umstände: Ash fährt versehentlich eine Frau an, wartet zusammen mit Harriet im Krankenhaus auf Nachricht, die Tür fliegt auf und – Peng! – da steht Peter. Pfarrer Peter Olvaeus, den Harriet seit einundzwanzig Jahren nicht gesehen hat. Peter, der ihre erste, große, unerbittliche Jugendliebe war. Nicht, dass da etwas gelaufen wäre – Harriet war sechzehn und Peter zwanzig Jahre älter. Aber es war auch nicht so, dass da nichts war: seelisch, herzlich. Und während das Mädchen noch hoffte, verlobte sich Peter mit Maria. Mit der Maria, die Ash dann anfuhr, einundzwanzig Jahre später.

Ein zart-nostalgisches Band verbindet Harriet und Peter, und wie von selbst beginnen die Familien, miteinander zu verkehren. Dass sich dabei eine alte Liebe Bahn bricht, war – ja, was? Geplant? Nicht geplant? Unvermeidlich? Ersehnt? Befürchtet? Wohl von allem ein bisschen. Und zwei erwachsene Leben, die schon auf ihren separaten Bahnen dahin zogen, brechen plötzlich aus, springen gewaltsam aus den Schienen, entscheiden sich bewusst, sich Zeit miteinander zu stehlen und nehmen in Kauf, was dabei zu Bruch geht. Und es bleibt nicht bei ein paar Scherben…

_Kritik:_

Mädchen trifft Junge, Mädchen verliert Jungen, Junge heiratet anderes Mädchen, Mädchen findet anderen Jungen, Mädchen und Junge treffen einander wieder und betrügen Mädchen II und Jungen II. Das ist jetzt nicht eben eine neue Geschichte, sondern vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Es kommt also auf die Erzählweise an bei dieser alten Mär.

Und Ulrike Draesner erzählt so introspektiv, dass der Leser sich an ihren Stil erst gewöhnen muss. Gedanken werden manchmal ohne nähere Erklärung aneinander gereiht, so dass man danach die Situation betrachten muss, in der sie gedacht worden sind, um einen Zusammenhang herstellen zu können.

Um die unmittelbare Wucht darzustellen, mit der Harriet vom plötzlichen Wiederauftauchen Peters getroffen wird, wechseln sich Szenen aus dem Jetzt und Hier mit Szenen aus ihrer leidenschaftlichen Jugend ab, als sie noch den Mut hatte, ihre Liebe mit reiner Flamme brennen zu lassen – ehe Peter ihr das Herz brach. Und allein das, allein die Tatsache, dass Ash, der durchaus sympathisch gezeichnet ist, nie die Chance hatte, von Harriet so geliebt zu werden, wie Peter es einst wurde, das ist schon tragisch.

Und es bleibt nicht die einzige Tragik in diesen Zeilen: Es wird ziemlich deutlich gemacht, was die Sehnsucht nach der vergangenen Jugend, nach verpassten Gelegenheiten, nach dem Ausleben etwas einst bewusst Nichtausgelebten anrichten kann. Allerdings wird nicht gewertet, es wird wiedergegeben: Auf verschlungenen Pfaden, auf den Gehirnwindungen der Protagonisten wird erzählt, was passiert ist und was passiert. Und das mit ziemlich großer literarischer Klasse.

_Fazit:_

„Vorliebe“ ist kein lautes Buch. Es ist ein nachdenkliches, reflektierendes Schriftstück, aber es darf nicht falsch verstanden werden. Es ist nicht etwa barmherzig oder milde. Hier werden unvorbereitete Protagonisten aus ihrer zivilisierten Alltagswelt mitten in die rohe Pracht von urtümlichen Empfindungen verpflanzt. Und auch die Tünche vieler Worte und innerer Monologe kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier Wunden geschlagen, Empfindungen verletzt, Ungeduld entzügelt und kleine Funken zu brausenden Flammen entfacht werden.

„Vorliebe“ ist ein meisterliches Werk über die Abgründe im Menschen, eine Lockung zum und eine Warnung vor dem Genießen verbotener Früchte gleichermaßen. Hut ab, Ulrike Draesner, das ist schmerzhafte Poesie.

|Gebundene Ausgabe: 253 Seiten
ISBN-13: 9783630872940|
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Forman, Gayle – Wenn ich bleibe

_Inhalt:_

Mias Leben erfährt von der einen Sekunde zur anderen eine einschneidende Veränderung: Eben saß sie noch im Auto, zusammen mit ihrer Familie. Man war ausgelassen: Es gab schneefrei – schneefrei in Oregon! Wie oft kommt das schon vor? – und die Familie wollte Freunde besuchen. Dann gab es einen ohrenbetäubenden Krach, und als Nächstes steht Mia neben den Überresten des Autos, das auf der glatten Straße von einem Laster erfasst worden war, und starrt entsetzt auf die Leichen ihrer Eltern.

In Panik sucht sie Teddy, ihren kleinen Bruder, und findet im Graben – sich selbst. Sich selbst?

Wie im Traum sieht sie zu, wie Rettungskräfte um den letzten Funken Leben in ihrem übel zugerichteten Körper kämpfen. Sie hört, was gesprochen wird, wird selbst aber nicht verstanden. Und sie fühlt die Schmerzen nicht – dafür ist sie sogar dankbar. Sie wird in ein Krankenhaus geflogen und sitzt neben ihrem Körper, während der operiert wird. Sie macht sich Gedanken: Was soll sie tun? Soll sie ohne ihre Eltern und vielleicht ohne den kleinen Bruder weiterleben, mit den ganzen entsetzlichen Verletzungen, oder soll sie aufgeben, auch sterben und Ruhe haben?

Verwandte kommen zu Besuch, ihre engste Freundin Kim und Adam, ihre große Liebe. In Rückblenden werden Geschichten der Familie beschworen, das Kennenlernen von Mia und Kim, Mias Leidenschaft für das Cello spielen und der behutsame Anfang ihrer Liebe zu Adam. Es sind liebevolle Bilder einer unkonventionellen, sympathischen Familie, die Mias Verlust klar vor Augen führen und damit die Ratlosigkeit unterstreichen, mit der Mia vor der drängenden Entscheidung steht.

Jedes Wort, das ihre Verwandten, Kim und Adam zu ihr sagen, fällt mit in die Waagschale: Gehen oder bleiben? Und als Mias Geschichte bis zur Gegenwart erzählt ist, ist der Moment der Entscheidung gekommen.

_Kritik_:

Gayle Forman hat den Schwebezustand zwischen Leben und Tod zum Ausgangspunkt ihrer Erzählung genommen. Das ist zwar keine ganz neue Idee, aber schön umgesetzt.

Die Geschichten über Mias Familie sind detailreich gezeichnet. Die Eltern waren Zeit ihres Lebens Punkrocker, auch wenn der Vater ab der Geburt des kleinen Teddy die Bassgitarre an den Nagel gehängt hatte, um sein Brot als Lehrer zu verdienen. Mia wirkt vor diesem Hintergrund schon ausgesprochen konventionell. Verschiedene Probleme werden angerissen, die bei so unterschiedlichen Personen nicht ausbleiben, aber es steht immer klar im Vordergrund, dass das Verhältnis der einzelnen Personen untereinander ein liebevolles ist.

Genauso ist es mit Kim, die Mia am Anfang mit herzlicher Abneigung betrachtet hatte und die dann zu einer der Hauptbezugspersonen in ihrem Leben geworden war. Und die Romanze zwischen Mia, dem ruhigen, braven, Cello spielenden Mädchen und dem Rockmusiker Adam geht in ihrer Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit ans Herz.

Darüber hinaus wird dem Leser vor Augen geführt, dass das Cellospielen für Mia nicht nur ein Hobby, sondern möglicherweise eine Berufung ist. Ein Punkt, der ihr Sorgen bereitet hatte: Sollte sie dem Cello folgen, würde es sie weg führen, fort von Adam, der in der Gegend bleiben musste, in der seine Band gerade ihren Aufstieg Richtung Profimusikertum erlebte. All das verblasst nun aber vor der Frage: Gehen oder bleiben?

_Fazit:_

„Wenn ich bleibe“ ist ein wunderschön gezeichnetes Familienporträt, eine Liebesgeschichte und ein Drama in einem.

Natürlich geht die Geschichte dem Leser an die Nieren, weil sie von so viel Verlust handelt, aber sie ist gleichzeitig auch ein Ansporn zum Weitermachen, weil sie in so vielen Einzelheiten vor Augen führt, für wie viele Dinge es sich zu leben lohnt. Wie hier verschiedenste Ansichten und Vorlieben unterschiedlichster Menschen selbstverständlich und unprätentiös nebeneinander gestellt werden, ist schon erstaunlich.

Wer gerade ein starkes Bedürfnis nach Harmonie hat, sollte dringend „Wenn ich bleibe“ lesen. Aber Achtung: Gerade in so einer Stimmung sollten Sie eine Packung Taschentücher bereithalten. Gayle Formans Buch ist sehr schön und sehr traurig.

|Gebundene Ausgabe: 270 Seiten
Originaltitel: If I Stay
ISBN-13: 978-3764503512
Aus dem Amerikanischen von Alexandra Ernst.|
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McNay, Mark – Under Control

Ein gewalttätiger Ex-Fremdenlegionär mit merkwürdigen, sadistischen Gewaltfantasien, eine drogenabhängige Prostituierte und ihr weichherziger Sozialarbeiter beginnen eine Art Dreiecksbeziehung. Kann das gut gehen? Und wer kommt überhaupt auf solche Ideen? Der schottische Autor Mark McNay, dessen Debütroman „Frisch“ mit Preisen ausgezeichnet wurde und den man in einem Atemzug mit Irvine Welsh nennt, beschreibt in „Under Control“, wie eine Sozialarbeiter-Klienten-Beziehung nicht ablaufen sollte.

_Gary leidet an_ einer psychischen Krankheit, aufgrund der er Aggressionen und merkwürdige Wahnvorstellungen hat. Er bekommt Medikamente und wird von dem Sozialarbeiter Nigel betreut, zusammen mit zwei anderen. Ralph ist ein ehemaliger Drogenabhängiger, der rückfällig geworden ist, und Chris leidet an Depressionen und geht nicht gerne unter Menschen. Und dann ist da auch noch Charlie, Garys Freundin. Sie ist ebenfalls drogenabhängig und arbeitet als Prostituierte auf der Straße.

Nigel ist ein weichherziger Kerl, der gerne hilft, aber ein bisschen naiv ist. Als er Charlie trifft und sich in sie verliebt, glaubt er, sie von den Drogen weg bekommen zu können. Das sieht nicht nur Nigels Frau Sarah nicht besonders gerne. Als er Charlie bittet, den Kontakt zu Gary abzubrechen, um die Therapie nicht zu gefährden, hat das für ihn ungeahnte Konsequenzen. Denn der Zustand von Gary hat sich in letzter Zeit verschlechtert …

_Mark McNay siedelt_ sein Buch im Milieu psychisch Erkrankter, Drogenabhängiger und Sozialarbeiter an. Das ist ein interessanter Blickwinkel, den der Autor gut bedient mit seinen Beschreibungen, Charakterdarstellungen und den saloppen Dialogen. Die Mut- und scheinbare Ausweglosigkeit, die den Charakteren anhaftet, wird sehr gut dargestellt. Allerdings darf man trotz allem keine besondere Spannungsdramaturgie erwarten. Es wird hauptsächlich das Alltagsleben der Protagonisten beschrieben, die wenigen konkreten Ereignisse werden in die Geschichte eingestreut, ohne dass sie einer Spannungskurve folgen. Das interessiert sicherlich nicht Jeden. Wer weniger Wert auf Darstellung, aber dafür mehr auf Action legt, ist mit diesem Buch also nicht besonders gut beraten.

Es sei denn, er kann sich für einen interessanten Schreibstil erwärmen, denn Schreiben kann McNay. Seine lässige Erzählweise ohne schwierige Begriffe und einfache Satzstrukturen liest sich flüssig. Überdies besticht er durch den Humor. Auf geradezu ungewollte Art und Weise webt McNay immer wieder witzige Bemerkungen, die eigentlich gar nicht witzig sein wollen und sehr überraschend auftreten, in den Text. Außerdem begeistert der Schriftsteller durch Bildlichkeit. Immer wieder schreibt er über Vorstellungen oder Fantasien der Leute, die er wie selbstverständlich in den Fließtext integriert.

Die Figuren selbst sind ebenfalls lesenswert. Gary wirkt zwar ab und zu wie das Klischee eines Geisteskranken, ist ansonsten aber amüsant und authentisch umgesetzt. Nigel hingegen repräsentiert die Mittelschicht und seine Einfältigkeit gehört zu den größten Pluspunkten des Romans. Zum Einen wird dem Leser aus der gleichen sozialen Schicht dadurch ein Spiegel vor gehalten. Nigel sagt an einer Stelle im Buch, dass er nur deshalb Sozialarbeiter geworden ist, weil seine Eltern ihn dazu erzogen haben, anderen zu helfen. Dass ihm aber echte Einblicke in das Leben seiner Klienten fehlen, wird auf der anderen Seite sehr authentisch gezeigt. Es kommt dabei immer wieder zu Missverständnissen zwischen beiden Gruppen, die aber keiner so recht zu bemerken scheint außer der Leser, was ab und an für prompte Lacher sorgt.

_In der Summe_ ist „Under Control“ amüsante, aber dennoch auf lässige Art und Weise tiefgründige Literatur, die gut geschrieben, aber nicht immer spannend ist.

|Aus dem Englischen von Eike Schönfeld
318 Seiten, Taschenbuch
ISBN-13: 978-3423247481|
http://www.dtv.de

David Safier – Plötzlich Shakespeare

Rosa macht ihrem Namen nicht gerade alle Ehre, denn in ihrem Leben läuft es alles andere als rosarot. Statt dessen ist sie seit Jahren Single, immer noch unglücklich in ihren Exfreund verliebt und ihre biologische Uhr tickt immer lauter. Als sie dann auch noch zur Hochzeit ihrer großen Liebe Jan eingeladen wird, ist Rosa der Verzweiflung nahe. Selbst ihr schwuler bester Freund Holgi kann sie nicht mehr trösten, denn wo kein Selbstbewusstsein vorhanden ist, kann man auch keins aufbauen. Daher rät er ihr zu einem One-Night-Stand. Doch der gemeinsame Abend mit ihrem Kollegen Axel endet nicht im Bett, sondern bereits nach dem Besuch einer Zirkusvorstellung, in der Hypnotiseur Prospero einen Zuschauer in ein früheres Leben versetzt hat. Diesen Ausweg will nun auch Rosa gehen und begibt sich mutig zu Prospero. Tatsächlich versetzt der Hypnotiseur Rosa in ein früheres Leben – nicht ohne ihr mit auf den Weg zu geben, dass sie erst dann zurückkehren kann, wenn sie heraus gefunden hat, was die wahre Liebe ist.

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Melanie Benjamin – Alice und Ich

„Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll ist wohl eins der bekanntesten Kinderbücher. Gerade wurde es von Tim Burton neu verfilmt und ist im Frühjahr mit Stars wie Johnny Depp oder Anne Hathaway im Kino erschienen. Doch über die Entstehung des Buches wissen wohl die wenigsten etwas. Auch nicht darüber, dass es diese Alice tatsächlich gegeben hat. Diesem Umstand nimmt sich die Amerikanerin Melanie Benjamin an. In „Alice und ich“ beschreibt sie das Leben der echten Alice im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.

Alice Liddell wächst behütet und sorglos in einer Dekansfamilie in Oxford auf. Sie und ihre zwei Schwestern, die ältere Ina und die jüngere Edith, pflegen eine lockere Freundschaft mit Mr. Dodgson, einem Mathematikdozenten. Sie machen häufig Ausflüge mit dem herrischen Kindermädchen Mrs. Prick und Mr. Dodgson zückt dann gerne seine Kamera, um die Kinder zu fotografieren. Besonders Alice mit ihrem lebendigen Charakter und ihrer Altklugheit hat es ihm angetan. Und auch Alice mag Mr. Dodgson sehr gerne, doch da ist sie nicht alleine. Mit ihren Geschwistern buhlt sie um dessen Gunst, nicht ahnend, wohin das später führen wird.

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Ollestad, Norman – Süchtig nach dem Sturm

Mit „Süchtig nach dem Sturm“ hat Norman Ollestad die Geschichte seiner Kindheit auf Papier gebannt. Da sich Normans Kindheit doch ziemlich eklatant von anderen Kindheitsgeschichten seiner Zeit unterscheiden dürfte, ist daraus ein Buch entstanden, das gleichermaßen spannend wie facettenreich daher kommt.

Norman Ollestad wurde 1967 geboren und wuchs in Topanga Beach, Malibu auf – damals eine schillernd bunte Welt voller Hippies, Musik und Surfer. Das Surfen spielt auch in Normans Kindheit eine groß Rolle, denn sein Vater „Big Norm“ ist ein begnadeter Surfer, immer auf der Jagd nach den größten Wellen und dem perfekten Tuberide. Seinen Sohn „Little Norm“ nimmt er schon von klein auf mit auf die Wellen – anfangs noch auf seinem Rücken, später solo mit dem eigenen Brett.

Während andere Kinder vor dem Fernseher sitzen oder im Hof mit dem Ball spielen, reitet Norman Wellen, die größer sind als er selbst, fährt mit Skiern waghalsige Abfahrtsrennen oder verschneite Tiefschneehänge hinunter und tingelt von Eishockeyspiel zu Eishockeyspiel. Was immer er macht, stets ist sein Vater da, um ihn anzuspornen, seine Angst zu überwinden und alles zu geben und ihm zu helfen, wenn es brenzlig wird. Hat Norman die Angst einmal überwunden, ist das Erlebniss, das dahinter wartet, stets großartig und stets etwas Besonderes, aber dennoch wünscht Norman sich oft genug, sein Vater würde ihn mit seinen speziellen Vater-Sohn-Ausflügen einfach in Ruhe lassen.

Dreh- und Angelpunkt von „Süchtig nach dem Sturm“ ist ein Flugzeugabsturz, der sich im Terminstress zwischen Eishockeyspiel und Skirennen ereignet, als Normans Vater wegen der knappen Zeit eine Cessna gechartert hat. Die Maschine stürzt mitten in einem schwer zugänglichen Bergmassiv ab. Normans Vater und der Pilot sind sofort tot und Norman ist auf sich gestellt.

Als der elfjährige Norman sich schließlich auf den Weg macht, den völlig vereisten und eigentlich viel zu steilen Abstieg in Richtung Tal anzugehen, sind die endlosen Lehrstunden auf Surfbrett und Skiern endlich zu etwas gut. Norman weiß mit seiner Angst umzugehen und spornt sich selbst dazu an, nicht aufzugeben. Sein zäher Überlebenswille wird schließlich honoriert, als Norman nach schier endlosen, einsamen Stunden endlich in Sicherheit ist.

Norman Ollestad erzählt zwei Geschichten parallel. Er springt immer hin und her zwischen den Ereignissen des Flugzeugabsturzes und den Erinnerungen an seine Kindheit, größtenteils vor dem Absturz, aber auch an die Zeit danach. Durch die Sprünge zwischen den unterschiedlichen Handlungsebenen erzeugt Ollestad enorm viel Spannung und „Süchtig nach dem Sturm“ entwickelt schon annähernd Page-Turner-Qualitäten. Was er dazwischen skizziert, ist zum einen das Bild einer ungewöhnlichen und für sich schon spannenden Kindheit und zum anderen die Geschichte einer komplizierten, aber auch stets sehr intensiven und besonderen Vater-Sohn-Beziehung.

Norman empfindet viel Respekt für seinen Vater, bestaunt das Leuchten in dessen Augen beim Eintauchen in tiefen Pulverschnee oder beim Erzählen von großartigen Tuberides. Die Zeit, in der Big Norm seinem Sohn die Welt auf Skiern und Surfbrett zeigt, war noch eine ganz andere als die heutige. Man spürt den Pioniergeist, mit dem vor allem Normans Vater bei der Sache ist. Big Norm muss eine enorm charismatische Persönlichkeit gewesen sein, der Andere mit seiner charmanten Art, seinem Gitarrenspiel und seinen Surfskills um den kleinen Finger wickeln konnte. Für Norman ist all dies gleichzeitig faszinierend und beängstigend. Immer wieder muss er an seine Grenzen gehen – was ihn oft genug verzweifeln lässt, ihm aber ebenso immer wieder großartige Erlebnisse beschert.

Die ganze verzwickte Komplexität dieser Vater-Sohn-Beziehung verdeutlicht Ollestad vor allem anhand einer Reise der Beiden durch Mexiko – eigentlich angetreten, um Normans in Mexiko lebenden Großeltern eine neue Waschmaschine zu bringen. Aber Big Norm wäre nicht Big Norm, wenn das Ganze nicht zu einer ereignisreichen Surfreise entlang der mexikanischen Küste verlaufen würde.

Ollestad erzählt von all diesen Erlebnissen so farbenfroh und facettenreich, dass das Buch sicherlich auch ohne die Dramatik des Flugzeugabsturzes höchst angenehme Lektüre wäre. Das Studium des Creative Writing an der University of California hat da sicherlich sein Übriges getan.

„Süchtig nach dem Sturm“ nimmt den Leser gefangen, lässt ihn mitfiebern und mitträumen von mexikanischen Stränden und feinstem Pulverschnee. Alles in allem hat Norman Ollestad ein höchst lesenswertes Buch abgeliefert, das gleichzeitig Chronik einer ungewöhnlichen Kindheit und die Skizzierung eines ebenso komplizierten wie intensiven Vater-Sohn-Verhältnisses ist. Ein Buch, das nicht nur denen, die sich Surfbrett und Skiern verbunden fühlen, nahe gehen dürfte, sondern eigentlich niemand kalt lassen kann und daher uneingeschränkt empfehlenswert ist.

|Gebundene Ausgabe: 349 Seiten
ISBN-13: 978-3100552150
Originaltitel: Crazy for the Storm
Übersetzt von Brigitte Heinrich|

Kristof Magnusson – Das war ich nicht

|Paartherapeuten betonen oft, wie wichtig ein gemeinsames Hobby für die Beziehung sei. Eine Sportart, ein Garten oder Kinder; ein Hobby, das bleibt, wenn die Liebe gegangen ist. Auch Arthur und ich hatten etwas, das wir gern gemeinsam taten: Wir rauchten.|

So bitter lautet Meikes Resümee ihrer Beziehung zu Arthur. Zeit für sie also, ihre Zelte in Hamburg abzubrechen, sang- und klanglos aus der gemeinsamen Wohnung zu verschwinden und sich auf dem Land ein neues Leben aufzubauen. Als Übersetzerin ist sie räumlich nicht gebunden, und ihre so genannten Freunde gehen ihr längst gehörig auf den Keks. Allerdings ist das neue Leben auf dem Dorf auch nicht Friede, Freude, Eierkuchen, denn im neuen Haus funktioniert die Heizung nicht und das Manuskript ihres Lieblingsautors Henry LaMarck lässt komischerweise auf sich warten. Und da Meike nichts zu übersetzen hat, bleibt ihr genügend Zeit, über sich und ihr Leben zu philosophieren.

Jasper ist jung und erfolgreich. In der Bank ist er vom Back Office aufgestiegen zu den Futures und Optionen. Nur leider handelt er kleine Aufträge, die Karriereleiter hält also noch einige Stufen für ihn bereit. Als sein Kollege eines Tages gefeuert wird, wittert Jasper seine Chance. Er spekuliert auf eigene Faust und – gewinnt. Jedenfalls zunächst. Anschließend drehen sich die Kurse und Jaspers Verluste wachsen schneller, als er gucken kann.

Bestsellerautor Henry LaMarck plagen derweil andere Sorgen: Unvorsichtiger Weise hat er in einer Talkshow angedeutet, einen Roman über den 11. September schreiben zu wollen. Und nun erwartet jedermann einen Jahrhundertroman von ihm. Der Abgabetermin für sein Manuskript ist längst überfällig – sonst würde Meike im entfernten Norddeutschland schließlich nicht auf den zu übersetzenden Roman warten -, doch was niemand ahnt: Henry hat noch keine einzige Zeile geschrieben … Dann aber sieht Henry ein Bild in der Zeitung, von einem jungen Investmentbanker – Jasper – das ihn so sehr inspiriert und fasziniert, dass er den jungen Mann unbedingt treffen muss. So lauert er Jasper vor dessen Bank in Chicago auf.

_Drei Schicksale_

Kristof Magnusson erzählt die Geschichte dreier Menschen, die zunächst nichts bzw. nur wenig miteinander zu tun haben. Doch im Laufe der Zeit verstricken sich ihre einzelnen Schicksale immer mehr ineinander. Meike macht sich in Chicago auf die Suche nach Henry LaMarck, um ihn zur Abgabe seines Manuskripts zu bewegen und trifft dort zufälliger Weise auf Jasper. Den wiederum sucht Henry LaMarck Hände ringend, da Jasper zu seiner Inspiration, seiner Muse, werden soll. Und schon verändert sich das Leben aller drei Menschen auf eine Art und Weise, wie niemand das hätte vorausahnen können.

Dabei beginnt Kristof Magnusson zunächst mit einer recht nüchternen Vorstellung seiner Protagonisten, sodass man in den ersten Kapiteln noch keinerlei Zusammenhang erkennen kann. Aber das ändert sich bald, wenn die Ereignisse erst einmal ins Rollen gekommen sind. Dann wiederum kann man das Buch praktisch nicht mehr aus der Hand legen, da die Handlung immer abstruser wird, die Ereignisse sich praktisch überschlagen und man einfach wissen muss, wie Magnusson dieses Wirrwarrr bloß auflösen will.

Das Buch entwickelt einen regelrechten Sog, das Erzähltempo steigt immer mehr an, sodass ich das vorliegende Buch tatsächlich an einem Abend verschlingen musste, sonst hätte ich nicht ruhig schlafen können.

_Verrückt, verrückter, Magnusson_

Was Kristof Magnusson wie schon in seinem Roman „Zuhause“ auszeichnet, sind sein unglaubliches Sprachgefühl, seine lebhafte Fantasie und seine schrägen Charaktere. Der Autor kann sich darauf verlassen, dass er stets den richtigen Ton trifft, stets den richtigen Gag bringt und stets Wortwitz einstreut, wo er sich denn anbietet. Seine Schreibe ist einfach nur wunderbar, erfrischend, herrlich und genial. Was in Magnussons Erstling schon anklang, perfektioniert er hier, denn sein neuer Roman ist dermaßen abgefahren, lebendig und herzerfrischend komisch, dass er für mich schon jetzt zu den Entdeckungen des Jahres zählt.

Magnussons lebhafte Fantasie zeigt sich in erster Linie darin, dass er aus einer zunächst alltäglich erscheinenden Geschichte etwas so Abstruses zaubert, dass einem fast die Nackenhaare zu Berge stehen könnten, wären die Geschichten nicht gleichzeitig auch so komisch. Aus einer kleinen Fehlspekulation bei Jasper entwickelt sich nahezu eine weltweite Finanzkrise, und aus der Schreibkrise eines erfolgreichen Autors erwächst eine Dreierkonstellation, wie sie komplizierter kaum sein könnte. Denn Henry verliebt sich in Jasper, der wiederum wirft ein Auge auf Meike, die ihn wiederum aber überhaupt nicht ausstehen kann und nur darauf bedacht ist, Henry zur Abgabe seines Manuskripts zu bewegen. Hier spielen Eifersüchteleien eine Rolle, Fehlspekulationen und Missverständnisse, die schlussendlich dafür sorgen, dass drei Menschen an einem Scheideweg in ihrem Leben angekommen sind und sich völlig neu orientieren müssen.

So ist auch „Das war ich nicht“ wieder ein Roman über Menschen, die ihr Leben neu ordnen müssen, die ein neues Ziel brauchen, neue Freunde und eine neue Aufgabe. Am Ende des Buches ist für alle drei nichts mehr, wie es zu Beginn noch war. Und auch wenn für den einen oder anderen eine Welt zusammen brechen mag und er alles aufgeben muss, so lässt Kristof Magnusson seinen Roman doch positiv und hoffnungsvoll ausklingen, sodass man zufrieden und mit einem breiten Lächeln auf den Lippen zurück bleibt.

_Unbedingt lesen!_

Kristof Magnussons zweiten Roman |muss| man einfach lesen. Seine Charaktere sind so liebenswert chaotisch, so herrlich komisch und verzweifelt, dass man sie sofort ins Herz schließen muss – auch wenn sie so kauzig sind wie Henry LaMarck. Magnussons Schreibe muss man einfach lieben, beim Lesen fliegt man nur so über die Seiten, lacht lauthals los oder schmunzelt doch zumindest in sich hinein und amüsiert sich köstlich über Magnussons gute Beobachtungsgabe und seinen genialen Humor. An diesem Buch gibt es nichts auszusetzen – höchstens, dass es gefühlt viel zu kurz ist. Dafür verlockt es aber zum sofortigen nochmal Lesen. Dieses Buch macht einfach süchtig!

|Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
ISBN-13: 978-3888975820|
http://www.kunstmann.de

_Kristof Magnusson beim Buchwurm:_
[Zuhause 1699

Thomas, Scarlett – PopCo

Die englische Schriftstellerin Scarlett Thomas löst, laut Autorenbeschreibung, in ihrer Freizeit gerne mathematische Gleichungen. Das ist nicht unbedingt das, was man von einer jungen Schriftstellerin erwartet. Die Frage, die sich einem nun stellt, ist: Kann ein Buch von einer Person, die in ihrer Freizeit freiwillig Mathematik betreibt, überhaupt gut sein? „PopCo“ liefert die Antwort …

Alice Butler ist neunundzwanzig und ein bisschen seltsam. Früher hat sie Kreuzworträtsel entworfen, heute arbeitet sie als Produktentwicklerin beim weltweit drittgrößten Spielzeughersteller PopCo. Sie hat eine Vorliebe für das Knacken von Zahlencodes und Chiffren, trägt Klamotten und Frisuren, die sie von ihren hippen Kollegen abheben, und hat kaum Freunde. Dementsprechend fühlt sie sich im alljährlichen Kreativcamp ihres Arbeitgebers nicht gerade wohl. Gemeinsam mit sämtlichen PopCo-Mitarbeitern muss sie auf einem alten englischen Gut wohnen und alles ist ein bisschen wie im Schullandheim. Schlafsäle, Motivations- und Ideenfindungsübungen – zum Glück hat sie ihren besten Freund Dan dabei, mit dem sie sich über diese Sachen lustig machen kann. Dann lernt sie auch noch die exzentrische Esther kennen, die kifft und auch sonst recht rebellisch ist. Gemeinsam mit ein paar anderen werden die drei in ein besonderes PopCo-Team gesteckt: Sie haben die Aufgabe, d a s Teenagerprodukt zu erfinden. Jugendliche gelten als problematische, unberechenbare Zielgruppe, doch PopCo hat sich fest vorgenommen, sie zu knacken, auch mit unlauteren Mitteln …

Gleichzeitig wird in einem zweiten Erzählstrang Alices ungewöhnliche Kindheit erzählt. Alice wächst bei ihren Großeltern auf. Ihr Großvater ist ebenfalls ganz vernarrt in Kreuzworträtsel und Chiffren, während ihre Großmutter eine große Mathematikerin ist. Als ihr Großvater einen Code knackt, der zu einem Schatz führt, zerstreitet er sich mit Alices Vater, da er die Lösung für das Rätsel nicht herausrücken möchte. Der Schatz soll seiner Meinung nach dort bleiben, wo er ist. Alices Vater verschwindet daraufhin, doch Alice erfährt nie, wohin und warum. Allerdings bekommt sie von ihrem Opa ein Medaillon mit einem Code vererbt …

Zuerst einmal die gute Nachricht: Scarlett Thomas‘ merkwürdiger mathematischer Zeitvertreib wirkt sich in keiner Weise negativ auf ihre Schreibkünste aus. „PopCo“ ist ein kleines Meisterwerk, vor allem in zwei Bereichen: den Figuren und dem Schreibstil. Die Handlung hingegen hat ihre Stärken und Schwächen. Eine der größten Stärken ist sicherlich Thomas‘ unendlicher Wissensdurst. Die Recherchearbeiten für dieses Buch müssen unglaublich aufwändig gewesen sein, da sehr viele unterschiedliche Themen darin verarbeitet werden. Da ist zum Einen alles, was sich um PopCo dreht. Spielzeugmarketing, Spielzeugentwicklung, Spielzeugarten – dieses Buch ist beinahe wie ein Praktikum in der Marketingabteilung eines Spielzeugherstellers. Danach weiß man eine Menge mehr über die unterschiedlichen Zielgruppen von Spielzeug, die Probleme damit und wie der Spielzeugmarkt aufgebaut ist. Dies erzählt die Autorin aus Alices Sicht allerdings so galant, dass die Trockenheit des Themas gar nicht auffällt. Man verschlingt Seite um Seite, ohne zu merken, dass man den Stoff einer Marketingvorlesung durch nimmt. An dieser Stelle muss man der Autorin wirklich ein großes Kompliment aussprechen. Nebenbei belehrt sie den Leser auch noch über Mathematik, Codes, den Ablauf von Ideencamps und schließlich auch noch über etwas anderes, sehr Relevantes, was an dieser Stelle nicht verraten werden soll. „PopCo“ ist damit eins der wenigen Bücher, nach deren Lektüre man deutlich schlauer ist – und es hat sogar Spaß gemacht!

Ein wenig Interesse an diesen Themen – oder zumindest sehr viel Durchhaltevermögen – muss man als Leser jedoch mitbringen. Thomas beschreibt vor allem Alices Aufenthalt auf dem Gut in sehr vielen Einzelheiten. Das ist zwar schön zu lesen, trägt zu der eigentlich Handlung nur wenig bei. Überhaupt ist die Handlung der Knackpunkt der Geschichte. Es gibt zwei Erzählstränge: einen mit der älteren und einen mit der jüngeren Alice. Beide verfolgen unterschiedliche Ziele, vermengen sich am Ende aber. Trotzdem flacht die Spannungskurve gegen Ende dramatisch ab. Die Geschichte hätte definitiv Potenzial für eine Vielzahl von kleinen Spannungskurven gehabt, doch Thomas lässt diese Gelegenheiten ungenutzt verstreichen. Ein Ereignis folgt dem nächsten und ist mal mehr, mal weniger relevant. Das große runde Ende, in dem sich alles in Wohlgefallen auflöst, sollte man jedenfalls nicht erwarten. Stattdessen präsentiert die Autorin dem Leser einen platten Schluss, der mit der eigentlichen Geschichte nur wenig zu tun hat.

Enttäuschte Erwartungen sind nicht unbedingt ein Garant dafür, Leser und Rezensenten in Begeisterung zu versetzen. Dass man Thomas diesen handlungstechnischen Fehltritt trotzdem verzeiht, ist Alice zu verdanken, die bereits jetzt eine der besten Protagonisten des Jahres ist. Von der ersten Seite an fesselt sie den Leser mit ihren kleinen Neurosen, Komplexen und Geheimnissen. Ihre teilweise skurrilen Gedankengänge, ihre Ticks – all das macht sie zu einer überaus spannenden Person. Zusammen mit Thomas‘ humorvollem, leichtfüßigen Schreibstil entsteht eine Ich-Erzählerin, die man gerne begleitet und die selbst die langweiligsten Mathematikerklärungen spannend macht. Auch an dieser Stelle muss man der Autorin hohes Lob zollen. Die Verbindung zwischen Hauptperson und Erzählstil ist seltengut und wertet die Geschichte unglaublich auf.

Auf der einen Seite steht eine etwas enttäuschende Handlung, auf der anderen eine grandiose Hauptfigur und ein toller, humorvoller Schreibstil. Zum Glück sind letztere so stark und originell, das sie die Macken von „PopCo“ überstrahlen. Dieses Buch ist überaus lesenswert. Scarlett Thomas legt die Messlatte für Romane, die im Jahr 2010 erscheinen, bereits im Januar verdammt hoch!

|Aus dem Englischen von Tanja Handels
700 Seiten, Taschenbuch
ISBN-13: 978-3499252532|
http://www.rowohlt.de

Gerard Donovan – Winter in Maine

Inhalt:

Seit Jahr und Tag lebt Julius Winsome in der einsamen Hütte in den Wäldern von Maine, die bereits sein Großvater und später auch seine Familie bewohnt hatte. Sein Mutter verlor er bereits bei der Geburt, seinen Vater als junger Erwachsener, sein Selbstvertrauen jedoch nie. Mit seinem Hund Hobbes, einem gewaltigen Bucharchiv mit 3282 teils raren Exemplaren und einer gewaltigen Grünanlage vertreibt er sich die Zeit, bevor der Winter über die Landschaft einbricht und Zeit zur inneren Einkehr bietet.

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Pearlman, Ann – Christmas Cookie Club, Der

Jedes Jahr am ersten Montag im Dezember treffen sich Marnie und ihre elf Freundinnen, die Cookie-Hexen, zum Christmas Cookie Club in Marnies festlich geschmücktem Wohnzimmer. Dort werden die Cookies – jede backt 13 Dutzend – untereinander verteilt, und je ein Dutzend wird dem ansässigen Hospiz gespendet. Dabei plaudern die Frauen über die Ereignisse des vergangenen Jahres, es wird gelacht, geweint, sie streiten und versöhnen sich. Sie sind sich so nah wie sonst selten im Jahr.

Marnie wartet den ganzen Abend auf einen Anruf ihrer schwangeren Tochter Sky, die ein Testergebnis erwartet – ihr erstes Baby war eine Totgeburt. Auch ihre zweite Tochter Tara ist zum ersten Mal schwanger. Marnies Freundin Charlene muss mit einem großen Verlust klarkommen: Ihr Sohn Luke verstarb nach einem Unfall. Jetzt versucht sie, in ihrem Leben einen neuen Sinn zu finden.

Eine der Cookie-Hexen ist dieses Jahr ausgeschieden, dafür kommt Cookie-Jungfrau Sissy dazu. Sie ist Marnies „Mit-Großmutter“ und versucht, Marnie ihren Sohn und dessen Wesenszüge näherzubringen, einen schwarzen Rapper, der vor kurzem noch im Gefängnis war. Auch die anderen neun Freundinnen im Bunde haben alle einiges durchgestanden, Schönes wie auch Tragisches.

Jedes Kapitel in diesem Buch ist einer der Frauen gewidmet, beginnt mit dem Cookie-Rezept, das diese gebacken hat, und erzählt ein bisschen von der Vergangenheit sowie der jetzigen Situation. Am Ende jedes Kapitels kommt noch etwas Warenkunde hinzu.

_Kritik_

Ann Pearlman hat mit „Der Christmas Cookie Club“ ein weihnachtliches, warmherziges Buch geschrieben. Der Roman wird aus Marnies Sicht, der Cookie-Oberhexe, erzählt.

In jedem Kapitel wird eine der zwölf Protagonistinnen vorgestellt, man erhält einen kurzen Einblick in deren Vergangenheit, die Beziehungen untereinander werden erläutert, und bei der Cookie-Vergabe kommt das zentrale Thema, das sich durch das Jahr zog, noch mal auf den Tisch.

Die Cookie-Hexen sind sehr real konzipiert; sie wirken glaubwürdig und sehr sympathisch, jede auf ihre Weise. Man möchte fast dazugehören und fühlt sich bei ihnen recht wohl.

„Der Christmas Cookie Club“ ist sehr kurzweilig erzählt – ein angenehm leichtes Buch, besonders zu Festzeiten. Die zwölf Rezepte laden zum Nachbacken ein; statt der Warenkunde hätte ich mir allerdings vielleicht noch ein paar Worte mehr zu den zwölf Frauen gewünscht. Die Warenkunde war zwar zuweilen informativ, aber ein Fehlen derselben hätte dem Roman auch nicht geschadet.

_Fazit_

Ann Perlmans „Der Christmas Cookie Club“ kann ich wärmstens empfehlen. Die zwölf Freundinnen sind so warmherzig beschrieben, man würde gerne mit ihnen gemeinsam in Marnies Wohnzimmer sitzen und plaudern.

Ich werde diesen Roman auf jeden Fall verschenken. Mit einer der Cookie-Sorten dazu, wird dies sicherlich gut ankommen. Die Dr.-Oetker-Versuchsküche hat alle Rezepte dieses Buches nachgebacken und ein kleines Heftchen mit den Rezepten (in deutsche Einheiten umgerechnet) und Bildern der Cookies beilegen lassen.

_Die Autorin_

Ann Pearlmann wurde in Washington, D.C., geboren. Sie lebt als Schriftstellerin und Psychotherapeutin in Ann Arbor, Michigan. Sie gehört einem Christmas Cookie Club an, der Grundlage zu diesem Roman war.

|358 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3547711585|
http://www.ullsteinbuchverlage.de/mvs/

_Nadine Warnke_

See, Lisa – Töchter aus Shanghai

In ihren Büchern „Der Seidenfächer“ und „Eine himmlische Liebe“ hat die Autorin Lisa See uns bereits mit chinesischer Geschichte und Gewohnheiten vertraut gemacht. In ihrem neuesten Roman „Töchter aus Shanghai“ entführt sie ihre Leserinnen in die 1930er-Jahre. Im weiteren Verlauf verlagert sich die Handlung von Shanghai nach Los Angeles, wo die Protagonisten in Chinatown leben. Lisa See weiß genau, wovon sie schreibt, da sie selbst einer chinesisch-amerikanischen Familie entstammt und dort aufgewachsen ist. So entwickelt sich der vorliegende Roman in Teilen zu einem Geschichtsbuch.

_Zwei ungleiche Schwestern_

Die Schwestern Pearl und May wachsen wohlbehütet auf. Sie lieben sich innig, obwohl sie doch auch Konkurrentinnen sind. Denn May ist die Hübschere von beiden und zieht sämtliche Aufmerksamkeit auf sich. Dennoch verdienen die beiden Mädchen sind ihr Geld gemeinsam – nämlich, indem sie Modell für Kalenderblätter stehen. So erlangen sie eine gewisse Berühmtheit und Unabhängigkeit. Von ihrem Geld vergnügen sie sich abends, kaufen sich schöne Kleidung und geben einen Teil ihrem Vater, der das Geld (vermeintlich) für sie anlegt.

An einem Tag jedoch bricht die heile Welt der Schwestern in sich zusammen: Ihr Vater eröffnet ihnen, dass er alles Geld verspielt hat und mittellos ist. Er entlässt die Dienstleute, unterteilt das Haus, sodass weitere Menschen zur Miete einziehen können und vermittelt seine beiden Töchter an zwei Brüder, die chinesischer Abstammung sind, aber in Los Angeles leben. Pearl und May sind geschockt, fügen sich jedoch in ihr Schicksal. Die beiden heiraten die jungen Männer und verleben noch ihre Hochzeitsnacht, bevor die beiden Ehemänner zurück in die Vereinigten Staaten reisen. Pearl hat mit ihrem Ehemann das getan, was Eheleute tun, doch May konnte dies nicht. Zudem scheint mit ihrem Mann, der noch sehr jung ist, irgendetwas nicht zu stimmen.

Die beiden Mädchen sollen ihren Ehemännern auf einem späteren Schiff folgen, doch haben sie dies nicht vor. Sie bleiben in Shanghai, müssen dann allerdings erkennen, dass ihr Vater nicht ihrem neuen Schwiegervater Geld schuldet, sondern einer gefährlichen Gangsterbande, die sogleich in ihr Haus eindringt und die Mädchen auffordert, sich unverzüglich auf den Weg zu ihren Ehemännern zu begeben. Kurz darauf fallen die Japaner in Shanghai ein und ihr Vater verschwindet spurlos. Gemeinsam mit ihrer Mutter machen die beiden Schwestern sich auf den Weg nach Hongkong, wo sie ein Schiff nach Amerika besteigen wollen. Unterwegs werden sie allerdings von den Japanern überfallen, was die Mutter mit ihrem Leben zahlen muss. Auf sich allein gestellt sehen Pearl und May keine andere Möglichkeit, als zu ihren Ehemännern zu reisen. Und so machen sie sich auf die gefährliche Reise nach Amerika. Dort angekommen, lüftet May ein großes Geheimnis, das das Leben beider Schwestern nochmals auf den Kopf stellen wird …

_Flucht aus Shanghai_

Zunächst lernen wir die beiden Schwestern Pearl und May in ihrem gewohnten Leben kennen. Die Eifersucht nagt deutlich an der Ich-Erzählerin Pearl, denn May ist die hübschere von beiden und wird von den Eltern bevorzugt. Auch auf den Kalenderblättern steht sie stets im Vordergrund und zieht sämtliche Blicke auf sich. Doch auch Pearl ist hübsch, zudem spricht sie mehr Sprachen als ihre Schwester und scheint die stärkere von beiden zu sein. Als ältere Schwester behütet sie die jüngere und versucht, sie vor Schaden zu bewahren. Das zeigt sich insbesondere in der Szene, in der die Mutter sich alleine den Japanern stellt und ihr Pearl schließlich zur Seite steht und einen schrecklichen Preis dafür bezahlen muss.

Viel Zeit lässt sich Lisa See nicht, bevor sie die heile Welt der jungen Frauen einstürzen lässt, und so fesselt einen das Buch bereits sehr früh. Ab dem Moment, in dem die beiden Schwestern an zwei Brüder verkauft und mit ihrem neuen Schicksal konfrontiert werden, kann man das Buch schwerlich zur Seite legen. Kurz darauf überschlagen sich die Ereignisse, als die Japaner die Stadt bedrohen, der Vater verschwindet und die Mutter stirbt.

Lisa See beschreibt zwei starke und sehr unterschiedliche Frauencharaktere. Beide stellt sie aus Pearls Sicht dar, sodass das Bild der jungen Frauen durchaus manchmal verzerrt erscheint. Kurz vor dem Ende stellt May einiges klar, das Pearl falsch interpretiert hatte und rückt so auch für die Leser das Bild der Schwestern gerade. Dadurch, dass Pearl uns ihre Geschichte als Ich-Erzählerin präsentiert, fallen ihr sämtliche Lesersympathien zu, zudem scheint May scheinbar alles zu bekommen, was sie sich wünscht. Als aber Pearl den netteren Ehemann bekommt, wirkt dies wie ausgleichende Gerechtigkeit. Die beiden Frauen halten zusammen wie Pech und Schwefel, auch wenn Konkurrenz und Neid im weiteren Verlauf des Buches immer mehr dominieren und das Band zwischen den Schwestern deutliche Risse bekommt. Dadurch wiederum steigert Lisa See aber die Spannung, denn es wäre bei all den Differenzen zwischen den Schwestern unrealistisch, würden sie sich immer gut verstehen.

_Schicksalsjahre_

Die Geschichte zieht sich über viele Jahre hinweg. Wir erleben mit, wie Pearl und May ihr in Trümmern liegendes Leben zu retten versuchen, indem sie sich in ihre neue Familie einleben. Doch auch in Los Angeles ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen, denn ihr Schwiegervater hütet ein Geheimnis, das das Leben der gesamten Familie bedroht. Die jungen Frauen müssen hart arbeiten, sie erleben mit, wie ihr Schwiegervater bei einem Brand all sein Geld verliert, sie erfahren, welche Krankheit Mays Ehemann hat, weitere Menschen sterben und schließlich müssen die Chinesen auch in Amerika um ihr Leben fürchten.

Als Hintergrund für ihre Familiengeschichte hat Lisa See sich einen dramatischen Zeitraum heraus gesucht und ihre Geschichte zudem an exotische und turbulente Schauplätze verlegt. Sie entwirft ein lebendiges Bild vom farbenprächtigen Shanghai und vom Chinatown in Los Angeles, das sich noch im Aufbau befindet. In Shanghai werden Pearl und May von Japanern bedroht, doch auch in Los Angeles sind sie nicht integriert. Dennoch versuchen sie, sich unter erschwerten Bedingungen eine neue Heimat aufzubauen. Lisa See verwebt geschickt die Geschichte der beiden Frauen mit den geschichtlichen Ereignissen. Denn was als Rahmenhandlung passiert, entspricht den Tatsachen, so lernt man ganz nebenbei noch etwas über die chinesische Geschichte. Allerdings ist das Buch dadurch nicht immer ganz leichte Kost, denn Lisa See erzählt eine sehr komplexe Geschichte.

Auch der Schreibstil der Autorin passt zu der sehr dichten Geschichte, denn sie schmückt sämtliche Szenen plastisch aus, sodass wir uns in die Situationen hinein versetzen können, auch gibt es vergleichsweise wenig direkte Rede, die den Schreibfluss auflockert. Daher fesselt einen das Buch zwar, lässt sich aber durchaus nicht an einem Stück lesen. Spätestens nach ein oder zwei Stunden braucht man eine Pause von den eindringlichen Worten der Autorin, die mitunter furchtbare Dinge beschreiben.

_Geschichtsstunde_

Im Gegensatz zu Lisa Sees Buch „Der Seidenfächer“, das ich tatsächlich am Stück verschlungen habe, musste ich mir das vorliegende Buch erarbeiten. Phasenweise konnte ich es nicht aus der Hand legen, dann aber gab es recht langatmige Passagen, die mich nicht so fesseln konnten. Unter dem Strich jedoch erzählt Lisa See eine faszinierende und mitreißende Geschichte vor einem spannenden und dramatischen Hintergrund. Ganz nebenbei erfährt man viel über die Lebensweise der Chinesen im Shanghai der 30er-Jahre, vor allem aber über ihr neues Leben in Amerika. Schade nur, dass das Buch praktisch mittendrin endet und sich nicht alle Fragen klären, denn so blieb ich ein klein wenig enttäuscht zurück.

|Gebundene Ausgabe: 448 Seiten
ISBN-13: 978-3570010570
Originaltitel: |Shanghai Girls|
Übersetzt von Elke Link|

Veloso, Ana – Mädchen am Rio Paraíso, Das

Im Jahr 1826 findet Gaucho Raúl Almeida am Ufer des Rio Paraíso ein junges blondes Mädchen. Er rettet das bewusstlose und verletzte Mädchen, nimmt es mit zu sich nach Hause und lässt es von seiner Sklavin Teresa liebevoll pflegen und versorgen. Als das Mädchen erwacht, kann es sich an nichts erinnern. Die junge Frau weiß nicht, wer sie ist, woher sie kommt und was passiert ist. Zu all dem Unglück versteht sie kein Wort von dem, was die Menschen um sie herum sagen. Erst nach und nach kehren Erinnerungsfetzen zurück, das Mädchen kann sich an seinen eigenen Namen erinnern – Klara. Doch bis zuletzt erinnert sie sich nicht daran, was am Tage ihres Unfalls passiert ist.

Raúl Almeida und Teresa denken derweil, dass das Mädchen schwachsinnig ist, weil es zunächst gar nicht spricht und danach nur wirres Zeug von sich gibt. Sie ahnen noch nicht, dass es sich bei dem Mädchen um eine deutsche Auswanderin aus dem Hunsrück handelt, die einst mit ihrem Mann Hannes nach Südbrasilien ausgewandert ist, um dort ihr Glück zu suchen. Die beiden richten sich ein kleines und bescheidenes Häuschen ein und bekommen zu ihrem großen Glück eine kleine Tochter. Doch dann geschieht etwas, das das Leben der beiden auf den Kopf stellt und alles verändert.

Während Klaras Erinnerungen langsam zurückkehren, notiert sie sich fleißig alle Worte, die Teresa oder Raúl aussprechen, sie lernt immer besser portugiesisch und kann sich schon bald notdürftig verständigen. Dass sie sich nach und nach an ihre Vergangenheit erinnert, verschweigt sie den beiden aber zunächst. Raúl fühlt sich immer mehr zu dem geheimnisvollen und exotischen Mädchen hingezogen. Als er aber auf eigene Faust Nachforschungen anstellt, erfährt er, dass Klaras Mann ermordet wurde und Klara seitdem als vermisst gilt. Handelt es sich bei Klara womöglich um eine Mörderin?

_Erinnerungsfetzen_

Das Buch beginnt damit, dass Klara aus ihrer Ohnmacht erwacht und sich an wirklich nichts erinnert. Sie kommt bei fremden Menschen zu sich und kann sich nicht einmal ihres Namen entsinnen. Im steten Wechsel lernen wir Klara in der Gegenwart bzw. in ihrer Vergangenheit genauer kennen. So springen wir im zweiten Kapitel in die Vergangenheit und erfahren mehr über ihre Kindheit in Deutschland, über ihre Familie und die Streitereien mit ihrem älteren Bruder. Ganz langsam setzt sich ein Bild von Klara Wagner zusammen, die Raúl Almeida 1826 am Rio Paraíso rettet. Doch springt Ana Veloso zunächst so weit in die Vergangenheit, dass wir uns lange gedulden müssen, um zu erfahren, wie Klara überhaupt nach Brasilien gelangt ist, wie sie dort gelebt hat und wie es ihr in Brasilien ergangen ist.

Das stete Wechselspiel aus Kapiteln, die in der Gegenwart bzw. in der Vergangenheit geschrieben sind, treibt immer mehr die Spannung in die Höhe. Zunächst gilt es zu durchschauen, um wen es sich bei dem unbekannten blonden Mädchen handelt, und später brennt es einem unter den Fingern zu erfahren, was zwischen Hannes und Klara vorgefallen ist und wie es zu dem Unfall kommen konnte, bei dem Klara am Rio Paraíso ihr Bewusstsein verlor. Und natürlich beginnt es zwischen Raúl und Klara immer mehr zu knistern, nur leider erfährt der gut aussehende Gaucho dann, dass Klaras Mann ermordet wurde und plagt sich fortan mit Zweifeln, ob er nicht doch einer gelungenen Täuschung aufgesessen ist und es sich bei Klara um eine Mörderin handelt. Die Spannung steigt immer mehr, vor allem die Geschichte in Klaras Vergangenheit nimmt Fahrt auf, nachdem ein Ereignis ihres und Hannes‘ Leben auf den Kopf stellt und plötzlich nichts mehr ist wie zuvor.

Bei allen Geheimnissen, die sich um Klara ranken und die die Spannung voran treiben, gibt es doch eines, das man nie in Frage stellt, und zwar das erwartete Happyend zwischen Raúl und Klara. Auch wenn es lange dauert, bis die beiden Gefühle für einander entwickeln, und noch viel länger, bis sie diesen nachgeben, so steht doch von der ersten Buchseite an fest, dass die beiden ein Paar werden – das sollte man sich gleich klar machen.

_Eine Deutsche in Brasilien_

Ana Veloso erzählt die packende Geschichte eines deutschen Auswandererpaares, das in Brasilien sein Glück sucht. Doch während die Schilderungen der Werber in Deutschland noch so farbenfroh und erfolgversprechend klangen, merken Klara und Hannes in Brasilien schnell, wie hart die Wirklichkeit ist. Sie leben in einfachsten Verhältnissen und arbeiten von früh bis spät – selbst als Klara hochschwanger mit ihrer gemeinsamen Tochter ist. Nichts ist so, wie sie sich das vorgestellt hatten, sodass Klara doch mitunter von Heimweh befallen wird. Diese Geschichte fand ich unglaublich interessant, zumal in diesem Handlungsstrang eben nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen ist.

Charakterlich überzeugt vor allem Klara, die uns in Deutschland zunächst wie ein ziemlich verwöhntes Gör erscheint. Allerdings wächst sie mit einem Haufen älterer Geschwister auf und muss lernen, sich gegen sie durchzusetzen, und auch die Zeiten in Deutschland sind nicht immer einfach. Als sie von Hannes‘ Plänen auszuwandern erfährt, wirkt es, als würde sie beschließen, sich in ihn zu verlieben, um mit ihm aus Deutschland herauszukommen. An Format gewinnt sie in Brasilien, wo sie harte Arbeit, ein Baby und einen schwierigen Ehemann gleichzeitig meistert und dennoch nicht verzweifelt.

Raúl Almeida ist ihr faszinierender Gegenpart. Zunächst ist Raúl ihr schrecklich unsympathisch, da er immer eine finstere Miene zieht, doch je länger Klara bei ihm im Hause wohnt, umso mehr entdeckt sie seine liebenswerten und interessanten Seiten. Seine Gefühle ihr gegenüber kamen für mich etwas unvermittelt. Hat er erst noch mit einer Brasilianerin herum geschäkert, so braucht es nur einen Blick auf Klara in einem schöneren Kleid, um ihn davon zu überzeugen, dass Klara eine attraktive Frau ist. Dieser Wandel kam leider etwas plötzlich.

_Exotisch mit Happyend_

Das vorliegende Buch erzählt eine sehr reizvolle und interessante Geschichte, die insbesondere durch den Wechsel zwischen den Zeitebenen an Spannung gewinnt. Ana Veloso schildert Klaras Geschichte detailreich und in farbenfrohen Worten; so entführt sie uns beim Lesen ins exotische Brasilien. Leider ist das Happyend bereits absehbar und auch die Charakterentwicklung nicht immer nachvollziehbar, sodass das Buch nicht an den [„Duft der Kaffeeblüte“ 3872 heranreicht. Aber immerhin: Gute Unterhaltung bekommt man dennoch geboten.

|543 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-426-66340-0|
http://www.knaur.de

Rubin, Szilard – Kurze Geschichte der ewigen Liebe

_Liebe! Liebe. Liebe? – Liebe_

Attila wird zur Zeit des Zweiten Weltkriegs als Waise von seiner Großmutter erzogen. Diese betreibt auch nach dem Krieg noch einen regen Tauschhandel und hält sich und den Enkel damit mehr schlecht als recht über Wasser. Der sieht sich als geistigen Uran des „Taugenichts“, welcher das Herz der großbürgerlich erzogenen Orsolya gewinnt. Doch bereits in der Anfangsphase ihrer von jugendlichem Überschwang gekennzeichneten Beziehung fühlen sie sich gleichermaßen zueinander hingezogen wie von einander abgestoßen.

Orsolya entstammt einer Apothekerfamilie, deren Stammbaum bis in die Kolonialzeit zurückzuverfolgen ist. Die Familie trifft sich in Sommerhäusern und pflegt Erinnerungen an adriatische Yachtclubs sowie Sommeraufenthalte in Dalmatien. Man spricht Fremdsprachen; das Lebensgefühl ist europäisch geprägt. Doch bereits innerhalb einer Generation stirbt mit Tante Anna die Erinnerung an diese Zeit. So liest sich der erste Teil von Szilard Rubins „Kurze Geschichte von der ewigen Liebe“ als melancholischer Abgesang auf eine weltmännische Zeit, als man noch englische Autoren in den Auslagen der ungarischen Buchläden finden konnte. Die Auslöschung der bürgerlichen Kultur durch die Umgestaltungen des Sozialismus wird beschrieben als der Untergang jeglicher Kultur. Die privaten Herrenhäuser, in denen klassische Musik und bildende Kunst gepflegt und gefördert wird, verschwinden. Kleidungsstücke wie beispielsweise ein Muff wirken bereits kurz nach dem Krieg als Relikt aus einer fernen Vergangenheit.

Plötzlich ist Orsolya diejenige, welche aufgrund ihrer großbürgerlichen Herkunft scheinbar wenige Zukunftsaussichten hat, während Attila als hoffnungsvoller junger Schriftsteller aus dem einfachen Volk einer gesicherten Zukunft im Nachkriegsungarn entgegensieht. Doch bereits im nächsten Kapitel ist Attila nicht mehr so zuversichtlich, was seine Zukunft betrifft. Er ist nahe daran, sein Stipendium an der Universität zu verlieren, weil er nicht so schreiben kann, wie es von ihm verlangt wird. Das Leben im neuen Staat wird mit dem Spiel „Chicken Run“ verglichen, bei dem man so lange wie möglich vor einem herannahenden Zug auf den Gleisen verharren muss. Am erfolgreichsten spielen diejenigen, die sich aus den „Trümmern des Großbürgertums in die gehobenen Kreise der Volksdemokraten emporarbeiten“. So macht die arme Hedi Racz über ihre Freunde Karriere und arbeitet sich zu einem Verehrer mit Sportwagen hoch. Attilas sämtliche Freunde versuchen, sich mit dem System zu arrangieren und sich eine angenehme kleinbürgerliche Existenz aufzubauen. Sie erkennen schnell, dass Attilas Talent nicht für große Literatur oder einen Erfolg in diesem System ausreicht und sein Traum vom künftigen Leben als angesehener Schriftsteller wie auch seine vermeintliche Liebe zu Orsolya Selbstbetrug ist.

Die überschwängliche Anziehung der Jugendjahre ist einer Obsession gewichen, die bis zu Attilas völligen Selbsterniedrigung gebracht wird, als Orsolya den Heiratsantrag eines Militäringenieurs annimmt und damit die Ehefrau eines Kommunisten wird. Der künftige Ehemann ist es dann auch, der für die beiden einen Schlussstrich zieht, indem er den verzweifelten Attila vor die Tür setzt. Dieser sieht Orsolya nur noch einmal von Ferne wieder, als sie bereits Gattin des zum Militärattaches von Ulan Bator aufgestiegen Ingenieurs ist.

Damit endet die kurze Geschichte von der ewigen Liebe, bei der man sich zeitweise nicht einmal sicher sein kann, ob es gerechtfertigt ist, überhaupt von Liebe zu sprechen. Jede Situation wird von Szilard Rubin auf den Prüfstand gestellt – und sei es auch Jahre später. So erscheint die Liebe in Jugendzeiten als Provokation von Orsolyas Eltern, die diese Verbindung nicht gern gesehen haben. Eine kurzzeitige Ehe der beiden wird entlarvt als notwendige Reaktion auf eine Kompromittierung. Ob Attila Orsolya tatsächlich liebt oder nur besitzen will, weil er sonst niemanden auf der Welt hat, ist ebenfalls nicht klar.

Rubin macht es seinen Lesern bei der Lektüre nicht leicht. Die Protagonisten begehen scheinbar unmotivierte und nicht voraussehbare Handlungen. Rubin legt ihr Seelenleben mit schlichten ehrlichen Worten so weit offen, dass man ihnen ein Laken reichen möchte, so erschütternd banal und zugleich so unfassbar kompliziert ist ihre Nacktheit. Man kann sich mit ihnen nicht identifizieren. Gelingt es noch, sich vorzustellen, dass die Figuren nach Sicherheit und Bequemlichkeit im Leben streben und sich für den Verrat an den Idealen ihrer Jugend schämen, kann man Attilas Obsession bis zur Selbstaufgabe, seine im wahrsten Sinne jämmerliche Existenz nur schwer nachvollziehen und erst recht nicht sympathisch finden. Daher resultiert vermutlich auch die geringe Beachtung, welche der Erzählung bei ihrem ersten Erscheinen im sozialistischen Ungarn des Jahres 1963 entgegengebracht wurde. So gar nichts spricht bei Rubin vom Ideal des werktätigen Helden, der aktiv den Sozialismus aufbaut. Dafür wird überdeutlich, dass die politischen Veränderungen das Leben der Menschen nur dahingehend beeinflusst, dass man versucht, die alten Strukturen von Macht und Besitz auf einer anderen Ebene wieder herzustellen und das jeder Mensch wie zu allen Zeiten bestrebt ist, sich ein Stück vom Kuchen abzuschneiden. Es ist eine Zeit, in der sich Menschen bis zur Unkenntlichkeit verbiegen und mit dem Erreichten am Ende um diesen hohen Preis doch nicht zufrieden sein können.

Rubins Erzählstil wechselt zwischen minutiös genauen Beschreibungen und großen Zeitsprüngen, welche der Leser mit Handlungsbruchstücken, Vermutungen und Rückschlüssen aus den Worten Dritter selbst füllen muss. Träume und Gedankenfetzen bremsen dabei den Lesefluss und jeder Satz muss auf seine Bedeutung hin abgeklopft werden. So wirkt bereits der Titel nicht nur altersweise, sondern auch ironisch. Das Oxymoron verdeutlicht die Absurdität der Liebe: für Orsolya ist die Liebe nicht ewig, auch wenn sie noch so lange daran festzuhalten versucht. Für Attila ist die Ewigkeit nicht kurz; wie ein Echo klingt die Liebe aus der Vergangenheit herauf, wenn er sich im letzten Teil des Romans des Erlebten erinnert. Und von der Wortanzahl her kurz ist die Geschichte auch nur, weil der Autor sich zu beschränken weiß. Was hier auf 220 Seiten passt, hätte bei einem anderen als dem klaren, schnörkellosen Erzählstil Rubins leicht episches Format einnehmen können, ohne dass mehr gesagt worden wäre. Die Literaturwissenschaft hält das Werk des 1927 geborenen Budapesters für einen der wichtigsten Romane der ungarischen Gegenwartsliteratur. Dank des |Rowohlt|-Verlags ist es nun möglich, sich auch als deutscher Leser eine Meinung darüber zu bilden.

|Originaltitel: Csirkejáték
Übersetzung: Andrea Ikker
220 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3871346316|
http://www.rowohlt.de

Barbery, Muriel – Eleganz des Igels, Die

Sind Igel elegant? Diese Frage stellt sich unweigerlich, wenn man den Roman „Die Eleganz des Igels“ von Muriel Barbery in die Hände bekommt. Eigentlich assoziiert man mit den stacheligen Tierchen nicht unbedingt Grazie, aber die französische Schriftstellerin zeigt in ihrer leichtfüßigen Geschichte, dass der Igel mehr kann als im Garten herum zu lungern. Zum Beispiel als gelungene Metapher dienen …

Die Geschichte spielt aus der Sicht zweier Hauptpersonen. Die eine ist die zynische, ältere Concierge Renée, die sich autodidaktisch gebildet hat. Sie ist unglaublich belesen und kennt sich auch mit Filmen sehr gut aus. Doch davon weiß niemand, denn in dem Glauben, dass sich Bildung für eine Concierge nicht ziemt, versteckt sie ihr Wissen hinter einer Schutzschicht aus sorgfältig zurechtgelegten Klischees. Nur ihr Kater Leo und ihre Freundin, die portugiesische Putzfrau Manuela, wissen von ihrer Brilianz.

In dem teuren Haus, das Renée betreut, wohnt die zwölfjährige Paloma, ein hochintelligentes, sehr nachdenkliches Mädchen. Es fällt ihr schwer, sich in die Gesellschaft einzufügen und sie verbringt die meiste Zeit damit, über das Leben nachzugrübeln und sowohl ihre wohlhabenden Eltern und ihr Gebaren als auch ihre oberflächliche große Schwester Colombe zu verachten. Weil sie nicht das Gefühl hat, dass das Leben etwas für sie zu bieten hat, hat sie sich vorgenommen, sich an ihrem 13. Geburtstag umzubringen. Vorher sucht sie jedoch nach etwas, das ihr vielleicht doch einen Grund gibt, um am Leben zu bleiben. Also studiert sie die Menschen um sich herum noch intensiver. Allerdings sieht es nicht so aus, dass das was bringt.

Doch dann zieht der Japaner Monsieur Ozu in das Haus ein und plötzlich steht die Welt der beiden unterschiedlichen Protagonisten, die sich noch gar nicht kennen, Kopf. Während Paloma von Anfang an ein brennendes Interesse an Monsieur Ozu zeigt, weil sie die japanische Kultur verehrt, stellt Renée sich anfangs so dumm wie immer. Doch bald merkt Monsieur Ozu, dass Renée keineswegs die unbedarfte Concierge ist, für die sie sich gibt …

Barbery gelingt das Kunststück, ein Buch mit wenig Handlung so zu erzählen, dass man es nicht aus der Hand legen möchte. Etwas Geduld muss man dafür allerdings mitbringen, denn die Autorin macht es ihren Lesern nicht immer leicht. Auch wenn ab der Mitte etwas mehr Aktion in die Handlung kommt, dreht sich das Buch zum Großteil um die Beobachtungen und Gedanken der Hauptpersonen. Diese steckt die Autorin in ein Korsett aus gehobener Sprache und ausdrucksstarken Stilmitteln. Ihre Beobachtungen sind auf den Punkt gebracht und regen zum Nachdenken an. Ab und zu fällt es schwer, den beiden Frauen zu folgen, doch daraus entsteht dem Leser kein Nachteil. Die wichtigen Stellen, vor allem in der Handlung, sind verständlich. Insgesamt hält die Autorin ein gutes Gleichgewicht zwischen den einfacheren Beschreibungen und den komplexeren Gedankengängen von Renée und Paloma.

Dadurch, dass sie aus der Ich-Perspektive der beiden schreibt, kommt der Leser den Protagonisten sehr nahe. Sie sind leicht zugänglich, da die Autorin sie letztendlich um ihre Haupteigenschaften herum aufbaut. Während Renée frustriert ist, weil sie ihre Bildung verstecken muss (obwohl sie sich dies selbst auferlegt hat), fühlt sich Paloma verloren und missverstanden. Diese beiden Attribute weiß Barbery sehr eindringlich darzustellen. Die beiden wachsen einem ans Herzen und ihre positive Entwicklung, die mit dem Auftreten von Monsieur Ozu in Gang kommt, ist geradezu eine Erleichterung. Palomas Verzweiflung und Renées Zynismus verschwinden, Unsicherheiten kommen ans Tageslicht. Die Autorin gibt ihren Personen Raum, sich zu entwickeln, was sie nur noch liebenswerter und authentischer macht und dem Buch, wie Le Figaro auf dem Buchrücken angibt, tatsächlich einen Hauch „modernes Märchen“ verpasst.

„Die Eleganz des Igels“ ist ein wunderbares, nicht immer ganz einfach zu lesendes Buch. Es regt zum Nachdenken an und glänzt durch ausgefallene Gedankengänge und die tollen Personen. Und die sprachliche Brillianz: Der Vergleich Renées mit einem kleinen, braunen Stacheltier bringt das Wesen der Concierge mit wenigen, kongenialen Worten auf den Punkt.

|Originaltitel:| L’Élégance du hérisson|
Aus dem Französischen von Gabriela Zehnder
364 Seiten, Taschenbuch
ISBN-13: 978-3423138147|

http://www.dtv.de

Filz, Sylvia – Überraschung, mein Schatz!

Für Hanna Windt heißt es Abschied nehmen – Abschied von ihrem geliebten Rheinland und ihrem bisherigen Leben. Doch dafür wartet ein ganz neuer Lebensabschnitt auf sie: Ein gemeinsames Leben mit ihrem Traummann Nils Hansen in der Nähe von Hamburg. Nach dem romantischen Heiratsantrag an Heilig Abend und Hannas Plänen für einen Onlineversand steht einer glücklichen und erfolgreichen Zukunft in Norddeutschland nichts mehr im Wege – oder doch? Denn sie hat die Rechnung ohne ihren Exfreund Reinhold gemacht. Der will seine Ex mit einem ziemlich unverschämten Brief nämlich zurück gewinnen. Aber zu seinem Unglück ruft dies Hanna und ihre Freunde auf den Plan, die dem unsympathischen Unhold einen Denkzettel verpassen, den er nicht mehr vergessen dürfte …

Hanna und Nils stehen dagegen aufregende Zeiten ins Haus, gilt es doch, eine romantische Hochzeit vorzubereiten. Als Hannas beste Freundin Regine verkündet, dass sie ebenfalls heiraten will, steht schnell fest, dass die beiden Freundinnen eine Doppelhochzeit feiern wollen. Und so begeben sie sich gemeinsam auf die Suche nach dem perfekten Brautkleid – und werden schnell fündig. Auch wenn Regine vorher gezögert hatte, so verliebt sie sich nun doch in ein elegantes und aufwändiges weißes Brautkleid, das darüber hinaus perfekt zu Hannas Kleid passt. Perfekt sind allerdings nicht nur die Kleider, sondern auch die Feier und vor allem Nils Hochzeitsgeschenk für seine geliebte Frau. Denn mit dieser Überraschung hatte sie wahrlich nicht gerechnet! Aber mit der Hochzeit allein ist es nicht genug, wartet doch noch eine viel größere Überraschung auf Hanna und Nils …

_Schönes Landleben_

Aus der Stadtfrau Hanna wird dank Nils schnell eine perfekte Landfrau. Er nimmt Hanna mit zu seinen Einsätzen als Tierarzt und hilft ihr, kleine Fettnäpfe zu umschiffen, sodass sie schnell die Sympathien ihrer Mitmenschen gewinnt. Auch für Nils‘ Job und seine eigenwilligen Arbeitszeiten hat sie Verständnis, erobern die Tiere doch sehr schnell ihr Herz. Ihre Liebe zu den Tieren geht so weit, dass sie die Kastration eines Hengstes nicht so gut übersteht, wie sie das vorher gedacht hatte … Die Tiere haben es ihr einfach angetan – nicht nur die Hunde und Katzen, sondern auch ein Wildschweinfrischling, den Nils im Wald gefunden hat. Mit viel Liebe und unter Aufopferung ihres nächtlichen Schlafes pflegt und füttert Hanna den Frischling, der sich bei den Hansens so wohl fühlt, dass er sie gar nicht mehr verlassen will. Auch in diesem zweiten Roman rund um Hanna und Nils nehmen die Tiere wieder einmal viel Raum ein.

Auch Omi Spitzer kommt nicht zu kurz, selbst wenn sie nicht mehr im Mittelpunkt steht wie noch in Sylvia Filz‘ Erstlingsroman „Kirschklößchen“. Einige Geschichten aus Omi Spitzers Leben blieben bislang unerzählt, und so erfahren wir auch in dieser Fortsetzung noch einiges aus Omis Vergangenheit. Leider ist Omi nach ihrem Schlaganfall nicht mehr so fit wie noch im Rheinland, ihre große Lebenserfahrung sorgt aber dafür, dass sie immer ein deutlich besseres Gespür für die zwischenmenschlichen Dinge hat als alle anderen. Und auch im hohen Norden besucht Hanna ihre Omi regelmäßig, um mit der alten Dame zu klönen und ein oder auch zwei Gläschen Stonsdorfer mit ihr zu trinken. Diese Treffen haben nicht nur für Hanna eine große Bedeutung, sondern auch für den Leser, der Omi Spitzer ins Herz geschlossen hat.

Im Mittelpunkt stehen aber ganz klar Hanna und Nils, die sich ihr eigenes Leben aufbauen und sich ihr Glück auch von ihren verflossenen Liebschaften nicht madig machen lassen. Diese tauchen nämlich immer genau im falschen Moment auf. So haben Hanna und Nils einige turbulente Ereignisse zu überstehen, und auch in den Flitterwochen geht nicht alles glatt, als auf einmal ihre Zimmerbuchung nicht mehr auffindbar ist. Doch die Liebe hält die beiden zusammen und lenkt ihr Leben in die richtigen Bahnen. Auf dem platten Land lernen wir Hanna nun von einer ganz neuen Seite kennen, so kann sie nicht nur ihre Tierliebe ausleben, sondern gewinnt sukzessive Selbstbewusstsein hinzu, das ihr Reinhold komplett geraubt hatte. Sie wird zu einer immer stärkeren und ausgeglicheneren Frau – eine Entwicklung, die mir sehr gut gefallen hat.

Sylvia Filz erzählt eine Geschichte, die aus dem Leben gegriffen ist. Ihre Charaktere sind absolut authentisch und werden bei der Lektüre zu guten Freunden. Ich hatte mich schon lange vorher auf ein Wiedersehen mit Hanna, Nils und Konsorten gefreut. Glücklicherweise hat uns die Autorin nicht lange warten lassen. Die Geschichte in „Überraschung, mein Schatz!“ knüpft genau dort an, wo „Kirschklößchen“ aufgehört hat. Und um ihren Lesern den Einstieg zu erleichtern, fasst Sylvia Filz zu Beginn nochmal die wichtigsten Ereignisse aus ihrem Debütroman zusammen, sodass man sogar direkt in den zweiten Teil einsteigen könnte.

Im vorliegenden Buch bauen sich Hanna und Nils nun endlich ihr eigenes Leben auf, sie heiraten und leben glücklich mit all ihren Tieren zusammen. Herzerfrischend und detailreich beschreibt Sylvia Filz all die schönen Ereignisse aus ihrem Leben – sei es der Kauf des perfekten Brautkleides oder auch die Traumhochzeit selbst. Stets schildert sie alles so genau, dass man sich mitten im Geschehen wiederfindet und sich alles perfekt vorstellen kann. Ich hatte Hanna und Regine als Bräute direkt vor Augen und konnte ihre Aufregung bei der Brautkleidsuche ganz genau nachempfinden. Sylvia Filz‘ lebendiger Schreibstil ist es, der dem Buch Tempo verleiht und die Charaktere zu guten Freunden werden lässt. So sind die nur 160 Seiten leider viel zu schnell durchgelesen. Doch trotz des geringen Umfangs überschlagen sich mitunter die Ereignisse. Auch am Buchende hält Sylvia Filz nochmal eine Überraschung für uns bereit, die sogleich den Wunsch nach einer Fortsetzung aufkommen lässt.

„Überraschung, mein Schatz“ setzt wunderbar die Geschichte aus [„Kirschklößchen“ 5708 fort und erfüllt alle Erwartungen. Wer schon Sylvia Filz‘ Erstlingsroman verschlungen hat, sollte unbedingt auch zur Fortsetzung greifen und sich von der Autorin aufs platte Land entführen lassen.

|Taschenbuch: 160 Seiten
ISBN-13: 978-3837085938|

Rudd, Matt – Junggesellenabschied, Der

_Inhalt_

William Walker ist selig: Er hat seine Traumfrau geheiratet, Isabel. Sie ist hübsch, witzig, spontan, und mit ihr ergab zum ersten Mal alles einen Sinn. Sie ist anders als alle seine vorherigen Freundinnen, und so heiratete William sie, obwohl er erst neunundzwanzig ist und nicht vor zweiunddreißig heiraten wollte.

Alles könnte so wundervoll sein – wenn da nicht Alex wäre, Isabels bester Freund. Alex ist ein schnöseliger Widerling, der Isabel „Izzy-Süße“ nennt und andauernd an ihr klebt. Und Isabel, die sonst so verständig ist, will einfach nicht einsehen, dass der Typ in ihre Freundschaft mehr hineininterpretiert. Zähneknirschend hat William zugestimmt, dass Alex die Braut abholen und zur Kirche bringen darf, und der fährt mit einer Kutsche vor. Gezogen von vier Schimmeln, natürlich. Dann singt er auf der Feier „I will always love you“.

Es ist ein Wehrmutstropfen für William, dass er sich mit Alex abfinden muss. Auch beginnt Isabel plötzlich nicht eben subtil, an ihm herumzuerziehen – nur zu seinem Besten, selbstredend. Alles in allem überwiegen aber natürlich die Freuden der Ehe.

Gut, es gibt ärgerliche Kleinigkeiten, etwa im Job oder mit den besten Freunden. Auch die Besuche im Fitnessstudio verlaufen eher deprimierend. Aber eigentlich läuft im Großen und Ganzen alles super, bis sich plötzlich Saskia, die Beziehungszerstörerin, meldet.

Saskia hat ihren Beinamen bekommen, weil William während seiner letzten Beziehung vor Isabel eine Affäre mit ihr hatte. Die Affäre hatte er, weil er nicht glücklich war, und es war lediglich eine Affäre, weil Saskia und er nichts miteinander gemein hatten.

Saskia verfügt über unglaubliche Kurven, eine ausgeprägte Abneigung gegen Kleidung und das Wort „nein“. Und neuerdings verfügt sie – oh Schreck! – über die Wohnung unter der von William und Isabel.

Da hilft nur der Umzug, fort aus der Stadt, hinaus aufs Land. Aber im Zeitalter der Telekommunikation ist es unmöglich, Leuten für immer aus dem Weg zu gehen, zumal Isabel das im Falle des dreimal verfluchten Alex nicht einmal möchte.

Während er tapfer gegen den vermeintlich normalen Unbill des Alltags kämpft, schwant William langsam, dass irgendetwas ganz und gar nicht normal läuft. Hat er Recht, ist er das Opfer einer unglaublichen Verschwörung? Oder hat Isabel Recht und er dreht durch? Fragen, die die junge Ehe auf den Prüfstand stellen …

_Kritik_

„Junggesellenabschied“ ist ein fröhlicher, seichter kleiner Klamauk. Stilistisch erinnert es ein wenig an „Come together“ von Emlyn Rees und Josie Lloyd, nur, dass hier natürlich die weibliche Sicht auf die Dinge fehlt.

Der Stil ist dem Thema angemessen schlicht und schnell, es sind vorwiegend kurze Sätze, mit denen die Geschichte erzählt wird. Auch die Kapitel sind kurz und knapp gehalten, Beschreibungen des allgemeinen Zustandes wechseln sich ab mit kurzen, quasiphilosophischen Anschauungen über das Leben, die Frauen, die Freunde und die Feinde.

Wer Anspruch sucht, ist hier völlig falsch. Allerdings ist „Junggesellenabschied“ ein teilweise boshafter Spaß, und zur Entspannung (auch der Gehirnzellen) hervorragend geeignet. Als kleines Bonbon ist den „Hauptkapiteln“, die nach den Monaten des geschilderten ersten Ehejahres benannt sind, Zitate zur Ehe vorangestellt, die aus den verschiedensten Ecken zusammengetragen worden sind und teilweise ehrliches Amüsement hervorrufen.

_Fazit_

Hin und wieder muss man respektive frau sich kichernd eingestehen, dass die Geschichte nicht allzu weit an der Realität vorbei klamaukt, aber vieles ist natürlich völlig überzogen. Jede Menge Klischees werden angehäuft und wirken in der Überzeichnung lustig. Wahrscheinlich verfilmt man das Buch irgendwann mit Leuten aus dem American-Pie-Team.

Aber, Jungs: Wer von euch gerade mit sich ringt, ob er den großen Schritt in die Ehe wagen sollte oder nicht, der sollte die Finger von dem Roman lassen. Selbst auf mich als Frau wirkten Isabels Erziehungsversuche abschreckend.

|Origialtitel: William Walkers first year of marriage
Broschiert: 361 Seiten
Aus dem Englischen von Julia Walther
ISBN-13: 978-3499252419|
http://www.mattrudd.co.uk
http://www.rowohlt.de

Frey, James – Strahlend schöner Morgen

Los Angeles – jeder kennt die Stadt im Südwesten Amerikas, gilt sie doch schon lange als Mekka der Kunst, vor allem des Films. Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Wo sich Hollywoodvillen von berühmten Filmstars finden, finden sich auch Armutsviertel und gescheiterte Schauspieler. Der New Yorker Autor James Frey hat sich dieser Problematik angenommen und zeichnet in seinem Roman „Strahlend schöner Morgen“ ein Bild der Metropole Los Angeles, das diese Stadt in all ihren Facetten abbilden möchte.

Er benutzt dafür ein ungewöhnliches Vorgehen und mischt in seiner Geschichte Anteile von Dokumentation und Belletristik. Die einzelnen Kapitel werden nicht durch Überschriften abgetrennt, sondern mit kurzen Fakten über die Stadt, beginnend bei deren Gründung 1781. Daneben gibt es Kapitel, die sich nur auf Fakten beziehen, zum Beispiel die Aufzählung einzelner Gangs in Los Angeles, lustige und traurige Fakten über die Stadt, eine Zeittafel mit Naturkatastrophen.

Weite Teile des Buches werden jedoch von fiktionalen Personen bestimmt, die in Los Angeles leben und mit den dortigen Gegebenheiten konfrontiert werden. Einige dieser Personen haben nur einen Auftritt und verbleiben damit entsprechend anonym, andere begleiten den Leser bis zum Ende der Geschichte. Frey legt dabei eine große Bandbreite an den Tag. Da sind zum Beispiel Dylan und Mandy, zwei Kleinstadtteenager, die in L.A. ihr Glück versuchen; der Obdachlose Old Man Joe, der versucht, ein junges Mädchen vor ihren Zuhältern zu bewahren; Amberton Parker, ein arroganter Schauspieler, der seine Homosexualität verbirgt, um weiterhin der Star in Actionfilmen sein zu können; Esperanza, Tochter mexikanischer Einwanderer, die ihren Unterhalt als Putzfrau bei einer exzentrischen alten Dame verdient. Sämtliche dieser Erzählelemente betonen den Unterschied zwischen Arm und Reich, der in L.A. besonders drastisch zu sein scheint. Frey erzählt davon, was es heißt, in einer Stadt mit hoher Kriminalität zu leben, wie Existenzen dort zerstört werden, aber auch, wie manchmal kleine Wunder geschehen.

Eines ist klar: Nach diesem Parforceritt durch Los Angeles weiß man mehr über diese Stadt, als Hollywood einem jemals vermitteln kann. James Frey serviert seinen Lesern die ungeschminkte Wahrheit, aber er verurteilt nicht. Im Gegenteil stellt er die Personen, selbst die, die mit offensichtlicher Naivität nach L.A. kommen, sehr menschlich dar. Das Buch besteht eigentlich ausschließlich aus Personen. Es sind so viele, dass es manchmal schwer fällt, den Überblick zu behalten. Doch da nur wenige wiederholt vorkommen, gewöhnt man sich schnell an Freys Vorgehen. Er möchte keine wirkliche Handlung erzählen, sondern die Stadt der Engel so vielfältig wie möglich darstellen. Das ist ihm gelungen. Auch wenn es schwer fällt, als Laie die einzelnen Stadtteile und Informationen zu einem Ganzen zu fügen, bekommt man doch eine Ahnung davon, wie riesig und unübersichtlich L.A. sein muss – und wie es dort aussieht.

Ob man die Muße hat, ein fast 600 Seiten starkes Buch ohne Handlung zu lesen, nur um einer amerikanischen Stadt näher zu kommen, bleibt jedem selbst überlassen. Es ist das Erlebnis wert, denn neben einer Armada an Informationen, Eindrücken und Personen ist „Strahlend schöner Morgen“ auch handwerklich sehr gut gemacht. Da ist zum einen der Wechsel zwischen Fiktion und Non-Fiktion, zwischen bekannten Gesichtern und solchen, die nur einen kurzen Auftritt haben. Selbst diese verbleiben im Gedächtnis. Häufig wirken sie wie typische L.A.-Klischees – der gefallene Schauspieler, der als Kellner seinen Lebensunterhalt verdient; die Kleinstadtschönheitskönigin, die ihr Geld als Pornodarstellerin verdient; der Mann, der schon im Kindesalter in eine der Gangs aufgenommen worden ist – aber Frey schafft es, ihnen mithilfe seiner nüchternen Darstellungsweise und seines Wissens, das er während seiner Zeit in L.A. angesammelt hat, Authentizität einzuhauchen.

Bewundernswert dabei ist, dass Frey zwar durchgehend beinahe schon sachlich bleibt, seinen Schreibstil aber trotzdem auf die einzelnen Figuren, die er wiederholt einsetzt, anpasst. Eine Esperanza berichtet wesentlich verletzlicher und mit blumigerem Vokabular als zum Beispiel das Kleinstadtpärchen, dessen Erzählweise so grau und unscheinbar ist wie ihre Existenz. Sehr gelungen ist dabei vor allem die Perspektive um Amberton Park, den heimlich homosexuellen Schauspieler, der in einer Scheinehe lebt. Seine Sprache ist genauso abgehoben und gekünstelt wie sein ganzes Gehabe und eine wunderbare Persiflage auf die Schicht der reichen Leute.

Alles in allem hat James Frey ein bewundernswert umfangreiches und stilistisch gelungenes Buch geschrieben. „Strahlend schöner Morgen“ ist anders als vieles, was sich momentan in den Bestsellerlisten tummelt, und genau das macht den Reiz des Romans aus.

|Originaltitel: |Bright Shiny Morning|
Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens
590 Seiten, Gebunden
ISBN-13: 978-3550087677|

http://www.ullstein.de

Hutchinson, Andrew – Rohypnol

Rohypnol, die „Vergewaltigungsdroge“, ist ein gern gesehener Aufreger in gewissen Boulevardzeitungen. Das auch als Flunitrazepam oder Roofies bekannte Medikament ist eigentlich ein Schlafmittel, wird aber auch als Droge benutzt. Da es in Kombination mit Alkohol zu Gedächtnislücken führen kann und die User mehr oder weniger willenlos macht, gibt es immer häufiger Fälle, in denen junge Mädchen mit Rohypnol betäubt und anschließend vergewaltigt werden. Am nächsten Tag wissen sie nicht mehr, was mit ihnen passiert ist, so dass eine strafrechtliche Verfolgung schwierig ist.

_Der Australier_ Andrew Hutchinson beschreibt in seinem Debütroman „Rohypnol“ das Horrorszenario einer Jungenbande, die sich ihren Kick holt, indem sie Mädchen mit Roofies gefügig machen und dann brutal vergewaltigen. Sein Verdienst ist, dass er das Buch nicht zu einer einzigen Brutalo-Nummer verkommen lässt, sondern auch einen Blick hinter die Kulissen, in die Gehirne der Vergewaltiger, zulässt.

_Der namenlose Ich-Erzähler_ wird von seinen Eltern auf eine teure Privatschule geschickt, in der Hoffnung, dass sich dort seine Noten und sein Benehmen bessern. Doch das Gegenteil ist der Fall. Bereits nach kurzer Zeit freundet er sich mit dem cleveren Thorley an, der in seinem Appartement ein Drogenlabor betreibt und einen Kopf voller blöder Ideen hat. Einen ersten Vorgeschmack bekommt der Ich-Erzähler, als Thorley ihm vorschlägt, die Chemielehrerin Mrs. Arthur, die mit ihrem sadistischen Englischlehrer verheiratet ist, zu verführen, um Mr. Arthur einen Dämpfer zu verpassen.

Der Ich-Erzähler ist fasziniert von Thorleys Unerschrockenheit und Skrupellosigkeit. Er schließt sich dem seltsamen Jungen an und beginnt zusammen mit den anderen Mitgliedern von Thorleys Gang nachts durch die Clubs zu ziehen. Von seinen Eltern entfremdet er sich immer mehr. Seinen hart arbeitenden Vater bekommt er kaum noch zu Gesicht, seine Mutter spricht er nur noch am Telefon. Bald zieht er ganz bei Thorley ein und sucht seinen Kick mithilfe von Pillen, Alkohol und den regelmäßigen Vergewaltigungen. Bis Troy, der Anabolikaprotz in der Truppe, eines Tages Mist baut …

_Reiche, gelangweilte Kids_, die ihre Zeit mit Drogen, Gewalt und Sex totschlagen – wirklich neu ist Hutchinsons Idee nicht. Er schlägt in die gleiche Kerbe wie Bret Easton Ellis mit „Unter Null“ oder Nick McDonell mit „Zwölf“. Während des Lesens hat man häufig das Gefühl, etwas ähnliches schon einmal in einem anderen Buch gesehen zu haben. Das Rohypnol fügt der Geschichte zwar noch eine krassere Nuance hinzu, weil es nicht nur um Selbstzerstörung mit Hilfe von Drogen geht, sondern auch um rohe Gewalt, aber das kann über Mängel in der Umsetzung nicht hinweg täuschen.

Der Roman ist geprägt durch Zeitsprünge, kurze Kapitel und kryptische Andeutungen, die später aufgeschlüsselt werden. Dass dabei keine Spannung aufkommt, hängt damit zusammen, dass die Handlung selbst nicht besonders interessant ist. Sie lebt nicht durch Aktion, sondern durch die Beschreibung seltsamer Drogenerlebnisse, brutaler Schlägereien und natürlich der Vergewaltigungen, die vorher taktisch geplant werden. Um das Bild einer völlig unmoralischen Jugend zu zeichnen reicht dieses Vorgehen, aber für eine spannende Geschichte nicht.

Dabei zeigt Hutchinson durchaus, dass er das Zeug zu einem wirklich guten Autor hätte. Sein Schreibstil ist dicht und flüssig, manchmal schockierend offen, häufig schmerzhaft gefühllos. Er schafft es, die widersprüchlichen Gefühle seiner Hauptperson gut zu transportieren. Seine Dialoge wirken authentisch, die Beschreibungen der Abenteuer der Gang sind nachvollziehbar. Der Tonfall ist flapsig, da aus der Ich-Perspektive erzählt wird, aber er ist nicht nachlässig. Im Gegenteil verleiht er dem Buch Aktualität und auch Authentizität.

Der Ich-Erzähler selbst ist nicht der strahlende Stern in der Gang, sondern lange Zeit hauptsächlich ein Mitläufer. Verwirrend ist, dass in die eigentliche Geschichte Sequenzen aus der Gegenwart eingeflochten sind, in denen der Erzähler behauptet, ein schlechter Mensch zu sein. Nun wird das in der Handlung aber nicht wirklich ersichtlich, frühestens am Schluss. Diese Abschnitte wirken deshalb merkwürdig überzogen. Auch eingestreute Textstücke, die mehr wie Songtexte wütender Punksongs wirken, sind etwas deplatziert. In der Summe ist es schwierig, den Erzähler in seiner Persönlichkeit zu erfassen. Das macht ihn auf der anderen Seite interessant und führt dazu, dass man das Buch vielleicht ein zweites Mal liest, um ihn besser zu verstehen. Auf der anderen Seite hat man aber auch das Gefühl, dass der Autor sich selbst nicht so ganz sicher war, wie er seinen Erzähler eigentlich gestalten will.

_Andrew Hutchinson_ hatte mit diesem Buch gute Intentionen, wie er sie in einem Nachwort veranschaulicht. Allerdings hakt es bei der Ausarbeitung. „Rohypnol“ bietet schlicht und ergreifend nur wenig Neues in diesem Genre. Der Schreibstil ist zwar gut, aber die Handlung und auch die Figur des Erzählers sind verbesserungswürdig.

|Originaltitel: Rohypnol
Aus dem Englischen von Simone Salitter und Gunter Blank
287 Seiten, Taschenbuch
ISBN-13: 978-3-453-67567-4|
http://www.heyne-hardcore.de
[„Myspace-Seite des Autors“]http://www.myspace.com/hutchinsona