Durchwachsene SF-Auswahl, mit zwei Ausfällen und zwei Großmeistern
Die US-amerikanische SF-Szene hat eine Tradition von jährlichen Bänden an Originalveröffentlichungen, so etwa von Damon Knight, Robert Silverberg und Terry Carr. Die von Roy Torgeson halbjährlich veröffentlichten „Chysalis“-Bände bringen jeweils Erstveröffentlichungen aus dem zeitgenössischen SF- und Fantasy-Umfeld. Dieser Chrysalis-Band aus dem Jahr 1979 enthält Erzählungen von Thomas F. Monteleone, Edward Bryant, Orson Scott Card, Michael Bishop, Leanne Frahm, Karl Hansen, Gregory Long, Al Sarrantonio und Paul H. Cook … (erweiterte Verlagsinfo)
Der Herausgeber
Roy Torgeson hat von 1977 bis 1980 mehrere Anthologien mit neuen Originalstories herausgegeben.
Der Moewig-Verlag ließ meines Wissens sieben Chrysalis-Bände aus den Jahren 1977 bis 1980 übersetzen:
1) Das Ungeheuer im Sumpf (Nr. 1)
2) Nick Adams letzter Aufstieg (Nr. 2)
3) Die verdorbene Frau (Nr. 3)
4) Am Vorabend des St. Poleander-Tages (Nr. 4)
5) Die große Weihe (Nr. 5)
6) Versuch dich zu erinnern (Nr. 6)
7) Sonate für drei Elektroden (Nr. 7)
Die Erzählungen
1) Deus ex Corporis (Deus Ex Corporis) von Leanne Frahm
Schwester Anna liegt im Hospital eines lateinamerikanischen Nonnenklosters und wird mit mehreren Medikamenten gegen Krebs behandelt. Doch in letzter Zeit hat sich ihr Zustand erheblich verändert: Sie ist schwanger. Schwester Margarita ist erstaunt – und verbreitet die erstaunliche Neuigkeit sofort im Kloster und unter der Bevölkerung. Bedeutet dies die Wiederkehr des Gottessohnes?!
Die Mutter Oberin spricht mit Pater Alvarez über dieses Wunder der unbefleckten Empfängnis. Sie will diese Sache unter der Decke halten. Doch bei Alvarez gerät sie an den Falschen: Er ist Anhänger der Befreiungskirche Lateinamerikas und sieht eine Chance, die Weltgeschichte zu seinen Gunsten zu verändern. Er spricht mit dem Bischof und der wiederum mit seinem Kardinal.
Letzterer macht ihm klar, dass der Heilige Vater sich auf keinen Vater dazu äußern werde. Somit sei es Sache des Bischofs, die Sache zu handhaben. Es gibt nur einen positiven Aspekt: Das eine männliche Beteiligung ausgeschlossen werden kann, dürfte es sich bei dem Kind mit höchster Wahrscheinlich um ein Mädchen handeln
Inzwischen steht die Niederkunft bzw. Wiederkunft kurz bevor. Der Bischof betrachtet besorgt die riesige Menschenmenge, die sich vor dem Krankenhaus versammelt hat. Allesamt gläubige Katholiken – und zahlreiche Ü-Wagen der internationalen Medien. Da stellt sich Vater Alvarez vor sie, um sie über die bevorstehende Geburt zu informieren. Die Menge drängt vor, ist nicht aufzuhalten. Was, wenn es doch ein Junge sein sollte…?
Mein Eindruck
Wunder geschehen immer wieder, und manche davon sind richtig unangenehm. So etwa die Wiederkunft Jesu durch eine „unbefleckte Empfängnis“. Damit kann die katholische Kirche wirklich nichts anfangen, selbst wenn das ihrem eigenen Heilsversprechen widerspricht. Da war zwar diese komische Sache mit der Wiederauferstehung, aber das ist ja schon lange her. Nur Pater Alvarez gewinnt der „Sache“ einen konstruktiven Aspekt ab: Seine Schäfchen stehen im Zentrum des Interesses der Welt.
Die Autorin kümmert sich in erster Linie um das Wohl der betroffenen Frau. Doch Schwester Anna ist mehr froh, dem tödlichen Krebs entronnen zu sein, als dass sie sich um ihre unverhoffte Schwangerschaft sorgt. Der Herrn gibt’s den Seinen eben im Schlaf, wie die Bibel sagt: Sie nimmt ihr Schicksal ergeben hin. Das fand ich wenig hilfreich, denn ebenso wie Wunder können auch Schwangerschaften schiefgehen. Ansonsten hat die Story eine Menge Humor.
2) Wie schön wird es sein, Liebster (We’ll Have Such a Good Time, Lover) von Edward Bryant
Als Martin Wintergreen kurz nach Mitternacht in seinem Bett erwacht, liegt neben ihm eine schöne junge Frau. Sie nennt sich Dulcinea und bezeichnet sich als Sukkubus. Martin ist entsetzt, schließlich führt er als niederer Beamter ein geradezu klösterliches Leben. Nackte Frauen beunruhigen ihn, besonders seit sich seine einzige Geliebte über seinen Penis lustig gemacht hat. Und diese Dulcinea ist unglaublich verführerisch, wenn sie ihre Zunge in sein Ohr steckt.
Allmählich wird ihm bei einem Kaffee – sie nimmt Instanttee – klar, was sie von ihm will: seine Seele. Das sei ihr Job, schnurrt sie, denn schließlich komme sie ja als Dämonin aus der Hölle und deren Fürsten. Zurück im Bett lässt er sich immer noch nicht zu einem Schäferstündchen breitschlagen, also verschwindet sie. Als er nach einem Nickerchen die Augen wieder aufschlägt, erblickt er neben sich einen ganz in Leder gekleideten Typen, dessen Ketten metallisch klirren. Er sagt: „Hallo, Liebster, wie schön wird es sein!“
Mein Eindruck
Der Kerl ist das Gegenstück zu einem verführerisch-weiblichen Sukkubus, nämlich ein Inkubus. Womit wir beim Thema wären: Homosexualität. Wahrscheinlich spricht Martin mehr darauf an als auf Frauen. Und nun wirkt nicht mehr das Thema der Verführung: Der Inkubus ist ein Metalltyp, der auch Sadismus kennt. Wer nicht hören will, muss eben fühlen.
3) Streck deine Hand aus (Stretch Forth Thine Hand) von Gregory Long
Dama Kroger arbeitet als Putzfrau im Forschungsinstitut von Dr. von Reyn, der an Träumen und außersinnlicher Wahrnehmung (ASW) arbeitet. Zum ersten Mal sah Dama den Doktor, als er mit sechs Jahren 1938 den Atlantik überquerte, ein Emigrant aus Deutschland wie sie auch, nur viel reicher. Das ist jetzt 40 Jahre her, und wie sehr unterscheiden sich ihre Lebenswege! Seit sie ihre rechte Hand schwer verletzt hat, ist sie zu nichts anderem als Putzen und Wischen zu gebrauchen. Und dennoch: Sie hat eine Mission und die lautet Nemesis. Sie hasst alle Ärzte, aber von Reyn ganz besonders. Denn seine Patientinnen liegen nicht bloß auf der Couch, da könnte sie wetten, sondern lassen sich von ihm auch missbrauchen.
Gerade sagt er einer solchen langbeinigen, blonden Schönheit „Auf Wiedersehen!“, als sie den Lift besteigt, den ein schwarzhäutiger Junge bedient. Der Doktor und seine Klientin sind auf einer Lache Wachs ausgerutscht, die Dama extra zu diesem Zweck ausgeschüttet hat. Leider ist ihnen nichts passiert, doch der Doktor bemerkt die Putzfrau zum ersten Mal. Als sie nicht antwortet, geht er zurück ins Institut. Dort arbeiten nur seine Assistenten, er selbst liest in einem Lehrbuch über das, was unmittelbar nach dem Eintreten des Todes mit dem menschlichen Körper passiert. Wenn er doch nur wie früher vorausahnende Visionen hätte, quasi Präkogs, etwa vom Selbstmord seines bankrotten Vaters. Dann müsste er nicht als Scharlatan arbeiten und seine Patientinnen missbrauchen.
Als er seine letzte Patientin des Tages zum Lift bringt, rutschen beide auf einem Fleck Wachs aus, den Dama dort platziert hat. Alles geht gut, doch Dama fällt ihm auf. Sie beantwortet keine Frage. Aber sie wartet geduldig, dass er abends erneut den Lift benutzt. Den hat so manipuliert, dass die Kabine ihm den Kopf, den er in den Schacht gesteckt hat, abtrennt.
Seine Seele verlässt den Körper sofort und fährt in eine der vielen Ratten. Deren Seele ist schnell bezwungen. Seine Suche führt von Reyn nicht hinaus, sondern in den Keller, und von dort gelangt er per Lift wieder auf die Etage seines Instituts. Der Körper der Ratte verendet, doch nun bleibt von Reyns nur noch eine Möglichkeit offen: in den Körper von Dama Kroger zu fahren…
Mein Eindruck
Die Geschichte verweist schon im Originaltitel auf das Matthäus-Evangelium mit dem heilenden Jesus, aber auch auf das Alte Testament mit seinem rachsüchtigen Gott Jahwe. Zwischen diesen beiden entgegengesetzten Polen befindet sich von Reyns Seele ebenso wie die von Dama Kroger. Wer nun Rache und wer Heilung erleben wird, darf hier nicht verraten werden.
Aber von Reyns und Dama Krogers jeweilige Seelenreisen sind faszinierend erzählt. Sind die beiden durch ihre Begegnung im Jahr 1938 dazu bestimmt, miteinander zu kämpfen (mit ihr als Nemsis), könnte man vermuten. Aber dennoch bliebe der Ausgang des Kampfes offen.
4) Sonate für drei Elektroden (Sonata for Three Electrodes) von Thomas F. Monteleone
Der Mann am Klavier spielt das Klavierkonzert Nr. 3 von Rachmaninoff perfekt. Zu perfekt, wie eine alte Frau findet: Sie verweigert diesem sogenannten „Eberhard Guderian“ den Applaus. Als sich Francis McKenzie in seiner Garderobe umkleidet, dringt sie ein und klagt ihn an, den Stil ihres verstorbenen Gatten, des Virtuosen Heinrich Wallenstein, nachgeahmt und so ihre Erinnerungen an den Mann, mit dem sie 57 Jahre lang verheiratet war, beschmutzt zu haben.
Und sie weiß alles über McKenzie. Also gibt er alles zu. Dass er die Erinnerungen Wallensteins übernommen habe. Dr. Escudero habe sie in Absprache mit Wallenstein aus dessen sterbendem Gehirn extrahiert, in einem Computer gespeichert und dann über die sichtbaren Elektroden auf McKenzies Gehirn überspielt. Er zeigt ihr die metallischen Kontaktflächen.
Aber es gibt einen Nebeneffekt, sozusagen eine Art Verdrängung von McKenzies eigenen Erinnerungen, so dass die implantierte Persönlichkeit Wallensteins immer stärker wirkt. Und das ist genau das, was Emma Wallenstein und Dr. Escudero geplant haben. Denn mit diesem gewöhnlichen Francis McKenzie lässt sich kein Geld machen, mit Wallenstein aber schon. Und siehe da: Die Wallenstein-Persönlichkeit komponiert brandneue, virtuose Stücke – die sie ja schon immer im Hinterkopf hatte…
Mein Eindruck
Eine ganz schön hinterhältige Geschichte. Die trauernde Witwe erweist als kalkulierendes Biest, der Doktor à la Frankenstein als unehrlicher Makler und der vermeintlich so erfolgreiche Künstler endet lediglich als Marionette der beiden Geschäftemacher. Der technische Mechanismus der Persönlichkeitsübertragung ist schon viele Male als Topos verwendet worden, aber niemals überzeugend, auch hier nicht.
Gleich im Anschluss sollte man die Story von Sarrantonio lesen.
5) Nachtwälder (Forests of Night) von Karl Hansen
Die Erde, in ferner Zukunft. Luellan hat sechs Jahre als Pilot im Weltraum verbracht, nun ist er außer Dienst gestellt und vertreibt sich die Zeit auf diversen Welten. So wie jetzt auf der Erde auf dem Anwesen seines alten Freundes Gordon, mit dem er in seiner Jugend zahlreiche 3-G-Rennen mit Raumseglern bestritt. Heute veranstaltet Gordon eine Treibjagd, die mit biotechnisch erzeugten Hühnern als Beute angeboten wird.
Was Luellan allerdings ablenkt und seinen Geist mit sehnsuchtsvollen Erinnerungen füllt, ist die Anwesenheit der schönen und gefährlichen Firiel. Auch sie ist biotechnisch erzeugt, eine schwarzhäutige Hybride, ein Cyborg. Ihre nachgebildeten Klauen sind mit verschiedenen Substanzen gefüllt, und ihre Zunge schüttet starke Neuropeptide aus. Beide Substanzen machen den Empfänger abhängig, und Luellan hat eine Kostprobe der Sucht durchlebt. Jetzt ist er auf Entzug und nähert sich Firiels Reizen nur sehr vorsichtig.
Vor der Jagd hat sie Luellan geküsst, und er konnte nicht widerstehen, so abhängig hat sie ihn gemacht. Was der blaue Kristall bewirkt, der zwischen ihren Brüsten hängt, muss Luellan noch herausfinden. Am Ende der Jagd wird eine Leiche entdeckt: eine junge Tänzerin muss wohl die Klippe hinuntergestürzt sein. Oder war es der Tiger, eine der ausgebüxten Bestien, die den Biotech-Laboren entkommen sind?
Luellans Erleben wird überlagert von Träumen, die aktuell erzeugt werden, so etwa von Gordons magischem, gelben Ring. Oder von Erinnerungen an die Shanties der Lamia-Sängerin, die am Rande des Sonnensystems in einer Zeitfalte lauern. Jetzt fällt sein Blick auf eine Schwimmerin im Meer, und sie scheint von einem Haischwarm angefallen zu werden. Alles nur Illusion, wie sich zeigt.
Am Abend plaudert er mit der Schwimmerin, die direkt aus der Antarktis kommt. Dort hätten die Menschen bereits Schwimmhäute und Fell entwickelt, um sich anzupassen. Greta Geoffry schauen vorbei, zwei ehemalige Mitpiloten bei den 3-G-Rennen, aber Luellan nimmt ihre Einladung nicht an. Schließlich tritt Firiel auf, versorgt ihre Junkies mit Stoff aus ihren Klauen und beginnt. Nackt zu ihrer eigenen Musik zu tanzen, die sie mit ihrem blauen Kristall erzeugt.
Nach einem schaurigen Intermezzo mit Deirdre, der Schwimmerin, veranstaltet Gordon eine große Treibjagd auf Kudus, stilecht in einer perfekt produzierten Savanne. Doch die einzigen Kuduböcke, die die Jäger vorfinden, sind tot und bereits angefressen, doch von einem Tiger keine Spur. Gordon hat keine Erklärung für diese Fehlplanung, doch zusammen stoßen sie in einem kleinen Stausee auf eine Frauenleiche. Doch das bleibt ein Geheimnis zwischen Gordon und Luellan.
Ein paar Tage später veranstaltet Gordon eine weitere Jagd, angeblich auf den Tiger, doch Luellan weiß inzwischen, dass das angebliche Raubtier völlig zahm ist. Die Gäste reiten auf Zentauren und Zentaurinnen, was dem Ganzen etwas Exotisches gibt. In einer kleinen Unterredung bittet Gordon um einen Gefallen, damit er sich von der Sucht nach Firiels Drogen befreien kann. Doch wie sich dann zeigt, ist der Preis dafür hoch…
Mein Eindruck
Nur sechs Figuren sind an der Handlung beteiligt, doch sie ist derartig undurchschaubar, dass man sie zweimal lesen muss. Den Siebziger Jahren angemessen geht es um Drogen, immer und überall. Sogar das Gedächtnis lässt mithilfe der Droge Mnemone manipulieren, so dass die Wahrnehmung schwer gestört ist. Hinzukommen Firiels Drogen, die süchtig machen. Ich würde ja gerne sagen, das Drogenthema sei überholt, aber inzwischen ist sogar Fentanyl in Deutschland angekommen, und das Zeug ist hundert Mal stärker als Morphium.
Schwierigkeiten bereitete mir auch das Grundkonzept der Lamia. Diese Sirenen leben in den Träumen, in die sich die Raumsegler wie Luellan und Gordon gerne zurückziehen. Doch wie entstehen diese lockenden Sängerinnen? Wie es scheint, muss einer Dame auf der Erde – oder auf den Monden – das Herz gebrochen werden. Weil Luellan sich in Deirdre verliebt, haben beide Liebenden fortan eine geheime Agenda.
Diese herauszufinden und den Agenda von Gordon zu umgehen, bildet die Basis für die Handlung der zweiten Hälfte. Da die Novelle 70 Seiten lang ist, ist dafür auch genügend Platz, gewürzt mit den biotechnisch erzeugten Wundertieren und Schimären. Exotik, Erotik, Drogen und etwas Biotech – das klingt wirkungsvoll, doch bei mir verpuffte die Mixtur völlig.
Der Titel verweist auf das Gedicht „Tyger! Tyger! Burning bright/ in the forests of the Night” von William Blake (1757-1827). Ein hoher Anspruch, den der Autor durch diesen Verweis erhebt, aber er kann ihn bei weitem nicht einlösen.
6) Der Künstler da oben im Kämmerchen (The Artist in the Small Room Above) von Al Sarrantonio
Unser Chronist stammt von einer anderen Welt, die überbevölkert ist, so dass er lieber sein Talent als Muse auf dieser anbietet und einsetzt: Er liefert die emotionale Energie, damit Bates, sein Vertragspartner, daraus gut verkäufliche Musik komponiert. Üblicherweise handelt es sich um Popmusik für die Charts, aber in dieser Nacht hat unser Erzähler einen sehr starken Gefühlsausbruch, der dazu führt, dass ein Stück klassische Musik entsteht. Als Bates merkt, dass sein Kunde Trevor dieses neue Zeug lukrativ verkaufen kann, will er mehr davon.
Ganz egal, wie sehr es unseren armen Alien auslaugt und schmerzt, so will Bates doch immer mehr. Trevor will eine Symphonie, Bates lässt den Vertrag entsprechend ändern. Doch die neue Komponieranlage, die Bates gekauft hat, verstärkt alles bis zum Gehtnichtmehr. Und so ist dieses Mal nicht unser Alien das Opfer, sondern Bates selbst: mentale Überlastung hat sein Hirn schmelzen lassen.
Bevor er meistbietend „verkauft“ wird, hat unser Fremdling endlich die Muße, seiner eigenen Muse zu gehorchen und etwas zu komponieren, das seinen Tränen besser entspricht.
Mein Eindruck
So bewegend die Geschichte auch ist, so sehr ist auch die geradezu satirische Absicht dahinter deutlich. Der Autor, der sich später als Horror-Spezialist und -Herausgeber einen Namen gemacht hat, kritisiert die Mechanismen der menschen- und alienverachtenden Ausbeutung im sogenannten Kreativ-Business. Denn nicht nur Musik wird auf dieser nebligen Welt, die keineswegs die unsrige sein soll, sondern auch literarische und audiovisuelle Werke. Die Qualen des Alien sind die eigenen Qualen des Autors. Sie erinnerte mich entfernt an Lovecrafts faszinierende Geschichte „Die Musik des Erich Zann“.
7) Quer durch das Land, um Richard Nixon zu töten (A Cross-Country Trip to Kill Richard Nixon) von Orson Scott Card
Siggy, ein Taxifahrer aus New Jersey, war mit einer Französin verheiratet namens Marie verheiratet, aber sie ist vor zwei Jahren gestorben. Jetzt muss er mit seiner steinalten deutschen Mutter zurechtkommen, die ihn zurechtstutzt. In letzter Zeit hat er seltsame Träume. Er träumt von einer guten Fee, die sehr amerikanisch ist und sich nicht vom Geschäft des Wünscheerfüllens abhalten lassen will. Doch weil er so ein guter Junge ist und fest ans Glück glaubt, habe er einen Wunsch frei.
Da gäbe es einige Dinge, die sich Siggy vorstellen könnte, aber als er seine Fahrgäste befragt, sagen alle, dass Richard Nixon das größte Unglück für Amerika gewesen sein. Der lebt jetzt allerdings in San Clemente bei Los Angeles. Siggy hat Nixon dreimal gewählt, aber er beschließt, dem alten Mann einen Besuch abzustatten. Und vielleicht die Welt zu erlösen.
Auf dem 3000 Meilen langen Weg nimmt er einen jungen Mann mit, der sich als bewaffnet herausstellt. Siggy wollte eigentlich nur jemanden zum Reden, aber der Junge ist so voller Zorn auf seinen Vater, der für Xerox in Rochester, Neuengland, arbeitet, dass er sich in Acht nimmt. Der Junge hasst Nixon, weil sein Bruder in Vietnam gefallen ist. Vielleicht will er ja Nixon erschießen?
Es erweist sich als ganz leicht, an Nixon heranzukommen: auf dem Strand steht er, direkt neben Siggy und dem Jungen. Siggy kommt ins Gespräch und überlegt, wie er Amerika von dem Mann erlösen könne, jedenfalls nicht in der Gegenwart, das wäre nutzlos. Der verbitterte Junge mischt sich ein. Schließlich kommt Siggy die rettende Idee, und die Fee ist froh, endlich diesen Job erledigt zu haben…
Mein Eindruck
Schade, dass Card kein Prediger unter den Mormonen geworden ist, bei denen er lange lebte (und über deren Exodus er eine SF-Trilogie schrieb). Jedenfalls lässt er alle Beteiligten in der Causa Nixon zu Wort kommen, lässt alle Argumente gegen und für Nixon zu Wort kommen. Die Lösung besteht in einem unerwarteten Wunsch: Alle sollen Nixon verzeihen. Dadurch wird die Welt zwar rosafarben, aber auch wesentlich friedlicher und zufriedener.
8) Weit ist der Weg nach Hause (A Long Way Home) von Paul H. Cook
Die Sonne heißt Zeta Tuscanae, die Siedlerwelt Cassandra. Der Siedlungsdirektor Captain Dan Folcroft fragt Carrie Blandon besorgt, ob sie meint, dass die fremdartigen „Kyrie“ in dieser Nacht aus den Bergen kommen würden. Denn letzte Nacht ist ihnen der Biologe Curtis Blake zum Opfer gefallen und heute ist er bestattet worden – nach Art der Prärieindianer auf einem Hochgestell, das mit Kyriefellen bedeckt ist. Die halb menschlichen, halb wölfischen Kyrie singen bereits wie Wölfe in den Rocky Mountains. Carrie liebte Curtis, und der Gedanke, dass er dort oben liegen soll, bis das Gestell zusammenbricht, bringt sie zum Weinen. Er hielt viel von Magie.
Sehr unmagisch fand er das Fünfeck, das die fünf Landungsboote seit der Landung vor 21 Monaten bilden; vier oder sechs wären magische Zahlen gewesen. Heute Nacht soll ein neues Baby zur Welt kommen, der erste Einheimische auf Cassandra. Folcroft und der Arzt unterhalten sich mit Carrie und wundern sich, warum sie sich überhaupt von ihrem geliebten Curtis getrennt hat. War sie die Auslöserin, dass er zu den Kyrie ging und dort umkam? Kein Wunder, dass sie Schuldgefühle hegt.
Als die Kyrie ihr nächtliches Lied ändern, schleicht sich Carrie aus der Wagenburg der Siedlung hinaus zur Begräbnisstätte und von dort in die Hügel dahinter. Sie entdeckt, wie die Kyrie eine Art Zeremonie für eine Geburt abhalten. Da stößt Captain Folcroft zu ihr. Sie geraten in Streit und ziehen die Aufmerksamkeit mit der Folge auf sich, dass das geheime Ritual der Kyrie abgebrochen wird. Das jagt Folcroft derart Angst ein, dass er zu schießen anfängt. Doch er wird verfolgt und an der Begräbnisstätte von Curtis Blake von einem Kyrie angefallen. Carrie feuert…
Mein Eindruck
Zunächst scheint dies eine der üblichen Siedlergeschichten zu sein, die zu Dutzenden in fünfziger und sechziger Jahren geschrieben wurden. Planet 4 von Zeta Tuscanae scheint gastfreundlich, wenn auch kühl zu sein, aber man kann darauf leben. Wie bei der „Eroberung“ des US-amerikanischen Westens stoßen die Siedler jedoch auf eine Urbevölkerung, mit der sie so oder so zurechtkommen müssen: entweder friedlich oder mit der Waffe in der Hand. Dem Militär Folcroft ist nur die zweite Art vertraut. Damit löst er jedoch eine Gegenaggression aus, und es kommt zu einer tödlichen Auseinandersetzung.
Kurz vor dem Kampf erhält Folcroft Sprechkontakt mit dem Arzt des Lagers. Das neugeborene Mädchen schreie nicht, so der Arzt, sondern gebe singende und heulende Laute von sich, wie man sie hier nur von den Kyrie kennt. Hat die Assimilation bereits begonnen, fragt sich Carrie: „weit ist der Weg zurück nach Hause“, Milliarden von Kilometern. Nun kommt es darauf an, aus dem, was die einen für einen Rückschritt halten, einen Fortschritt in eine friedliche Koexistenz mit den Ureinwohnern, den singenden Kyrie, zu gestalten.
Die Geschichte hat einige Lücken. So wird etwa der Grund für Blakes Exkursion und Tod nicht geklärt. Auch Carries einzelgängerischer Aufbruch mitten in der Nacht ist irrational. Über all diese emotionalen Zusammenhänge wird recht wenig gesagt, und so bleibt der Leser unzufrieden zurück.
9) Von gläsernen Labyrinthen und der Neuen Schöpfung (Of Crystalline Labyrinths and the New Creation) von Michael Bishop
Ossie Safire geht in Oklahoma auf Fossilienjagd. Als Archäologe ist er es gewöhnt, an den unwahrscheinlichsten Orten zu suchen, und dazu ist wohl auch die Ranch seines Gastgebers Rowdy Al LeFever zählen, über 100 Meilen westlich von Tulsa. Schon als er einen kleinen Talkessel auf Rowdy Als Land betritt, erscheint vor ihm ein gewisses Schimmern in der Luft. Er nennt es ein Unfunkeln. Dass es unsichtbar ist, härter als Diamant ist und mindestens 80 Fuß hoch reicht, merkt er, als ein Habicht im Flug dagegenknallt und herabfällt. Dann beginnt das Ding zu ihm zu sprechen, allerdings so ungrammatisch, dass er es kaum versteht. Er macht, dass er wegkommt, um alles seinen Kollegen zu erzählen.
Der alte Ignatius Clayborne, Opalith Magmani, die lispelnde Schönheit und schließlich der Indianer Sammy Ebener Blitz lauschen seiner Erzählung. Zunächst mit Unglauben, dann kommt Sammy mit einer eigenen Geschichte: Als er noch ein kleiner Junge war, sei ihm sei ein Unfunkelding in der Prärie begegnet, aber seine Eltern glaubten ihm: So kam er zu seinem Namen. Das Unfunkeln ließ sich erst mit einer Bandana, dann mit einem Bettuch bedecken: Es wuchs. Und es sprach auch zu Sammy. Daraufhin entwickelt er ein lebhaftes und sehr lukratives Interesse an Diamanten.
Also brechen sie viert zu Rowdy Als Ranch auf, um mehr über das erste Unfunkeln herauszufinden. Inzwischen machen sich die gläsernen Auswüchse in der ganzen Welt breit, nicht nur in abgelegenen Regionen, sondern auch in der Stadtmitte von Tulsa. Der Rancher gewährt ihnen Unterkunft im Zelt, und sie machen sich an die Arbeit. Schließlich steht fest: Die zwei Diamanten, der Hope und das Ritz, lassen sich nicht mit Farbe sichtbar machen, denn die perlt einfach ab. Und es lässt sich nicht durch eine Sprengungen – der Rancher stellt auch Dynamit – beschädigen; nur ein paar Splitter landen im Gras der Weide.
Am nächsten Morgen stecken sie fest. Die gläsernen Stalaktiten umringen ihre Zelte auf einer Seite und sperren sie auf der anderen Seite ein. Diese wird von einem Pappelwäldchen begrenzt. Auch der Rancher kann ihnen nicht helfen, denn unter seinem Haus haben sich gläserne Gebilde breitgemacht, die es nun in die Höhe heben.
Sammy beruft ein Palaver des Ausgräberkonsortiums ein und berichtet von einem herrlichen Traum, in dem er sich mit dem Rancher unterhielt. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Gläsernen aus einem Kontinuum nebenan stammten und sich nun im hiesigen ausbreiteten. Doch es folge einem anderen Wachstumsprinzip. Folglich werde es nun zu einem Zeitalter der Neuen Schöpfung kommen. Das nichts Schlechtes, sondern etwas Großartiges. Sammys drei Gefährten erleben Wunder. Eines davon besteht darin, dass Opalith den fünften Heiratsantrag Ossies endlich annimmt.
Mein Eindruck
Dies ist eine ebenso ungewöhnliche wie humorvolle Geschichte eines Erstkontakts. Typisch für den Autor ist der Erstkontakt nicht primär mit Angst behaftet, wie es im Kalten Krieg zu erwarten gewesen wäre. Vielmehr ist die Stimmung die einer erwartungsvollen Freude, wie sie etwa für Spielbergs SF-Film „Begegnung der dritten Art“ charakteristisch ist. Aliens sind keine Feinde per se, sondern können Helfer und Umwandler sein.
Außerdem ist das „Empfangskomitee“ für die Aliens bunt gemischt: Sammy ist ein Indigener und wird dafür bewundert, Opalith Magmani ist höchstwahrscheinlich keine Italienerin, sondern vielmehr eine Frau westafrikanischer Abstammung, mithin eine Afroamerikanerin. Dass sie bereit ist, den Weißen Ossie zu heiraten, bedeutet eine „gemischtrassische“ Verbindung, wie sie den Fundamentalisten im Bibel-Gürtel der USA ein Gräuel wäre.
Im Verlauf der Handlung erweist sich, dass die Aliens nicht zufällig auf Rowdy Als Land aufgetaucht sind: Er muss eine Art Vermittler sein. Als Belohnung wird ihm eine Art Himmelfahrt in seinem Farmhaus zuteil. Ob die vier aus dem Ausgräberkonsortium belohnt werden, darf hier nicht verraten werden.
Eingebettet ist die Geschichte in eine kuriose Verbindung aus ländlichem Slang und wissenschaftlichem Fachjargon, der meist falsch verwendet wird, um besser zu klingen. Die ländliche Färbung zeigt sich auch in den vier Gedichten, die den Kapiteln vorangestellt sind, sogenannte „Boomer Flats Balladen“, wobei „Boomer Flats“ die Region im Oklahoma-Outback bezeichnen soll. Die Balladen verraten viel über den Inhalt. Die vierte bezieht sich auf Rowdy Als Himmelfahrt.
Die Übersetzung
S. 35: „die [Zellen] für den sensorischen Abbau“: Gemeint ist aber nicht Abbau, sondern Deprivation, also Beraubung. Solche Zellen sollen die Loslösung des Geistes vom Körper erleichtern.
S. 40: „Die Kroper…“ heißt ihn Wahrheit „Kroger“.
S. 60: „Die Tour wag lang“: Nein, sie WAR lang [gewesen].
S. 70: „Einundzwanzig[zenti]meterschichten Wasserstoff“: Dies ist die Wellenlänge des Wasserstoffatoms. „Die Hyperfeinaufspaltung des Grundzustandes des Wasserstoffatoms ist einer der am genauesten vermessenen Übergänge; die Energiedifferenz zwischen (F = 0)- und (F = 1)-Niveau beträgt 1420 MHz (das entspricht einer Wellenlänge von 21 cm).“ (Google)
S. 76: „Sie Saugpolster ihrer Finger…“: Es müsste „Die“ heißen.
„dann unterwerf sich nicht nur sein Geist…“: Korrekt müsste es „unterwarf“ heißen.
S. 102: „Dann kehrten sie um und trottenen…“: Korrekt sollte es „trotteten“ heiß.
S. 104: „sein Geischt zu sehen“: Korrekt sollte es „Gesicht“ heißen.
S. 109: „Ein lippenloser Mung sang führ ihn.“ Gemeint ist wohl ein Mund.
S. 126: Ein Buchstabendreher: „Kesterl“ statt „Kestrel“: Turmfalke.
S. 130: Noch ein Buchstabendreher: „Wie sit das möglich?“
S. 147: „Ich we[r]de schon dafür sorgen…“ Das R fehlt.
S. 169: „Zeta Tuscanae“ ist eine vom Autor verwendete, aber inkorrekte Sternbezeichnung. Korrekt wäre „Zeta Tucanae“.
S. 182: „das Licht der kleinen [Monde] scheint…“: Dass Cassandra drei Monde besitzt, wird auf der gleichen Seite erwähnt.
S. 192: Wenn vom „Hoffnungsdiamanten“ die Rede ist, dann ist eher der damals weltgrößte Diamant namens „Hope“ gemeint. Die vier Ausgräber fassen das als ein gutes Omen auf. Sein Gegenstück bildet „der Diamant, der so groß ist wie das Ritz“, ein sprichwörtlicher Reichtum.
Unterm Strich
Mehrere dieser Beiträge ließen mich unzufrieden zurück. Dazu gehört besonders die 70 Seiten lange Novelle von Karl Hansen, aber auch die Story „Weit ist der Weg nach Hause“, die den Leser fragend zurücklässt. Wie zum Ausgleich punkten die erfolgreichen Meister der Zunft, die mittlerweile zu Klassikern gewachsen sind: Orson Scott Card und Michael Bishop. Diese beiden verstehen nämlich etwas von Humor und Ironie. Die restlichen Beiträge der Auswahl sind okay, bleiben aber nicht in Erinnerung.
Für die zahlreichen Druck- und Verständnisfehler gibt es Punktabzug.
Taschenbuch: 223 Seiten.
O-Titel: Chrysalis 7, 1979
Aus dem Englischen von Leni Sobez.
ISBN-13: 978-3811867314
Hinweis: Der Moewig-Verlag und sein Nachfolger VPM existieren nicht mehr.
Der Autor vergibt: