Peter Crowther (Hg.) / Peter F. Hamilton / Stephen Baxter / Paul McAuley / Ian McDonald – Unendliche Grenzen

Faszinierend: Invasion der Alien-Vegetation

Diese Story-Anthologie versammelt Novellen von vier bekannten britischen SF-Autoren: Stephen Baxter, Peter F. Hamilton, Paul McAuley und Ian McDonald. Alle vier Autoren wurden hierzulande bereits ausgiebig veröffentlicht. Peter F. Hamilton dürfte seit seinem sechsbändigen Armageddon-Zyklus (|Bastei-Lübbe|) den mit Abstand größten Erfolg haben. Baxters, McDonalds und Paul McAuleys Bücher erschienen fast ausschließlich beim |Heyne|-Verlag.

Der Herausgeber

Der englische Herausgeber und Anthologist Peter Crowther hat auch die Anthologie „Moloch“ herausgegeben, die ebenfalls bei |Bastei-Lübbe| erschienen ist. Die Anthologie „Unendliche Grenzen“ wurde im November 2000 abgeschlossen, spiegelt also einen schon recht alten, aber keineswegs veralteten Literaturstand wider.

Die Erzählungen

1) Stephen Baxter: Wirklichkeitsstaub (Reality Dust)

Die Handlung dieser Novelle spielt in jenem Universum, das sich der Autor für die Menschen, Xeelee, Squeem und Quax ausgedacht hat und dessen Geschichte vor allem in seinem Episodenroman [„Vakuum-Diagramme“ 304 (1997, dt. bei |Heyne|) geschildert hat. Vor dieser Zeitlinie lässt sich der Zeitpunkt, zu dem „Wirklichkeitsstaub“ spielt, halbwegs genau bestimmen: Es ist wohl das Jahrzehnt nach der Vertreibung der Quax, die im Jahr 5408 n. Chr. erfolgt. Da die Quax die von Menschen besiedelten Planeten im Jahr 5088 erobern, dauert ihre Herrschaft mithin 319 Jahre. Sie hinterlässt daher tiefe Spuren.

Da die Quax die Vergangenheit der Menschheit, ihr kulturelles Gedächtnis, weitgehend ausgelöscht und die Erdoberfläche durch Nanotechnik verwüstet haben, ist nicht nur der Wiederaufbau schwierig, sondern auch die Erinnerung an die wissenschaftlichen Errungenschaften früherer Generationen. Der junge Forscher Hama Druz wird dazu eingeteilt, in der Kommission für historische Wahrheit nach Leuten zu suchen, die mit den Besatzern zusammengearbeitet (Kollaborateure) oder von ihnen profitiert haben, so genannte „Pharaos“. Sie sollen für ihren Verrat bestraft werden – doch Hama fällt dies schwer, denn die Pharaonen haben weit zurückreichende Erinnerungen, die dringend benötigt werden.

Die neue Regierung der Interimskoalition hat die früheren Bürokraten abgesetzt, doch da taucht eine sonderbare Frau in seinem Büro auf: Gemo Cana war eine Pharao, ist potenziell unsterblich und beherbergt in ihrem Kopf das virtuelle Konstrukt ihrer verstorbenen Tochter Sarfi. Gemo erzählt Hama, dass ihr Bruder Reth auf dem Jupitermond Callisto Experimente anstelle. Auch er sei natürlich ein Pharao. Da Hama und seine Kollegin Nomi sowieso nach Callisto fliegen müssen, darf Gemo als ihre Führerin mitkommen.

Auf Callisto zeigt ihnen Reth Cana eine interessante Entdeckung. Die einheimischen Bakterienarten haben sich nicht in Zeit und Raum weiterentwickelt, sondern quasi seitwärts, in andere Dimensionen. Und dorthin hat Reth bereits viele andere Pharaonen geschickt, die somit dem Zugriff der Wahrheitskommission entzogen sind. Das macht Hama wütend. Aber er ist noch überraschter, als sich Gemo ebenfalls dieser Behandlung unterzieht und ihr Geist – mitsamt Tochter Sarfi – verschwindet. (Wohin diese Wesen gehen, wird in der zweiten Handlungsebene erzählt: eine Inselwelt, die aus Wirklichkeitsstaub besteht.)

Als sei dies nicht genug Aufregung, treffen die Xeelee ein und machen wie immer mächtig Rabatz. Sie setzen ihren „Sternenhammer“ ein, um den Eismond zu zertrümmern. Doch dieser wehrt sich auf eine Weise, die nicht nur Hama und Nomi überrascht, sondern auch die Xeelee …

Mein Eindruck

An der Oberfläche ist die Story leicht zu verstehen, doch wenn der Laie versucht, den Knackpunkt zu verstehen, zeigt sich, dass hier Kenntnisse verlangt werden, die ein Quantenphysiker locker aus dem Ärmel schüttelt. Da ich das aber nicht bin, hatte ich damit erhebliche Probleme und fühlte mich wie der ahnungslose Hama Druz und seine Amazone Nomi. Wie auch immer: Wie so oft in der Quantenphysik geht es um Wahrscheinlichkeiten und den Übertritt in andere Dimensionen. Akzeptiert man diesen Aspekt, ist die Geschichte leicht zu kapieren. Man muss die (zwei) Schlusspointe(n) nicht verstehen, um sie mit einem befriedigten Grinsen der Überraschung zur Kenntnis zu nehmen.

Wie auch immer: Die Story ist ein echter Baxter aus seiner Xeelee-Phase: anspruchsvolle naturwissenschaftliche Spekulation. Kann man mögen, wenn man das nötige Rüstzeug dafür hat. Die Psychologie und Charakterisierung der Figuren ist Baxters Stärke nicht. Dieses Manko macht er durch seine Ideen wett.

2) Peter F. Hamilton: Den Bäumen beim Wachsen zusehen (Watching Trees Grow)

Ein rätselhafter Mord ereignet sich 1832 an der ehrwürdigen Universität von Oxford: Im rechten Auge des Studenten Justin Ascham Raleigh steckt ein Messer. Doch weder den Mörder noch seinen Fluchtweg noch das Motiv vermag Chefinspektor Pitchford herauszufinden. Wie es scheint, haben Justins fünf engste Freunde alle ein Alibi bzw. kein Motiv.

Doch der Familien-Ermittler der Raleighs, Edward Bucahanan Raleigh, hofft auf den technischen Fortschritt, um die Beweismittel, wo sie auch sein mögen, herbeizuschaffen, um den wahren Mörder zu finden, zu überführen und seiner gerechten Strafe zuzuführen. In der Tat dauert es noch 206 Jahre, bis Edward dieses Kunststück gelingt, 10.000 Lichtjahre von der Erde entfernt. Und im Vatikan herrschen dann immer noch die Borgias.

Mein Eindruck

Der alternative Geschichtsverlauf, den Hamilton in seiner wunderbar spannenden Detektivgeschichte klassischen Zuschnitts zeichnet, blickt auf eine ehrwürdige britische Tradition zurück. Schon in den sechziger Jahren stellte sich der britische Autor Keith Roberts ein England vor, in dem es dem Vatikan gelungen war, die vom katholischen Glauben abgefallene Königin Elizabeth I. ermorden zu lassen („Pavane“). In der Folge konnte die Armada des katholischen Königs Philipp von Spanien England erobern und komplett auf katholische Werte zurückstellen.

Doch anders als bei Roberts stellt sich Hamilton vor, dass diese Wende nicht zu technischem Rückschritt – statt Telefon gibt es noch Signalmasten für die Nachrichtenübermittlung – geführt hätten, sondern wegen der Bevölkerungsexplosion zu beschleunigtem technischem Fortschritt. Eine dünne privilegierte Oberschicht, die Familien der Langlebigen, treibt die wissenschaftlichen Studien voran, während die Kurzlebigen oder „Ephemeren“ niedere Arbeiten à la Morlocks verrichten. Revolutionen hat es schon lange nicht mehr gegeben, in Rom herrschen die Kaiser und der Kongress des Zweiten Imperiums, im Vatikan regieren die Borgias. Diese vertreten die biblische Doktrin von Johannes Paul II.: Keine Verhütung, sondern vermehret euch und bevölkert die Erde – und den gesamten Weltraum am besten gleich dazu!

Das Raffinierte und wirklich Befriedigende an dieser Erfindung Hamiltons ist, dass es genau diese Kluft zwischen Lang- und Kurzlebigen ist, die das Motiv für den Mord an Justin liefert. Edward, der unermüdliche Ermittler, muss erst diesen Balken in seinem Auge finden, bevor er überhaupt dessen Bedeutung begreift. Und so das Motiv erkennt. Seine Strafe ist furchtbar und hat nicht wenig von einem Mord und ewiger Verdammnis an sich. An diesem Punkt ist es dem Leser überlassen, ein moralisches Urteil zu fällen: Der Mord musste gesühnt werden, in Ordnung, aber wirklich um diesen Preis?

3) Paul McAuley: Geschichte machen (Making History)

Jahrhunderte in der Zukunft haben die Menschen die äußeren Planeten besiedelt, doch wie stets gibt es auch dort Zwietracht. Vor kurzem ist der Krieg einer Dreier-Allianz und des Großbrasilianischen Reiches gegen die Monde des Saturn und des Jupiter zu Ende gegangen: Sie haben ihre Schulden nicht bezahlt – pfui! Auf dem Saturnmond Dione, wo die Handlung beginnt, leistete das Orbitalhabitat Paris 20 Tage lang hartnäckig Widerstand, und zwar unter einem Amateursoldaten namens Marisa Bassi, der sich als Meister des Barrikadenkampfes erwies. Doch schließlich musste er dem Druck nachgeben – seitdem ist er spurlos verschwunden.

Das macht die Arbeit für Geschichtsprofessor Fredo Graves nicht gerade einfach, der von diversen brasilianischen Unternehmen den Auftrag erhalten hat, eine geschichtliche Studie über den Kampf und besonders diesen Freiheitskämpfer namens Bassi zu schreiben. Die Quellen sind nicht nur unzuverlässig, sondern widersprechen einander auch fortwährend. Obendrein ist Prof. Dr. Graves ein wenig abgelenkt durch seine Verliebtheit in eine schöne Umweltarchitektin, die den lieblichen Namen Demi Lacombe trägt und ihn an eine Seejungfrau, eine Nereide, erinnert. Dieser Dame macht jedoch auch der als grausam bekannte Polizeichef von Paris den Hof, wird aber von Demi nicht erhört. Graves schlägt sich auf die Seite Demis, was ihn in Gefahr bringt.

Da bittet Demi den Prof, ihr Zugang zu den verbotenen Vierteln der Stadt zu verschaffen. Der verliebte alte Gockel willigt sofort ein, doch Demi versetzt ihm einen Stich der Eifersucht, als sie in der verbotenen Zone lediglich einen Gen-Magier aufsucht und sich von ihm unterrichten lässt. Sie hat eine Art, jeden Mann um den Finger zu wickeln, die den Prof beunruhigt. Und was hat sie denn nur mit diesem hirnamputierten Gärtner? Der wird doch nicht etwa ihr Lover sein, oder?

Die Eifersucht veranlasst Graves, Demi im Stich zu lassen und an den Polizeichef zu verraten. Die folgende Eskalation der Ereignisse öffnet Graves die Augen darüber, was hier in Wahrheit los ist – und was er direkt vor seiner Nase hatte … Für Demi und den Polizeichef kommt diese Erkenntnis leider zu spät. Aber wie sagt doch Graves’ Führer patriotisch? „Der Krieg ist noch nicht zu Ende!“

Mein Eindruck

Paul McAuley ist bei uns leider nicht (mehr) so bekannt, wie er es verdient hätte. Er konnte eine visionäre SF-Trilogie (der Alien-Zyklus), eine Storysammlung und den Mars-Roman „Roter Staub“ bei Heyne veröffentlichen, dann war’s das. Inzwischen hat er sehr viel mehr veröffentlicht, unter anderem einen Wissenschaftsthriller à la Greg Bears „Jäger“ oder Baxters „Moondust“, der hoffentlich noch seinen Weg zu uns findet. Die Story gehört zu einem Zyklus um den „Stillen Krieg“, der im Text immer wieder erwähnt wird: eine Auseinandersetzung an den Grenzen des besiedelten Sonnensystems, die auf der Erde kaum registriert wird.

Die Rezensenten beurteilen diese Erzählung als die schwächste des Bandes. Hinsichtlich der Ideen und Emotionen mag dies zutreffen, aber es gibt auch noch andere Qualitäten, die es zu berücksichtigen gilt. Dem Autor gelingt es, die aktuellen Vorgänge mit denen zur Zeit des Freiheitskampfes Marisa Bassis nahtlos zu verschränken. In der Tat ist die Darstellung so anschaulich, dass sie lebhaft an jene Tage des Aufstandes der Pariser Kommune von 1870 erinnert (die explizit erwähnt wird).

Die Gewalt, die zu Bassis (vermeintlichem) Ende führt, weist auf die Gewalt gegen Demi Lacombe voraus. Über einen Mangel an Action kann man sich also nicht beklagen. Auch die Romantik kommt nicht zu kurz, wird aber in schönster ironischer Weise relativiert und ad absurdum geführt. Dass der Professor sich an die Theorie der Schwanzsteuerung männlicher Gehirne, die im 20. Jahrhundert aufgestellt worden sein soll, erinnert, ist allerdings ein Wink mit einem allzu großen Zaunpfahl. Ich jedenfalls bin von alleine darauf gekommen, was mit dem Professor los ist.

In der postmodernen Ära fällt es dem Autor leicht, das „Geschichte beschreiben“ mit dem Geschichtenerzählen ineinszusetzen. Die Schilderung von Bassis Endkampf, die sich Graves vorstellt, erfüllt bereits diesen Tatbestand. Der Professor hat den Abstand zu seinem Forschungsobjekt völlig verloren und ist seinerseits zum Akteur in der Geschichte (in beiderlei Sinne) geworden. Heisenberg lässt schön grüßen.

4) Ian McDonald: Tendeléos Geschichte (Tendeléo’s Story)

HINWEIS: Diese Geschichte spielt in jenem Ostafrika, das der Autor in seinen erfolgreichen Romanen „Chaga / Evolution’s Shore“ und „Kirinya“ geschildert hat (beide bei |Heyne|). In „Chaga“ beginnt die Invasion Kenias durch eine außerirdische Vegetation, die sich amöbenartig in die Umgebung ausbreitet. („Chaga“ ist aber auch die medizinische Bezeichnung für eine bestimmte Krankheit durch Mangelernährung.) Zeitgleich erscheint ein riesiger künstlicher Körper im erdnahen Raum. Hängen die beiden Phänomene zusammen? Eine Reporterin deckt diverse Missstände in der Reaktion der Behörden auf die Chaga-Pest auf und gerät in Lebensgefahr.—

Nachdem das Chaga bereits den Kilimandscharo und seine Umgebung verschlungen hat und jeden Tag fünfzig Meter weiter auf die Hauptstadt Nairobi vorrückt, fällt ein weiteres Chaga-Paket vom Himmel. Es landet irgendwo im Busch, und die Bewohner des Landes erfahren nur durch das Radio oder die Fernsehnachrichten davon. Tendeleo ist die Tochter des Dorfpastors von Gichichi und bekommt daher eine Menge von dem mit, was darauf folgt. Sie erzählt es uns in der einfachen Sprache, die ihr zur Verfügung steht, aber sie ist klüger, als sie klingt.

Wenig später donnern Kolonnen von UN-Lastern durch Tendeleos Dorf Gichichi, dass man nicht mal morgens um drei seine Ruhe hat. Dann findet in der Dorfkirche eine Infoveranstaltung statt: Die Bewohner erfahren, dass ihnen nur noch ein Jahr Zeit bleibt, bis am 14. Juni das Chaga auch ihr Dorf verschlingt. Daraufhin beginnt die Gemeinschaft zu zerfallen, die ersten Familien schließen sich den Flüchtlingsströmen an, die nach Süden ziehen.

Aber was ist dieses seltsame Chaga, das weder Tendeleo noch ihr Vater bisher gesehen haben, und wie kann man sich davor fürchten, wie es die Weißen tun? Um Antworten zu erhalten, reist Tendeleo mit ihrer Schwester Kleines Ei dorthin, wo das Chaga sich jetzt befindet. Eine Polizeieskorte bringt sie in das hypermoderne Forschungscamp der UNO, und den beiden Mädchen gehen schier die Augen über: So etwas haben sie noch nicht gesehen. Ein Weißer, der wie ein Vampir aussieht – er hat blaue Augen! – fährt sie einen Aussichtsturm hoch, von wo aus die Mädchen das Chaga in natura sehen können. Es ist derartig quietschbunt, dass einem die Augen wehtun, und formt Fußbälle und Sonnenschirme und Blätter und Äste aus – ein Mittelding aus Korallenriff (wenn Tendeleo so etwas schon gesehen hätte) und Regenwald. Es ist beängstigend. Aber woraus besteht es?

Ein anderer Weißer, er heißt Shepard und scheint der Boss zu sein, führt Tendeleo in seine Forschungslabors und in den Geokartenraum und in den Sternenraum. Das Chaga kommt aus einem Sternennebel 800 Lichtjahre entfernt und seltsamerweise betrifft es nur die Südhalbkugel. Wie ungerecht! Shepard sagt, das Chaga bestehe aus winzigen Organismen, die kleiner als eine menschliche Körperzelle seien und kopiere einfach alles in seinem Weg auf eine fremdartige Weise. Aber ob Menschen im Chaga leben oder leben können, kann oder will auch er nicht beantworten. Seine Laborarbeiter wappnen sich jedenfalls gegen das außerirdische Zeug mit luftdichten Schutzanzügen. Das sieht noch schräger aus als das Chaga selbst, findet Tendeleo.

Als UN-Soldaten kommen, um die letzten 20 Familien Gichichis abzutransportieren, steckt der Vater seine Kirche in Brand. Tendeleo versteht das gut. Es ist besser, die Kirche mit Würde zu verlieren, als dass sie einem mit Gewalt genommen wird – und noch dazu von etwas, das nicht auf die Erde gehört. Dann verlassen alle Gichichi. Doch Nairobi ist eine Vorhölle: 10 Millionen Menschen in einem Umkreis von 20 Kilometern. In diesem Chaos schlägt sich Tendeleo als Botenfrau für Chaga-Sporen durch, die sie zu den Amerikanern und Chinesen schmuggelt. Doch auch hier ist bald Feierabend: Die Chaga-Herde aus Norden und Süden vereinigen sich am 18. Juli 2013 – der allgemeine Zusammenbruch ist da, und Tendeleos gelangt als eine der Letzten aus der Stadt heraus.

Doch ihre Odyssee beginnt gerade erst. Und sie wird sie zurückführen, in das Chaga, das sie und alle, die bei ihr sind, verändert. Doch jede Veränderung ist auch ein Anfang …

Mein Eindruck

Diese Novelle ist eindeutig der eindrücklichste Beitrag dieses Bandes. Allein schon dafür lohnt es, sich das Buch zuzulegen. Die Erzählung von Tens Schicksal ist stets anschaulich, leicht verständlich und daher auch dann noch mitreißend, als ihr Leben ein paar ungewöhnliche Wendungen nimmt. Die Szene in Nairobi ist uns durch die Bilder aus Mogadischu bestens bekannt, wo lokale Warlords mit ihren Kampfgruppen das Sagen haben. Im Jahr 2013 ist das sicher auch nicht anders als im Jahr 2006.

Deshalb ist es viel interessanter, wenn Ten schließlich mit ihren Gefährten in das Chaga selbst geht. Sie werden verändert, aber nicht so sehr körperlich wie geistig. Ten kann das Verhalten der Sporen, kleinen Nanobots, mit ihrem Zusatzgehirn steuern und so ihre Umgebung nach ihren eigenen Ideen gestalten. Tolle Sache, nicht wahr? Leider hat die kenianische Befreiungsfront etwas gegen das Chaga und seine Bewohner, so dass stets mit Angriffen zu rechnen ist. Auch das dürfte sich geben, sobald das Chaga alles unter sich begraben hat …

Besonders anrührend sind die Liebesbeziehungen, die sich unter den äußeren Veränderungen ebenfalls anpassen müssen: erst zu ihren Eltern, dann zu Sean Gidden, einem schwarzen Buchhalter in Manchester, der sich in die schöne Sängerin verliebt. Als sie abgeschoben wird, weil sie eine „Gefährdung der öffentlichen Gesundheit“ darstellt, braucht er sieben Monate, um die Trennung zu überwinden – er erzählt diese Phase selbst. Schließlich sucht er Ten in Kenia … Das ist nicht nur anrührend, das macht die Geschichte auch spannend. — In „Chaga“ und „Kirinya“ gibt es mehr davon.

Die Übersetzung

Während Angela Koonen meist einen ordentlichen Job macht, unterläuft ihr auf Seite 419 ein peinlicher Irrtum. Sie übersetzt das Kürzel „CGI“ im Zusammenhang mit Bruce Willis (Achtung: es geht um Filme) fälschlich als „City and Guilds Institute: Londoner Prüfungsinstitut für technische und Handwerksbetriebe“. Das mag schon stimmen, aber was hat das mit Film und Bruce Willis zu tun? Die aktuellere Bedeutung von CGI ist nämlich „Computer Generated Images“, also im Rechner erzeugte Bilder. Und dann wird ein Schuh draus: gegen diese CGIs kämpft Willis beispielsweise in „Armageddon“. Schließlich war er ja nicht selbst auf einem Kometen, um ihn zu sprengen.

Unterm Strich

Ich finde es bemerkenswert, dass sich die Perspektive der Erzähler in ihren Storys nicht weiter als bis zum Rand des Sonnensystems (bis auf eine kurze Passage in Hamiltons Novelle, s.o.) bewegt. Die Anthologie heißt im Original „Futures“, aber diese „Zukünfte“ spielen sich nicht in weiter Ferne ab – das Sonnensystem ist fern genug. Und auch hier geht es selten friedlich zu.

Von den vier Zukünften ist diejenige, die der Nordire Ian McDonald ausbreitet, die mit Abstand faszinierendste. Das liegt sicher auch an ihrer zeitlichen Nähe: zwischen 2010 und 2015 spielt die Geschichte (Tendeleo ist 1995 geboren), die es zulässt, dass wir uns mit den Gegebenheiten vertraut fühlen. Und wer den Roman „Chaga“ gelesen hat, wird wenig Neues an den Veränderungen finden. Es ist das individuelle Schicksal der jungen Frau, das uns für ihre Geschichte einnimmt – und natürlich auch die kluge Weise, wie ihre Geschichte erzählt wird. Deshalb interessiert es uns brennend, wie sie sich durch den Kontakt mit dem Chaga verändert – und ob ihr Anderssein für sie und ihre Umgebung zum Guten ausschlägt oder nicht.

Die alternativen Zukünfte, die die anderen Autoren ausbreiten, insbesondere Hamilton, sind zwar faszinierend, aber auch erschreckend. Hamilton nutzt zwar die Handlungsführungstechniken der Detektivgeschichte, so dass seine Story bis zum Schluss spannend bleibt, aber so richtiges Interesse kam bei mir nicht auf. Auch die anderen beiden Storys haben ihre Meriten – diese habe ich oben erläutert.

Kurzum: Die Anthologie enthält interessante Beiträge, die vor allem SF-Kenner für sie einnehmen dürfte. „Tendeleos Geschichte“ ist wider Erwarten für jeden Leser, der Zeitung liest, leicht verständlich. Um so stärker dürfte der Eindruck dieser Novelle auf das Lesepublikum sein. Sie allein lohnt schon das ganze Buch.

Taschenbuch: 460 Seiten
Originaltitel: Futures, 2001
Aus dem Englischen von Angela Koonen
ISBN-13: 9783404232666

www.luebbe.de

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