Chen, Da – Meister Atami und der kleine Mönch

Luka ist ein außergewöhnliches Kind. Es trägt auf jeder Fußsohle fünf schwarze Muttermale, das Zeichen dafür, dass er der auserwählte Kaiser ist, der nur alle fünfhundert Jahre vom Himmel steigt. Das erzählt Meister Atami dem kleinen Jungen jeden Tag. Und das ist auch der Grund, warum der Kleine so unendlich viel lernen muss. Manchmal kommt es dem Zwölfjährigen so vor, als müsste ihm jeden Moment die Decke auf den Kopf fallen. Doch Meister Atami lehnt es kategorisch ab, dass Luka ihm in die Stadt folgt und beim Betteln hilft. Irgendwann reißt Luka einfach heimlich aus. Und wird gleich als Erstes auf dem Markt des Diebstahls beschuldigt! Doch er verrät den wirklichen Dieb nicht, und das verschafft ihm die erste Freundschaft eines Gleichaltrigen in seinem Leben. Der Gassenjunge und sein kleiner Bruder geben zusammen mit dem Mönchsschüler ein recht merkwürdiges Trio ab.

Dann kommt der Tag, an dem Luka zum ersten Mal miterlebt, auf welche Art und Weise sein väterlicher Lehrer die Speisereste für ihn und sich selbst erbettelt! Die Grausamkeit der Soldaten schockiert ihn so, dass er sich nicht zurückhalten kann. Sein Eingreifen bringt ihn und seinen Meister in große Schwierigkeiten. Es dauert nicht lange, und die Häscher sind hinter ihnen her. Atami wird gefasst, Luka jedoch kann fliehen. Allerdings nicht für lange!

Lukas Geschichte spielt während der Besetzung Chinas durch die Mongolen, die hier Moro genannt werden. Luka ist der Enkel des letzten Kaisers. Pikanterweise ist sein Vater ausgerechnet Ulanbaat Ghengi, der Anführer der Mongolen, der seinen Großvater abgesetzt hat! Verständlicherweise hat sein Vater überhaupt kein Interesse daran, dass dieses Kind einmal Kaiser wird. Und so ist Atami eifrig bemüht, die Identität seines Schützlings geheim zu halten. Luka macht diese Bemühungen zunichte, als er versucht, seinen Meister gegen die Moro zu beschützen und damit seine Kampfausbildung offenbart. Fortan ist Luka fast ununterbrochen auf der Flucht, nur um letztlich doch Auge in Auge seinem Vater gegenüberzustehen und gegen ihn zu kämpfen.

Lukas Kampfausbildung basiert auf den Lehren des Tao. Ziel jeder Übung sind die eigene Vervollkommnung und das Erreichen des Tao. Grundsätzlich existieren auf diesem Weg keinerlei Grenzen, es sei denn, der Betreffende setzt sie sich selbst. Insofern hat es nicht unbedingt etwas mit Magie zu tun, wenn Luka fliegen kann, oder wenn Großmeister Gulan sich den Unterarm abreißt, um ein Ungeziefer loszuwerden, und ihn danach einfach wieder ansetzt, sondern mit Jin-Gong, einer durch Übung erworbenen inneren Kraft, die mit dem Mondlicht zusammenhängt. Atami verfügt über eine verwandte Macht, die von der Sonne stammt, Yin-Gong. Beide gemeinsam sind fast unüberwindlich und werden von Mönchen des Xi-Ling gelehrt.
Auch Ghengi kann fliegen, welche Kraft ihn dazu allerdings befähigt, wird nicht gesagt. Als Mongole kann er keine Xi-Ling-Ausbildung genossen haben. Dennoch ist es ihm gelungen, seinen verlorenen Arm durch eine Klob-Zange ersetzen und seinen Körper mit grünen Schuppen überziehen zu lassen.

Der Klob ist ein Meeresungeheuer, das seiner Beschreibung nach wie ein monströser Hummer aussieht. Seine Jungen, die offenbar eine Kreuzung aus Hummer und Schlange sind, werden sinnigerweise Klobster genannt. Das Gift des Klob ist tödlich, einziges Gegenmittel ist das Blut des gepanzerten Wesens, das ein Prinz des Königreiches Ozeana ist. Außerdem kommen zwei Snagon vor, Riesenschlangen, die für ihre früheren Verbrechen büßen und danach zu Drachen werden, und ein Goldener, ein großer Frosch, der golden schimmert und ebenfalls für seine Sünden büßt. Hier taucht erneut die Lehre des Tao auf, wonach jeder durch demütiges Erdulden Erlösung erlangen kann. Keines dieser Ungeheuer ist wirklich böse, nicht einmal der Klob, der von Ghengi mutwillig süchtig gemacht wurde, um ihn zu unterwerfen.

Ghengi und seine Moro sind die einzigen wirklichen Bösewichte. Das ist wohl auch der Grund, warum sie Moro und nicht Mongolen genannt werden, denn so auffallend die Parallelen sein mögen, entbehrt die Darstellung der Moro doch jeglicher Objektivität. Die Moro sind gleichgültig, grausam und schmarotzend, schlicht: genau so, wie die Chinesen die mongolischen Besatzer vielleicht empfunden haben mögen. Die positiven Seiten der Khane und ihrer Herrschaft, die es zweifellos auch gab, sind vollständig ausgeblendet, Ghengi als Oberhaupt der Moro zu einer Monstrosität verzerrt.
Gleichzeitig werden die Moro durch das Plakat, das die Brautfütterung ankündigt, komplett ins Lächerliche gezogen. Kein Gewaltherrscher würde einen solchen Text verfassen! Aber auch die Chinesen kriegen ihr Fett weg. Die außerordentlich abartigen Heilungsmethoden, die hier angewandt werden, können eigentlich nur als Anspielung verstanden werden. Viele Chinesen glauben immer noch, Rhinozeroshörner wären ein Potenzmittel. Und die übertriebene Anzahl von Muttermalen ausgerechnet an den Fußsohlen kann irgendwie auch nicht wirklich ernst gemeint sein.

Solche Anwandlungen von Humor sind allerdings ziemlich selten, es sei denn, ich hätte einige überlesen, was mich nicht wundern würde, denn vieles in diesem Buch war so exotisch und ungewöhnlich, dass ich manchmal Mühe hatte, mich wirklich hineinzudenken. Da Chen macht sich auch nicht die Mühe, viele Erklärungen abzugeben. Ein Chinese braucht sie sicherlich auch nicht, ich dagegen fragte mich gelegentlich schon, wie manche Dinge zusammenhingen oder zustande kamen. Das gilt zum Beispiel für die Skorpione unter den Goldbarren, die Schildkrötenstraße oder diesen seltsamen Wasserweg, der vom Xi-Ling-Kloster direkt in die kaiserliche Kloake führt.

Gelegentlich stolperte ich auch über simple Logikfehler. Lukas Freund Mahong steigt heimlich ins Kloster ein, um mit Großmeister Gulan zu sprechen, denn so hat Atami es ihm aufgetragen. Ein anderer würde ihm nicht glauben, weil er ein Straßenbengel und ein Dieb ist. Mahong erzählt aber auch, sie hätten von Gulans und Lukas Flucht aus dem Gefängnis erfahren. Wenn also Mahong weiß, dass beide entkommen sind und dass Gulan im Kloster ist, warum weiß er dann nicht, dass auch Luka da ist?
Und wie kommt es, dass Luka trotz seiner Macht des Jin-Gong an einer Mauer scheiterte, die sein Widersacher Yi-Shen ohne diese Macht durchbrechen konnte? Wie kommt es, dass Mahongs kleiner Bruder auf der Zinne der Gefängnismauer sitzen und auf das Gegengift für Atami warten kann? Sind die Wachen, die dort oben patroullieren, denn blind? Abgesehen davon hätte ich als Vorsteher von Lukas Gefängnis mit der Hinrichtung eines so brisanten Gefangenen keine sechs Monate gewartet, ganz gleich, wie überlastet die Hinrichtungskommandos auch sein mögen!

Da Chen hat hier eine ganz eigene Mischung von Abenteuerroman, Fantasy und Cinologie abgeliefert, wobei die beiden Letzteren für mich nicht immer klar zu trennen waren. In jedem Fall ist sie extravagant und ziemlich bunt und auch nicht uninteressant. Ich muss aber gestehen, dass mir die Meister-Li-Romane von Barry Hughart besser gefallen haben. Ich fand sie weniger verwirrend, leichter zu lesen und witziger. Das mag daran liegen, dass Barry Hughart kein Chinese ist.
Für Leute, die sich für China interessieren und vielleicht sogar mehr als oberflächliche Kenntnisse von chinesischer Philosophie und Mythologie besitzen, dürfte der Roman aber möglicherweise weniger verwirrend sein als für mich. Ansonsten könnte es ratsam sein, sich beim Lesen Zeit zu lassen. Trotz der einfachen Sprache ist das Buch nichts für Schnellleser und Überflieger, es sei denn, derjenige fühlt sich im Kulturraum des Hintergrundes schon wie Zuhause. Lesenswert ist es durchaus.

Das Lektorat war in Ordnung. Und auch das Cover hat mir gut gefallen. Eine praktische Idee waren die Drachenklauen und Tigerpranken, die die Kapitelanfänge zieren. Man sieht sie auch von außen, sodass man auch dann seine Seite wiederfindet, wenn das Lesezeichen das Weite gesucht hat. Vorausgesetzt natürlich, man hat am Ende eines Kapitels abgesetzt.

Da Chen stammt aus der chinesischen Provinz, wanderte aber im Alter von 23 Jahren nach Amerika aus. Er lebt mit seiner Familie in New York und arbeitet als Kalligraph und Schriftsteller. Außer „Meister Atami und der kleine Mönch“ erschien von ihm bisher nur ein weiteres Werk unter dem Titel „Die Farben des Berges“, in dem er seine Erinnerungen an China niedergeschrieben hat.

Peace, David – 1974

„Red Riding Quartet“ nennt David Peace seine Tetralogie, die sich um das England der 70er und frühen 80er Jahre dreht. „1974“ ist deren erster Teil, der international viel Beachtung fand und von der Presse als eines der spektakulärsten Debüts der letzten Jahre gefeiert wird. „1974“ ist ein unglaublich harter Brocken – schwer verdaulich einerseits, absolut atemberaubend andererseits. Ein Krimi, der so düster und desillusionierend ist, dass es schwer fällt, Vergleiche zu ziehen.

Der Dezember 1974 ist ein harter Monat für den neuen Gerichtsreporter der Yorkshire Post in Leeds, Edward Dunford. Kaum hat er seinen Job angetreten, stirbt zunächst sein Vater. Doch auch beruflich kommt einiges auf ihn zu: Ein junges Mädchen, Clare Kemplay, wird vermisst gemeldet und wenige Tage später grausam zugerichtet und ermordet aufgefunden.

Dunford recherchiert in dem Fall, knüpft Beziehungen zwischen diesem Mord und zwei weiteren spurlos verschwundenen Mädchen. Er sucht nach Verbindungen zwischen den drei Fällen und sticht mit seinen Nachforschungen in ein Wespennest. Als dann auch noch Dunfords Kollege Barry Gannon bei einem „Autounfall“ ums Leben kommt, steht er plötzlich mitten in einem undurchsichtigen Dickicht aus Korruption und Vertuschung, in das nicht nur die Ermittlungsbehörden verstrickt sind, sondern auch einige hochrangige Persönlichkeiten der Stadt …

Aus der Masse der Kriminalromane sticht David Peace mit seinem Werk deutlich hervor. Bei Peace läuft vieles entgegen der gängigen Klischees. Hier sind die Polizisten die Bösen und die Journalisten die Guten, die ohne Furcht nach der Wahrheit suchen. Zeitlich überschneidet sich der Roman mit einem dunklen Kapitel in der Geschichte Yorkshires. Es war etwa zur gleichen Zeit, als der so genannte Yorkshire Ripper sein Unwesen trieb und vierzehn Frauen ermordete. Fünf Jahre lang lebten die Menschen in Yorkshire in der Furcht vor dem Ripper. Mit dieser Furcht ist auch der im Westen Yorkshires geborene David Peace aufgewachsen, so dass ein Teil des Romans sicherlich auch die Bewältigung dieser Ereignisse beinhaltet.

„1974“ ist ein Roman, wie man ihn so schnell vermutlich nicht wieder zu lesen bekommen wird. Ein |Krimi Noir|, wie er düsterer und beklemmender kaum sein könnte. Vergleiche lassen sich höchstens zu James Ellroy ziehen. Beide Autoren ähneln sich in gewissen Zügen. Beide stricken Geschichten, die ein undurchsichtiges Geflecht von Macht und Korruption, von Gewalt und Brutalität enthalten, und beide ziehen ihren düsteren, schwer durchdringbaren Plot mit einer ähnlichen Sprachgewalt und Faszination auf.

Peaces Stil wirk dabei etwas abgehackt und gewöhnungsbedürftig. Knappster Satzbau, Einwortsätze, eingestreute Songtitel und Schlagzeilen, die nebenbei im Radio laufen und den Geist der Zeit heraufbeschwören, Zitate, die stets wiederholt werden – Peaces sprachliche Mittel erscheinen schlicht, wirken aber umso eindringlicher. Man braucht eine gewisse Einlesezeit, um mit diesem Stil warm zu werden, aber dann beginnt er mit jeder Seite, sich machtvoller zu entfalten. Ähnlich schlicht und knapp, aber gleichzeitig sprachgewaltig wirkt auch James Ellroys [„L.A. Confidential“ 1187 auf mich.

Peace webt eine dichte Atmosphäre und baut einen kontinuierlich aufstrebenden Spannungsbogen auf, der den Leser nägelkauend weiterlesen lässt. Man kommt ab einem bestimmten Punkt nicht mehr von dem Buch los und will, von bösen Vorahnungen geplagt, möglichst bald wissen, wie sich Geschichte und Figuren weiterentwickeln.

Dabei fällt der Einstieg zunächst nicht ganz leicht. Peace verlangt dem Leser ein hohes Maß an Konzentration ab, weniger aufgrund des sprachlichen Stils, sondern mehr aufgrund der großen Mengen auftauchender Namen und Figuren. Gerade in den ersten Kapiteln haut Peace dem Leser die Namen um die Ohren, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Peace treibt die Geschichte in einem geradezu halsbrecherischen Erzähltempo ihrem dunklen Höhepunkt entgegen und nimmt den Leser mit auf eine düstere Achterbahnfahrt. Alles in einen Zusammenhang einzuordnen, fällt dabei nicht immer ganz leicht. Peaces Romangebilde ist eben sehr komplex.

Ganz im Zeichen dieser Komplexität steht auch Peaces Umgang mit Klischees. Er stellt vieles auf den Kopf, vertauscht Gut und Böse und zeichnet kein Schwarzweiß-Gemälde. Auch Edward Dunford, der auf der Suche nach der Wahrheit hinter der Story ist, ist längst kein strahlender Held. Er hat einige unsympathische Züge und behandelt seine Mitmenschen nicht immer gerade nett, was sich besonders an seinem Umgang mit Frauen zeigt. Es gibt keine per Definition rein Guten, so wie es keine irgendwelchen Klischees entsprechenden Bösen gibt. Auch das lässt sich durchaus als Qualitätsmerkmal festhalten, denn es fordert den Leser.

„1974“ ist dabei nicht nur ein Krimi, sondern gleichermaßen eine Gesellschaftsstudie und ein Spiegel seiner Zeit. Mangelnde Moral in gut situierten Kreisen, die Käuflichkeit von so ziemlich jedem und das Interesse der Öffentlichkeit an grausamen Kapitalverbrechen, dessen Halbwertszeit sich nach dem medialen Unterhaltungswert der Meldung richtet.

Das Szenario, das Dunford durch seine Ermittlungen am Ende des Romans entblättert, ist gleichermaßen schockierend und düster. Man ahnt, dass der Antiheld Dunford kein gutes Ende nehmen wird und dass es auch für den Fall an sich kein Happyend geben kann. Alles gipfelt in einem außerordentlich blutigen Finale. Dunford verknüpft die unterschiedlichen Handlungsebenen, zieht die richtigen Schlüsse und steht am Ende vor der grausamen Wahrheit, ohne selbst genau zu wissen, wie er damit umgehen soll. Entsprechend düster, verstörend und bluttriefend fällt das Finale aus, und entsprechend düster ist auch der Abschied von Dunford.

Und ein kleines bisschen ist man am Ende auch froh, dass es vorüber ist, während man gleichzeitig bedauert, dass der Roman zu Ende ist. „1974“ ruft zwiespältige Gefühle hervor und verlangt dem Leser einiges ab. Dennoch blickt man erwartungsfroh nach vorn und wartet ungeduldig auf die Fortsetzung des „Red Riding Quartet“. Peace hat einfach eine packende und faszinierende Art, die zwar etwas anstrengend sein mag, aber eben auch so fesselnd ist, dass man davon nur schwer loskommt.

Kurzum: Preisauszeichnungen und überschwängliches Presselob hat David Peace sich redlich verdient. Sein Debütroman sticht aus der Masse der Kriminalliteratur äußerst positiv hervor. Ian Rankin sieht David Peace als „die Zukunft des Kriminalromans“. Wenn sich das bewahrheiten sollte, sieht die Zukunft des Kriminalromans in der Tat sehr gut aus. Peace weiß zu fesseln, inszeniert einen düsteren Plot und eine beklemmende Gesellschaftsstudie. „1974“ ist nicht nur ein ausgezeichneter Kriminalroman, sondern auch ein Stück Zeitgeschichte. Sprachlich wie inhaltlich ein harter, schwer verdaulicher Brocken, aber dafür einer, der garantiert im Gedächtnis haften bleibt und obendrein Lust auf die weiteren Teile des „Red Riding Quartet“ macht.

Redmond, Patrick – Wunschspiel, Das

England im Jahr 1954: Eigentlich ist es eine Ehre, im elitären Knabeninternat Kirkston Abbey aufgenommen zu werden. Allerdings herrschen dort auch strenge Regeln, Rivalität und eine brutale Hackordnung.

Auch der 14-jährige Jonathan ist hier nicht glücklich. Im Gegensatz zu vielen anderen Jungen stammt er aus eher einfachen Verhältnissen. Ältere Schüler machen sich einen Spaß daraus, ihn herumzustoßen und auch manch ein Lehrer lässt ihn spüren, dass er nicht erwünscht ist. Nur die Freundschaft zu drei Jungen macht die Schulzeit erträglich. Da sind zum einen die Zwillinge Stephen und Michael, die trotz ständiger Streitereien zusammenhalten wie Pech und Schwefel. Und da ist vor allem Nicholas Scott. Nicholas, dank Brille und schmächtiger Statur ebenfalls ein beliebtes Opfer, ist Jonathans engster Vertrauter.

Auch Richard Rokeby, der in ihre Klasse geht, ist ein Außenseiter. Aber im Gegensatz zu den anderen Jungs verzichtet er freiwillig auf Freundschaften. Gutaussehend, hochintelligent und voll zynischen Humors geht er seinen Weg allein. Niemand wagt es ihm zu widersprechen und selbst die Lehrer finden kein Mittel gegen seine beleidigende Höflichkeit. Viele Jungen bewundern ihn wegen seines Mutes und seiner selbstbewussten Ausstrahlung. Gerne wären sie sein Freund – doch Richard hat für alle anderen nur Verachtung übrig.

Umso verblüffter ist Jonathan, als Richard ihm eines Tages im Lateinunterricht aus der Verlegenheit hilft. Ersten zaghaften Gesprächen folgen vereinzelte Treffen, bis sich langsam aber sicher zwischen den beiden eine Freundschaft entwickelt. Jonathan ist stolz darauf, dass ihm alleine Richards Gunst gehört, auch wenn er nicht ganz begreift, warum Richard ausgerechnet ihn erwählt hat. Richard beschützt ihn vor den Angriffen der anderen Jungen und läd ihn sogar in den Ferien zu sich nach Hause ein. Hier beginnt Jonathan zu ahnen, dass sich einige dunkle Geheimnisse in Richards Vergangenheit befinden …

Zurück in der Schule sorgt Richard dafür, dass sich nicht nur Jonathans Feinde, sondern auch seine Freunde immer mehr von ihm abkapseln. Und dann ist da noch dieses seltsame Spiel, das angeblich Wünsche in Erfüllung gehen lässt. Immer tiefer gerät Jonathan in einen Strudel aus Abhängigkeit und Gewalt …

Die ersten dreihundert Seiten des Romans sind wahrlich atemberaubend. Einprägsame Charaktere, eine mitreißende Handlung, lebendige Dialoge und ein flüssiger Schreibstil machen das Buch zu einem „Pageturner“. Diese ersten beiden Drittel lesen sich in einem Rutsch weg, so dass man gar nicht merkt, wie dabei die Zeit vergeht.

Ein großes Plus des Romans sind die überzeugend dargestellten Charaktere. Der Leser ist sofort von der kalten, sterilen Atmosphäre des Internats gefangen genommen und kann nur zu gut Jonathans Einsamkeit dort nachvollziehen. Der junge Protagonist hat keine besonderen, markanten Eigenschaften, aber gerade deswegen passt er auf fast jeden Leser als Identifikationsfigur. Ein liebenswerter, etwas schüchterner, heranwachsener Junge, der sich in einer schwierigen Zeit behaupten muss. Ihm gehören die Symapthien des Lesers. Man muss nicht selber in einem Internat gewesen sein, um die Probleme dort zu verstehen. Jeder Leser wird sich an ähnliche Situationen aus dem eigenen Schülerleben erinnern können und erahnen, dass es den Jungen in Kikston Abbey noch schlimmer ergeht. Sowohl Lehrer als auch Schüler tragen unverhohlenen Standesdünkel nach außen. Jonathans Vater gehört mit seinem Beruf als Bankdirektor schon zur unspektakulären Garde. Wer sich den dominaten Schülern widersetzt, wird entweder zusammengeschlagen oder durch erniedrigenden Rituale gequält. Dazu kommt, dass die zentrale Handlung des Romans nicht in der heutigen Zeit, sondern in den Fünfzigerjahren spielt. Spießbürgertum und Tabus stehen an der Tagesordnung, Homosexualität wird strafrechtlich verfolgt. Es ist eine strenge, kalte Zeit, in der die Jungen leben und in der eine Freundschaft manchmal alles bedeutet – und jeden Preis wert zu sein scheint.

Die zweite zentrale Gestalt des Romans ist natürlich der geheimnisvolle Richard. Obwohl dem Leser von Beginn an klar ist, dass von ihm das Unheil ausgeht, ist er doch gleichzeitig von ihm fasziniert. Richard besitzt einen trockenen, bissigen Humor, der jedem seiner Gegner den Wind aus den Segeln nimmt. Sein Selbstbewustsein und seine lässige Arroganz und vor allem das völlige Fehlen jedweder Anbiederung, sowohl gegenüber anderen Jungen als auch Autoritätspersonen, lassen auch den Leser nicht unberührt. Gleichzeitig fühlt man sogar etwas Sympathie für Richard, als er Jonathan unter seinen Schutz stellt.

Damit hat der Autor einen charakterlichen Volltreffer gelandet: Leser lieben weder die makellosen noch die unsymapthischen Figuren. Richard aber ist ein charmanter Bösewicht, der durch Witz und eine beneidenswerte Souveränität besticht, die ihn unangreifbar macht. Als beispielsweise der angesehene General Collinson eine Rede vor den Schülern hält, kündigt er halb im Scherz an, dass jeder, der etwas Besseres vorhabe, gehen dürfe. Alle lachen, weil diese Bemerkung nicht mehr als eine Floskel ist. Doch Richard schert sich nicht um gute Manieren oder Höflichkeit und verlässt demonstrativ den Saal. Die Lehrer sind aufgebracht, aber da Richard gegen keine feste Regel – sondern nur gegen die Ettikette – verstieß, entgeht er einer Bestrafung.

Für noch mehr Humor als Bewunderung sorgt die Szene, in der Richard es mit dem dümmlich-brutalen George Turner aufnimmt. Als George gerade einen Mitschüler drangsaliert, macht Richard ihm ein Kompliment wegen seiner angeblich schönen Augen. George ist dadurch verwirrter als es jede Beleidigung erreicht hätte. Richard geht noch weiter und fragt in die Klasse, ob jemand etwa der Meinung sei, George habe keinen schönen Augen. Natürlich wagt niemand zu widersprechen. George wird rot, was wiederum Richard laut erwähnt …
Zurück bleiben ein völlig verstörter George Turner und ein amüsierter Leser.

Dieser sowohl bewunderte als auch verachtete Junge wird vor den Augen des Lesers lebendig. Man hört förmlich den lakonischen Tonfall, in dem Richard seine Widersacher zurückweist, man sieht seinen überlegenen Blick und die Kälte in seinen Augen. Man sieht Richard mit Jonathans Augen. Wie ein Ertrinkender klammert sich der Junge an diesen überlegen Freund, der ihm ein nie gekanntes Selbstwertgefühl verleiht. Und gleichzeitig spürt man Jonathans Schaudern auf der Haut, wenn Richards glasiger Blick ins Leere schweift:
„Warum macht er dir solche Angst“, fragt James seinen Schlägerfreund und Stuart antwortet: „Ich weiß nicht, was er tun oder wie weit er gehen würde.“

Man ist hin- und hergerissen zwischen dem Verständnis für Jonathan, dass er sich auf diese gefährliche Freundschaft einlässt, und dem brennenden Wunsch, ihn vor einem Fehler zu bewahren, der sein Leben für immer verändern wird. Richard Rokeby wird für seine Ambivalenz geliebt und gehasst.

Trotz der Dominanz dieser beiden Charaktere sind die restlichen Figuren mehr als nur Staffage. Da ist der allseits beliebte Vertrauensschüler Paul Ellerson, der sich so überraschend das Leben nahm. Nicht nur Jonathan fragt sich, was der Grund gewesen sein mag … Da ist der junge, dynamische Geschichtslehrer Alan Stewart, den ein düsteres Geheimnis umgibt. Da sind die Zwillinge Michael und Stephen, die sich zwischen ihrem Widerwillen gegenüber Richard und ihrer Loyalität zu Jonathan entscheiden müssen. Und da ist Nicholas, dessen Treue zu seinem einstmals besten Freund auf eine harte Probe gestellt wird …

Sie alle verstricken sich in einem unauflösbaren Netz aus Lügen, Hass, Neid und Gewalt, das am Ende zum Tod mehrerer Menschen führen wird.

Die Handlung selber ist vom reinen Plot her zunächst bereits altbekannt: Zwei Außenseiter, die sich zusammentun, und gegenseitige Abhängigkeit sind hier die Schlagworte. Durch die lebendige Darstellung und die überzeugenden Charaktere gelingt es dem Autoren jedoch, den Leser trotz dieses leicht klischeebehafteten Themas bei der Stange zu halten.

Umso unerfreulicher ist dann die übertriebene Wendung, die der Roman nimmt, und die schließlich in einem überzogenen Schluss endet. Meiner Meinung nach hätte die zerstörerische Freundschaft zwischen Richard und Jonathan bereits gereicht, um zu einer Katatstrophe zu führen. Doch stattdessen kommen nach und nach noch übersinnliche Mächte ins Spiel. Zwar subtil angedeutet und immer mit der leisen Option, dass es sich doch um Zufall handelt – aber trotzdem überflüssig. Schade, denn diese Komponente wäre nicht nötig gewesen.

Ebenfalls schade ist das überhastete Ende, bei dem zu viele Dinge fast gleichzeitig geschehen und in Kürze abgehandelt werden. Mehrere Personen sterben in rascher Abfolge, so dass der Leser die Ereignisse kaum verdauen kann.

Unterm Strich bleibt dem Leser ein zu großen Teilen brillanter Thriller über Freundschaften und tödliche Versuchungen, wobei das Ende hinter den Erwartungen des furiosen ersten Teils zurückbleibt.

_Fazit:_ „Das Wunschspiel“ bietet dem Leser in den ersten zwei Dritteln atemberaubende Spannung, um dann leider etwas abzuflachen und mit einem leicht überzogenen Ende auszuklingen. Lebendige Dialoge, der flüssige Stil, sehr gut gezeichnete Charaktere und eine spannende Handlung sorgen für gute Unterhaltung, die nur durch den Schluss und die unnötige übersinnliche Komponente geschmälert wird. Trotz der leichten Schwächen ein absolut empfehlenswerter Thriller über zerstörerische Freundschaft und Abhängigkeiten und ein beeindruckendes Romandebüt.

_Patrick Redmond_ wurde 1966 geboren. Bereits zu Schulzeiten wollte er Schriftsteller werden, doch auf Drängen seines Vaters schlug er eine juristische Laufbahn ein. Sein Debütroman „Das Wunschspiel“ stürmte auf Anhieb die Bestsellerlisten. Inzwischen erschienen noch „Der Schützling“ und „Der Musterknabe“.

Huff, Tanya – Hotel Elysium – Die Chroniken der Hüter I

Ein Sturm zwingt die junge Hüterin Claire Hansen und ihren nicht mehr ganz so jungen, schwarzweißen Kater Austin, Zuflucht im Hotel Elysium zu suchen, einer äußerst heruntergekommenen Absteige in Kingston. Am nächsten Morgen stellt Claire zu ihrem Entsetzen fest, dass der Besitzer Augustus Smythe sich aus dem Staub gemacht und ihr das komplette Hotel überschrieben hat, mit der einzigen Anweisung, bloß nicht Zimmer sechs zu betreten. Vielleicht hätte sie sich an die Anweisung halten sollen, denn als sie Zimmer sechs von ihrem neuen Angestellten Dean McIssac öffnen lässt, finden sie dort ausgerechnet eine schlafende, böse Hüterin.

Hüter sind in der Lage, Magie zu nutzen, indem sie Energie von außerhalb unserer Realität abziehen. Zwischen dieser Energiequelle, die Magie möglich macht, und der Realität liegt eine Barriere, die die Energie daran hindert, unkontrolliert einzusickern und schlimme Schäden anzurichten. Manchmal entstehen Löcher in dieser Barriere, durch Unfälle oder auch in böser Absicht willentlich erzeugt. Hüter haben die Aufgabe, diese Löcher wieder zu schließen oder zumindest die verursachten Schäden so klein wie möglich zu halten. Bei den Stellen, die nicht geschlossen werden können, weil die Löcher zu groß geworden sind, müssen die Hüter sie mit ihrem Sein versiegeln. Sie sind dann für den Rest ihres Lebens an diesen Ort gebunden.

Als sich vor mehr als vierzig Jahren im Heizungskeller des Hotels ein Loch öffnete und als Zugang zur Hölle manifestierte, entschied sich die damalige Hüterin, die nun leicht zugängliche Energie für ihre Zwecke zu nutzen. Nur mit vereinten Kräften konnten zwei andere Hüter sie daran hindern. Da sie sie nicht töten wollten und sie auch nicht in der Lage waren, das Loch im Heizungskeller zu schließen, schickten sie sie mit einem „Dornröschen-Zauber“ schlafen. Nun werden ihre Kräfte dazu genutzt, das Loch einzudämmen und daran zu hindern, sich weiter auszubreiten, während die Energien dieses Höllenzugangs dazu genutzt werden, sie in Stasis zu halten. Ein sehr empfindliches Gleichgewicht, das einer ständigen Beaufsichtigung bedarf.

Augustus Smythe war lange Zeit mit der Aufgabe betraut gewesen, den Zugang zur Hölle und die schlafende Hüterin zu überwachen, und darüber schon ziemlich merkwürdig geworden. Deshalb ergriff er natürlich schnell die Gelegenheit zu verschwinden, als er in Claire eine Hüterin erkannte. Claire fühlt sich jedoch noch viel zu jung, um schon in den Ruhestand zu gehen und für den Rest ihres Lebens dieses Loch zu beaufsichtigen, geschweige denn das Hotel zu führen. Also versucht sie das Unmögliche, einen Weg zu finden, das Loch zu schließen und dabei gleichzeitig die böse Hüterin dauerhaft unschädlich zu machen.

Rund um die spannende Haupthandlung entfaltet sich eine absurde Welt, in der alles möglich scheint. So führt der Fahrstuhl des Hotels auf jeder Etage in verschiedene Dimensionen und Wirklichkeiten, unter anderem auch auf die Brücke der Enterprise. Außerdem scheint das Hotel eine Reihe sehr merkwürdiger Gäste anzuziehen, Werwölfe, Vampire und Geister oder auch die abgetakelten Götter des griechischen Pantheons, die wie Rentner von Hermes, dem Götterboten, in einem Bus durch die Gegend gefahren werden. Was jedoch besonders Spaß macht, ist der sprechende Kater Austin; mit jedem Satz merkt man, dass die Autorin schon länger fest unter der Pfote steht. Der Kater liefert sich herrliche Wortgefechte mit seiner Besitzerin Claire, wobei schon nach wenigen Seiten klar wird, wer hier wen besitzt.

Bislang in Deutschland vor allem durch die eher dem Horror zuzurechnende „Chronik des Blutes“ um die Privatdetektivin Vicki Nelson und den Romane schreibenden Vampir Henry Fitzroy bekannt geworden, gibt Tanya Huff mit „Hotel Elysium“, dem ersten Band der „Chronik der Hüter“, einen hervorragenden Einstand in die Welt der humoristischen Fantasy. „Hotel Elysium“ macht Lust auf mehr und so ist es nur gut, dass die nächsten beiden Teile „Auf Teufel komm raus“ und „Hüte sich, wer kann“ schon Ende dieses Jahres ebenfalls im Verlag |Feder & Schwert| erscheinen.

|Tanya Huff bei Buchwurm.info:|
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Tosches, Nick – Dino. Rat-Pack, die Mafia und der Traum vom großen Glück

Die coolen Crooner sind wieder da; Steven Soderbergh ließ im Kino mit „Ocean’s Eleven“ & „Ocean’s Twelve“ das „Ratten-Pack“ aus dem Las Vegas der 50er und 60er Jahre neu erstehen, und Robby Williams (der arme Tropf) hält sich für die Inkarnation von Frank Sinatra. Da kann es nicht ausbleiben, dass auch das Interesse am vielleicht rätselhaftesten Bombast-Schmalzer des 20. Jahrhunderts neu erwacht: Dino Crocetti alias Dean Martin (1917-1995), Sänger, Schauspieler, TV-Star, Spieler, Schwerenöter und Trinker, Macho und Mimose – die lebende Parodie auf den Amerikanischen Traum, Idol für Millionen und eine menschliche Sphinx, deren Mysterien – falls es denn welche gab – weder die engsten Freunde noch die eigene Familie je zu lösen vermochten.

Nick Tosches unternahm den bisher wohl ambitioniertesten Versuch, dieser mysteriösen Persönlichkeit auf die Spur zu kommen. Schon 1992, also noch zu Lebzeiten Martins, begann er zu recherchieren. Martin selbst verweigerte Tosches wie noch jedem Biografen jegliche Zusammenarbeit; wie dieser später entdeckte, war es dazu ohnehin zu spät: Zu den vielen Tragödien, die Dean Martin in seinem Leben trafen, ist die Demenz der letzten Jahre wohl die schrecklichste. Sterben würde er schließlich an Lungenkrebs, und nur dieser Kampf fand seinen Niederschlag in der Presse. Dass der große Dean Martin da schon nicht mehr wusste, wer er war, blieb weitgehend unerwähnt – ein ungewöhnliches Zugeständnis der Medien, das Tosches dezent aber deutlich enthüllt.

Ansonsten hält Tosches nichts von falscher Heldenverehrung. „Dino“ zeichnet das keineswegs schmeichelhafte Bild eines mit vielen Talenten gesegneten, aber nicht gerade liebenswerten, weil verschlossenen und egoistischen, an den Dingen um ihn herum sträflich uninteressierten Mannes, der sogar eine recht ausgeprägte dunkle Seite besaß. Wie wir jedoch erfahren, war der Einsatz der Ellenbogen unverzichtbar für einen Mann, dem der Erfolg als Künstler kaum in die Wiege gelegt wurde. Tosches hat fabelhafte Kärrnerarbeit geleistet und Martins frühe Jahre in der Industriestadt Steubenville, Ohio, akribisch nachgezeichnet. Der spätere Superstar stammte aus einfachen Verhältnissen. Daraus hat er nie ein Geheimnis gemacht oder sich gar dessen geschämt, aber er hat auch nur wenige Worte darüber verloren. Tosches hatte das Glück des Tüchtigen: Er fand zahlreiche Zeitgenossen, die Aufschlussreiches über Dean Martins frühe Jahre zu erzählen wussten. Sogar die europäischen Ursprünge der italienischen Einwandererfamilie Crocetti in den kargen Abruzzen konnte er offen legen.

Nie beschränkt sich Tosches auf die simple Nacherzählung von Fakten. Er fügt sie stets in den historischen Kontext ein. So erleben wir die Crocettis nicht als singuläre Reisende ins Gelobte Land Amerika, sondern als Körnchen in dem Strom, der sich im späten 19. Jahrhundert aus Europa über den Atlantik gen Westen ergießt. Dass Dean Martins Leben so verlief, wie es quasi verlaufen musste, ist eine Folge von Ereignissen, die auf den ersten Blick mit ihm als Person gar nichts zu tun haben. Tosches Verdienst ist es, die unterschwelligen Verbindungen erkannt und aufgedeckt zu haben. Das betrifft Martins tiefe Verwurzelung in der italienischen Kultur seiner Vorfahren, die ihn stärker prägte als bisher bekannt war. Integraler Bestandteil dieser Kultur waren aber auch Martins Verbindungen zum organisierten Verbrechen, die natürlich das Interesse des heutigen Lesers ganz besonders erregen. Während sein Kumpel Frank Sinatra entsprechenden Nachforschungen zeitlebens mit einen Stall gut dotierter und angriffslustiger Juristen begegnete, legte Martin Tosches keine Steine in den Weg. So recherchierte der Verfasser praktisch ungehindert und rekonstruierte mit bisher nicht gekannter Eindringlichkeit die Rolle der Mafia in der Unterhaltungsindustrie der USA.

Dean Martins Kontakte zum organisierten Verbrechen gingen schon auf seine Jugendjahre in Steubenville zurück, das sich in Tosches Rückschau als wahres Mekka der Kriminalität entpuppt. Wie wenig Martin mit dem daueralkoholisierten Bruder Leichtfuß gemein hatte, den er später so erfolgreich seinem Publikum vorgaukelte, lässt sich schon daraus folgern, dass er zwar mit den Gangstern von Steubenville gut Freund war, aber niemals mit dem Gesetz in Konflikt kam: Dino Crocetti wusste stets sehr genau, was gut für Dean Martin war; während seine Jugendfreunde ihr Leben als arme Schlucker beschlossen, die sich wehmütig daran erinnerten, wie sie ihre Tage einst mit infantilen Großmannsträumen vertaten, starb ihr Kumpel zwar unglücklich, aber immerhin reich.

„Dino“ ist ein mit Fakten, Geschichten und Anekdoten überreich gefülltes Horn, das über die gesamte Distanz von immerhin 700 Seiten jederzeit unterhält. Das heißt nicht, dass es nichts zu bemängeln gäbe. So kommt auffällig oft dem Biografen Tosches, der virtuos die Vergangenheit wieder aufleben lässt, der Schriftsteller Tosches – dem wir mit „Trinities“ (1994, dt. „Die Meister des Bösen“) einen der besten zeitgenössischen Romane um die Mafia überhaupt verdanken – in die Quere. Letzterer kann einfach nicht widerstehen, Wissen durch Fantasie zu ersetzen. Es lässt sich nun einmal nicht leugnen, dass es auch dem unermüdlichen Tosches misslungen ist, den emotionalen Panzer Dean Martins zu „knacken“. Das ist jedoch kein Freibrief dafür, die Lücken mit hypothetischen Selbstreflexionen eines imaginären Dino Crocetti zu füllen – ganz besonders dann, wenn der Verfasser mehr als einmal anklingen lässt, dass dieser zur Selbstreflexion womöglich gar nicht fähig war. Aber Martin/Crocetti muss einfach Tosches‘ Vorstellungen eines von dämonischen Begierden tragisch Getriebenen und schließlich Gescheiterten erfüllen; das sind die Menschen, die ihn interessieren und von denen er meint zu wissen, wie sie funktionieren. Wir finden diese für Tosches typischen, literarisch eindrucksvollen, aber sachlich fragwürdigen Sentenzen auch in seinen Biografien über den Musiker Jerry Lee Lewis oder den Boxer Sonny Liston; „Hellfire“ bzw. „Der Teufel und Sonny Liston“ heißt es da dräuend und verheißungsvoll schon im Titel – Theaterdonner und faule Tricks für die Armen im Geiste.

In dieselbe Kerbe schlägt Tosches, wenn er hier und da der Verlockung erliegt, die Vergangenheit so zu inszenieren, dass sie seinem pessimistischen Weltbild entspricht. Dabei stören weniger die unverhohlenen Wertungen – er verabscheut sichtlich aus tiefem Herzen die Kennedys oder macht sich über Frank Sinatra und Ronald Reagan lustig -, denn sie lassen sich als |vox toschesi| vom Leser klar erkennen. Schwieriger fällt dies, wenn der Verfasser seinem Hang nachgibt, die Trivialisierung der US-Gesellschaft und -Kultur seit dem II. Weltkrieg zu geißeln. Tosches gilt als Kritiker des American Way of Live – und zwar als ebenso wortgewaltiger wie guter, was ihn besonders der Intelligentia Europas zum Lieblingskind werden ließ. Aber er hat halt auch einen Hang zum Prediger und redet gern in Zungen; machtvoll und ungedämmt fließt der Strom seiner Worte, wenn es gilt, die Boheme und Künstlerszene der Prohibitionszeit oder den Wahnsinn Las Vegas zu beschwören. Schwere Jungs und leichte Mädchen, Sex & Schnaps & nein, noch nicht Rock ’n‘ Roll, aber Schlagerschmalz rund um die Uhr, gutes Geld und schlechter Geschmack, das Leben ein pausen- und bedeutungsloser Rausch von Erfolg und Ruhm – ohne es zu merken, reiht der Verfasser Klischee an Klischee. Schlimm ist das in fader Rührseligkeit versickernde Finale, aber noch deutlicher verraten ihn die Fußnoten (Tosches liebt Abschweifungen): Das rührselige, erstaunlich distanzlos vorgetragene Klagelied von Marilyn Monroe, dem armen, kleinen, von den Männern/den Kennedys/der Mafia/dem FBI/den Außerirdischen verratenen & verkauften Mädchen, hat man z. B. ein wenig zu oft gehört, um es noch hören oder gar ernst nehmen zu können.

Der Schaden hält sich indes in Grenzen, weil Tosches immer wieder rasch auf den Boden der Tatsachen zurückfindet. Dort leistet er Großes, bringt völlig Neues ans Tageslicht oder entlarvt alte, lieb gewonnene Legenden. Darin ist Tosches ein wahrer Meister. Ob Jerry Lewis, Dean Martins Partner der frühen, turbulenten Jahre, wohl ahnte, wie ihm geschehen würde, als er seinem Gesprächspartner Rede und Antwort stand? Tosches hörte ihm und seinen vielen anderen Gesprächspartnern sehr genau zu – und überprüfte wie jeder wirkliche gute Biograf oder Historiker das Notierte mit Hilfe anderer Quellen. Dabei ergaben sich viel sagenden Diskrepanzen; man liest es mit Vergnügen (und Schadenfreude) und lernt viel darüber, wie Stars „gemacht“ werden.

Bleibt abschließend die Frage, ob denn die zehnjährige Differenz zwischen Original und Übersetzung dem Werk nicht Schaden zufügt. Die Antwort ist nein; ohne das eingangs erwähnte Crooner-Revival wäre dem deutschen Leser dieses bei allen Fehlern fabelhafte Werk sicherlich gänzlich vorenthalten geblieben. Außerdem gibt es Martins Leben nach 1992 rein gar nichts mehr hinzuzufügen; da reicht tatsächlich ein lakonisch dem Anhang eingeflickter Hinweis: „Dean Martin starb am 25. Dezember 1995“. Wie wir nun wissen, war er da eigentlich schon mindestens zehn Jahre tot.

Hillerman, Tony – Dunkle Kanäle

„Dunkle Kanäle“ ist das aktuellste Buch aus der Feder des Erfolgsautors Tony Hillerman, der mich in der Vergangenheit bereits mit einigen Büchern begeistern konnte. Daran sollte sich mit dem neuesten Taschenbuchroman natürlich nichts ändern, auch wenn es dieses Mal etwas länger gedauert hat, bis ich mich mit dem Inhalt anfreunden konnte, weil Hillerman seinen Erzählstil und die gesamten Rahmenbedingungen schon ein wenig an die Moderne angepasst hat. Der Spannung schadet das aber natürlich nicht, wenngleich man dieses Mal ungewöhnlich schnell hinter die kriminellen Machenschaften blickt, die den etatmäßigen Cops Manuelito, Leaphorn und Chee das Leben schwer machen.

_Story:_

Ganze 176 Milliarden Dollar Abgaben für indianische Bodenschätze sind spurlos verschwunden, und keiner hat auch nur leiseste Ahnung davon, wie das für einen Treuhandfonds vorgesehene Geld abhanden kommen konnte. Die CIA setzt deshalb einen Agenten unter falschem Namen auf den Vorfall an, und der scheint auch schnell erste Erfolge bei seinen Ermittlungen zu erzielen – bis er kurz darauf von zwei Unbekannten aus dem Weg geräumt wird.

Das ruft den zur Border Patrol gewechselten weiblichen Officer Manuelito auf den Plan, auch wenn sie erst einmal in ganz anderer Sache ermittelt. Sie entdeckt nämlich, dass auf einem abgesperrten Gebiet, auf dem unter anderem nicht mehr verwendete Pipelines verlaufen, plötzlich wieder Aufbauarbeiten beginnen, kann sich aber erst nicht den genauen Zweck hinter dieser seltsamen Angelegenheit ausmalen. Und einen Zusammenhang zum Fund der Leiche des Agenten sieht Officer Manuelito auch nicht, bis sie dann Kontakt zu ihren ehemaligen Kollegen Jim Chee und Joe Leaphorn aufnimmt, die ebenfalls von den mysteriösen Vorfällen erfahren haben und sich infolgedessen auf den Weg ins Grenzgebiet machen.

Inzwischen nehmen die Ereignisse ihren Lauf. Bernie sieht sich mit einigen recht seltsamen Kontrollen seitens ihres Chefs konfrontiert, Chee gerät in Sorge, weil eine Schmugglerbande in Mexiko ein Foto von Bernie Manuelito bekommen hat, und während die Polizisten sich noch die Köpfe zerbrechen, was auf der abgesperrten Tuttle Ranch passiert, plant eine einflussreiche Gangsterbande einen riesigen Coup …

_Bewertung:_

Hillerman hat auch in diesem Buch an seinem recht verzwickten Stil festgehalten und lässt wiederum mehrere Handlungsstränge parallel und zunächst unabhängig voneinander ablaufen. So erzählt er von den Ereignissen an der mexikanischen Grenze, gibt einen Einblick in korrupte Staatsgeschäfte, beschreibt das innige Verhältnis zwischen Chee und Manuelito, auch wenn die beiden nicht in der Lage sind, ihre Gefühle füreinander auszusprechen, und lässt nebenbei auch wieder den schon länger berenteten Kommissar Leaphorn zu alter Form auflaufen. Gut gemacht, keine Frage, und dennoch ist die Geschichte dieses Mal schon weit im Voraus vorhersehbar oder zumindets in groben Zügen erahnbar, auch wenn Hillerman sich bis zum Ende noch einige vollkommen unerwartete Überraschungen aufgespart hat.

Das Glänzende an diesem Buch sind aber einmal mehr die drei Hauptdarsteller, auch wenn Joe Leaphorn hier nicht mehr ganz so zum Zuge kommt wie in vorangegangenen Geschichten. Mir gefällt vor allem die Rolle des dickköpfigen Cops Jim Chee, vielleicht aber auch, weil ich hier durchaus eigene Charakterzüge wiederentdecke. Auch die herzliche, stellenweise aber auch etwas tollpatschige Bernie Manuelito ist prima dargestellt, mit sämtlichen Stärken und Schwächen, die man auch einem Cop zugestehen muss. Besonders zum Schluss brilliert sie noch mit einem fabelhaften Charakterzug, zu dem ich aber an dieser Stelle nichts verraten möchte.

Zur Gesamtgeschichte sollte noch einmal kurz der etwas modernere Touch der Handlung erläutert werden. Der 11. September ist beispielsweise an manchen Stellen präsent, das neue Medienzeitalter blickt auch manchmal durch, aber auch die Wortwahl von Tony Hillerman tendiert sehr oft ins 21. Jahrhundert. Das soll aber nicht als Abschreckung verstanden werden, denn stilistisch hat sich im Grunde genommen nichts verändert, „Dunkle Kanäle“ ist also auch ein „echter Hillerman“.

Mit den Hillerman-Storys Vertraute sind übrigens klar im Vorteil, denn nicht selten gewährt der Autor Rückblicke in vergangene Bücher, wobei der davor erschienene Roman [„Das goldene Kalb“ 1429 speziell im Bezug auf die Beziehung zwischen Manuelito und Chee immer wieder ins Gedächtnis gerufen wird. Voraussetzung für das Verständnis der Handlung sind diese Geschichten aber dennoch nicht.

_Fazit:_

Zweifellos ist es Tony Hillerman wieder gelungen, eine packende und spannende Geschichte zu erzählen, in der er zeigt, dass er trotz seiner langjährigen Erfahrung als Schriftsteller mit der Zeit geht und vor modernen Elementen nicht Halt macht. Das macht ihn einerseits unberechenbarer, zweitens aber auch sympathischer, als Letztes und Wichtigstes aber auch glaubhafter in seinen Ausführungen. Nicht zuletzt deswegen kann ich „Dunkle Kanäle“ daher auch wieder nur weiterempfehlen. Oder anders gesagt: Der Meister des Ethno-Thrillers hat wieder zugeschlagen.

José Giovanni – Das Loch

giovanni-loch-cover-kleinSechs Männer in einer Gefängniszelle. Alle haben sie nur einen Gedanken: hinaus! Sie schmieden einen bemerkenswerten Plan, der ihnen die Freiheit bringen soll. Minuziös und die stets misstrauischen Wärter im Nacken setzen sie ihn um. Doch unter ihnen befindet sich ein Verräter … – Ungemein spannender, auch kongenial verfilmter Krimiklassiker aus Frankreich, der seine besondere Eindringlichkeit dem einschlägigen „Fachwissen“ des Verfassers verdankt, der selbst viele Jahre einsitzen musste und die Gefängniswelt als Mikrokosmos mit ureigenen Regeln beschreibt.
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H. G. Wells – Krieg der Welten

Vom Mars kommen intelligente aber skrupellose Wesen auf die Erde, um sich hier eine neue Heimat zu schaffen. Die menschliche Zivilisation wird ausgelöscht, die hilflose Bevölkerung wie Nutzvieh gehalten. Der Untergang steht bevor, als sich die Natur einmischt … – Klassischer SF-Roman aus dem Jahre 1898, spannend verfasst von einem Vollblutschriftsteller, der die Handlung mit vielen philosophischen Fragen anreichert, was indes den Erzählablauf nie stört: ein zeitloses Meisterwerk, das mehr als ein Jahrhundert nach der Entstehung sein Publikum mit Leichtigkeit findet und auch zukünftig finden wird.
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Romainczyk, Jürgen – Vampirwinter

Recht schmal ist das Bändchen, das Jürgen Romainczyk unter dem Titel „Vampirwinter“ 2004 als sein Romandebüt vorgelegt hat. Doch die 112 Seiten präsentieren ihren Inhalt so komprimiert und verdichtet, dass der Leser die Lektüre durchgehend genießen kann – vornehmlich während eines Sturms oder Gewitters, um die gotische Atmosphäre zu erhöhen.

Beatrice ist ein bisschen langweilig, ein bisschen bieder, ein bisschen schüchtern – eine Durchschnittsfrau, wie man sie überall findet. Als Landei ist sie – wegen des Jobs natürlich – widerwillig nach Heidelberg gezogen, wo sie keinen Anschluss findet und somit ihre Abende und Wochenenden brütend in ihrer Wohnung verbringt, wo sie mit ihrem Los hadert. Doch eines Tages trifft sie in der Kantine die faszinierende Malia – das genaue Gegenteil von Beatrice. Malia ist selbstbewusst, strahlend schön, abenteuerlustig und verführerisch und sie bietet Beatrice ihre Freundschaft an. Von nun an machen die beiden nächtens die Stadt unsicher; sie gehen gemeinsam essen, auf Partys, in Kneipen. Doch vor allem freuen sie sich auf den Vampirball, ein rauschendes Fest, das alljährlich in Heidelberg stattfindet. Und dort lernt die scheue Beatrice Christoph kennen. Zwischen den beiden sollen bald zarte Bande entstehen, doch Beatrice hat gleichzeitig den Eindruck, dass Malia mehr als Freundschaft von ihr will. Ihre geheimnisvolle Freundin verführt sie mit Finesse und Beatrice gerät in einen Strudel aus Liebe, Leidenschaft und Eifersucht.

Der Klappentext bietet den Schlüssel zu „Vampirwinter“: Romainczyk, der seine Magisterarbeit über das Vampirmotiv in der englischen Literatur schrieb, hat mit seinem Roman eine moderne Neuinterpretation von Sheridan Le Fanus Novelle [„Carmilla“ 993 abgeliefert. Seine liebenswerte Hommage katapultiert Carmilla alias Malia (die originale Carmilla nutzte als Namen immer Anagramme ihres eigenen Namens Mircalla – und auch der Name Malia lässt sich aus Mircalla zusammensetzen) ins 21. Jahrhundert und erforscht, wie die Vampirin wohl heute leben würde. Denn mal ehrlich, nur wenige widmen sich der weiblichen Ausprägung dieses Phänomens. Neben Dracula, Varney, Lestat und Konsorten verblasst die Vampirin meist zur Nebenfigur. Romainczyk jedoch versucht zu aktualisieren, was schon Le Fanu mit Meisterschaft beschrieben hat: die Verführerin und kaltblütige Vampirin.

Dass Malia nicht ist wie andere Frauen, wird schnell klar – gerade im Gegensatz zur sehr angepassten Beatrice. Malia ordnet sich keinen Regeln unter und schon gar keinem männlichen Diktat. Ihr Vampirismus ermöglicht ihr größtmögliche Freiheit. Als Christoph, der Mann, nachts im Park verfolgt wird, ergreift er die Flucht. Als Malia, die Frau, in der Nacht ausgeraubt wird, macht sie einen Schritt auf den Räuber zu und und schlägt ihn eiskalt in die Flucht. Malia fürchtet nichts, selbst menschliche Urängste wie die vor der Finsternis und Undurchdringlichkeit der Nacht sind ihr fremd geworden.

Ihr ganzes Un-leben konzentriert sich auf zwei Dinge: Verführung und Mord. Sie nimmt sich, wie auch schon „Carmilla“ vor mehr als einhundert Jahren, Zeit, ihre Erwählte zu umgarnen. Unter Malias Händen blüht Beatrice förmlich auf und die Berührung der Vampirin (die natürlich mit einem Biss an delikater Stelle einhergeht) macht Beatrice buchstäblich zur Frau, wie uns der Epilog nahelegt. Gleichzeitig jedoch holt sich Malia ihre Blutmahlzeit mit kalter Berechnung bei einem unsympathischen, eingebildeten Mann, dessen Ableben den Leser wohl kaum schmerzen wird.

Doch wie bei Le Fanu muss die Vampirin vernichtet werden. Denn obwohl Malia unendliche Freiheit von restriktiven Konventionen propagiert, eine Erlösung für die Frau von Regeln und Maßstäben, so kann diese Anarchie natürlich nicht zugelassen werden. Aber da heute längst niemand mehr an Vampire glaubt, beendet kein Vampirexperte das liederliche Treiben, sondern Malia wird durch einen bösen Zufall dahingerafft. Ihr Wirken in Beatrice allerdings lässt sich nicht rückgängig machen. Diese ist durch Malias Berührung erwacht und anstatt sich vom Leben treiben zu lassen, scheint es nun, als würde sie selbiges bei den Hörnern packen.

Romainczyk schildert seine Charaktere einfühlsam, in flüssigem Stil und wird besonders eindringlich und überzeugend, wenn er seine Heimatstadt Heidelberg beschreibt und sich bei der Schilderung des Vampirballs ordentlich austoben kann. Heidelberg als Kulisse für die Handlung gibt dem Roman eine seltsam surreale und gedämpfte Stimmung, gerade so, wie der winterliche Schnee die Stadt mit weißem Glanz und subtiler Stille überzieht.

„Vampirwinter“ ist eine Liebhaberarbeit; ein Roman, der für sich genommen durchaus unterhalten kann, der aber erst richtig aufblüht, wenn er in Korrespondenz mit Le Fanus „Carmilla“ genossen werden kann. Denn wie bei Le Fanu ruft Malia gegensätzliche Gefühle sowohl bei Beatrice als auch beim Leser hervor. Sie ist faszinierend durch ihre Furchtlosigkeit. Sie ist anziehend durch ihre Schönheit. Doch sie ist auch geheimnisvoll und daher nicht wirklich vertrauenswürdig. Sie ist kaltblütige Mörderin und Kind einer anderen Zeit. Sie ist Genießerin – in allem, was irgend genossen werden kann.

„Vampirwinter“ ist ein wunderbarer kleiner Roman für einen schwülen Sommernachmittag oder eine einsame Nacht. Und man hofft zwangsläufig, nicht das Letzte von Romainczyk gehört zu haben!

Thomas H. Cook – Taken – Wir sind nicht allein (Band 1)

Passend zur kürzlich angelaufenen Science-Fiction-Serie „Taken“ gibt es jetzt auch die Begleitbücher zu den ersten beiden Folgen in der so genannten „Pro7-Edition“, also quasi die Begleitbücher zur Fernsehrserie von Steven Spielberg. Es handelt sich dabei um zwei ca. 200 Seiten starke Bücher, in denen die Geschichte um die mysteriöse [UFO-Landung in Roswell]http://de.wikipedia.org/wiki/UFO-Absturz__von__Roswell aus dem Jahre 1947 mit all ihren Folgen für die direkt betroffene Bevölkerung bzw. die ganze Welt geschildert wird. Anders als im Fernsehen, schildert Thomas H. Cook, der Autor der Bücher, die Geschichte jedoch nicht mit vielen Efekten, sondern konzentriert sich lediglich auf den wesentlichen Teil des Plots. Dass dabei manche Details verloren gehen, die man als Fan der Serie noch vor Augen hat, ist dabei eigentlich recht ungewöhnlich, denn im Normalfall zieht man ja immer das Buch dem Film vor. Dieses Mal sieht die Sache jedoch anders aus – aber wenn man bedenkt, dass Erfolgsregisseur Steven Spielberg hinter dem Projekt „Taken“ steht, kann man das schon einmal durchgehen lassen …

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Stephenson, Neal – Snow Crash

Leicht verdaulich ist es ja nicht, was Neal Stephenson da auf die Cyberpunk/Science-Fiction-Gemeinde losgelassen hat. Wer „Snow Crash“ allerdings eine Chance lässt, bekommt einen jener seltenen Ideentrips geboten, die das komplette Weltbild auf den Kopf stellen.

Doch beginnen wir am Anfang: Ausgangspunkt ist eine Zukunft, die nicht von Regierungen organisiert wird, sondern von seltsamen Konstellationen wirtschaftlicher Liberalität: So existieren etwa die Mafia, das FBI, die Polizei oder die Kirche als |Franchises| nebeneinander, als Geschäftsketten, deren Macht über die Marktanteile bestimmt, die sie sich sichern können.

Lebensraum der Bürger jener Zivilisation sind so genannte „Burbklaven“, Lebensgemeinschaften, deren Weltbild vertraglich geregelt ist – Subkulturen mit |Corporate Identity| sozusagen. Schmelztiegel all jener Burbklaven und Franchises ist das Metaversum, eine virtuelle Realität, in der sich jedermann und jede Frau „einbrillen“ kann, um sich mit weltweit gesammelten Informationen füttern zu lassen und mit anderen „Eingebrillten“ auszutauschen.

In einem solchen Universum gedeihen natürlich herrlich schräge Figuren: Hiro Protagonist etwa lebt außerhalb aller Burbklaven in einem Lagerhaus, wobei er seinen Lebensunterhalt als schwertkämpfender Hacker im Metaversum verdient. Und als Pizzafahrer für die Mafia. Ihm zur Seite steht Y.T., ein weiblicher, fünfzehnjähriger Skateboard-Kurier, der bis zu den Zähnen bewaffnet durch die übelsten Burbklaven düst, während die Mutter daheim mit dem Mittagessen wartet.

Eines schönen Tages bekommt es Hiro Protagonist mit „Snow Crash“ zu tun, einer Droge, die nicht nur den Computer seines Freundes Da5id lahm legt, sondern Da5id gleich mit. Snow Crash breitet sich rasch aus und hinterlässt Süchtige, die sich zu kultähnlichen Gruppen organisieren und scheinbar sinnlos vor sich her brabbeln.

Um seinem Freund zu helfen, heftet sich Hiro Protagonist auf die Spur von Snow Crash und den Drahtziehern dahinter. Dabei lernt er unerwartet, die Vertreibung aus dem Paradies mit anderen Augen zu sehen, er stellt fest, dass die Sumerer eine bizarre und fortschrittliche Weltsicht hatten, und erkennt, dass Religion und moderne Computerwissenschaft mehr gemeinsam haben, als sich der durchschnittliche Hacker des 23. Jahrhunderts vorstellen könnte.

Das gilt für den durchschnittlichen Leser des 21. Jahrhunderts natürlich umso mehr. Dementsprechend wird man mit Ideen um neurolinguistische Hacker bombardiert, um Metaviren, um eine drohende Infokalypse und um einen Antagonisten, der seinesgleichen sucht.

Wie gesagt, „Snow Crash“ ist nicht einfach nachzuvollziehen und man sollte schon ein paar grundlegende Kenntnisse über Computer mitbringen, wenn man dieses Buch verstehen möchte. Überhaupt ist Computertechnologie ein gerne verwendetes Thema von Neal Stephenson, das selbst in seinem Kryptographie-Thriller „Cryptonomicon“ eine entscheidende Rolle spielt, obwohl die Thematik dieses Romans im zweiten Weltkrieg verankert ist.

Für Cyberpunk-Anhänger oder Freunde harter Science-Fiction sind derlei technische Eskapaden natürlich ein gefundenes Fressen. Dabei sind Stephensons Ideen durchdacht und rasant umgesetzt, er fordert den Leser, überrumpelt ihn aber nicht, Grundwissen ist wohl nötig, aber ein Doktortitel muss es deswegen noch lange nicht sein. Überhaupt steht bei all dem die Story im Vordergrund, und die ist trotz allen Anspruches poppig, bunt und in einen gekonnten Spannungsbogen eingebettet.

Ursprünglich war „Snow Crash“ als computergenerierter Comic-Roman gedacht, der zusammen mit dem Künstler Tony Sheeder erstellt werden sollte, aber bald wurde dieses Projekt von seinem eigenen Gewicht erdrückt. Der Sprache merkt man es aber noch an: Sie ist hart, direkt und bombardiert den Leser mit stroboskopartigen Bildern einer Welt, die mit bizarren Ideen nur so gespickt ist:

|Im nächsten Sekundenbruchteil: Kein greller Blitz blendet sie, und darum kann sie die Druckwelle regelrecht sehen, die sich wie eine perfekte Kugel ausbreitet, hart und greifbar wie ein Ball aus Eis. Wo die Kugel die Straße berührt, erzeugt sie eine kreisförmige Wellenfront, schleudert Kieselsteine in die Höhe, wirbelt alte McDonald’s-Verpackungen hoch, die längst platt gefahren sind, und fördert feinen, weißen Staub aus sämtlichen Ritzen des Asphalts, so dass sie über die Straße rollt wie ein mikroskopischer Schneesturm. Darüber hängt die Druckwelle in der Luft, rast mit Schallgeschwindigkeit auf Y.T. zu, eine Linse aus Luft, die alles auf der anderen Seite abflacht und bricht. Sie saust hindurch.|

Selten hat man die Zeit, sich während einer gemächlichen Erklärungspassage umsehen zu können, Burbklaven, Franchises, Avatare, Daemonen oder Dentatas prasseln auf den Leser ein, während man vom Sog der Handlung mitgerissen wird; Handlung und Exposition verschmelzen so zu einer Einheit, die jegliche Langeweile im Keim erstickt. Natürlich wird hin und wieder das Tempo gedrosselt, um etwas zu erklären, aber dann ist das Erklärte so abgefahren, dass man die „Pause“ auch braucht, um es überhaupt verarbeiten zu können.
Stephenson hat außerdem ein gutes Gespür für die Vermeidung überflüssiger Informationen; die Szenen greifen nahtlos ineinander über und sorgen für einen stetigen Fluss. Er lässt den Leser an den entscheidenden Punkten des Geschehens einsteigen und hält sich nicht mit Rückblenden auf.

Auch die Figuren bleiben nicht auf der Strecke. Stephenson gibt sich nicht damit zufrieden, kantige Comic-Charaktere in den Raum zu werfen, die durch ein paar skurrile Eigenschaften vom Ruch des Eindimensionalen befreit werden sollen. Die Figuren leben und denken in der Welt, die für sie erschaffen worden ist, sie wachsen in der Konfrontation mit Snow Crash, und dadurch lernt der Leser zu verstehen, wie diese Welt „im Inneren“ funktioniert, was die „Infokalypse“ bedeuten würde, wenn sie tatsächlich über alles hereinbräche. Aber was am wichtigsten ist: Es gibt keine Marionetten der Story, die Story wächst durch die Entscheidungen der Figuren.

Neal Stephenson ist mit „Snow Crash“ jedenfalls ein exquisites Stück Ideenliteratur geglückt, das, wie ich finde, zu Unrecht im Schatten von William Gibsons [„Neuromancer“ 280 steht. Auch wenn Letzterem eine Pionier-Rolle in diesem Subgenre zusteht, zeichnet sich Stephensons Buch durch radikalere Ideen aus, die den Cyberpunk auf eine weitere Evolutionsstufe gehievt haben. Zu Recht jedenfalls wird er in einem Atemzug mit Bruce Sterling, John Shirley und dem erwähnten Gibson genannt, wenn es um die tragenden Autoren der Cyberpunk-Szene geht.

Man sollte sich allerdings davor hüten, Neal Stephenson in diese stilistische Ecke zu drängen. Angefangen hat der 1959 in Maydland Geborene mit „The Big U“, das er auf seiner Homepage als „Jugendwerk“ bezeichnet und nicht weiter kommentiert. 1988 veröffentlichte er „Zodiac – the Eco Thriller“, einen Hardboiled-Detektivroman, um 1991 schließlich „Snow Crash“ zu veröffentlichen. „Diamond Age“ landete 1995 in den Buchregalen der Leserschaft und schlägt als einziges Werk in eine ähnlich rasante und bunte Science-Fiction/Cyberpunk-Kerbe wie sein Vorgänger.

Das Jahr 1999 brachte Stephenson dann mit „Cryptonomicon“ den Durchbruch. Allerdings schlendert dieser Kryptographie-Thriller in einer epischen Gemütlichkeit dahin, die nicht das Geringste mit der Achterbahnfahrt gemein hat, auf die man von „Snow Crash“ geschickt wird. „Cryptonomicon“ kommt viel erwachsener daher, ebenso wie dessen drei Folgeromane aus dem „Baroque Cycle“: [„Quicksilver“, 858 „The Confusion“ (bisher nur auf Englisch erschienen) und „The System of the World“ (ebenfalls nur auf Englisch erschienen). Stephensons Leidenschaft für ausgeklügelte Ideen bekommt hier viel mehr Raum und der Leser kann gemütlich durch seine Gedankengebilde spazieren. Ich für meinen Teil ziehe seine beiden wesentlich wilderen Vorgänger eindeutig vor, weise aber ausdrücklich darauf hin, dass das nichts mit der Qualität von „Cryptonomicon“ zu tun hat, sondern ausschließlich mit meinem persönlichen Geschmack.

Kommen wir also zum Fazit: Da die Zielgruppe „Snow Crash“ ohnehin schon in den Regalen stehen haben wird, geht mein Aufruf an alle, die sich der Science-Fiction sonst nicht so verbunden fühlen: Gebt diesem Ideentrip eine Chance, die Mühe, die er verlangt, zahlt sich mehrfach aus!

Catherine Aird – Das Pendel des Todes

aird-pendel-cover-kleinIn einem kleinen englischen Städtchen endet ein prominenter Unternehmer unter einer tonnenschweren Marmorskulptur. Die Kriminalpolizei ermittelt rasch, dass hier kein Unfall vorliegt … – Krimi der klassischen angelsächsischen Art. Die Geschichte vom originell ausgeklügelten, ‚unmöglichen‘ Mord in einem fest verschlossenen Raum wird durchaus modern erzählt. Der knochentrockene Wortwitz erinnert an die berühmte Dalziel/Pascoe-Serie von Reginald Hill: ein kleines Meisterwerk, das hier der Wiederentdeckung harrt.
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Basil Copper – Der Vampir in Legende, Kunst und Wirklichkeit

Legende und Literatur

In vier Großkapiteln nähert sich Copper seinem komplexen Thema. „Der Vampir in der Legende“ ist in erster Linie ein durch zeitgenössische Quellen gestützter historischer Rückblick. Der Glaube an nächtlich auftauchende Blutsauger kommt nicht von ungefähr, sondern hat Wurzeln, die erstaunlich weit zurückreichen. Copper unternimmt den Versuch, ein wenig Licht in das mythische Dunkel zu bringen. Er erinnert an den Drang, für jene Dinge, die der Mensch nicht versteht, eine „Erklärung“ zu konstruieren. Seltsame Krankheiten, merkwürdige Umtriebe an Grabstätten, dazu Vorurteile, üble Nachrede, Dummheit und Furcht bildeten den Nährboden für den Glauben an „Wiedergänger“ und „Nachzehrer“, der in praktisch allen Kulturen präsent war, sich durch alle gesellschaftlichen Schichten zog und die „gebildeten“ Stände keineswegs ausschloss. Der Verfasser präsentiert außerdem „echte“ Vampire – kleine Fledermäuse aus Südamerika – und einen kuriosen Schmetterling, der sich ebenfalls von Blut ernährt. Basil Copper – Der Vampir in Legende, Kunst und Wirklichkeit weiterlesen

Huston, Charlie – Prügelknabe, Der

Was dabei herauskommt, wenn Drehbuchautoren anfangen Romane zu schreiben, sieht man an „Der Prügelknabe“ von Charlie Huston: Ein Buch, das verständlicherweise wie geschaffen dafür ist, verfilmt zu werden. Kein Wunder also, dass die Filmrechte zu Hustons Debütroman schon verkauft sind. Doch funktioniert das Buch als eigenständiger Roman genauso gut wie als möglicher Film? Oder ist es als Vorlage für den Film eher Mittel zum Zweck?

„Der Prügelknabe“ erzählt die Geschichte des sympathischen Verlierers Hank. Nachdem er aufgrund einer schweren Sportverletzung seine hoffnungsvolle Baseballkarriere an den Nagel hängen musste, zog es Hank von Kalifornien nach New York. Dort führt er ein bescheidenes Leben als dem Alkohol arg zugeneigter Barkeeper. Alles in allem eine unspektakuläre Existenz – bis er eines Abends in der Bar von zwei Russen übel zugerichtet wird. Einige Tage später wird Hank aus dem Krankenhaus entlassen, um eine Niere ärmer und den (zugegebenermaßen vom Arzt aufgezwungenen) Vorsatz, sein Leben zu ändern, reicher.

Hank soll dem Alkohol entsagen (was ihm verständlicherweise nicht ganz leicht fällt) und sich von den Strapazen der Nieren-OP erholen, doch Ruhe ist ihm nicht vergönnt. Kaum ist er zu Hause angekommen, tauchen die beiden Russen wieder auf. Dass die Sache offenbar mit seinem Nachbarn Russ zu tun hat, dämmert ihm, als dessen Bude von einem Haufen Gangstertypen durchwühlt wird.

Russ ist derweil untergetaucht, während Hank brav dessen Katze hütet. Was Hank allerdings nicht ahnt, ist, dass in dem Käfig, mit dem Russ vor seiner Abreise vor Hanks Tür stand, nicht nur die Katze war, sondern auch ein ominöser Schlüssel. Und auf den sind plötzlich eine Menge Leute scharf. Für Hank ist dies der Beginn einer Odyssee kreuz und quer durch den New Yorker Großstadtdschungel. Skrupellose Gangster, korrupte Polizisten, die Russenmafia – alle sind sie hinter Hank her, und der lernt in den folgenden Tagen eine Menge einzustecken …

„Der Prügelknabe“ ist eine recht rasante Geschichte. Ohne viel Umschweife steigt Huston direkt ins Geschehen ein, keine Worte werden verschwendet, keine Zeile ist zu viel. Hustons Erzählstil ist ein Stil der schnellen Schnitte und der sprunghaften Überleitungen. Kurze, knappe Sätze, schnelle Wortwechsel und ein hohes Erzähltempo sind die markantesten Eigenschaften des Romans. Huston wechselt schnell von einer Szene zur nächsten, springt, ohne den Leser lang und breit darauf vorzubereiten, in der Handlung vor und zurück und dokumentiert die Dialoge als rasante Wortwechsel, bei denen man als Leser schon mal hier und da nachdenken muss, wer jetzt eigentlich was gesagt hat.

Das wirkt manchmal ein wenig abgehackt und hastig, zum Handlungsbogen passt dieser direkte Erzählstil aber dennoch sehr gut. Huston konzentriert sich auf Hanks Odyssee durch New York. Es gibt nur eine Handvoll Nebenfiguren, deren Charakterisierung aber stets oberflächlich bleibt. Umso detaillierter setzt Huston sich mit seinem Protagonisten auseinander. Hank, der auf den ersten Seiten noch einen etwas asozialen und unsympathischen Eindruck hinterlässt, wächst dem Leser schnell ans Herz. Hank wirkt natürlich und glaubwürdig. Eine gescheiterte Existenz, die irgendwie ihre Lebensziele aus den Augen verloren hat, so wie Menschen nun einmal Ziele aus den Augen verlieren. Er hatte Pech und hat sich zwischenzeitlich damit abgefunden. So wie Hank sind viele Menschen, und das macht ihn als Protagonisten so großartig. Man kann sich in ihn hineinversetzen, findet sich vielleicht sogar ein Stück weit in ihm wieder. Das lässt die Geschichte authentisch wirken und fesselt den Leser in Anbetracht der Dinge, die Hank erlebt, umso mehr.

Zugegeben, was Hank in „Der Prügelknabe“ so alles erlebt, das mag auf Ottonormalverbraucher doch recht unwahrscheinlich wirken. Es ist nun einmal eine actiongeladene Thrillergeschichte, authentische Hauptfigur hin oder her. Hank hat alle möglichen Leute an den Hacken, von denen der eine skrupelloser als der andere ist. Aber Hank bleibt in all diesem Trubel so erfrischend normal, dass die Geschichte auf ihre Art wirklich glaubwürdig erscheint. Er glaubt anfangs beharrlich an ein Missverständnis, glaubt, dass sich schon alles aufklären wird, wenn Russ erst einmal zurückkommt und er glaubt, dass er den Gangstern schon irgendwie begreiflich machen kann, dass er der Falsche ist, doch so einfach ist das natürlich nicht. Hank hat niemanden, den er um Hilfe bitten kann, und steht ziemlich allein vor dem ganzen Schlammassel.

Ein wenig naiv wirkt er, wie er, stets begleitet von Russ‘ Katze Bud (um deren Wohlergehen er sich permanent und geradezu rührend sorgt), durch die Geschichte stolpert. Dieser Umstand hat schon eine gewisse schwarzhumorige Seite, die auch an anderen Stellen des Romans gelegentlich wieder aufblitzt. So knallhart, wie die Geschichte verläuft, so komische Momente hat sie eben auch immer wieder mal, wenngleich der Humor dahinter eher ein unterschwelliger, indirekter ist.

Hank entwickelt sich innerhalb der Geschehnisse weiter, und auch das durchaus glaubwürdig. Zunehmend frustriert darüber, für alle nur der titelstiftende Prügelknabe zu sein und dementsprechend einstecken zu müssen, obwohl er sich das augenblicklich gesundheitlich gar nicht leisten kann, wird Hank mit der Zeit hart im Nehmen. Er beginnt das Spielchen mitzuspielen und entwickelt sich dabei zu einem durchaus ernst zu nehmenden Gegenspieler. Und dann wird das, was im Roman innerhalb weniger Tage passiert, richtig spannend und temporeich.

So rasant wie „Der Prügelknabe“ daherkommt, so blutig ist er teilweise auch. Das, was manche der Figuren an Kaltblütigkeit und Brutalität auffahren, ist nicht unbedingt für die zartesten Gemüter geeignet. Besonders im Gedächtnis bleiben da die Szenen, die mit Nähten und Wunden zu tun haben, denn einmal ist es Hank, der durch eher unsachgemäßes Fädenziehen an seiner OP-Wunde zum Reden gebracht werden soll, ein anderes Mal ist es Hank, der mit Nadel und Faden versucht, Russ‘ Schädel zusammenzuflicken. Alles nicht unbedingt appetitlich in all seiner Deutlichkeit und Detailliertheit. Sehr deutlich ist Huston auch sprachlich. Es wird viel geflucht, der Ton ist derbe, teils vulgär – wie man es von einer echten New Yorker Gangstergeschichte nun einmal erwartet.

Im Klappentext fällt übrigens das gefährliche Wort |Kultroman|. Kultromane lassen sich natürlich nicht durch Klappentexte zu eben solchen machen, insofern bin ich bei dieser Vokabel immer äußerst skeptisch. Es werden allerhand Vergleiche gezogen (Tarantino, Hitchcock, „The Big Lebowski“, „Der Marathon-Mann“, „American Psycho“). Nicht alles zwangsläufig nachvollziehbar, aber die Zielgruppe lässt sich damit immerhin recht ordentlich einkreisen. Meine These ist eigentlich immer die, dass Bücher, auf denen Dinge wie |“der perfekte Kultroman“| stehen, niemals genau das werden können. Schließlich wird Kultstatus nur durch die Resonanz des Publikums erzeugt und nicht durch den Willen des Verlags. Kult geht die merkwürdigsten und unvorhersehbarsten Wege. Ob „Der Prügelknabe“ also jemals in irgendeiner Weise „Kultstatus“ erreichen wird, kann einzig und allein die Zeit zeigen.

Woran der Verlag aber ruhig noch einmal arbeiten dürfte, ist das Lektorat. „Der Prügelknabe“ enthält eine ganze Reihe nervtötender und überflüssiger Fehler, die eigentlich vor der Veröffentlichung ausgemerzt gehören. Da gibt es nicht nur Tippfehler (über die man eventuell noch hinwegsehen könnte), sondern durchaus auch mal Wortdreher und vertauschte Namen und das sind dann Fehler, die wirklich stören.

Ansonsten gibt es abschließend kaum Negatives festzuhalten. Charlie Huston ist ein rasantes, spannendes und ernst zu nehmendes Romandebüt gelungen, mit einem Protagonisten, der dem Leser schnell ans Herz wächst. Er skizziert eine intensive, nervenaufreibende Odyssee durch New York, die zu verfolgen bis zur letzten Seite Freude bereitet. Der sprunghafte, teils etwas abgehackte Erzählstil mit den rasanten Wortwechseln erfordert zwar eine gewisse Konzentration und mag hier und da etwas stören, passt aber gut zum Inhalt.

Wem „Der Prügelknabe“ gefallen hat, der darf sich obendrein auf zwei weitere Bücher um den sympathischen Verlierertypen Hank freuen, denn Huston hat die Geschichte als Trilogie geschrieben, deren zweiter Teil („Der Gejagte“) in diesem Monat in die Buchläden kommt.

Bujold, Lois McMaster – Barrayar – Gefährliche Missionen (alternativ: Cetaganda)

Mit dem |Barrayar|-Zyklus schreibt sich Lois McMaster Bujold seit 1986 in die Herzen nicht nur amerikanischer SF-Fans. Die vielfach ausgezeichnete Autorin verdankt der Space Opera um den körperlich missgebildeten Miles Vorkosigan vier ihrer fünf |Hugo| sowie zwei |Nebula Awards|. Auch im Fantasy-Bereich hat Bujold mit „Chalions Fluch“ sowie dem mit |Hugo| und |Nebula Award| ausgezeichneten [„Paladin der Seelen“ 973 Erfolge aufzuweisen.

Der ungewöhnliche Held Miles besticht in seinen Romanen mit Humor und Verstand, in der traditionellen und rückständigen Kriegergesellschaft der Barrayaner ist sein scharfer Verstand für den kaiserlichen Geheimdienst unentbehrlich, doch offiziell wird er als Diplomat und Günstling des Kaisers geführt, der nur aufgrund seines berühmten Vaters trotz Glasknochen und verkrüppeltem Wuchs in der körperbetonten Gesellschaft der Barrayaner einen Platz gefunden hat.

Der kluge Miles erhält so einen tragisch-komischen Touch, der ihn sehr sympathisch macht, man leidet mit ihm, wenn seine spröden Knochen im ungünstigsten Moment brechen, oder er in der Liebe wegen seines Mangels an Attraktivität frustriert ist. Seine Karriere im Geheimdienst beginnt, nachdem er an der körperlich zu schweren Aufnahmeprüfung der Flotte scheitert – um sich kurze Zeit später unter dem Pseudonym Admiral Naismith eine eigene Söldnertruppe aufzubauen, die Dendarii-Söldner, die unwissend somit im Dienst des Kaiserreichs Barrayar steht.

Auch in diesem Sammelband, der die vielfach prämierten Romane „Cetaganda“, „Ethan von Athos“ sowie die Novelle „Labyrinth“ enthält, wird die Söldnertruppe von Bedeutung sein. Dieses Mal werden jedoch die Genetik und ihre Folgen und Auswirkungen für einzelne Personen sowie die gesamte cetagandische Gesellschaft im Mittelpunkt stehen.

Die Neuauflage des |Barrayar|-Zyklus in Sammelbänden durch |Heyne| ermöglicht es SF-Fans, eine chronologisch geordnete Gesamtausgabe des Barrayar-Zyklus zu erwerben. Diese sind in sich abgeschlossen, man muss also nicht gezwungenermaßen bei Band 1 beginnen, zumal jeder einzelne Sammelband einen anderen Schwerpunkt setzt, wie in diesem Fall auf Genetik. Wer es sich nicht nehmen lassen will, den Zyklus in chronologischer Reihenfolge zu lesen, sollte mit den ebenfalls ausgezeichneten Sammelbänden „Cordelias Ehre“ und [Der junge Miles 953 beginnen.

|Cetaganda|

Miles Vorkosigan stellt zusammen mit seinem Cousin Ivan Vorpatril die Trauerdelegation des barrayanischen Kaiserreichs anlässlich des Staatsbegräbnisses der Kaiserin Cetagandas, dem Erzfeind Barrayars.

Bereits bei der Ankunft wird ihre Fähre in ein abgelegenes Terminal umgeleitet und Miles von einem offensichtlich sehr nervösen und ungeschickten Attentäter attackiert, der auf der Flucht zudem noch einen aufwändig kodierten Datenspeicher verliert. Miles bittet Ivan, den Vorfall vorerst für sich zu behalten – denn offenkundig ging dieser Anschlag nicht vom cetagandischen Sicherheitsdienst aus, der selbst nichts davon zu wissen scheint …

In der Folge lernt Miles die komplizierte cetagandische Gesellschaft besser kennen, während Ivan sich am liebsten Vorreedi, dem barrayanischen Sicherheitschef auf Cetaganda, anvertrauen würde, denn auf Miles und ihn werden immer weitere Mordanschläge verübt. Schlimmer noch: Man findet die Leiche des Terminal-Attentäters mit aufgeschlitzer Kehle am öffentlich ausgestellten Sarg der Kaiserin!

Erst die Haud Rian, Hüterin der Sternenkrippe, offenbart Miles die Tragweite der Ereignisse: Eine Verschwörung gegen das cetagandische Kaiserreich, die auch Barrayar mit ins Verderben reißen könnte, ist im Gange! Deshalb fordert sie energisch von Miles den „Schlüssel“, den sie in seinem Besitz weiß. Miles ist zugleich ihre letzte Hoffnung, denn der berüchtigte Sicherheitsdienst kann ihr nicht helfen, auch er ist in den Wirrwarr aus Verrat und Intrige verwickelt … Es geht um nichts Geringeres als die Kontrolle über das Haud-Genom, dem die herrschende Schicht Cetagandas entstammt.

|Ethan von Athos|

Der Planet Athos ist eine reine Männergesellschaft – es gibt keine Frauen, alle Männer werden in Uterus-Replikatoren gezüchtet, Homosexualität ist die Norm und das Recht auf Kinder muss man sich durch soziale Verdienstpunkte erwerben. Doch dem Männerplanet droht eine Existenzkrise: Die für die Uterus-Replikatoren verwendeten Eierstöcke altern und sterben ab. Eine Lieferung frischer Eierstöcke sollte dieses Problem lösen, doch man hat die Athosianer hereingelegt: Totes Gewebe, teilweise von Kühen und anderer Unrat wurde ihnen für eine horrende Summe angedreht. Dr. Ethan Urquhart, Leiter der Abteilung für reproduktive Biologie, soll den Fall auf der Raumstation Kline klären und unter allen Umständen umgehend neues Gewebe für die Replikatoren besorgen.

Ethan ist mit dieser Aufgabe völlig überfordert: Er wird als Schwuchtel und Perversling verprügelt, kommt mit der fremdartigen Umgebung einer Raumstation nicht klar, und zu allem Überfluss gibt es auf dieser auch noch Frauen!

Völlig verstört und eingeschüchtert, wird Ethan von der hübschen Eli Quinn von den Dendarii-Söldnern unter ihre Fittiche genommen. Denn seltsamerweise hat auch der cetagandische Geheimdienst Interesse an der Lieferung für Athos und beginnt mit der Jagd auf Ethan. Eli findet heraus, dass es ihnen um das Genmaterial des entlaufenen Klons Terrence Cee geht, der sich angeblich auch auf der Raumstation befindet – und tot oder lebendig für den Geheimdienst von höchster Bedeutung ist …

|Labyrinth|

Miles soll in seiner Tarnidentität als Admiral Naismith von den Dendarii-Söldnern für den barrayanischen Geheimdienst einen Genetiker in Sicherheit bringen. Leider arbeitet dieser auf Jackson’s Whole, dem korruptesten Gangsterloch der ganzen Galaxis, für eines der hohen Häuser. Diese aus Verbrechersyndikaten hervorgegangenen Pseudoaristokratien stellen die recht eigenwillige „Regierung“ dieser Welt. Traditionell widmen sich die Häuser bevorzugt einem Gebiet, das von Waffenhandel bis hin zur Prostitution reichen kann – oder eben der Schaffung künstlicher Lebewesen ohne moralische Einschränkungen jeglicher Art.

Seine Mission bringt Miles in Kontakt mit den Baronen und ihren bedauernswerten Opfern. Bei der Rettung des Wissenschaftlers stellt sich dieser ebenfalls als Scheusal heraus, entgegen seinen Anweisungen befreit Miles eines seiner „Experimente“, nebst der von den Baronen als einer Art exotisches Schaustück gehaltenen Quaddie Nicol.

_Geheimagenten und Genetiker_

Man mag es kaum glauben, aber zwischen „Cetaganda“, dem neuesten der drei Romane, und „Ethan von Athos“ liegen ganze elf Jahre. Die Thematik dieses Sammelbandes ist trotzdem erstaunlicherweise aus einem Guss, alles dreht sich um Genetik und ihre Einflüsse auf Einzelpersonen und ganze Gesellschaften, vortrefflich demonstriert an dem Kaiserreich Cetaganda, dessen Kultur japanische Einflüsse aufweist, aber dennoch so vollkommen anders ist. Besonders interessant fand ich das Machtverhältnis zwischen Kaiser und Kaiserin und ihren Gouverneuren. Miles wird von der übermenschlichen Schönheit der cetagandischen Haud-Frauen, die sich normalerweise nur in ihren weißen Energiekugeln quasi verschleiert zeigen, geradezu geblendet, und darf sich anstelle des Lesers beängstigt fragen, wohin die Perfektion und Zuchtauswahl der Haud sie führen wird – Werden sie sich im weiteren Verlauf ihrer Entwicklung überhaupt noch als Teil der gewöhnlichen menschlichen Rasse ansehen? „Cetaganda“ ist mit Abstand der spannendste Roman des Sammelbands und mein Favorit, der Mix aus Agententhriller, SciFi und Genetik ist vortrefflich gelungen.

„Ethan von Athos“ ist die humorvollste Geschichte, sie entstand bereits vor der Veröffentlichung des ersten |Barrayar|-Romans bei |Baen Books|. So trägt Ethan einige Charakterzüge des späteren Helden Miles; mit der smarten Eli Quinn, die bereits im ersten Sammelband Plasmaverbrennungen im Gesicht erlitten hat, taucht zudem eine dank betanischer Biotechnologie wiederhergestellte strahlende Schönheit auf, die in einer ursprünglichen Konzeption der Serie wohl Miles Gefährtin hätte werden sollen. Neben der amüsanten Männergesellschafts von Athos gefällt vor allem der Kontrast zu der Raumstation. Originell stellt Bujold das Leben an Bord von Station Kline dar: So machen sich Eli und Ethan des Öfteren die Sicherheitsorgane der Station zunutze, fingieren einen Brand oder geben der Biokontrollwartin der Station Hinweise auf eine eingeschleppte Krankheit oder eine Kakerlake, auf die sie sich mit dem Zorn und Eifer einer Furie stürzt. Mit der Ernährung an Bord der Station hat Ethan auch einige Probleme, werden doch tote Menschen zum Düngen der Pflanzenkulturen verwendet, ebenso scheint die Speisekarte fast nur aus Wassermolch zu bestehen: Wassermolch-Creole, Molch-Mousse in Aspik, gebratene Wassermolcheier, Molch mit Fritten oder Molch im Topf hängen allerdings auch den Stationsbewohnern zum Hals heraus, welche die in der atmosphärischen Wiederaufbereitungsanlage als Nebenprodukte entstandenen Molche massenweise als Froschschenkel an planetarische Restaurants verkaufen.

Doch es geht nicht nur abstrus und lustig zu auf Station Kline, denn Oberst Millisor vom cetagandischen Sicherheitsdienst versteht überhaupt keinen Spaß – ohne die smarte Eli hätten der gesuchte Klon Terrence sowie Ethan keine Chance. Hier setzt auch meine Kritik an, denn Eli ist nicht ganz so sympathisch oder glaubwürdig wie andere Figuren; wie viele weibliche Hauptfiguren Bujolds (wie z. B. Miles Mutter Cordelia) ist sie ein wenig zu perfekt, wo bei den männlichen klare Schrullen und Macken vorhanden sind. Der Spaßfaktor überwiegt in dieser Geschichte den Thriller-Anteil, allerdings ist Bujolds Humor wirklich köstlich genug, um die durch die Blödelei etwas fehlende Spannung zu kompensieren.

Der Titel „Labyrinth“ enthält eine Anspielung auf den Klon, den Miles aus seinem Kerker befreit: |Taura| ist eine Mischung aus Mensch und Stier – quasi ein Minotaurus, ein gezüchteter Superkriegerprototyp, der leider nicht zur vollständigen Zufriedenheit ausfiel. In dieser Novelle wird die Skrupellosigkeit von Wissenschaftlern im Dienst noch skrupelloserer Verbrecher, den Baronen des verkommenen und ultrakorrupten Planeten Jackson’s Whole, angeprangert. Aber auch normale Menschen sind gegenüber exotischen Wesen herablassend oder reduzieren sie auf den Status eines Lustspielzeugs, wie es Baron Ryoval mit der Quaddie Nicol tut. Quaddies sind übrigens beinlose, dafür vierarmige Menschen, die an Nullgravitation angepasst wurden. Auch auf Miles wirkt Taura sehr befremdlich, aber er selbst ist an Gehässigkeiten und herablassende Kommentare wegen seiner körperlichen Defizite gewöhnt; gerade auf Barrayar wird alles von der Norm Abweichende abgelehnt. Darum setzt er alles daran, nicht nur sie, sondern auch Nicol zu retten.

Um seinen Auftrag, den Genetiker sicher nach Barrayar zu bringen, zu erfüllen, muss Miles sich auf einige krumme Deals mit den Baronen Fell und Ryoval einlassen und sie gegeneinander ausspielen – was gar nicht so einfach ist, denn auch wenn man sich untereinander inoffiziell um die Macht rangelt, von einem dahergelaufenen Söldnerkommandanten lässt man sich nun wirklich nicht an der Nase herumführen – und so landet Miles schließlich im Labyrinth bei Taura …

Als Novelle ist |Labyrinth| nicht ganz so umfangreich wie die beiden vorhergehenden Romane, die Geschichte passt dennoch hervorragend in das große Thema des Romans, die Genetik, und setzt dabei wieder andere Akzente. War |Cetaganda| spannend und faszinierend, |Ethan von Athos| vor allem humorvoll, macht das |Labyrinth| in erster Linie nachdenklich.

_Unterhaltsamer kann eine Space Opera kaum sein_

Lois McMaster Bujold wurde und wird nicht umsonst mit Auszeichnungen überhäuft. Sie hat ein Talent als Geschichtenerzählerin, das seinesgleichen sucht. Mit Miles Vorkosigan hat sie einen liebenswerten Antihelden geschaffen, dessen Abenteuer einen unwiderstehlichen Mix aus Science-Fiction, Agententhriller und Komödie bieten. Ihr Sinn für Humor und die ironische Weise, in der die Charaktere in ihren Dialogen Ereignisse kommentieren, sind einfach köstlich.

Neben einer Sternenkarte sowie einer nützlichen Zeittafel des Zyklus enthält der Sammelband auch ein aufschlussreiches Nachwort der Autorin. Für die exzellente Übersetzung zeichnet wieder einmal Michael Morgental verantwortlich, der bereits zahlreiche andere Romane des Barrayar-Universums übersetzt hat. Ebenso zahlreiche in den Originalausgaben vorhandene (Sinn-)Fehler der Übersetzung wurden für „Gefährliche Missionen“ dankenswerterweise korrigiert.

Ich kann die Barrayar-Sammelbände jedem SciFi-Fan nachdrücklich empfehlen. Man erhält nicht nur in Deutschland schwer erhältliche Novellen aus dem Barrayar-Universum; die Möglichkeit, eine hervorragende Neuausgabe dieser mit Preisen wahrlich überschütteten Serie zu erhalten, sollte man sich nicht entgehen lassen. Wie auch die anderen Barrayar-Romane konnte ich dieses Buch einfach nicht aus der Hand legen.

Der Titel „Gefährliche Missionen“ ist vermutlich eine Last-Minute-Entscheidung des Verlags, ursprünglich wurde der dritte Barrayar-Sammelband mit „Cetaganda“ tituliert, deshalb findet man selbst auf den Seiten des Verlags „Gefährliche Missionen“ noch mit dem alten Covertitel „Cetaganda“.

Die offizielle Homepage der Autorin:
http://www.dendarii.com/

Rankin, Ian – zweite Zeichen, Das

Ein ganz normaler Montag im Leben von John Rebus, Detective Inspector bei der Mordkommission der schottischen Metropole Edinburgh. Gerade hat ihn die Freundin verlassen, sein publicitygieriger Chef will ihn für eine Antidrogen-Kampagne zwangsrekrutieren, und selbstverständlich regnet es wieder in Strömen – da passt es gut ins Bild, dass Rebus in die übel beleumundete Siedlung Pilmuir gerufen wird. Dort stehen die meisten Gebäude leer und warten darauf abgerissen zu werden – theoretisch jedenfalls, denn tatsächlich haben sich in den Ruinen Hausbesetzer eingenistet, deren bloße Anwesenheit den Stadtvätern schon lange ein Dorn im Auge ist.

Der junge Herumtreiber Ronnie McGrath ist offensichtlich an einer Überdosis Heroin gestorben – kein ungewöhnliches Ende in Pilmuir. Doch Rankin fällt auf, dass der Körper des Toten mit Blutergüssen übersät ist, und später wird der Polizeiarzt entdecken, dass Ronnies „Stoff“ reichlich mit Rattengift versetzt wurde. In einem Nebenraum irritiert den Inspector ein sorgfältig an die Wand gemaltes Pentagramm – wurde Ronnie ein Opfer satanistischer Umtriebe? Seiner Freundin Tracy weiß davon angeblich nichts, aber sie gibt immerhin zu, dass sich Ronnie in den letzten Wochen seines Lebens verfolgt fühlte.

Rebus dreht sich bei seinen Ermittlungen im Kreis. Überrascht muss er erfahren, dass in Edinburgh mindestens sechs okkultistische Gruppen bekannt sind. Doch die Spuren weisen auch in andere Richtungen: Ronnies Bruder ist Polizist und deckte dessen illegale Aktivitäten. Noch beunruhigender sind die Verbindungen, die Rebus zwischen dem Ermordeten und jener Gruppe vermögender und einflussreicher Geschäftsleute entdeckt, von denen die erwähnte Antidrogen-Kampagne finanziert wird. Sie gehören einer neuen Generation an: Junge, skrupellose, erfolgreiche Finanzhaie sind es, die hart arbeiten und sich in ihrer knappen Freizeit amüsieren wollen – und im Beruf wie im Privatleben ist das Gesetz etwas, über das sie sich jederzeit erhaben fühlen!

Das bekommt Rebus zu spüren, als er der Wahrheit zu nahe kommt. Seine unsichtbaren Gegner fädeln ein Komplott ein, um den lästigen und ihnen allmählich gefährlich werdenden Spielverderber auszuschalten. Doch sie haben Rebus unterschätzt – und sie wissen nichts von Ronnies Vermächtnis, das dieser als Lebensversicherung an einem ganz besonderen Ort verborgen hält …

„Das zweite Zeichen“ ist – wie der Zufall so spielt – nicht nur der deutsche Titel des im Original viel anschaulicher „Verstecken & Suchen“ betitelten Romans, sondern markiert tatsächlich den zweiten Auftritt von John Rebus, Polizist in Edinburgh, der nun definitiv ansetzt, seinen Siegeszug auch durch die hiesige Krimi-Szene anzutreten.

In Großbritannien ist Rebus schon lange Stammgast in den Bestseller-Listen. Zwar geht es gar finster und notorisch depressiv zu in Ian Rankins Edinburgh, aber wenn man schon glaubt, nun geht’s nicht mehr, kommt doch irgendwo ein Lichtlein in Gestalt des berühmten britischen Humors her. Die Welt ist schlecht, das Leben hart, aber das heißt noch lange nicht, dass man beidem keine komischen Seiten abgewinnen könnte!

Dazu kommen die ungewöhnlichen Fälle, mit denen Rankin seinen Inspektor von der traurigen Gestalt konfrontiert. Sie sind beinahe überkompliziert, „gothic“ und ziemlich abgedreht; das wird sich in den weiteren Bänden der Serie sogar noch steigern. Weil Rankin aber den Überblick behält und sein Garn zu spinnen weiß, entsteht stets eine höllisch spannende und rasante Geschichte daraus.

Mit „Das zweite Zeichen“, im Original bereits 1991 erschienen, beweist Rankin ungewöhnlichen Scharfblick: Spätestens als im Kino der „Fight Club“ erfolgreich lief, musste sich die Gesellschaft in den sogenannten Industrieländern der unangenehmen Gewissheit stellen, dass unter denen, die nicht unter die Räder der Globalisierung geraten sind, sondern wirtschaftlich definitiv zu den Gewinnern gehören, eine Generation herangewachsen ist, die sich langweilt mit dem, was sich für schnöden Mammon kaufen lässt, und auch in der bizarrsten Extremsportart den ersehnten Kick nicht mehr findet.

Hier setzt Rankin an. Er hatte allerdings zusätzlich eine solide Basis für seine böse Geschichte vom menschlichen Treibgut, das die Satten und Unbarmherzigen im wahrsten Sinn des Wortes befriedigen muss: Großbritannien im Jahre 1991 war ein durch den Steinzeit-Kapitalismus der Ära Margareth Thatcher zerrüttetes Land, in dem die Kluft zwischen Arm und Reich nicht nur immer größer, sondern das Verantwortungsgefühl der Privilegierten für die (unschuldig) weniger Begünstigten praktisch auf den Nullpunkt gefallen war. An dieses Phänomen konnten wir uns weltweit inzwischen gewöhnen; man denke nur an die verelendeten Länder des ehemaligen Ostblocks, deren Jugend – so denkt man manchmal – hauptsächlich deshalb heranwächst, um der Pornoindustrie des Westens den regelmäßigen Nachschub an Darsteller/inne/n zu sichern. Insofern hat „Das zweite Zeichen“ nichts von seiner Aktualität verloren.

Rebus selbst hat sich verändert. Fröhlicher ist er nicht geworden. Allerdings verliert Rankin auch kein Wort mehr über die Psychosen seines Helden, die auf eine brutale militärische „Spezialausbildung“ bei einer Elite-Fallschirmjäger-Einheit zurückgehen. Bei seinem Debüt drohte Rebus daran noch endgültig zu zerbrechen, aber nachdem die Figur ihre „Serientauglichkeit“ unter Beweis gestellt hatte, ließ Rankin Rebus’ geistige Defekte offensichtlich stillschweigend fallen. Er wird aber trotzdem nie auf dem Tisch tanzen, denn dafür präsentiert ihm die Welt – repräsentiert durch seine Heimatstadt Edinburgh – immer wieder neue Beweise dafür, wie schlecht sie (geworden) ist. In dieser Beziehung ist Rebus Deutschlands Lieblings-Kommissar Kurt Wallander durchaus ein Bruder im Geiste (der richtige sitzt ja als verurteilter Drogendealer im Gefängnis – ein weiterer Nagel zu Rebus’ Sarg …) – nur eben mit Humor.

Ian Rankin, geboren 1960 im schottischen Fife, lebte zwar mit seiner Familie lange in Südfrankreich, konnte sich dort aber offensichtlich gut an seine Jahre in Edinburgh und später London erinnern. Sein erstes John-Rebus-Abenteuer veröffentlichte er 1987; da sich der Erfolg rasch einstellte, ließ Rankin seinem Debüt weitere John-Rebus-Abenteuer folgen, die inzwischen ihren Weg nach Deutschland gefunden haben; kurioserweise in chronologischer Reihenfolge als Taschenbuch die älteren Bände, während die aktuellen Rebus-Thriller gebunden geadelt werden, um die angefütterten Krimi-Freunde besser zur Kasse zu bitten. In seiner schottischen Heimat, aber auch im gesamten britischen Inselreich hat Rankin dank Rebus inzwischen längst Kultstatus erreicht. Dazu trägt in nicht geringem Maße die höchst erfolgreiche TV-Serie „Inspector Rebus“ bei, die das Schottische Fernsehen seit 2000 ausstrahlt. Wer weiß; vielleicht erbarmt sich ja auch hierzulande ein (wahrscheinlich privater) Sender, der noch eine Sendepause zwischen zwei Verkaufsshows füllen muss …

Ford, G. M. – Erbarmungslos

Wer mein Arbeitszimmer beguckt, muss mich mittlerweile für einen arg morbiden Menschen halten. Aus jeder Ecke lugen Serienkiller und wetzen ihre vom menschlichen Hang zum Perversen determinierten Mordinstrumente. Das Blut von tausend Opfern müsste längst die Regalhölzer aus fester Eiche brutal aufgeweicht haben, die Todesschreie müssten mir in den Ohren gellen, während ich doch scheinbar ach so ruhig diese Zeilen schreibe. Dabei läuft es mir kalt den Rücken runter – warum sind so viele Menschen begierig, derlei Romane zuhauf aus den Buchläden zu schleifen und sich einem blutdurstigen Mörder in die Arme zu werfen …

Diese Frage erörtere ich hier natürlich nicht – ich höre bis zu meinem Schreibtisch das Aufatmen! -, aber es ist doch bezeichnend, dass Jahr um Jahr in die breite Phalanx profilierter und frisch hineingewachsener Autoren und Autorinnen neue Epigonen eine Schneise schlagen und sich am Schnitzel-Handwerk versuchen wollen. G. M. Ford (Ein Name wie zwei Automarken! Wenn seine Romane nicht rasant sind, dann weiß ich’s nicht …) ist eines dieser aufstrebenden Jungtalente (das wage ich einmal ohne nähere Verifizierung zu schreiben, denn der Verlag hält sich ungewohnt bedeckt bei Fords Vita: „G. M. Ford unterrichtete einige Zeit Creative Writing in Washington, heute lebt er als freier Schriftsteller in Seattle …“ Ford könnte also auch ein Pseudonym für Irgendwen sein oder raschen Schrittes auf die Hundert zugehen). Mit „Erbarmungslos“ (recht frei übersetzt aus dem Original: „Fury“; der Titel „Wut“ hat eine gewisse Bedeutung) legt er sein Erstlingswerk vor.

Ein vor den Augen der Öffentlichkeit (und somit auch möglicher Arbeitgeber) in Ungnade gefallener Journalist namens Frank Corso steigt in einen alten Fall ein, der ihn vor einigen Jahren bereits in Atem gehalten hat: Der als „Müllmann“ in Seattle und Umgebung bekannt gewordene Serienvergewaltiger und Killer ließ seine acht Opfer allesamt auf Müllbergen zurück. Der Fall schien 1998 aufgeklärt, als Walter Leroy Himes hinter Gitter gebracht werden konnte; die Beweise waren sogar stichhaltig genug, um die Todesstrafe in wenigen Tagen vollstrecken zu können.

Da meldet sich eine Zeugin von damals, die ihre Aussage vor den Leuten der Seattle Sun widerruft; ein Fall für Corso, dem eine letzte Chance vor die Füße gelegt wird. Er nimmt an und greift die losen Fäden auf, die ihn bereits vor Jahren an der Täterschaft von Himes zweifeln ließen. Gemeinsam mit der Fotografin Meg Dougherty, die ihm auf Schritt und Tritt folgen wird, auch wenn sie sich anfangs recht widerwillig geriert, hängt er sich an die wagen Spuren. Dabei darf er nicht auf die Unterstützung der örtlichen Polizei zählen, im Gegenteil, Densmore ist ein richtig schmieriger Polizist, der Corso am liebsten in hohem Bogen aus der Stadt werfen würde. Also forscht Corso auf eigene Faust weiter, was dem notorischen Einzelgänger sicherlich auch sehr nahe liegt.

Na ja, ganz so einzelgängerisch ist Corso nicht, Dougherty (wie sie liebreizend genannt wird) kommt ihm näher; oder war es umgekehrt? Jedenfalls bleibt ein solches koitales Intermezzo natürlich nicht aus, zudem Corso sich seiner haarigen Ex-Frau mit Händen und Füßen erwehren muss. Das alles gestaltet sich zaghaft turbulent und nimmt etwa in der Mitte des Buches, so bei Seite 200 von 386, etwas Fahrt auf, ohne dass der Thriller dem vorbelasteten Namen des Autors alle Ehre machen würde.

Zum Ende hin, als Himes mehr oder weniger errettet wird, nimmt die Handlung noch eine durchaus logische Wendung, denn ein Mitläufer hat sich in die Serienmorde eingeklinkt und möchte unauffällig an der fremden Täterschaft partizipieren. Corso ist der Einzige, dem ein Lichtlein aufgeht, die Polizei dagegen ist bequem und mit dem Erreichten zufrieden (eigentlich auch wieder nicht, denn Ford stellt es so dar, dass wohl alle Himes gerne hingerichtet gesehen hätten – nur Corso will Gerechtigkeit …)

Da hinterlässt uns Ford ein zwiespältiges Buch: Die Spannung ist ja doch vorhanden, aber der Einstieg in die Handlung will nicht so recht marschieren. Das dümpelt stattdessen fade dahin, wenn Corsos Werdegang in Ansätzen aufgedröselt wird – wen interessiert’s, fragte ich mich irgendwann, trägt es doch weder zur Geschichte entscheidend bei, noch verleiht die maue Fehlleistung von Corso ihm so viel Profil, dass sein Charakter an Schärfe gewinnt. Er bleibt blass. Und reiht sich damit in die Gruppe derjenigen ein, die uns Ford ansonsten noch präsentiert: Meg Dougherty – okay, ein nettes Mädchen, aber grau im Teint und schmal hinter Corsos Rücken versteckt. Die übrigen Statisten sind eben nur Randfiguren, deren Leben für den Leser unscheinbar, unnahbar bleibt. Austauschbare Figuren in einem von Corso dominierten Spiel. Wenn dem aber so ist, dann hätte Corso eine kräftige Persönlichkeit sein müssen. Dazu fehlen ihm die Klasse, das Charisma, die Lebensgeschichte, standfeste moralische Grundsätze.

Er ist beliebig, auch wenn ihm Ford an einer Stelle ein starkes Stück in den Mund legt, als die Sprache auf den elektrischen Stuhl kommt und ein Opfer, dem die Flammen zwanzig Zentimeter aus den Ohren schossen: „Lasst die Kids ein paar Dutzend Mal zusehen, wie Kriminelle sich als Bunsenbrenner präsentieren, dann kreuzen garantiert sehr viel weniger von diesen kleinen Scheißern mit Kanonen in der Schule auf … Weil Sachen wie intellektuelle Gewissheit, moralische Entrüstung und rechtschaffene Empörung die Motoren der Gesellschaft sind. Selbstzufriedene Toleranz hat noch nie irgendetwas bewirkt, außer den Blick auf das zu vernebeln, was falsch und was richtig ist.“ Hoppla, starker Tobak und gar nicht politisch korrekt, Mister Ford. Derart verkürzt unters Volk geschleuderte philosophische Exzerpte aus dem Bauch eines Thrillerautoren sind natürlich gefährliches Brot, weil sie ohne nachgehende Erläuterung gar nichts erklären, sondern nur ein brüchiges Statement abgeben. Damit ist niemandem gedient, das sind Stammtisch-Parolen auf gediegenem Niveau, mehr nicht.

Möchte ich G. M. Ford das noch durchgehen lassen, so muss ich ihm den aus verschiedenen Versatzstücken des Krimilehrbuchs erstellten Roman ankreiden: Es wirkt wie bessere Flickschusterei, aus dem Schubfach mit den Motiven nehme ich den psychopathischen Serienmörder, das Fach mit den Hauptdarstellern bevorratet einen beziehungslosen, halbwegs gescheiterten Schnüffler (oder Journalist, was in der propagierten Form auf dasselbe hinausläuft), die Schublade der Begleitpersonen hält eine erst einmal distanzierte, geziemend forsche Frau bereit, und so weiter. Sodann verkürze ich die Sprache, sobald Tempo die Erzählung vorantreiben soll: „Wald ließ den Umschlag los. Corso ließ ihn gegen sein Bein fallen. Wald öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich anders. Drückte auf den Knopf.“ Wenn dieses stilistische Mittel gekonnt eingesetzt wird, fühlt sich der Leser in den Sog der Geschichte hineingezogen. Bei Ford liest es sich dagegen aufgesetzt, weil er wahllos damit hantiert.

Sind das Auswirkungen des „Creative Writing“? – Könnte sein. Dann sollte Ford aber schnellstens einige seiner eigenen Kurse selbst belegen, um sich noch den letzten Schliff zu verpassen.

Ach, und wenn man schon irgendwie hip sein will, dann sollte ein US-Autor wie Ford nach all den Jahren auch kapiert haben, dass sich |Lynyrd Skynyrd| so und nicht anders schreiben. Aber man kann natürlich auch zusammengeschaufeltes Second-Hand-Wissen als eigene Schlaumeierheiten verkaufen – blöd nur, wenn man sein Unwissen dann durch Fehler selbst offen legt. (Okay, als Uralt-Fan reagiere ich hier wahrscheinlich etwas überreizt …)

„Erbarmungslos“ ist für einen Thriller-Erstling nicht schlecht, aber das Sujet hat bessere Kriminalromane gesehen, mit tafferen Ermittlern und Serienmördern mit mehr Kontur. G. M. Ford muss beim nächsten Buch einen Zahn zulegen, um nicht gleich nach der ersten Runde abgehängt zu werden.

|Originaltitel: Fury
Aus dem Amerikanischen von Marie-Luise Bezzenberger|

_Karl-Georg Müller_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de veröffentlicht.|

Smith, Jonathan – Fenster zur Nacht

In den Jahren 1987 bis 1994 wurde der Autor Jonathan Smith selbst Opfer eines Persönlichkeitsdiebstahls, das vorliegende Buch ist aus dieser Erfahrung heraus entstanden, doch kann der Leser nur mutmaßen, wie weit die autobiografischen Bezüge reichen …

_Ich bin du und du bist niemand_

Patrick Balfour steht in der Mitte seines Lebens und kann auf weitreichende Erfolge zurückblicken: Er ist nicht nur Direktor einer Schule mit ausgezeichnetem Ruf, sondern auch Autor von historischen Bestsellern. Einzig sein Familienleben droht auseinander zu brechen, denn nach der Affäre mit seiner Lektorin Liz existiert Patricks Ehe eigentlich nur noch auf dem Papier. Seine Ehefrau Caroline und er haben sich praktisch nichts mehr zu sagen, außerdem verbringt Patrick mehr Zeit in seiner Wohnung in der Schule als in seinem Haus bei Caroline. Doch eines Tages bricht Patrick Balfours nahezu heile Welt in sich zusammen. Er wird beschuldigt, an einer Tankstelle Benzin gestohlen und in seiner Wohnung pädophile Fotos aufgenommen zu haben. Seine Alibis sind recht dünn, sodass Patrick Balfour sich unverhofft in Untersuchungshaft wiederfindet.

Auf Kaution darf Patrick das Gefängnis schließlich wieder verlassen, doch scheint die Polizei weiterhin von seiner Schuld überzeugt zu sein. Auch die Fotos von „ihm“ an der Tankstelle sprechen gegen ihn, bei dem aufgezeichneten Benzindieb kann es sich nur um einen guten Doppelgänger handeln, doch wie sind die Fotos von dem kleinen Jungen in Patricks Wohnung entstanden? Für Patrick Balfour beginnt das Rätselraten; kann es ein neidischer Kollege sein, der ihm an den Kragen möchte? Wie denkt jemand, der ihm diese Verbrechen anhängen möchte? Und wem kann er nun noch trauen? Soll er mit seiner Frau sprechen oder doch eher mit der ehemaligen Geliebten?

Als verdächtige Botschaften von seinem Widersacher in Patricks Postfach in der Schule auftauchen, scheint der Kreis der Verdächtigen sich weiter einzugrenzen. Doch handelt es sich tatsächlich um ein Ränkespiel innerhalb des Lehrerkollegiums? Zu diesen Sorgen gesellen sich schließlich noch Probleme mit Patricks Tochter Alice, die mehr Zeit in ihr Theaterspiel investiert als in die Schule und die ihren Eltern gegenüber immer abweisender reagiert. Was ist bloß los an Patricks Schule?

_Zerbrechende Idylle_

Zu Beginn des Buches begegnet uns Patrick Balfour, der uns als erfolgreicher Schuldirektor und Bestsellerautor vorgestellt wird, doch dauert es nicht lange, bis er mit der Polizei und ihren Anschuldigungen konfrontiert wird. Völlig unverhofft sieht Patrick Balfour sich Inspector Bevan gegenüber, der Beweisfotos besitzt, die den bekannten Schuldirektor schwer belasten können. Doch wie kann dies sein? Balfour weiß weder von dem Benzindiebstahl noch von den pornografischen Fotos. Nachdem er wieder auf freiem Fuß ist, beginnt für Balfour das Nachdenken. Langsam ahnt der Leser, dass Patrick Balfour mehr Feinde hat, als auf den ersten Blick offensichtlich war. Schnell fallen ihm aus dem Lehrerkollegium einige Namen ein, die durchaus für einen solchen Persönlichkeitsdiebstahl in Frage kämen. Balfour durchdenkt nicht nur gewissenhaft mögliche Tatmotive, sondern versucht sogar, wie sein Feind zu denken. Bei diesen Gedankenexperimenten bemerkt Balfour schnell, wie der Täter vorgegangen sein kann, doch kristallisiert sich immer noch niemand heraus, der für die Botschaften, den Diebstahl und die Fotos verantwortlich gemacht werden kann.

Jonathan Smith inszeniert ein interessantes Psychospiel, indem er Patrick Balfours Gedanken, seiner Ungewissheit und seinen Zweifeln viel Raum gibt. Patrick versucht sogar, sich in den Täter hineinzuversetzen und erschreckenderweise gelingt ihm diese Identifikation äußerst gut. In seinen Gedanken kommt er so seinem Widersacher sehr nah, nur einige wenige Wissenslücken bleiben, die Balfour sich nicht erklären kann. Der Leser ist zu jedem Zeitpunkt mitten im Geschehen und hat Anteil an jedem Gedanken, den Patrick Balfour fasst; hier merkt man der Erzählung an, dass der Autor weiß, wovon er schreibt und dass er diese Gedanken selbst schon gehabt haben muss. In das Opfer eines Persönlichkeitsdiebstahls kann man sich wohl nur schwer hineinversetzen; viele Ideen, die Patrick Balfour kamen, erschienen mir etwas absurd, doch aus Jonathan Smiths eigener Erfahrung heraus wirken sie dennoch realistisch.

Leider hält sich Smith an etlichen Stellen mit zu ausschweifenden Erzählungen auf, springt ohne Überleitung in Patricks Vergangenheit und berichtet ausführlich von seiner Affäre zu Liz oder auch von seinem und Carolines Kennenlernen. Diese Exkurse stellen zwar den Hauptprotagonisten besser vor und helfen uns dabei, uns ein gutes Bild von ihm zu machen, dennoch bremsen sie den Spannungsaufbau arg aus, der gerade zu Anfang zunächst gelungen schien. Über weite Strecken passiert nicht mehr, als dass Patrick Balfour immer neue Nachrichten in sein Postfach gelegt bekommt und über mögliche Täter nachdenkt.

Dem Buch fehlt eine wirklich packende und spannungsgeladene Rahmengeschichte, die dem Roman seine Brisanz verliehen hätte. Zu schnell erhält Patrick Balfour den Rückhalt seiner Familie und auch Inspector Bevan schlägt sich bald auf seine Seite, sodass die drohende Gefahr zu sehr in den Hintergrund gedrängt wird. Balfour wird dadurch früh zu einem bemitleidenswerten Opfer, um das man nicht wirklich fürchten muss. Von Psychothriller war in diesem Buch daher bedauerlicherweise nur wenig zu spüren. Der Autor verspielt leider viel Potenzial, denn aus diesem Thema hätte gerade Jonathan Smith aus seiner eigenen Erfahrung heraus einen gut durchdachten und spannenden Thriller schreiben müssen.

Jonathan Smith ist die Gratwanderung zwischen interessanten psychologischen Gedankenspielen und stetig wachsender Gefahr leider nicht gelungen, zu sehr legt er seinen Schwerpunkt auf die Suche nach dem Täter und vergisst dabei völlig, den Spannungsbogen steigen zu lassen und zwischendurch Situationen einzustreuen, die die Handlung bedrohlicher gestaltet hätten. Besonders der Mittelteil des Buches zieht sich dadurch lang hin. Am Ende schafft Smith es zwar, mit einer kleinen Überraschung aufzuwarten, allerdings verpufft auch bei der Auflösung viel Spannung.

Insgesamt ist das „Fenster zur Nacht“ zügig durchgelesen und weiß stellenweise auch zu unterhalten, doch erhält es nicht die Faszination, die ich mir von einem Autor erwartet hätte, der selbst über Jahre hinweg Opfer eines Persönlichkeitsdiebstahls geworden ist und daher viele eigene Erfahrungen in die Geschichte hätte einfließen lassen können. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass Jonathan Smith absichtlich nicht allzu viel von sich preisgeben wollte, denn die beschriebene Situation muss in Wirklichkeit viel bedrohlicher (gewesen) sein, als sie sich dem Leser darstellt. Durch die weitschweifenden Gedankenmonologe Patrick Balfours schleppt sich die Geschichte träge dahin, ohne wirklich Spannung aufzubauen; leider führt dies auch dazu, dass man dem Hauptcharakter recht gleichgültig gegenüber steht. So bleibt am Ende doch eher ein mittelmäßiger Eindruck, weiterempfehlen würde ich dieses Buch daher nicht.

Jordan, Sherryl – Jing-Wei und der letzte Drache

Justin ist ein einfacher Bauernbursch, der zuhause die Schweine hütet. Besonders zufrieden ist er nicht mit seinem Leben. Doch eines Tages kehrt er vom Nachbarort nach Hause zurück und findet das gesamte Dorf in Schutt und Asche vor! Zutiefst verzweifelt, will er am liebsten ebenfalls sterben. Stattdessen nimmt ihn der Anführer einer fahrenden Schaustellertruppe mit. Was Justin letztlich aus seiner Lethargie reißt, ist die Bekanntschaft mit Jing-Wei, einem Chinesenmädchen, das wegen seiner eingebundenen Füße von den Schaustellern als Missgeburt ausgestellt wird. Als der Sohn des Anführers sich an ihr zu vergreifen droht, fliehen die beiden und landen schließlich bei einer alten Frau, die nichts Geringeres von den beiden verlangt als den Drachen zu töten, der Justins Dorf niedergebrannt hat. Schon die Idee erscheint Justin absolut närrisch! Und trotzdem lässt er sich auf dieses Abenteuer ein.

Sherryl Jordan hat ein Buch geschrieben, das sowohl von historischen als auch Fantasy-Elementen geprägt ist. So hat sie die Geschichte nicht in einer erfundenen Welt sondern im England des Jahres 1356 angesiedelt, ihre Charaktere sind keine Magier oder Zauberinnen oder sonst in irgendeiner Weise besonders begabt. Im Gegenteil.

Justin, der Ich-Erzähler, ist ein einfacher Bauernbursche, der weder besonders klug noch besonders geschickt ist. Das Mädchen, für das er schwärmt, belächelt ihn lediglich. Dass er dem Inferno entkommen ist, das seine ganze Familie dahingerafft hat, ist purer Zufall. Und nach der Rolle des Helden drängt es ihn absolut nicht, vielmehr würde er es vorziehen, schleunigst das Weite zu suchen. Er hat entsetzliche Angst vor dem Drachen und gibt das auch ganz freimütig zu. Dass er im Grunde nicht wirklich ein Feigling ist und auch sonst durchaus einige Qualitäten besitzt wie Mitgefühl, Einfühlungsvermögen und Hilfsbereitschaft, das ist ihm vor lauter Bescheidenheit noch gar nicht aufgefallen. Justin ist auf eine stille, unaufdringliche Weise Held, ohne strahlende Rüstung und dergleichen.

Auch Jing-Wei ist eigentlich keine Wundertäterin oder etwas in der Art. Ihr Tun wirkt nur so wunderbar auf Justin, weil es ihm so fremd ist. Fast alles von dem Wissen, das Jing-Wei im Kampf gegen den Drachen nutzt, ist im damaligen England noch völlig unbekannt. Justin hat keine Ahnung, wie Schießpulver funktioniert, und noch nie im Leben einen Seidendrachen gesehen. Folglich kommt ihm das alles unglaublich fantastisch vor. Insofern bildet Jing-Wei sozusagen das Bindeglied zwischen Justins „normaler“ Welt und dem phantastischen Wesen des Drachen.

Bemerkenswert an Jordans Buch ist allerdings, dass der Drache kein Ungeheuer ist. In der chinesischen Kultur sind Drachen Schutzwesen, folglich ist für Jing-Wei als Chinesin ein Drache etwas Gutes und Schönes. Diese Ansicht findet Justin außerordentlich verwirrend, er kann sie nicht mit dem Anblick der verkohlten Dörfer in Einklang bringen. Doch schon, als er den Drachen zum ersten Mal aus der Nähe beobachtet, wird deutlich, dass Justin mit sich selbst nicht ganz einig ist. Die ungeheure Schönheit des Drachen hat ihn beeindruckt, und obwohl er immer noch entsetzliche Angst hat, wird aus der Vorstellung vom Ungeheuer allmählich die Erkenntnis, dass der Drache im Grunde nichts weiter ist als ein Tier. Zwar ein besonderes Tier, das Feuer speien kann, das aber weder bösartig noch hinterlistig ist. Eigentlich ist es fast schade und eine Verschwendung, es zu töten, da der Drache jedoch Menschen gefressen hat, kann er nicht am Leben bleiben.

Genauso außergewöhnlich wie die Darstellung des Drachen ist es, dass die Autorin ganz ohne Bösewicht auskommt. Vielmehr sind die Beteiligten alle Kinder ihrer Zeit, die geprägt war von Unwissenheit und Aberglaube. Tybalt, der Anführer der Schausteller, ist nicht wirklich grausam in dem Sinne, dass es ihm Spaß macht, Jing-Wei zu quälen. Eine Exotin ausstellen zu können, ist einfach eine Möglichkeit des Geldverdienens. Immerhin versucht er gleichzeitig, auf rauhe und unbeholfene Art Justin aus seinem Kummer und seiner Lethargie herauszuholen. Sein Sohn Richard ist ein Traumtänzer und sehr mit sich selbst beschäftig, Jing-Weis Schicksal lässt ihn einfach kalt, genau wie das des Bären. Aufmerksam wird er erst, als das Mädchen sich mit Justin anfreundet. Seine Reaktion ist typisch für jemanden, der es nicht verträgt, wenn andere ihm vorgezogen werden.

Die Reaktion der Leute angesichts des Mädchens sind eine Folge dessen, auf welche Weise sie angepriesen wird. Eine Missgeburt oder ein Gruselmonster aus sicherer Entfernung bestaunen zu können, ist so, wie heutzutage vom bequemen Fernsehsessel aus einen Horrorfilm anzusehen. Für die Gaffer waren diese armen Geschöpfe einfach keine Menschen und deshalb nicht bemitleidenswert. Diese Einschätzung zu revidieren, war für die meisten einfach nicht möglich, zu stark waren Aberglauben und Angst vor Teufeln und Dämonen in den Menschen verankert. Kein Wunder also, dass niemand Justin und Jing-Wei helfen will.

Ohne Hilfe von außen andererseits ist der Drache nicht zu bezwingen, denn Justin ist kein Kämpfer, und ohnehin ist selbst das keine Garantie für einen Erfolg. Da die Hilfe aus genannten Gründen nicht von Einheimischen kommen kann, begegnen Justin und Jing-Wei einer alten Chinesin. Wie diese Frau nach England kam, wird nicht erzählt, was wahrscheinlich auch besser ist, denn schon Jing-Weis Weg nach England kam mir ein wenig erstaunlich vor angesichts der Tatsache, dass China sich jahrhundertelang völlig von der Außenwelt abgeriegelt hat, und selbst in offenen Zeiten niemals weiter als bis nach Arabien gesegelt ist! Andererseits handelt es sich hier um ein Jugendbuch, und ich denke, jugendlichen Lesern dürfte dieser Schnitzer wohl kaum auffallen, also sei darüber hinweggesehen.

Von der alten Lan erhalten die beiden die Informationen und Hilfsmittel, die sie für den Kampf gegen den Drachen brauchen, außerdem lernt Jing-Wei durch sie wieder gehen. Das Verhalten der Leute der alten Lan gegenüber wirft erneut einen deutlichen Blick auf Aberglaube und Vorurteile der damaligen Zeit.

Sherryl Jordan schreibt flüssig und in kurzen, schlichten Sätzen. Auf einfache Weise bringt sie Justins Gefühle, vor allem seine Ängste, zum Ausdruck. Die Einleitungen der Kapitel sind anfangs etwas gewöhnungsbedürftig, da sie außerhalb der Erzählung liegen, enthalten aber gelegentlich auch kleine Nettigkeiten zum Schmunzeln und geben gegen Ende auch einen kleinen Ausblick darauf, wie es mit Justin und Jing-Wei weitergeht, etwas, was der Leser natürlich schon noch wissen will, ehe er das Buch zuklappt.

Mit seinen gut zweihundert Seiten ist das Buch schnell gelesen. Es ist eine nette Geschichte, durchaus nicht seicht, aber einfach gestrickt und von der Masse her gerade mal ein Happen für zwischendurch. Für Jugendliche ab zwölf Jahren stellt es mit Sicherheit eine interessante und spannende Lektüre dar, Erwachsene dagegen dürfte es mit seiner einspurigen Handlung und dem schlichten Aufbau nicht unbedingt reizen.

|Patmos| hat für das Buch ein ansprechendes Cover gestaltet, auch die Karte im Buchdeckel war nett gemacht, wenn auch nicht notwendig. Die Bindung des Buches ist allerdings nicht so toll; obwohl ich Bücher niemals ganz aufschlage, konnte ich die Klebepunkte der einzelnen Seiten sehen. Ob das lang hält …? Das Lektorat war dafür fehlerfrei.

_Sherryl Jordan_ lebt in Neuseeland und hat bereits eine ganze Anzahl Jugendbücher geschrieben, von denen auch einige ausgezeichnet, aber nicht alle ins Deutsche übersetzt wurden. Erschienen sind bei uns unter anderem „Tanith, die Wolfsfrau“, „Der Meister der Zitadelle“ und „Flüsternde Hände“.

http://www.patmos.de

Koontz, Dean R. – Kalt

Es gibt Worte, die rufen bestimmte Bilder hervor. Bei mir gehören dazu unter anderem auch „Verfolgungsjagd“ und „Roadmovie“. Bei „Verfolgungsjagd“ hat man schnell Bilder von aufregenden Verfolgungen in Autos oder zu Fuß vor Auten, bei welchen der eine unentwegt hinter dem anderen her ist. „Roadmovie“ erinnert andererseits an Filme wie „Easy Rider“, „Thelma and Louise“ oder „Wild at Heart“, wobei das Wort selbst tatsächlich einen Film impliziert.
Der Klappentext von Dean Koontz‘ Roman „Kalt“ wirbt damit, dass es sich bei dem Buch um „Eine gnadenlose Verfolgungsjagd und ein fantastisches Roadmovie“ handeln würde. Und tatsächlich werden die Helden des Romans gnadenlos verfolgt, es geschieht „fantastisches“ und ein gutes Stück des Buches fliehen sie über die Straße und erleben entlang der Straße ihre Abenteuer. Was fehlt, sind der Film und die Jagd. Dies mag jetzt pedantisch erscheinen, ist aber symptomatisch für die Aufmachung des Buches. Der Klappentext ist zwar teilweise falsch, gibt aber genug preis, um etwa die Hälfte des Buches zu verraten. Der deutsche Titel hat relativ wenig mit dem Buch zu tun und bezieht sich wohl als eine Art Wortspiel darauf, dass der eigentliche Bösewicht „Kalt“-blütig agiert und außerdem die Helden den Nordpol besuchen. Oder vielleicht soll er sich auch an bekannte Horrorromane mit Einworttiteln anlehnen und damit die Verkaufszahlen in die Höhe schnellen lassen. Was schade ist, da der Originaltitel „By the Light of the Moon“ (Beim Licht des Mondes) wesentlich besser zum Buch passt und auch als Satz zentrale Bedeutung für die Akteure erlangt. Und warum gerade ein Insekt für das Cover-Bild gewählt wurde, vermag vermutlich nur der Designer zu sagen – besonders bei dem Titel.

Wenigstens hat man darauf verzichtet, das Buch als Horrorroman, Thriller oder Science-Fiction zu bezeichnen, denn dies wird dem Roman nicht gerecht, weil dieser sich mit dem etwas kitschigen Schluss in das Genre der Superhelden begibt.
Dabei fängt die Geschichte mit einem Schwall an gewaltigen Bildern an, die zwischen Kitsch („Der verblichene Tag war inzwischen in der Erde, im Asphalt vergraben. Dem Auge entzogen, aber spürbar, spukte sein Geist durch das nächtliche Arizona: ein heißer Geist, der träge von jedem Zoll des Bodens aufstieg …“) und Detektivbüro-Sprache („Die zeitgenössische Kultur passte Dylan O´Conner etwa so gut wie ein dreifingriger Handschuh …“) hin und her schwanken.
Nachdem man jedoch erfahren hat, dass es sich bei dem Charakter, aus dessen Perspektive der Roman begonnen wird, um einen Künstler namens Dylan O´Connor handelt, der in der Welt nur die wunderbarsten Bilder wahrnimmt, wird klar, dass diese Sprache als Stilmittel gedacht ist, um die Perspektiven der Akteure zu verdeutlichen. Denn der zweite Hauptakteur, die Comidiene Jill Jackson, sieht die Welt mit anderen Augen, und diese Sichtweise wird dem Leser auch vermittelt. Besonders interessant wird das Buch jedoch immer dann, wenn Dylans Bruder, der autistische Shepard, in das Geschehen einbezogen wird, denn Koontz hat sich große Mühe gegeben, die Probleme, die Shepard selbst mit der Welt und vor allem seine Begleiter Dylan und Jill während der Flucht mit ihm haben, herauszuarbeiten.
Immer wieder sagt er seine Mantras auf, begibt sich in eine Ecke, um die Welt auszuschließen und gibt sinnlose Dinge von sich, die aber mit der Zeit Bedeutung gewinnen. So wird auch ein guter Teil der Spannung während der Szenen, in denen es tatsächlich um den Konflikt mit den Verfolgern geht, daraus gewonnen, dass Shepard nicht angemessen auf die Situation reagieren kann und damit sich und seine Begleiter in Gefahr bringt.
Dieses Stilmittel hat aber zwischenzeitlich auch den Effekt, dass es die Handlung in die Länge zieht und man versucht ist, Teile des sich nur geringfügig ändernden Dialoges zwischen Shepard und Dylan zu überspringen. Genauso gehen die Übercharakterisierungen der Protagonisten irgendwann ein wenig auf die Nerven, da man das Gefühl bekommt, dass die Personen nur existieren, um ihre Neurosen auszuleben.

Wie vielleicht auffällt, hat sich diese Rezension bisher wenig mit dem tatsächlichen Inhalt des Romans beschäftigt. Dies liegt nicht daran, dass es dem Buch an Spannung mangelt, sondern daran, dass der Inhalt bereits überwiegend auf dem Klappentext beschrieben wird:
Ein verrückter Wissenschaftler injiziert drei Personen gegen ihren Willen ein Mittel, welches sie verändert und dazu führt, dass sie dank des Mittels besondere Fähigkeiten entwickeln und sich gezwungen sehen, anderen zu helfen. Das Mittel hatte bei vorherigen Testpersonen zu brutalen Übergriffen geführt, weswegen einige Mörder auf die neuen Probanden angesetzt werden. Diese Söldner tauchen tatsächlich einmal im Buch als echte Bedrohung auf, verschwinden jedoch die meiste Zeit hinter der Action, die die guten Taten mit sich bringen. Nicht wirklich überraschend, war die Auswahl der drei Helden nicht zufällig, da der Wissenschaftler zu zweien von ihnen eine ihnen bis dahin nicht bekannte Beziehung hatte. Und nachdem man noch ein paar Dinge erledigt hat, ist alles gut und man ist mit sich und den bisher am Körper eingetretenen Veränderungen im Reinen.

Wie bereits geschrieben, ist der Roman tatsächlich spannend und diese Zusammenfassung wird der Spannung nicht gerecht, aber die eigentliche Spannung liegt auch nicht in der Geschichte, sondern in den Akteuren, die das Buch lesenswert machen. Herauszuheben ist dabei noch die Figur des Wissenschaftlers, welcher in seiner selbstanklagenden Art tatsächlich hassenswerter ist als so mancher manische Psychopath, besonders nachdem man schließlich erfahren hat, was wirklich hinter seinen Selbstanklagen steckt. Daher kann ich den Roman durchaus als Ferienlektüre empfehlen.

|Orginaltitel: A Maze of Death
übersetzt von Yoma Cap, überarbeitet von Alexander Martin|

_Peter Singewald_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de veröffentlicht.|