Nils Westerboer – Lyneham

Dieser Titel wurde, kaum erschienen, bereits für die Longlist des „Phantastikpreis der Stadt Wetzlar 2025“ nominiert. Grund genug, ihn näher unter die Lupe zu nehmen. Der Verlag beschreibt ihn so:

Henry Meadows wird zwölf, als die Erde stirbt. Mit seinem Vater und seinen Geschwistern reist er nach Perm, einem urzeitlichen Mond in einem fernen Sonnensystem. Henrys Mutter ist mit einem anderen Raumschiff geflogen. Sie wird von der Familie sehnsüchtig erwartet. Doch plötzlich mehren sich die Zeichen: Sie ist schon hier gewesen, vor langer Zeit. Und sie hat eine Warnung hinterlassen.
Mit Hightech trotzt die erste und einzige Kolonie der Menschheit der Natur des Mondes Perm, die faszinierend und bedrohlich zugleich ist. Hier gibt es Berge, die in den Weltraum ragen, zwei Arten von Nächten und eine gefährliche, unsichtbare Tierwelt. Als Henry ankommt, ist die neue Heimat noch nicht „fertig“: Die Atmosphäre ist giftig und enthält zu wenig Sauerstoff, ohne Schutz ist ein Aufenthalt im Freien tödlich. Irgendetwas hat das Terraforming Perms verhindert. Henrys Mutter Mildred kennt den Grund. Die Wissenschaftlerin hat sich entschieden, nicht mit ihren Kindern zu fliegen, sondern einen neuen Antrieb abzuwarten, mit dem sie ihre Familie um Jahrtausende überholt. Sie will für die bestmögliche aller Welten sorgen. Dazu legt sie sich mit dem mächtigen Leiter des Unternehmens an, der ein anderes Ziel verfolgt. Ein Kampf entbrennt, der über das Leben von Henry und seiner Familie entscheiden wird – viele tausend Jahre später.

(Verlagsinfo)

So die Prämisse. Klingt zunächst komplex und verwirrend, jedoch können wir uns noch an den preisgekrönten Athos 2643 erinnern, den letzten Roman des Autors, der auf überraschende Weise super unterhaltsam und detailiert Sachverhalte und Funktionsweisen von KI thematisierte. Also frohgemut heran, und eingetaucht in die Geschichte.

Zunächst noch etwas zum Autor. Die Verlagshomepage weiß zu berichten:

Nils Westerboer, geboren 1978, war nach der Schule in Israel tätig, unter anderem als Betreuer für Menschen mit Behinderung, Hausmeister und Trainer für Sprengstoffsuchhunde. Anschließend studierte er Germanistik, Theologie und Medienwissenschaften in München und Jena. Als Naturfilm-Kameraassistent ging er für ZDF, NDR und arte auf Tuchfühlung mit Hornissen, Wölfen und Vampiren. Seit 2012 unterrichtet er an einer Gemeinschaftsschule. Sein Debüt »Kernschatten« wurde für den Deutschen Science-Fiction-Preis 2015 nominiert. Zuletzt erschien in der Hobbit-Presse sein Buch »Athos 2643«, das mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis 2023 ausgezeichnet wurde.
(Verlagsinfo)

Alternativ kann man unter nilswesterboer.de weiter über den Autor informiert werden, unter anderem auch über die Schaffung von Titelbildern und die Ideenfindung mittels Küchenlabor.

Einprägsam prangt auf der Startseite ein Zitat aus einer Besprechung des vorliegenden Romans, und der Verfasser ist tatsächlich geschickt in der Wortwahl und vermittelt so einen wesentlichen persönlichen Eindruck des Gesamtwerks. Wir nähern uns der Geschichte mal von der Mitte her:

Man ist auf dem fernen Mond gelandet, die ersten Hürden sind genommen. Es zeigt sich, dass das Terraforming nicht planmäßig abgeschlossen wurde, und, dass entgegen aller Voraussicht die einheimische Fauna teils durchaus etwas gegen fremdes Leben einzuwenden hat. Also leben die Neuankömmlinge in Habitaten und versuchen sich, angeleitet und betreut von KI-gesteuerten Kunstwesen wie z.B. ein medizinisches Gerät oder ein alter Riesenbohrer, an der Erschaffung eines utopischen Politiksystems, einer Akratie, einer tatsächlichen Nicht-Herrschaft. Dies bedingt auch die Gleichverteilung der Ressourcen sowie die Gleichverfügbarkeit der technischen Möglichkeiten. Und was anfangs wie ein Traum klingt, zeigt schon bald sowohl Schwächen als auch Einschränkungen. Denn nicht nur die unglaubliche Fauna der Welt ist gegen die Menschen, sondern es gibt auch eine unkontrollierbare Anomalie, die, von exothermer Energie angezogen (man bezeichnet es hier als Entropie), jegliche nicht ausreichend abgeschirmte technische Anlage erfasst und zerstört.

Das Buch hat so um die 450 Seiten und birgt einen Haufen Physik und Biologie, Soziologie, Politik. Um all dies anschaulich und interessant aufzubereiten, wählt der Autor eine Gruppe von Kindern als Protagonisten und lässt sie mit Hilfe von KI-Lernsystemen und ihren persönlichen Beziehungen dazu Dinge des Lebens und der theoretischen Problematik in Frage stellen. Toll zum Beispiel die unterschiedlichen Figuren, die mit ihren unterschiedlichen Herangehensweisen Probleme von verschiedenen Seiten beleuchten lassen oder Fragen aufwerfen, die wir gar nicht auf dem Schirm hatten oder, wenn doch, niemandem stellen können als Lesende.

So vermittelt Westerboer uns nach und nach eine Theorie des Lebens und des Universums, was ja durchaus ein unvorstellbar umfassendes Thema ist. Ich empfand auch die Soziologie der kleinen Gruppe als humorvoll und wirkungsvoll aufgearbeiteten Teil des Romans, und so kam ich auch nicht umhin, dem alten Bohrkopf mit der Strickjacke einer verstorbenen Frau meine Sympathie entgegen zu bringen.

Die erzählende Hauptfigur ist an sich eine völlig normale Person mit ihren Schwächen und Stärken. Sie ist nicht gerade der Toppsympathieträger, aber sie sammelt die Ereignisse und erzählt die Geschichte, und als etwas abseits stehende Figur hat sie auch Zugriff auf die Schlüsselmomente, auch wenn die kindliche Intelligenz der jüngeren Schwester soo super sympathisch und liebenswert ist, dass ich eigentlich mehr in ihrer Nähe bleiben wollte. Die Dialoge zwischen den Kindern und den Lehrsystemen sind immer wieder erquickend humorvoll und erhellend. Westerboer nutzt hier aus meiner Sicht unglaublich simple Beispiele, um die kompliziertesten physikalischen Sachverhalte darzustellen, so dass stets auch eine augenzwinkernde Note mitschwingt.

Stilistisch funktioniert der Roman natürlich nur, weil für die Lesenden einschubartige Erlebnisse der tiefen Vergangenheit, nämlich aus der Zeit der Ankunft der Mutter auf dieser Mond-Welt, dargestellt werden. So können wir die Dinge verknüpfen und erfahren Motive der Antagonisten und Rätsel der Handlungsgegenwart über diesen Umweg. Und auch wenn man selbst diese Mutter nicht gehabt haben möchte, ist sie doch insgesamt eine zutiefst liebende Mutter mit einem Problem, das zu lösen ihre Absolute Trennung von ihrer Familie fordert. Und am Ende hebt der Autor all die Rätsel und Motivationen für die Aufklärung noch einmal auf eine nächste Stufe.

Ein Manko an dem Buch betrifft leider die Verlagstätigkeit. Es mangelt nicht an schriftlichen Fehlern, sondern vor allem am Korrektorat. Doppelte Wörter, Auslassungen, Verdrehungen im Satzbau … Die Liste ist lang und auffällig. Das hat es gerade bei Klett-Cotta und der Hobbit-Presse früher nicht gegeben.

Insgesamt muss ich aber zugeben, dass dies das beste Buch ist, das ich seit langem gelesen habe. Die Erzähldichte ist enorm, keine Ausschweifungen, tolle Figuren, tolle Sprache. Eine faszinierende Ideenvielfalt gepaart mit einer super interessanten Geschichte. Demnach zurecht für einen Preis nominiert, und es gehört nicht viel Prophetismus dazu, dieses Buch auf weiteren deutschen Preislisten zu erwarten. Danke an Nils Westerboer für dieses Meisterwerk.

1. Auflage 2025
Erscheinungstermin: 15.03.2025
496 Seiten, Klappenbroschur, mit Karten
ISBN: 978-3-608-98723-2

Leseprobe beim Verlag

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