Alle Beiträge von Michaela Dittrich

Feehan, Christine – Dunkle Macht des Herzens (Die Legende der Karpathianer 2)

Shea O’Halloran ist Amerikanerin und Chirurgin. Eigentlich ist sie aber das Lovechild der missglückten Beziehung eines Karpathianers und ihrer Mutter, was sie selbst zur Halb-Karpathianerin macht. Da sie bisher sicher noch nichts von Rumänien oder den Karpaten gehört hat und ihre Mutter schon seit Jahren tot ist, hat sie natürlich keine Ahnung von ihrem zweifelhaften Glück. Der Leser dagegen weiß sofort: Shea ist das nächste Opfer, das sich Schnulzen-Autorin Christine Feehan ausgesucht hat, um es mit einem wilden, ungezügelten und wahnsinnig männlichen Karpathianer zu verkuppeln.

Über Jahre hinweg hat sie Visionen von einem gequälten und gefolterten Mann. Shea findet das eigenartig, macht sich aber keine größeren Sorgen. Erst als ein paar Vampirjäger in ihrem Büro auftauchen (diese Dilettanten erinnern mehr und mehr an die Amateure aus „Fright Night“, sind aber leider lange nicht so unterhaltsam oder amüsant) und sie das Tagebuch ihrer Mutter zur Hand nimmt, um darin zu lesen, dass ihr verschollener Vater deren Blut getrunken hat (wir ignorieren der Einfachheit halber die Frage, wie Shea das noch nie auffallen konnte), beginnt es in ihrem Hirn zu arbeiten. Sie begibt sich nach Rumänien, angeblich, weil sie hofft, dort ein Heilmittel für ihre seltsame Blutkrankheit (hier darf die geneigte Leserin gern einmal mit den Augen rollen) zu finden. So richtig erklärt Feehan zwar nicht, wieso Shea nun gerade zu diesem Zeitpunkt unbedingt nach Rumänien muss, aber die Hauptsache ist schließlich, dass Shea am richtigen Ort ist, um sofort den Mann zu befreien, der so lange ihre Träume heimgesucht hat.

Es stellt sich heraus, dass es sich um einen gepfählten und praktisch lebendig begrabenen Vampir, pardon: Karpathianer, handelt. Jaques ist, verständlicherweise, etwas neben der Spur, und während die brillante Chirurgin versucht, das Leben des so armselig Zugerichteten zu retten, bringt er sie wiederholt fast um. Trotzdem verlieben sie sich natürlich unsterblich ineinander, und als Jacques halbwegs wiederhergestellt ist, machen die beiden sich daran, die Vampirjäger zu finden und ihnen das Handwerk zu legen. Dabei kommen ihnen irgendwann Raven und Mikhail zu Hilfe, und somit ist auch für Wiedererkennungswert innerhalb der Serie gesorgt. Raven ist mittlerweile schwanger, pikanterweise mit der (zukünftigen) Gefährtin Gregoris, was zu einigen unappetitlichen Szenen führt, in denen Gregori von seiner Liebe (oder sagen wir: Lust) zu diesem Fötus übermannt wird. Da kann es den Leser nur noch schütteln.

Natürlich geht alles gut aus, Shea und Jacques finden zueinander – immer und immer wieder, sodass der Mittelteil des Hörbuchs eigentlich nur aus aneinandergereihten Sexszenen besteht, die nur den Zweck haben, die Leserin von der ungeheuren Potenz des Protagonisten zu überzeugen. Das ist natürlich keineswegs abendfüllend, und so ist auch „Dunkle Macht des Herzens“, genau wie der Vorgänger [„Mein dunkler Prinz“, 5240 ein Hörbuch, das die Welt nun wirklich nicht gebraucht hat.

Dabei muss man zugeben, dass Feehan auf ihre Hauptcharaktere ein wenig mehr Zeit verwendet als noch im Erstling. Wir erfahren tatsächlich ein bisschen über Shea, was sie etwas greifbarer erscheinen lässt. Letztlich ist sie aber auch nichts weiter als eine Schablone: unerfahren, naiv, furchtsam, aber im Grunde bereit, für „ihren“ Mann ihr Leben zu lassen. Damit ist sie ein fragwürdiges Vorbild für die Leserin, die offensichtlich angehalten ist, jegliche Bildung, die sie (eventuell) genossen hat, über Bord zu werfen und sich stattdessen ihrem Mann zu unterwerfen, um ihm Kinder zu gebären. Schaurig.

Feehans Held Jacques hat einige Ecken und Kanten, hervorgerufen durch das jahrelange Verbuddeltsein. Offensichtlich hat er sich eine ziemliche psychische Störung eingefangen, und so schwankt er ständig, ob er Shea nun fressen oder flachlegen soll. Diese Abgründe in Jacques‘ Charakter könnten ihm sprichwörtliche Tiefe geben, wenn Feehan es verstünde, sie vernünftig auszuloten. Stattdessen ist sie unfähig, seine Qual als etwas anderes als nervtötende Unausgeglichenheit erscheinen zu lassen. Seine Stimmungsschwankungen sind kaum mehr als ein Ausdruck dafür, dass sich Feehan nicht entscheiden kann, wohin sie mit dem Charakter eigentlich will. Im Geiste ist er ein Neanderthaler (ein Wort, das Feehan selbst gern in Zusammenhang mit ihren Karpathianern benutzt), ausgestattet mit einer unberechenbaren Aggressivität – etwas, das Feehan fälschlicherweise mit Leidenschaft gleichsetzt. Er ist die starke Schulter, an die sich das plötzlich erschwachte Weibchen vertrauensvoll lehnen darf, während er, leicht dem Wahnsinn anheimgefallen, sämtliche Bösewichte der Welt von ihr fernhält.

Es wird schnell klar, dass Christine Feehan hier „Mein dunkler Prinz“ noch einmal aufrollt. Mit anderen Charakteren erzählt sie in „Dunkle Macht des Herzens“ noch einmal exakt die gleiche Geschichte, offensichtlich für Leserinnen, die es bevorzugen, immer wieder dasselbe vorgesetzt zu bekommen. Beide Geschichten sind deckungsgleich und lassen sich schlicht auf folgende Formel reduzieren: Amerikanerin, sexuell unerfahren, gerät an lüsternen Typen, der sie sofort zu seiner unsterblichen Geliebten erklärt. Den beiden stellen sich ein paar konstruierte Konflikte in den Weg, die fix gelöst werden, damit die Protagonisten nach erfolgreichem Tagwerk in die Kissen sinken können. Gähn.

Feehan hat vielleicht etwas an ihrer Charakterdarstellung gefeilt, aber auch in „Dunkle Macht des Herzens“ ist sie unfähig, tragfähige Handlungen und Probleme zu erfinden. Stattdessen bietet sie Luftblasenkonflikte, die allein durch ausgiebiges Reden gelöst werden und deren Konfliktpotenzial offenbar von den Charakteren, nicht aber vom Leser verstanden wird. Und so zaubert sie gegen Ende dann auch überraschend einen Bösewicht aus dem Hut, der in einem lang angelegten Monolog erklärt, warum er eigentlich böse ist. Man möchte der Autorin zurufen, dass solcherart unbeholfene Auflösung heutzutage höchstens noch ironisch gebrochen präsentiert wird. Feehan meint diese Szene aber durchaus ernst, offensichtlich, weil sich hier ihre schriftstellerische Begabung erschöpft. Es ist ihr einfach unmöglich, ihre (ohnehin kaum vorhandene) Handlung überraschend oder raffiniert zu gestalten. Folglich ist „Dunkle Macht des Herzens“ nur etwas für sehr unbedarfte Seelen, die sich damit zufrieden geben, immer und immer wieder dasselbe Menu aufgetischt zu bekommen.

Es scheint, als verlöre auch die Sprecherin des Hörbuchs – Dana Geissler – mit zunehmender Laufzeit das Interesse an der Geschichte. Von Zeit zu Zeit finden sich (zugegeben kurze) Sprech- oder gar Übersetzungspatzer, die von der Produktion nicht ausgebügelt wurden. In manchen Fällen ist sich Geissler bis zum Ende des Satzes wohl auch nicht ganz sicher, welchen Charakter sie gerade spricht. Wobei anzumerken wäre, dass gerade die Männer ihr überhaupt nicht gelingen. Vor allem Mikhail klingt so heiser und krächzend, dass sich beim Hören unweigerlich ein Hustenreflex einstellt.

Kurzum, „Dunkle Macht des Herzens“ ist minimal besser gelungen als „Mein dunkler Prinz“. Auf beide Hörbücher kann man aber dennoch getrost verzichten.

|Originaltitel: Dark Desire, 1999
299 Minuten auf 4 CDs
Bearbeitete Fassung
ISBN 978-3-7857-3601-2|
http://www.luebbeaudio.com
http://www.christinefeehan.com

Allende, Isabel – Siegel der Tage, Das

Isabel Allende, chilenische Bestseller-Autorin mit Wohnsitz in San Fancisco, geht mittlerweile stark auf die siebzig zu, und doch scheint sie keineswegs müde. Erst letztes Jahr erschien ihr farbenprächtiger historischer Roman [„Inés meines Herzens“, 4229 und auf den aktuellen PR-Fotos, die auf ihrer Homepage einsehbar sind, lacht sie strahlend in die Kamera. Vielleicht ist Allende ja tatsächlich ein bisschen altersweiser geworden, verspürt den Wunsch nach Reflektion ihres Lebens stärker denn je. Doch gleichzeitig ist sie immer noch leidenschaftlich, spleenig und ein erzählerischer Wirbelwind.

Ihr neuestes Buch, „Das Siegel der Tage“, knüpft lose an ihren großen Erfolg „Paula“ an, einem romanhaften Brief an ihre sterbende Tochter Paula, der ihr die Geschichte der Allendes – also ihre eigene Geschichte – näherbringen soll. „Paula“ ist ein intimes Buch, ein Buch, das vom großen Mut seiner Autorin zeugt, sich der Geschichte, dem Schmerz und dem eigenen Leben zu stellen. „Paula“ zu lesen, ist ergreifend, auch weil durch all die Trauer um die verlorene Tochter die unglaubliche Stärke dieser Isabel Allende durchscheint.

„Das Siegel der Tage“ nun ist eine Art Fortsetzung; wieder beginnt Allende mit einem Adressat an ihre Tochter. Diesmal ist es eine Reminiszenz an deren Beerdigung. Die vertrauliche Anrede, „du, meine Tochter“, wird der Leser des Öfteren während der Lektüre finden, doch die Verbindung ist lockerer. Allende kehrt immer wieder zu Paula zurück, doch das erlebte Leid ist nicht mehr so allgegenwärtig wie in „Paula“.

Was geschah also nach Paulas Tod? Wie ging es mit der Familie weiter? Genau das, und vieles mehr, packt Allende in ihren langen Brief. Sie erzählt von der lähmenden Trauer nach Paulas Tod, dem Stillstand in ihrem eigenen Leben. Sie erzählt, wie diese Zäsur fast ihre Ehe zerstört hätte. Kurzum, sie erzählt, wie es mit der Sippe weitergeht. Dabei gibt es längst nicht nur Happy Ends, doch auch in katastrophalen Situationen, die das Potenzial haben, eine Familie komplett zu zerstören, verliert Allende nie den unerschütterlichen Glauben daran, dass sich alles irgendwie und irgendwann zum Positiven wenden wird. Es ist diese Grundeinstellung, dieser unverwüstliche Wunsch nach Leben, der sich bei der Lektüre unweigerlich auf den Leser überträgt. Und dieses Feel-Good, trotz aller Widrigkeiten und Probleme, ist eines der Geheimnisse von Isabel Allendes Prosa.

Isabel Allende schart eine große Familie um sich, nicht nur ihre leibliche, sondern auch eine angeheiratete und „adoptierte“ (so hat sie kein Problem damit, auch enge Freunde zur Sippe zu zählen). Diese unorthodoxe Großfamilie bietet ihr einen perfekten Spielplatz, um „Das Siegel der Tage“ mit erheiternden, spannenden, komischen, mitreißenden und persönlichen Anekdoten zu füllen. Der Leser erfährt tatsächlich ziemlich genau, was seit Paulas Tod im Leben der Allende passiert ist. Einiges davon kennt man schon, anderes ist neu, und es ist wohl auch diese Melange aus Bekanntem und Neuem, die beim Leser den Eindruck erweckt, zum Plausch bei einer guten Freundin eingeladen zu sein. Sie sieht ihren Leser als Freund, dem man auch Geheimnisse anvertrauen kann, und als Leser kann man sich des Eindrucks der Demut nicht erwehren, dass einem solcherart Ereignisse so offen und ehrlich anvertraut werden.

Die Kritik hat ihr das offensichtlich übel genommen. Die Rezensentin der |Süddeutschen Zeitung| sieht den Voyeurismus des Lesers bedient und spricht erschrocken von „Intimitäts-Terror“. Das sei alles nur ein einfaches Herunterschreiben von Familiengeschichten, an dem nichts Erdachtes zu finden sei – was in ihren Augen offensichtlich ein Qualitätsmakel ist. Dabei wird ein aufmerksamer Leser längst gemerkt haben, dass Isabel Allendes Bücher schon immer (auto)biographisch waren. Mal mehr, mal weniger hat sie Familienmitglieder verfremdet und zu Protagonisten gemacht – im „Geisterhaus“, im „Unendlichen Plan“, in „Paula“, in [„Mein erfundenes Land“ 2979 – überall findet sich der Allende-Clan wieder. Es ist gerade ihre Stärke, Biographien in Romane und Profanes in Literarisches zu verwandeln. Bei der Veröffentlichung von „Paula“ wurde ihr dafür noch applaudiert, bei „Das Siegel der Tage“ ist das gleiche Prinzip plötzlich anrüchig? Wohl kaum …

„Das Siegel der Tage“ trägt weder den Untertitel ‚Roman‘ noch ‚Autobiographie‘, und das aus gutem Grund, denn es ist weder das eine noch das andere. Sicher, die Charaktere existieren – sie sind Familie und Freunde der Autorin. Doch zu welchem Grad sie und ihre Lebenswege fiktionalisiert wurden, das bleibt das Geheimnis der Autorin, die sich persönlich keinen Deut um den Zusammenhang zwischen Fiktion und Realität schert. „Jedes Leben kann wie ein Roman erzählt werden, wir sind alle Hauptfiguren unserer eigenen Geschichte“, sagt sie relativ am Anfang des Buches, um daraufhin den Beweis ihrer These anzutreten. „Meine Darstellung der Ereignisse ist eigenwillig und überspitzt“, heißt es später. Solche kleinen Einwürfe sollten dem Leser eigentlich Hinweis genug sein, um einschätzen zu können, inwieweit er hier eine Intimschau der Autorin vor sich hat.

Zugegeben, „Das Siegel der Tage“ wird sicherlich hauptsächlich für Leser interessant sein, die Allendes Bücher kennen und mehr über die Autorin erfahren wollen. Sie rekapituliert nicht nur die fünfzehn Jahre seit Paulas Tod, sondern gibt auch Einblick in ihr Schaffen. Wie schreibt sie? Wie findet sie Stoffe? Wie entstehen ihre Romane und wie empfindet sie Lesereisen? Doch am beeindruckendsten ist zu sehen, dass die starken Protagonistinnen, die Allende gern auftreten lässt, keineswegs unerreichbare Heldinnen sind. Isabel Allende lebt diese unerschütterliche Stärke vor. Sie kämpft, sie liebt und sie steht wieder auf, wenn sie gefallen ist. Sie hat ihre Schwächen (es scheint, als wäre sie als Schwiegermutter ein echter Drachen) und sie ist nicht immer erfolgreich. Aber ihr Durchhaltewillen und ihre Leidenschaft – in allen Dingen des Lebens – machen sie, genauso wie ihre Bücher, so unglaublich bemerkenswert.

|Originaltitel: La Suma de los Días
Aus dem Spanischen von Svenja Becker
409 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-518-42010-2|
http://www.suhrkamp.de

_Mehr von Isabel Allende auf |Buchwurm.info|:_

[„Zorro“ 1754
[„Mein erfundenes Land“ 2979
[„Inés meines Herzens“ 4229
[„Im Bann der Masken“ 605
[„Die Stadt der wilden Götter“ 1431
[„Im Reich des goldenen Drachen“ 1432

Márquez, Gabriel García – Leben, um davon zu erzählen

„Meine Mutter bat mich, sie zum Verkauf des Hauses zu begleiten“, so beginnt der erste Teil der auf drei Bände ausgelegten Autobiographie des kolumbianischen Nobelpreisträgers für Literatur, Gabriel García Márquez, und wirft den Leser sofort in das farbenfrohe Leben des mittlerweile über 80-Jährigen.

Dieser erste Satz des Buches versetzt Autor und Leser gleichermaßen in die Kindheit Márquez‘ zurück. 1928 wurde er in Aracataca (Kolumbien) geboren und wuchs abwechselnd bei den Eltern und Großeltern auf. Da die Familie ständig anwuchs (gegen Ende des Bandes sind wir bei elf Kindern angelangt), war Márquez‘ Kindheit von ständiger Armut geprägt und führte dazu, dass die Familie oft umziehen musste. Jenes Haus in Aracataca aber wird treuen Márquez-Lesern sofort bekannt vorkommen, hat er ihm und seinen Bewohnern doch schon in seinem berühmtesten Roman, „Hundert Jahre Einsamkeit“, ein Denkmal gesetzt. All die kruden und originellen Figuren in dieser Autobiographie wiederzufinden, ist ein reines Vergnügen und Beweis dafür, welch buntes Leben Márquez schon in frühester Kindheit genießen durfte.

Schon als Kind liest er begeistert, erzählt Geschichten und Anekdoten, verschlingt die „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“ und singt inbrünstig kolumbianische Schlager. Auch im Zeichnen scheint er recht begabt zu sein. Diese vielen Begabungen führen dazu, dass er trotz seiner Schüchternheit schon in der Schule von aufmerksamen Lehrern gefördert wird und es trotz seiner ärmlichen Verhältnisse aufs Lyceum schafft.

Dort trifft er auf liberale, junge Lehrer, die offen mit ihren Schülern diskutieren und ihre freie Meinung unterstützen. Er beginnt zu schreiben – kleinere Gedichte und Glossen für die Schülerzeitung – und etabliert sich als junger Bohème, indem er mit langen Haaren, wildem Bart und bunt geblümten Hemden herumläuft. Doch seine Wünsche, sich kreativ zu betätigen, laufen denen seiner Eltern zuwider. In ihrer prekären finanziellen Lage möchten sie, dass Gabito Jura studiert, um sich selbst ernähren und die Familie unterstützen zu können. So schreibt er sich an der juristischen Fakultät in Bogotá ein, ohne jedoch besondere Begeisterung für die Rechtswissenschaften aufbringen zu können.

Stattdessen lebt er ununterbrochen am Rande des Existenzminimums, schläft mal auf der Straße, mal im Café und im besten Fall in einem billigen Freudenhaus und interessiert sich für alles, nur nicht fürs Studium. Seine schriftstellerischen Ambitionen keimen auf, er schreibt kurze Prosa, ein Genre, das damals in Kolumbien kaum existierte (man „beschränkte“ sich auf Poesie) und trägt die Mappe mit Kurzgeschichten immer mit sich herum – sein einziger Besitz. Erste Geschichten von ihm werden veröffentlicht, und von da an ist seinen Freunden klar, dass er ein berühmter Schriftsteller werden wird. Nur bis diese Erkenntnis Márquez selbst erreicht, wird es noch eine Weile dauern.

Nach dem Aufstand vom 9. April 1948, als in Bogotá der Präsidentschaftskandidat Gaitán erschossen wird, verlässt Márquez erschrocken und traumatisiert die Stadt, um in Cartagena weiterzustudieren. Doch dort erlischt sein Interesse für Jura vollends, denn er beginnt bei verschiedenen Zeitungen zu arbeiten und schreibt nun nicht mehr nur Prosa, sondern auch Glossen und Kommentare. Diese Arbeit begeistert und vereinnahmt ihn zusehends, sodass er durch die Jura-Prüfung fällt. Seine Eltern hoffen immer noch auf einen Anwalt in der Familie, doch müssen sie sich allmählich mit den Tatsachen abfinden und einsehen, dass ihr Sohn das Studium nicht beenden wird.

Zurück in Bogotá, arbeitet er bei der großen Zeitung „El Espectador“ und widmet sich nun auch mehr und mehr der Reportage. Erstmals ist er fest angestellt und bekommt ein monatliches Gehalt, mit dem er sich nicht nur endlich eine eigene Wohnung nehmen kann, sondern das auch ausreicht, um seinen Eltern und der großen Kinderschar eine finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen. Schon seit einiger Zeit arbeitet er an verschiedenen Buchprojekten. Den ersten Roman „La Casa“ gibt er irgendwann entnervt auf, „Laubsturm“ wird zwar vollendet, jedoch zunächst vom Verlag abgelehnt. Der erste Band seiner Autobiographie endet damit, dass „Laubsturm“ doch noch veröffentlicht und Márquez als Korrespondent nach Genf geschickt wird.

Gabriel García Márquez ist ein geborener Erzähler – das beweist er einmal mehr mit seinen Memoiren. Seit 1999 arbeitet er fieberhaft an seiner Autobiographie – eine Krebserkrankung war der Auslöser, dieses Projekt endlich in Angriff zu nehmen. Besonders das erste Kapitel, in dem Haus und Einwohner aus „Hundert Jahre Einsamkeit“ noch einmal Revue passieren, ist dicht gestaltet und erfüllt für Márquez eine Schlüsselfunktion. Merkt man diesem Kapitel die starke schriftstellerische Bearbeitung des Autors an, so wirken die späteren Passagen des Buches naturbelassener und wie in einem Guss heruntergeschrieben. Die akkurate literarische Methode Márquez‘, seine Romane bis zum Exzess zu überarbeiten und zu perfektionieren, scheint nur im ersten Kapitel angewendet worden zu sein, was dazu führt, dass der Rest des Buches an einigen Stellen ungeordnet, durcheinander und roh wirkt.

„Leben, um davon zu erzählen“ ist ein prall gefülltes Buch, das vor Anekdoten, Personen und Geschichtchen nur so strotzt. Es erzählt nicht nur vom Leben eines großen Schriftstellers, sondern führt den europäischen Leser auch ein in kolumbianische Geschichte und die Literaturszene der Fünfzigerjahre. Die beiden Karten im Einband des Buches (der gebundenen Ausgabe) leisten dabei gute Dienste, um sich im kolumbianischen Hinterland zu orientieren, dennoch kann es dem unbedarften Leser passieren, dass er zwischen den vielen Namen und Personen kurzfristig den Überblick verliert.

Doch gerade deshalb ist „Leben, um davon zu erzählen“ eine Lektüre, die den Leser begeistern wird. Auch in seiner Autobiographie hat sich Márquez nicht vom magischen Realismus verabschiedet, dessen bekanntester Vertreter er ist. Seine Erzählungen wirken frisch und gegenwärtig, sodass man Márquez nur um sein offensichtlich sehr zuverlässiges und aufnahmefähiges Gedächtnis beneiden kann. „Leben, um davon zu erzählen“ macht nicht zuletzt Lust auf Lateinamerika, auf andere Autoren dieses Kulturkreises und darauf, auch andere Autoren durch ihre Autobiographien besser kennen zu lernen.

|Originaltitel: Vivir para contarla
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz
608 Seiten
ISBN-13: 978-3-596-16266-6
Hardcover-Ausgabe: Kiepenheuer & Witsch, Dezember 2002, ISBN-13 978-3-462-03028-0|
http://www.fischerverlage.de
http://www.kiwi-verlag.de

Feehan, Christine – Mein dunkler Prinz (Die Legende der Karpathianer 1)

Mikhail Dubrinsky steht in seiner Bibliothek und sinniert darüber, ob er seinem Leben nicht vielleicht ein Ende setzen sollte. Alles ödet ihn an und er weidet sich ein wenig an seiner eigenen Depression, die gerade unmenschliche Ausmaße anzunehmen droht. Würde Mikhail doch bloß tatsächlich Selbsmord begehen, dann wäre Christine Feehans Schmachtfetzen „Mein dunkler Prinz“ zu Ende, bevor er richtig begonnen hat. Leider ist dem armen Hörer dieses Glück nicht vergönnt, denn in Feehans Welt stehen Frauen auf dunkle, von Selbstzweifeln geplagte Männer, die sich genüsslich in Selbstmitleid wälzen.

Und so betritt Raven Whitney die Bildfläche. Per telepathischer Fangschaltung klinkt sie sich in Mikhails Gedanken ein und erklärt ihm, dass es für solch drastische Maßnahmen wirklich keinen Grund gebe. Mikhail verliebt sich aus unerfindlichen Gründen sofort in die Retterin in seinem Ohr und beschließt, dass sie seine Gefährtin ist. Die einzige Frau nämlich, die er wirklich lieben kann, die seine Seele komplettiert, ihn wirklich versteht und echt heißen Sex mit ihm hat.

Praktischerweise befindet sich Raven nur einen Flügelschlag von ihm entfernt, nämlich in einem kleinen Gasthof. Zunächst einmal lauert er ihr heimlich auf, um sich von ihren körperlichen Reizen zu überzeugen: zierlich, schwarze Haare, die Rundungen an den richtigen Stellen. Doch lange kann er sich nicht vor ihr verstecken und so landen sie bald im Bett, ohne dass sie drei Sätze miteinander gewechselt hätten. Und trotzdem, das ist die große Liebe, will uns Christine Feehan weismachen.

Eine Art Alibi-Plot bietet die Autorin auch, denn in den Szenen, in denen Raven und Mikhail sich nicht gerade anschmachten oder in den Laken wälzen, versuchen ein paar gehirnamputierte Amerikaner, Vampire umzubringen. Diese Handvoll Gegenspieler ist so lustlos dargestellt, so lapidar dahingeschrieben, dass man den Eindruck gewinnt, das Trüppchen teile sich ein Gehirn – da gibt es nichts, was die Charaktere voneinander unterscheiden würde. Nicht einmal eine Motivation für die stümperhafte Vampirjagd mag Feehan liefern. Selbige Jagd gilt es natürlich zu stoppen, aber das gelingt – selbstverständlich – nicht, ohne dass Raven mitten in der Schlusslinie landet, damit sie vom tapferen Mikhail gerettet werden kann. Und das ist auch schon alles, was „Mein dunkler Prinz“ an Handlung anzubieten hat.

Christine Feehan hat mit „Mein dunkler Prinz“ einen |Bodice Ripper| (wie das Cover ja eindrücklich beweist) der untersten Schublade geschrieben, der nichtsdestotrotz der Beginn einer Serie mit mittlerweile neunzehn (!) sicherlich ebenso drögen Teilen ist. Der Roman ist oberflächlich, uninspiriert und so formelhaft aufgebaut, dass man eher Wut als nur pure Langeweile empfindet.

Feehan hat vom Wort Recherche noch nie etwas gehört. Wo sich die Handlung eigentlich abspielt, bleibt ein Geheimnis. Wir befinden uns irgendwo in den Karpaten und es gibt ein Gasthaus, das so wohl aus einem Roman aus dem 18. Jahrhundert entwendet wurde. Es gibt keine Details, nichts, das dafür sorgen würde, dass dieses Setting nicht wie eine Kulisse, sondern wie eine tatsächliche Ortschaft wirkt. Es gibt nichts Eigenes, Originelles, das den Schauplatz der Handlung irgendwie charakterisieren würde. Offensichtlich hat Feehan die Karpaten nur gewählt, weil sie der Meinung ist, dass sich das für einen Roman mit Vampiren so gehört. (Wobei sie nicht müde wird zu erwähnen, dass Mikhail kein Vampir, sondern Karpathianer ist. Leider vergisst sie zu erklären, worin genau der Unterschied besteht.)

Auf ihre Charaktere verwendet Feehan ebenso viel Zeit wie auf ihren Handlungsort – nämlich gar keine. Wir erfahren, dass Raven aus irgendeinem Grund telepathisch veranlagt ist und deshalb dem FBI bisweilen dabei hilft, Mörder aufzuspüren. Weil sie das so mitgenommen hat, ist sie nun in Urlaub in die Karpaten gefahren, um mal so richtig abzuschalten. Ansonsten erfährt der Hörer nur noch, dass sie mit Mitte zwanzig noch unberührt ist (offensichtlich eine zwingende Voraussetzung in einem Liebesroman) und natürlich gut aussieht. Woher kommt sie eigentlich? Was arbeitet sie? Ist sie beim FBI angestellt oder hat sie eigentlich einen ganz anderen Beruf? Hat sie Familie, Freunde? Vielleicht wenigstens ein Haustier? Was mag sie, was hasst sie? Uninteressant, findet Feehan, weil sowas nur von Ravens endloser Schmachterei ablenkt, in die sie verfällt, sobald Mikhail auch nur in die Nähe kommt.

Mikhail ist auch nicht besser. Er leidet die ganze Zeit vor sich hin, weil das von einem „dunklen Prinzen“ eben so erwartet wird; und obwohl er Raven ständig seine unsterbliche Liebe gesteht und ihr versichert, er könne ihr nie wehtun, überkommt ihn beim ersten leidenschaftlichen Sex sofort der Blutdurst, sodass er sie fast umbringt. Feehan will der Zielgruppe damit offenbar beweisen, dass Mikhail ein echter Brutalo sein kann (ein Quäntchen Gefahr facht halt die Leidenschaft an), der aber hinterher stets ordentlich betroffen ist, wenn er seiner Angebeteten schon wieder fast den Garaus gemacht hat. Darüber hinaus ist er ein unausstehlicher Macho, wobei sich Ravens Aufbegehren gegen seine altertümlichen Ansichten (er vertauscht ihre Jeans gegen einen langen Rock, weil Frauen „keine Männersachen tragen sollten“) darin erschöpft, dass sie sich mit Fispelstimme und Wimperngeflatter in seine Arme fallen lässt.

Man könnte sich auch noch über Feehans nicht vorhandene Handwerkskunst ereifern. Für den Leser wichtige Expositionen packt sie gern in Dialoge, was dann dazu führt, dass sich Charaktere Dinge erzählen, die sie ohnehin schon wissen, was naturgemäß gestelzt und forciert wirkt. Man könnte sich darüber ärgern, dass es in dem Hörbuch keine Szene gibt, in der nicht entweder Raven, Mikhail oder beide vorkommen, was auf Dauer extrem ermüdend wirkt. Man könnte anmerken, dass die ewigen Sexszenen langweilig sind und sich ständig wiederholen. Man könnte erwähnen, dass Feehan keinen glaubwürdigen Grund dafür liefert, warum Raven und Mikhail sich nun eigentlich ineinander verlieben. Es gibt vieles, das man an „Der dunkle Prinz“ noch bemängeln könnte, aber es ist sicherlich bereits offensichtlich geworden, dass diese Rezension nicht in einer glühenden Empfehlung münden wird.

Suzan Amir Gusovius spricht das Hörbuch mit fatalistischer Gleichgültigkeit. Sie klingt eher, als würde sie eine CD mit autogenem Training besprechen – langsam, getragen und fast ohne Stimmmodulation. Immerhin schafft sie es, nicht bei jeder lächerlichen und völlig unsinnigen Szene (und davon gibt es viele) in schallendes Gelächter auszubrechen. Diese Fähigkeit kann man ihr nicht hoch genug anrechnen.

|Lübbe Audio| hat „Mein dunkler Prinz“ in gekürzter Fassung auf CD gebannt (|Lübbe| nennt das euphemistisch „bearbeitete Fassung“) – eine Entscheidung, die sehr zu begrüßen ist. Noch mehr „dunkler Prinz“ wäre auch kaum zu ertragen gewesen.

Christine King Feehan wuchs mit ihren drei Brüdern und zehn Schwestern auf, die auch die ersten Leser ihrer Geschichten waren. Sie ist mit Richard Feehan verheiratet und Mutter von elf Kindern. Neben dem Schreiben lehrte sie Kampfkunst und Selbstverteidigung. Sie hat drei schwarze Gürtel im koreanischen Stil Tang So Do Mu Duk Kwan und weitere Ränge in verschiedenen anderen Stilen. „Dark Prince“ ist ihr Debüt als Autorin. Mittlerweile hat sie mehr als dreißig Bücher veröffentlicht.

|Originaltitel: Dark Prince, 1999
313 Minuten auf 4 CDs
Bearbeitete Fassung
ISBN 978-3-7857-3376-9|
http://www.luebbeaudio.com
http://www.christinefeehan.com

Cornwell, Bernard – Sharpes Feuerprobe. 1799: Richard Sharpe und die Belagerung von Seringapatam

Private Richard Sharpe ist Soldat, offensichtlich aus Ermangelung irgendwelcher anderer Talente. Der Leser trifft ihn das erste Mal, als er 1799 unweit der indischen Festung Seringapatam herumsitzt und sich fragt, ob er nicht vielleicht desertieren sollte. Das wäre zumindest spannender als nichts zu tun, findet Sharpe, doch sein Erfinder, der britische Autor Bernard Cornwell, bringt den Jungspund schnell auf andere Gedanken, indem er ihn flugs in ein spannendes Abenteuer stürzt.

Weil er in ein Mädchen verliebt ist, auf das es auch der brutale und abscheuliche Sergeant Obadiah Hakeswill abgesehen hat, wird er ausgepeitscht. Doch bevor die Strafe komplett vollzogen werden kann, greift Colonel Wellesley ein und schickt Sharpe auf eine geheime Mission. Gemeinsam mit dem Offizier Lawford soll er sich in Seringapatam einschleichen. Wellesley vermisst nämlich einen seiner Spione und glaubt nun, dieser werde in der Festung gefangen gehalten.

Sharpe und Lawford geben sich also als gemeine Deserteure aus und werden von Tippu, dem Herrscher von Seringapatam, recht freundlich aufgenommen. Sie dürfen in dessen Armee dienen, Sharpes geschundener Rücken wird versorgt und in einem glücklichen Moment finden sie auch den verschollenen Spion, der ihnen Beunruhigendes zu berichten hat. Doch wie sollen sie die Information aus der Festung herausbringen?

Bevor die Handlung in der abschließenden Schlacht um Seringapatam kulminiert, werden Lawford und Sharpe noch gefangen genommen, in den Kerker gesteckt und von Tigern bedroht. Es gibt kleinere Scharmützel, einen fürchterlichen Obadiah Hakeswill, der einfach nicht sterben will, und einen unglaublich jungen und ungeschliffenen Richard Sharpe.

Die Abenteuer um Richard Sharpe sind Bernard Cornwells Opus Magnus. 1981 veröffentlichte er die ersten beiden Bände der Serie, „Sharpe’s Eagle“ und „Sharpe’s Gold“, denen regelmäßig neue Bände folgten. Auf ursprünglich circa zehn Bände angelegt, erhielt die Serie neuen Auftrieb, als das britische Fernsehen die Rechte an Richard Sharpe kaufte und eine stattliche Anzahl der Romane mit Sean Bean in der Titelrolle verfilmte (auf Deutsch ist die Filmreihe unter dem Titel „Die Scharfschützen“ bekannt). Mittlerweile gibt es mehr als zwanzig Romane, die im Sharpe-Universum angesiedelt sind, und es kommen ständig neue hinzu.

Chronologisch steht „Sharpes Feuerprobe“ am Anfang der Sharpe-Geschichte, auch wenn der Roman eher zu den jüngeren gehört (erstveröffentlicht 1997 unter dem Titel „Sharpe’s Tiger“). Cornwell präsentiert hier einen grobschlächtigen, ungebildeten Unterschichten-Sharpe. Als Sohn einer Hure (also im wörtlichen Sinne ein Hurensohn) ist er in einem Bordell aufgewachsen und hat demnach keine nennenswerte Bildung genossen. Aus Ermangelung an Alternativen hat er sich von der Armee anwerben lassen und erweist sich dort als ziemlich erfolgreich, da ihm seine Straßenschläue oft den Hals rettet. Er ist gewitzt, kann kämpfen, schnell schalten und Pläne schmieden, und auch wenn er ein ziemlich dreckiges Mundwerk hat, so sitzt das Herz bei ihm doch am rechten Fleck. Sharpe ist also in diesem frühen Abenteuer noch ein ungeschliffener Diamant, der erst bei seiner Kerkerhaft mit Lawford und Candless (dem verschollenen Spion) mit Hilfe einer eingeschmuggelten Bibelseite das Lesen lernt. Dank dieser neu gewonnenen Fähigkeit kann er nun endlich selbst nachlesen, ob „Du sollst dich nicht schnappen lassen“ wirklich eins der zehn Gebote ist.

„Sharpes Feuerprobe“ ist auf der einen Seite ein hervorragend recherchierter Historienroman, der zu großen Teilen von den militärischen Schachzügen Wellesleys und Tippus und dem exotischen Setting in Indien lebt. Auf der anderen Seite schafft es Cornwell aber mit der gleichen Leichtigkeit, eine umfangreiche Personage einzuführen, die sich kaum in das übliche Schwarzweiß-Schema einordnen lässt. Da wäre zunächst der Gegner Tippu, von dem Sharpe in seiner jugendlichen Einfalt annimmt, er sei einfach ein „teuflischer Bastard“. Dass dem längst nicht so ist, wird dem Leser recht früh klar, denn Tippu wird als durchaus aufgeklärt beschrieben, auch wenn er zur Belustigung seiner Mannen schon mal Gefangenen Nägel durch die Schädeldecke schlagen lässt.

Eine ebenso differenzierte Betrachtung erfährt Colonel Wellesley, der sicherlich eher unter seinem späteren Titel Duke of Wellington bekannt ist und der hier in Indien auf seiner ersten Mission mit Versagensängsten und Startschwierigkeiten zu kämpfen hat. Ein bisschen unsicher und reichlich kühl gegenüber seinen Untergebenen, ist er noch weit von dem großen Staatsmann entfernt, zu dem er sich später einmal mausern wird. Nur einer ist überhaupt nicht ambivalent beschrieben, und das ist Hakeswill, der so tyrannisch und stiefelleckerisch daherkommt, dass ihm der geneigte Leser am liebsten eigenhändig das Genick brechen möchte. Dass Sharpes kleiner Mordanschlag auf den Erzfeind nicht von Erfolg gekrönt sein wird, ist wohl logisch. Hakeswill wird Sharpe noch in vielen weiteren Romanen auf dem Kieker haben.

„Sharpes Feuerprobe“ ist der spannende und mitreißende Auftaktroman einer Serie, die in England praktisch Kultstatus genießt. Da vergibt man Cornwell auch mal die gelegentliche Blut-und-Ehre-Rhetorik, wenn er sich von der Heroik seiner Charaktere ein bisschen zu sehr mitreißen lässt. Die Passagen, in denen Sharpe sich ein ums andere Mal bewährt, nie um einen dreckigen Witz verlegen ist und am Schluss dann auch noch einen Feind nach dem anderen umnietet, lassen den Leser so unerträgliche Formulierungen wie „der Stahl war hart und kalt in ihren Seelen“ gern vergessen. Schade, dass es noch bis März 2009 dauern wird, bevor |Bastei Lübbe| den nächsten Teil, „Sharpes Sieg“, herausbringt.

|Originaltitel: Sharpe’s Tiger, 1997
Aus dem Englischen von Joachim Honnef
476 Seiten
ISBN-13: 978-3-404-15862-1|
http://www.bastei-luebbe.de
http://www.bernardcornwell.net
http://www.southessex.co.uk

_Bernard Cornwell auf |Buchwurm.info|:_
[„Stonehenge“ 113
[„Die Galgenfrist“ 277
[„Der Bogenschütze“ 3606 (Auf der Suche nach dem Heiligen Gral 1)
[„Der Wanderer“ 3617 (Auf der Suche nach dem Heiligen Gral 2)
[„Der Erzfeind“ 3619 (Auf der Suche nach dem Heiligen Gral 3)

Wilson, F. Paul – Handyman Jack – Der letzte Ausweg (Folge 2)

_Das Hörbuch_ [„Schmutzige Tricks“ 4939 stellte den Actionliebhaber Handyman Jack vor, den Mann, der nie existierte. Jack lebt außerhalb der Gesellschaft. Er besitzt etliche Pässe, aber keinen echten Nachnamen. Er hat keine Sozialversicherungsnummer und keine Rentenansprüche. Er zahlt keine Steuern, es gibt von ihm keine Fingerabdrücke und er hat offensichtlich keinen ordentlichen Beruf gelernt. Jack ist nämlich ein Mann für alle Gelegenheiten: Ihn ruft man an, wenn man erpresst wird, wenn die geliebte Ehefrau entführt wurde, wenn man Schutzgeld bezahlen soll oder wenn verlorene Dinge wieder aufzufinden sind. Kurzum, wenn Probleme nur noch mit Gewalt und Schießpulver zu lösen sind, dann ist Handyman Jack genau der richtige Mann für den Job!

|LPL records| bringt mit „Der letzte Ausweg“ nun eine weitere Sammlung mit Abenteuern um Handyman Jack zu Gehör. Wiederum finden sich auf den drei CDs (mit ansprechenden dreieinhalb Stunden Laufzeit) drei Geschichten, in denen Jack seine vielen Talente unter Beweis stellen darf.

_Los geht es diesmal_ mit der Kurzgeschichte „Der lange Weg nach Haus“ (engl. „The long way home“, 1992), in der Jack – mal wieder ganz zufällig – in einen Überfall verwickelt wird. Er will einfach nur sein Sixpack Bier nach Hause tragen und sich einen gemütlichen Abend machen, als er aus Costins kleinem 24/7-Laden einen Schuss hört. Da vor dem Laden bereits ein Streifenwagen parkt, ist Jack versucht, einfach weiterzugehen, denn Begegnungen mit den Bullen sind auf jeden Fall zu vermeiden, wenn man offiziell gar nicht existiert. Doch bevor er sich’s versieht, ist eine der Kanaillen tot, während Jacks Hand knöcheltief im Hals des Cops steckt, um die stark blutende Schlagader abzudrücken. Klar, dass dies eine ziemlich kompromittierende Position und die eintreffende Verstärkung daran interessiert ist, Jack erstmal festzunehmen. Nun muss Jack die Polizei von seiner Unschuld überzeugen und schlussendlich auch noch die Geiselnahme im Laden beenden. Und als er nach einem ereignisreichen Tag dann endlich zu Hause eintrifft, muss er natürlich feststellen, dass sein Sixpack Bier dabei auf der Strecke geblieben ist.

„Der letzte Rakosh“ (engl. „The last Rakosh“, 1990) schlägt in eine ganz andere Kerbe als die bisherigen Geschichten um Jack. Wir treffen seine Freundin Gia und deren Tochter Vicky wieder, die schon einen kurzen Auftritt in „Ein ganz normaler Tag“ hatten. Diesmal machen die drei einen Sonntagsausflug zu einem Kuriositäten-Kabinett. Jack debattiert zwar kurz mit sich, ob zusammengewachsene Zwillinge und Männer mit Ganzkörperbehaarung wohl der richtige Zeitvertreib für die kleine Vicky sind, doch das Mädchen besteht lautstark darauf, die Show zu besuchen. Zunächst gibt es das Übliche: Schlangen- und Krokodilmenschen sowie einen Jungen, der menschliche Stimmen überzeugend echt nachmachen kann. Jack ist bereits fast überzeugt, dass es doch keine so schlechte Idee war, das Kuriositäten-Kabinett zu besuchen, als ein gellender Schrei von Vicky ihn vom Gegenteil überzeugt. In einem Käfig hat sie einen Rakosh entdeckt, ein Ding, das halb Hai, halb Mensch ist, und an das sie keinerlei guten Erinnerungen hat!

Die letzte Erzählung des Hörbuchs ist auch die längste. „In der Mangel“ (engl. „The Wringer“, 1996) konfrontiert Jack mit dem Angestellten Mounir Habib, dessen Frau und Sohn von einem vermeintlich Irren entführt worden sind. Der Mann verlangt kein Lösegeld von Mounir, stattdessen zwingt er ihn ständig, sich in peinliche und moralisch fragwürdige Situationen zu bringen. Er zwingt den gläubigen Moslem, Schweinefleisch zu essen oder an einem öffentlichen Platz zu urinieren. Kommt Mounir den Forderungen nicht nach, droht der Entführer, seiner Familie Gewalt anzutun. Durch seinen Nachbar kommt Mounir an Jacks Telefonnummer. Dieser ist zunächst nicht von dem Fall angetan und will Mounir stattdessen zur Polizei schicken, die seiner Meinung nach besser im Stande ist, Mounirs Frau und Sohn zu befreien. Doch der weinerliche Mounir ist nicht mehr loszuwerden, und so findet sich Jack bald mitten in dem Entführungsfall wieder und muss nun auf eigene Faust die Identität des unbekannten Entführers herausfinden.

_Wie bereits das Auftakthörbuch_ „Schmutzige Tricks“, so steigt auch „Der letzte Ausweg“ geradlinig ein. „Der lange Weg nach Haus“ ist kaum kompliziert, bietet dafür aber einen gut aufgelegten Jack, der es gern ordentlich krachen lässt. Außerdem darf der Leser erleben, was passiert, wenn Jack doch zufällig in die Hände der Polizei gerät, wobei es etwas weit hergeholt wirkt, dass der diensthabende Offizier ihn schlussendlich tatsächlich wieder laufen lässt. Einen Typen mit fünf verschiedenen Ausweisen, unauffindbaren Fingerabdrücken und nicht zugelassenen Waffen? So einen einfach wieder auf die Gesellschaft loszulassen, erscheint etwas abwegig, und man fragt sich zwangsläufig, ob die amerikanische Polizei gern solche haarsträubenden Bauchentscheidungen trifft. Natürlich weiß der Hörer, dass Jack durchaus die Freiheit verdient hat, und dieser beweist seine Loyalität auch sofort, indem er versucht, die Geiselnahme in dem kleinen Laden zu beenden. Trotzdem erscheint es mehr als seltsam, dass die Polizei einen einsamen Rächer, der offensichtlich Lynchjustiz betreibt, einfach laufen lässt.

Die zweite Geschichte, „Der letzte Rakosh“ ist ein ziemliches Rätsel. Zuerst einmal bezieht sie sich offensichtlich in weiten Teilen auf eine frühere Geschichte, in der die kleine Vicky von dem Haimenschen, den sie nun im Kuriositäten-Kabinett sieht, entführt und bedroht worden ist. Schon diese Tatsache führt dazu, dass man sich als Hörer etwas allein gelassen fühlt, schließlich kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass einem wichtige Hintergrundinformationen fehlen. Viel schwerer wiegt jedoch, dass sich auf der CD nur ein Auszug aus der Erzählung findet. Wir erfahren nur, dass Jack den Haimenschen wiedersieht, von dem er dachte, er wäre tot. Was passiert dann? Geht er nach Hause und nimmt sich ein Bier? Bricht er nachts in das Kabinett ein und liefert sich einen blutigen Kampf mit dem Rakosh? Befreit sich das Ding von selbst und macht sich auf die Suche nach Vicky? Man wird mit einem Stück Geschichte angefüttert und dann hängen gelassen. Hoffentlich handelt es sich dabei um ein Experiment, das |LPL| nicht wiederholen wird, denn dieser Einfall ist gründlich in die Hose gegangen!

„In der Mangel“ ist geneigt, den Hörer wieder versöhnlicher zu stimmen. Es gibt einige kleine Schockmomente, die für wohlige Schauer sorgen dürften, außerdem ein genüssliches Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem Entführer und Mounir. Und es bereitet dem Hörer ein – zugegebenermaßen – sadistisches Vergnügen, wenn Jack den Entführer endlich gefasst hat und ihn seinerseits in die Mangel nehmen kann. Da fällt kaum ins Gewicht, dass die Identifikation des Entführers sich eigentlich schon zu einfach gestaltet – offensichtlich will Wilson mit echter detektivischer Arbeit keine Zeit verschwenden. Es ist praktisch ein Glückstreffer, und man ist fast überrascht, als sich schlussendlich herausstellt, dass es sich bei der vermuteten Person tatsächlich um den Täter handelt. Aber mit solchen Kleinigkeiten hält sich Jack nicht auf. Seiner Vorstellung von Gerechtigkeit ist genüge getan.

„Der letzte Ausweg“ bleibt leicht hinter „Schmutzige Tricks“ zurück, vor allem auch wegen des vollkommen verpatzten Mittelteils mit „Der letzte Rakosh“. Doch mit der letzten Geschichte, „In der Mangel“ kann das Hörbuch wieder Boden gutmachen.

|3 Stunden und 34 Minuten auf 3 CDs
Aus dem US-Englischen übersetzt von Michael Plogmann|
ISBN-13: 978-3-7857-3580-0|
http://www.lpl.de
http://www.luebbe-audio.de
http://www.festa-verlag.de

_F. Paul Wilson auf |Buchwurm.info|:_

[„Das Kastell“ 795
[„Tollwütig“ 2375
[„Die Gruft“ 4563
[„Handyman Jack – Schmutzige Tricks“ (Folge 1) 4939

Wilson, Paul F. – Handyman Jack – Schmutzige Tricks (Folge 1)

_Ein Handyman_ ist im englischen Sprachraum ein Mann für alles, und so finden sich auf dem Anrufbeantworter von F. Paul Wilsons Antihelden Handyman Jack auch reichlich Nachrichten, in denen es ums Heimwerken und Reparieren geht. Dabei ist Jack zwar tatsächlich ein Kerl fürs Grobe, doch in seinem Werkzeugkoffer findet sich eher ein umfangreiches Waffenarsenal. Für Geld beseitigt er nämlich Probleme, die ohne Gewaltanwendung nicht mehr zu lösen sind. Wenn man also selber nicht mehr weiter weiß und die Polizei nicht interessiert ist zu helfen, dann ist die letzte Adresse wohl Handyman Jack. Zumindest wenn man in New York lebt.

Dass man mehr über den geheimnisvollen Handyman Jack erfahren darf, ist dem amerikanischen Autor F. Paul Wilson zu verdanken, der die Figur vor über zwanzig Jahren erfand und seitdem nicht müde wird, dessen Abenteuer zu schildern. |LPL records| stellt mit „Schmutzige Tricks“ drei Kurzgeschichten um Jack als Hörbuch vor.

_In der Auftaktgeschichte_ „Zwischenspiel im Drugstore“ bekommt der Hörer als Einstimmung eine geradlinige und schnelle Knall- und Schießgeschichte geboten. Jack, der zufällig auf seine alte Bekannte Loretta trifft, die ihn sofort in einen Drugstore schleppt, da sie einen Heißhunger auf Eis verspürt, findet sich plötzlich in einem klassischen Überfallszenario wieder: Eine kleine Gang schließt Kunden wie Angestellte in dem Laden ein, um den Geldtransporter zu überfallen, der wöchentlich die Einnahmen abholt. So eine Situation kann Jack natürlich nicht so einfach hinnehmen, doch sieht er sich mit einem ungewöhnlichen Problem konfrontiert: Da er zum jährlichen King-Kong-Tag aufs Empire State Building gestiegen ist, auf dem Waffen tabu sind, hat er keine Knarre parat. Er muss also improvisieren, und so schleicht er durch die Gänge des Drugstore, um zusammenzusammeln, was auch nur im Entferntesten als Waffe geeignet sein könnte. Der Leser darf gespannt sein, welche unscheinbaren Produkte in Jacks Hand zu tödlichen Geschossen werden können!

Die zweite Geschichte „Ein ganz normaler Tag“ verlangt sowohl dem Hörer als auch dem Protagonisten schon etwas mehr ab. Es ist die längste Geschichte des Hörbuchs und kann mit einer recht verschachtelten Handlung aufwarten, die des Hörers Aufmerksamkeit ständig fordert. Jack wurde von dem Barbesitzer George angeheuert, um ein paar mafiöse Geldeintreiber zu beseitigen, die von George Schutzgeld erpressen wollen. Doch dieser recht einfache Job verkompliziert sich schlagartig, als ein Scharfschütze versucht, Jack in seinem (geheimen!) Hotelzimmer gekonnt zu durchlöchern. Haben die Kleinkriminellen also jemanden auf ihn angesetzt? Hat jemand Jacks Identität herausgefunden? Oder geht es um etwas ganz anderes? Genüsslich widmet sich Jack dem Puzzle, das sich ihm da präsentiert, und natürlich führen schlussendlich alle Spuren zusammen, um in einem actionageladenen Showdown zu kulminieren.

In der letzten Geschichte „Familiennotdienst“ verlässt Autor F. Paul Wilson das sichere Revier der Schwarzweißmalerei. Bisher waren Bösewichte und Helden (selbst Antihelden) recht eindeutig zu identifizieren, doch nun betreten wir die berüchtigte Grauzone moralischen Handelns. Jack wird von Oscar Schaffer engagiert, dessen Schwester von ihrem Mann regelmäßig brutal verprügelt wird. Immer wieder redet er auf sie ein, diesen Schläger doch zu verlassen, doch sie entschuldigt die Gewaltätigkeit ihres Mannes und macht keine Anstalten, sich aus dessen Fängen zu befreien. Oscar weiß keinen anderen Rat mehr als Jack zu engagieren, um dem Schwiegersohn eine Portion seiner eigenen Medizin zu verpassen. Jack soll ihn ein wenig verprügeln, gerade nur so, dass er im Krankenhaus landet. Vielleicht sieht er dann, was er seiner Frau antut. Und vielleicht landet er im Krankenhaus ja zufällig in den Fängen eines Psychiaters, der ihn wieder geraderücken kann. So einfach, wie Oscar sich das ausgemalt hat, wird die Sache schlussendlich natürlich nicht. Nur eines ist sicher – wenn die Geschichte zu Ende ist, wird Gus nie wieder eine Frau verprügeln.

_Mit Handyman Jack_ hat F. Paul Wilson, Jahrgang 1946 und wohnhaft im beschaulichen New Jersey, eine unglaublich vielseitige, actionlastige und unterhaltsame Figur geschaffen. Man erfährt kaum etwas über ihn, und sein auffälligstes Merkmal ist wohl seine komplette Unauffälligkeit. Zwischen den ganzen Schlägern, Kleinkriminellen und Dieben sieht er einfach nur normal aus. Normal gebaut, normal gekleidet, normale Frisur, unscheinbares Gesicht. Als Krönung kommt er in „Ein ganz normaler Tag“ plötzlich heim zu Frau und Kind, und um die Beschaulichkeit der Diskussion ums Abendbrot komplett zu machen, würde nur noch der weiße Lattenzaun fehlen. Jacks Normalität ist Tarnung – niemand vermutet hinter der unscheinbaren Fassaden einen so erfolgreichen Schläger. Und erfolgreich ist er in jedem Fall! Neben Jack sehen nämlich Größen des Genres wie John McClane oder Rambo – die schließlich auch nicht schlecht darin sind, ihre Umgebung in Schutt und Asche zu legen – ziemlich alt aus. Und dazu ist Jack auch noch ein irgendwie netter Kerl, dessen Herz trotz der umfangreichen Waffensammlung doch am rechten Fleck sitzt.

Der Fairness halber sollte vielleicht gesagt sein, dass die drei Geschichten des Hörbuchs nicht chronologisch aufeinanderfolgen. Offensichtlich wurden sie nicht nach Erscheinungsdatum, sondern nach Gefallen und sicherlich auch Länge ausgewählt. „Zwischenspiel im Drugstore“ („Interlude at Duane’s“), die Auftaktgeschichte, ist die neueste im Bunde – 2006 erstveröffentlicht. „Ein ganz normaler Tag“ („A Day in the Life“) dagegen ist von 1989. Die letzte Geschichte, „Familiennotdienst“ („Home Repairs“) ist wieder jünger, nämlich von 1996. Allerdings tut die scheinbar wahllose Zusammenstellung dem Hörgenuss keinen Abbruch. Alle Geschichten funktionieren unabhängig voneinander, und man kann in jeder spannende Details über Jack lernen, die man am Ende des Hörbuchs zusammensetzen kann, um sich ein umfassenderes Bild über dieses Enigma Jack zu machen.

„Schmutzige Tricks“ ist ein dreieinhalbstündiger Actionkracher, fabelhaft vorgetragen von Detlef Bierstedt. Routiniert gibt er den taffen Typen (schließlich leiht Bierstedt auch George Clooney seine Stimme) und dreht so richtig auf, wenn er Nebenfiguren Dialekte und Marotten verleihen kann. Besonders gelungen ist ihm dabei ‚Ecuador‘, einer der Kleinkriminellen aus „Zwischenspiel im Drugstore“, dessen Akzent so überzeugend rüberkommt, dass man eigentlich ständig nur zurückspulen möchte, um sich diese Passagen wieder und wieder anzuhören. Hörer, die wollen, dass es in einer Geschichte so richtig zur Sache geht, sind bei Handyman Jack an der richtigen Adresse. Hier wird geschossen, verprügelt und erstochen, bis auch noch der letzte Bösewicht blutleer ist. Und dann tritt Jack dem Toten noch einmal gegen’s Schienbein; man weiß schließlich nie, vielleicht zuckt der Gegner ja doch noch! Pures Hörvergnügen für alle Liebhaber von Action und Pulp!

|3:30 Stunden auf 3 CDs
Übersetzung vom Festa-Verlag
ISBN 978-3-7857-3552-7|
http://www.lpl.de
http://www-luebbe-audio.de
http://www.festa-verlag.de

F. Paul Wilson auf |Buchwurm.info|:

[„Das Kastell“ 795
[„Tollwütig“ 2375
[„Die Gruft“ 4563

Schweikert, Ulrike – Nosferas. Die Erben der Nacht 1

Da denkt man als naiver Mensch doch, Vampir zu sein sei einfach: Man wird gebissen (nun ja, das ist eventuell etwas schmerzhaft), man stirbt (auch da gibt es Angenehmeres) und dann wird man unsterblich, unglaublich stark, fürs andere Geschlecht unwiderstehlich und auf mysteriöse Art meistens auch reich. In der Vampirwelt von Ulrike Schweikerts „Nosferas“ jedoch haben es Vampire alles andere als leicht. Sie pflanzen sich ganz klassisch fort, was naturgemäß dazu führt, dass sie kleine Vampirbälger bekommen. Theoretisch zumindest, denn schon seit einiger Zeit ist in keinem der sechs europäischen Vampirclans ein Kind geboren worden. Auf einer Zusammenkunft vermuten die sechs Familienoberhäupter, dass das Blut der Familien schwach geworden ist und es ein Fehler war, dass die Familien jeweils für sich blieben. Um die Vampire wieder stark zu machen, rufen sie eine Akademie ins Leben, die jedes Jahr bei einer anderen Familie stattfinden soll. Dort sollen die jungen Vampire lernen, was man fürs erfolgreiche Vampirdasein so braucht.

Zum Auftakt dürfen die Nosferas aus Rom die jungen Vampire der anderen Familien unterrichten. Alisa, die zu den Vamalia aus Hamburg gehört, ist von der Reise in die ewige Stadt ganz begeistert und kann es kaum erwarten, die anderen Vampire kennenzulernen und Rom zu erkunden. Schnell freundet sie sich mit Luciano an, einem Spross der römischen Nosferas. Auch mit Ivy-Maíre von den Lycana aus Irland versteht sich Alisa gut, schließlich ist Ivy smart, herzensgut, wunderhübsch und wird ständig von ihrem beeindruckenden Wolf Seymor begleitet. Nur mit den Dracas kommt Alisa nicht klar. Die Wiener Vampire sind arrogant und eingebildet und lieben es, andere in peinliche Situationen zu bringen. Leider sind sie auch alle ungemein gutaussehend, und das macht die ganze Angelegenheit nur noch schlimmer, wenn man sich gerade mitten in der Vampirpubertät befindet!

Die Sprösslinge der sechs Familien richten sich also im Hauptquartier der Nosferas, der Domus Aurea, häuslich ein und werden fortan von verschiedenen Lehrern unterrichtet. Die Nosferas haben nämlich eine wirksame Vorgehensweise entwickelt, um sich vor christlichen Symbolen zu schützen, und diese Geheimnisse wollen sie nun an ihre Schützlinge weitergeben. Klar, dass es da einige verbrannte Fingerkuppen geben wird …

Gleichzeitig verschwinden in Rom immer wieder Vampire und es geht das Gerücht, dass ein Vampirjäger sein Unwesen treibt. Was werden die Nosferas also gegen diese Gefahr unternehmen? Und wird sich der Vampirjäger ausschalten lassen, bevor die jungen Vampire in dessen Falle tappen?

Ulrike Schweikert schreibt hauptsächlich historische Romane und Fantasy. Mit „Nosferas“, dem Auftakt zu ihrer neuen Jugendbuchreihe, dürfte sie einen ziemlichen Glücksgriff gelandet haben. Der Roman liest sich wie eine Mischung aus „Harry Potter“, „Trotzkopf“ und [„Der kleine Vampir“ 3125, was ihm fraglos eine große Fangemeinde bescheren wird. Die Grundidee ist so genial wie einfach: Schweikert ruft eine wandernde Vampirakademie ins Leben und kann so sechs Bände mit jeweils wechselnden Schauplätzen (Rom, Wien, Paris, Hamburg, London, Irland), aber den gleichen Hauptcharakteren bieten. Dazu kommt die Internatsatmosphäre aus „Harry Potter“, die sie aber anstatt mit Magiern mit Vampiren bevölkert. Man füge noch ein paar Abenteuer, Mutproben und echte Gefahren hinzu, und schon hat man ein spannendes wie auch überzeugendes Universum geschaffen.

Dabei steht sich Schweikert anfangs zunächst selbst etwas im Wege, da sie es sich nicht nehmen lässt, ihr überdurchschnittlich umfangreiches Personal praktisch in einem Rutsch vorzustellen, sodass dem armen Leser vor Namen, Orten und Verwandschaftsbeziehungen schnell der Kopf schwirrt. Immerhin geht es hier um sechs Familien mit jeweils ein bis drei Kindern, die gleichzeitig um die Aufmerksamkeit des Lesers buhlen. Es dauert eine Weile, bis man durchblickt und die einzelnen Charaktere wirklich sicher identifizieren kann, aber dann steht dem Spaß nichts mehr im Wege.

Geradezu spielerisch führt Ulrike Schweikert ihre Leser durch das Rom des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Man schlendert mit Alisa und Luciano durch das Colosseum, besucht die Katakomben vor den Stadttoren, nimmt an einem Wettrennen zur Engelsburg teil und streift über den protestantischen Friedhof. All diese „Sehenswürdigkeiten“ werden mit viel Liebe und Begeisterung beschrieben, sodass der Leser unweigerlich Lust bekommt, die ewige Stadt zu besuchen und all die Orte mit eigenen Augen zu sehen. Gleichzeitig freut man sich schon an dieser Stelle auf die weiteren Bände – schließlich wollen auch die anderen fünf Schauplätze der Serie touristisch erkundet werden!

Außerdem gibt Ulrike Schweikert ganz elegant und unaufdringlich weitere Lektüretipps. Einerseits befindet sich in der Domus Aurea eine große Bibliothek, in der sich die Leseratte Alisa gern herumtreibt. Andererseits hat einer der Servienten – ein vampirischer Diener – eine große Sammlung zum Thema Vampire angehäuft und gibt Alisa und ihren Freunden gern Lesetipps. Da werden „Frankenstein“ und „Varney“ genannt, genauso wie „Sturmhöhe“ und [„Melmoth der Wanderer“ 496 – alles Romane, die keinesfalls in der Klassikerabteilung der Bibliothek versauern sollten!

Als kleinen literarischen Scherz lässt sie ihre vampirischen Protagonisten auf dem protestantischen Friedhof (auf dem beispielsweise Percy Shelley begraben ist, einer der bekanntesten englischen Romantiker und Ehemann der „Frankenstein“-Autorin Mary Shelley) auf Bram Stoker, Henry Irving und Oscar Wilde treffen, die sich dort für ihre literarischen Ergüsse inspirieren lassen. Die Szene ist pfiffig und einfach passend – ein echtes Schmankerl!

Über solchen wirklich gelungenen Passagen vergisst man gern, dass Schweikerts Vampirmythologie notgedrungen etwas seltsam anmutet. Schließlich benötigt sie jugendliche Protagonisten – „Nosferas“ erscheint bei |cbt|, der Jugendbuchschiene von Bertelsmann –, und so kann man in Schweikerts Vampirwelt auf zweierlei Art zum Vampir werden: Entweder man wird als Vampir geboren – dann durchwächst man ganz normal Kindheit und Jugendalter, bis sich der Alterungsprozess schließlich extrem verlangsamt – oder man wird gebissen. Das führt zwangsläufig zu einer Zweiklassengesellschaft. Die geborenen Vampire stehen über den „gemachten“ und halten sich diese als Diener. In manchen Familien haben auch diese Diener praktisch den Status von Familienmitgliedern, in anderen dagegen sind sie nichts weiter als untote Fußabtreter.

Ulrike Schweikert ist zwar keine begnadete, jedoch eine durchaus fähige Erzählerin, der man sich ohne Weiteres für die Dauer von 400 fantastischen Seiten anvertrauen kann. Sie vermittelt sowohl die Begeisterung für die Literatur und Musik des 19. Jahrhunderts als auch für die schönen Ecken von Rom. Gleichzeitig hat sie einen Plot und ein gutes Dutzend Charaktere geschaffen, mit denen sich junge Leser problemlos identifizieren können. Langweilig jedenfalls wird es bei der Lektüre von „Nosferas“ nie, und zweifelsohne hat Schweikert für die folgenden Bände noch einige Asse im Ärmel. Man darf also gespannt sein, wie es im Folgeband „Lycana“ weitergehen wird. Eines ist jedenfalls klar – dann wird Irland erobert!

|446 Seiten
empfohlen ab 12 Jahren
ISBN-13: 978-3-570-30478-5|
http://www.cbj-verlag.de

Liebe Besucher meiner Internetseite,

Gautier, Théophile / Gruppe, Marc / Bosenius, Stephan – liebende Tote, Die (Gruselkabinett 26)

Mit „Die liebende Tote“ (frz. „La morte amoreuse“) von Théophile Gautier ist in der Reihe „Gruselkabinett“ von |Titania Medien| eine weitere Hörspielbearbeitung eines klassisches Textes der fantastischen Literatur erschienen. Fast zweihundert Jahre hat die Erzählung auf dem Buckel, 1836 wurde sie in Frankreich erstveröffentlicht.

Romuald, ein Priester in fortgeschrittenem Alter, der für seine Frömmigkeit und Gottesfürchtigkeit bekannt ist, schildert dem jungen Bruder Mathieu Ereignisse aus seiner Jugend. Damals, gerade im Moment seiner Priesterweihe, wurde er in der Kirche einer wunderschönen Frau gewahr. Romuald ist von ihrer Schönheit geblendet und er, der er nie viel Kontakt mit der Welt außerhalb der Kirche hatte, meint sofort, sich unsterblich in die Unbekannte verliebt zu haben. Trotzdem legt er seinen Schwur ab und muss fortan als Priester leben.

Die Erinnerung an die unbekannte Schöne lässt ihm jedoch keine Ruhe. Er erfährt, dass ihr Name Clarimonde ist und dass sie in einem Schloss wohnt, das ihr ein Prinz einst schenkte – offensichtlich als Dank für ihre Liebesdienste. Clarimonde ist eine äußert exklusive Kurtisane und zu Romualds Verwunderung hat sie scheinbar ein Auge auf den unscheinbaren Priester geworfen. Sie lässt ihm Botschaften zukommen, doch Romuald findet immer wieder einen Vorwand, ihr nicht zu antworten.

Stattdessen wird ihm vom seinem Vorgesetzten Abbé Serapion eine Priesterstelle in einem kleinen Dorf zugewiesen. Dort angekommen, versucht sich Romuald damit abzufinden, dass so nun der Rest seines Lebens aussehen wird. Seine Verzweiflung währt jedoch nicht lange, denn eines Nachts wird er aus dem Tiefschlaf geweckt als ein Diener Clarimondes ihn auffordert, ihn auf das Schloss der Kurtisane zu begleiten. Sie liege im Sterben und verlange nach der letzten Ölung.

Es stellt sich heraus, dass auch der Teufelsritt auf zwei schwarzen Hengsten nicht verhindern kann, dass Romuald zu spät kommt. Als er Clarimonde erreicht, findet er sie nur noch tot auf ihrem Bett vor. Er verbringt die Nacht betend an ihrer Schlafstätte und meint von Zeit zu Zeit, ein Lebenszeichen an der Angebeteten zu erkennen. Und tatsächlich – auf wundersame Weise kann Romuald Clarimonde ins Leben zurückholen, um fortan an ihrer Seite ein Leben voller Leidenschaft und Ausschweifungen zu führen.

Die beiden ziehen nach Italien und Romuald erliegt all den neuen Reizen, die auf ihn einwirken. Doch auch wenn die Gesellschaft Clarimonde bald zu Füßen liegt, so bleibt sie ihrem Geliebten treu. Als sie allerdings von einem plötzlichen Schwächeanfall ans Bett gefesselt wird, stellt sie fest, dass es Romualds Blut ist, das ihre Gesundheit ganz plötzlich wiederherzustellen vermag. Wird Clarimonde also fortan ihren Geliebten als Blutspender missbrauchen? Wird Romuald eines Tages von der Vergangenheit eingeholt oder ist eine Liebe zwischen den beiden wirklich möglich?

Schon der Titel, „Die liebende Tote“, legt nahe, dass es sich bei Clarimonde um eine wahrhaft Liebende handelt. Zwar ist sie ein Dämon – und Sprecherin Sabine Arnhold betont auch diesen Aspekt ihres Charakters immer wieder -, doch ist es nicht ihr Ziel, ihren Geliebten ins Unglück zu stürzen oder gar zu töten. Ihre Blutmahlzeiten fallen geradezu spartanisch aus, und immer ist sie bemüht, Romuald nur so viel abzuzapfen, wie dessen Gesundheit vertragen kann.

Stattdessen ist es Abbé Serapion, der sich schlussendlich als dämonisch und zerstörerisch entpuppt. Immer ist er es, der sich auf die ein oder andere Art zwischen die Liebenden stellt, auch um Romuald am Ende in den Schoß der Kirche zurückzuholen. Bei dem Priester bleibt jedoch ein fahler Nachgeschmack. Zwar fügt er sich fortan in sein Schicksal und ist später für die Festigkeit seines Glaubens bekannt, doch es vergeht kein Tag, an dem er nicht an die Ereignisse in seiner Jugend denken würde. Romuald leidet zeitlebens unter Abbé Serapions Eingreifen, und so entpuppt sich der herrschsüchtige Kirchenmann als der eigentliche Blutsauger, der ohne Gewissensbisse zwei Leben zerstört hat.

Die Hörspielbearbeitung von Marc Gruppe bleibt sehr nah am Originaltext von Gautier. Wie in der Originalerzählung auch, wird ein Großteil der Handlung von Romuald (Sprecher: Kaspar Eichel) in der Rückschau erzählt. Dass „Die liebende Tote“ in der Ich-Form geschrieben wurde, scheint Gruppe vor das Problem gestellt zu haben, wo tatsächliche Spielszenen einzufügen seien. Manchmal erscheinen die Passagen, in denen Kaspar Eichel nur erzählt, recht lang und man sehnt sich nach etwas Abwechslung, d. h. einer Szene mit verschiedenen Sprechern. Dabei sind alle Sprecher gut ausgewählt. Der alte Romuald, gesprochen von Kaspar Eichel, klingt altersweise und auch etwas lebensmüde, wogegen Julien Haggère, der den jungen Romuald spricht, dessen Naivität wunderbar verkörpert. Clarimonde mit der Stimme von Sabine Arnhold changiert zwischen der liebenden Seele und der leidenschaftlichen Frau.

Schlussendlich sollte noch die durchaus passend eingefügte Musik Erwähnung finden, die das Hörspiel abrundet. Man hört alles von kirchlichen Gesängen bis zu dramatischen Orchesterpassagen, je nach Szene und Handlungsort. Da macht das Lauschen gleich doppelt so viel Spaß.

Mit „Die liebende Tote“ ist dem |Gruselkabinett|-Team unter Leitung von Marc Gruppe wieder eine solide gemachte Hörspielfassung eines Textes gelungen, auf den die Zielgruppe (das Hörspiel ist ab 14 Jahren geeignet) wohl sonst eher schwerlich stoßen würde. Und auch denjenigen, die die Erzählung bereits kennen, dürfte die alte Geschichte in neuem Gewand großen Spaß machen!

|Originaltitel: La morte amoureuse, 1836
57 Minuten auf 1 CD
ISBN-13: 978-3-7857-3578-7|

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_Das |Gruselkabinett| auf |Buchwurm.info|:_

[„Carmilla, der Vampir“ 993 (Gruselkabinett 1)
[„Das Amulett der Mumie“ 1148 (Gruselkabinett 2)
[„Die Familie des Vampirs“ 1026 (Gruselkabinett 3)
[„Das Phantom der Oper“ 1798 (Gruselkabinett 4)
[„Die Unschuldsengel“ 1383 (Gruselkabinett 5)
[„Das verfluchte Haus“ 1810 (Gruselkabinett 6)
[„Die Totenbraut“ 1854 (Gruselkabinett 7)
[„Spuk in Hill House“ 1866 (Gruselkabinett 8 & 9)
[„Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ 2349 (Gruselkabinett 10)
[„Untergang des Hauses Usher“ 2347 (Gruselkabinett 11)
[„Frankenstein. Teil 1 von 2“ 2960 (Gruselkabinett 12)
[„Frankenstein. Teil 2 von 2“ 2965 (Gruselkabinett 13)
[„Frankenstein. Teil 1 und 2“ 3132 (Gruselkabinett 12 & 13)
[„Die Blutbaronin“ 3032 (Gruselkabinett 14)
[„Der Freischütz“ 3038 (Gruselkabinett 15)
[„Dracula“ 3489 (Gruselkabinett 16-19)
[„Der Werwolf“ 4316 (Gruselkabinett 20)
[„Der Hexenfluch“ 4332 (Gruselkabinett 21)
[„Der fliegende Holländer“ 4358 (Gruselkabinett 22)
[„Die Bilder der Ahnen“ 4366 (Gruselkabinett 23)
[„Der Fall Charles Dexter Ward“ 4851 (Gruselkabinett 24/25)
[„Die liebende Tote“ 5021 (Gruselkabinett 26)
[„Der Leichendieb“ 5166 (Gruselkabinett 27)

Lueg, Lars Peter / Keller / Wilson / Smith / Fowler / Masterton – Necrophobia 3

[„Necrophobia 1“ 1103
[„Necrophobia 2“ 1073
[„Necrophobia – Meister der Angst“ 1724

Bereits zum dritten Mal haben sich Hörbuchproduzent Lars Peter Lueg sein Musikfachmann Andy Matern zusammengetan, um dem geneigten Hörer eine Horroranthologie zu präsentieren. Wieder einmal hat Lueg fünf Gruselgeschichten ausgesucht, vorgetragen von Sprechern der A-Riege, die in Deutschland wohl hauptsächlich durch ihre Synchronarbeit bekannt sind.

Leider werden die hohen Erwartungen, die der Hörer an „Necrophobia“ stellt, von der ersten Geschichte zunächst enttäuscht. David H. Kellers „Da unten ist nichts“ („The Ting in the Cellar“, 1952) ist zu banal und vorhersehbar, um mehr als ein müdes Lächeln hervorzurufen: Klein Tommy fürchtet sich vor der Kellertür, schreit und wimmert, sobald jemand die Tür auch nur angelehnt lässt. Als der Kleine in die Schule kommt, beschließt sein Vater, es sei genug mit dem kindischen Verhalten, und schleppt den Jungen zu einem Arzt. Dieser gibt den eher unprofessionellen Rat, Tommy bei geöffneter Kellertür allein im Zimmer zu lassen. Doch man ahnt schon, dass diese Rosskur dem armen Tommy eher schaden als nützen wird.

„Da unten ist nichts“ ist eine Geschichte ohne Überraschungen oder Twists. Sie spielt die alte Mär vom Monster im Keller von vorn bis hinten durch, ohne mit ihr zu spielen. Der Autor versucht sich damit zu retten, dass er nie aufklärt, was (oder ob überhaupt) sich nun in diesem ominösen Keller befindet, doch auch dieser Kniff kann den Hörer kaum dauerhaft fesseln. Zu schwer wiegt die Tatsache, dass die Charaktere absolut blass und schablonenhaft bleiben und damit ihre Wirkung beim Hörer verfehlen.

Nun trifft es sich, dass David H. Keller (1880-1966) Psychiater war. Wahrscheinlich soll man seine Geschichte als ein Lehrstück dafür lesen, wie man seine Kinder nicht erziehen sollte. Nur ist diese Erkenntnis weder neu noch ihre Ausführung gruselig. Auch der Sprecher Joachim Udo Schenk lässt wenig Begeisterung für sein Thema erkennen. Er liefert ein solides Ergebnis ab, doch kann auch er der Vorlage nicht mehr Tiefe verleihen.

Besser ausgewählt ist da schon F. Paul Wilsons Geschichte „Zart wie Babyhaut“ („Foet“, 1991). Hier geht es um die moralischen Abgründe, die sich auftun, wenn eine Gesellschaft einfach alles hat. Wenn man alles kaufen kann, zu welchem Mittel muss man dann greifen, um doch noch irgendwie besonders zu wirken? Mann kennt das ja: Frauen sind verrückt nach Handtaschen. Und so ist es nur natürlich, dass der Protagonistin beim Wiedersehen mit einer alten Freundin sofort deren absolut außergewöhnliche Tasche auffällt. So eine muss sie auch haben, das wird ihr sofort klar. Und da bereiten ihr der Preis und die moralischen Gewissensbisse ob der Herkunft des Leders auch nur kurzfristig Kopfzerbrechen. Es geht hier schließlich um ein „mutiges Fashion Statement“, da kann man sich nicht von Kleingeistigkeit beeindrucken lassen.

Wilsons (Jahrgang 1946) Geschichte erinnert in der starken Fetischisierung von Mode und Marke ein wenig an [„American Psycho“ 764. Man (oder frau) muss sich abheben, muss teuer gekleidet sein, muss geschmackvoll sein, muss besonders sein, muss „was Besseres“ sein. Doch schlussendlich rückt dieses Ziel in immer weitere Ferne, je schneller man ihm nachzueilen versucht.

Bei „Zart wie Babyhaut“ braucht es keine Monster oder Dämonen. Der Schrecken hier ist subtiler, naheliegender. Er ergibt sich aus der Frage, wo moralische Grenzen verlaufen und wie fließend sie vielleicht sind – oder interpretiert werden können. Sprecherin Marie Bierstedt kennt man in Deutschland als die Stimme von Kirsten Dunst. Als shoppingwütige Amerikanerin macht sie ihre Sache durchaus gut.

Die dritte Geschichte, „Necropolis – Das Reich der Toten“ von Clark Ashton Smith („The Empire of the Necromancers“, 1932) ist die älteste im Bunde. Man merkt ihr die zusätzlichen Jahre an, und das ist in diesem Fall positiv zu bewerten. Mit „Necropolis“ ist somit auch die klassische Gruselerzählung vertreten, komplett mit fernen Ländern, untoten Mumien und zwei unmoralischen Nekromanten.

Es überrascht nicht, dass Smith (1893-1961) mit H. P. Lovecraft befreundet war, dringt dessen Geist doch aus jeder Pore dieser Erzählung. Smith schafft es geschickt, zwei klassische Themen des Genres zu verbinden: Mumien und Zombies. Er lässt zwei Nekromanten eine ganze Mumienstadt wiedererwecken, damit sie ihnen zu Diensten sind. Das geht zunächst auch gut. Den Untoten fehlt ein wacher Geist, eine Erkenntnis ihrer Existenz, und so dienen sie ohne Wehklagen und huldigen den beiden Nekromanten. Doch letztendlich bekommen die beiden genau das, was sie verdient haben. Am Schluss ist der Gerechtigkeit Genüge getan, auch wenn der Hörer mit einem unguten Bauchgefühl zurückbleibt. Reinhard Kunert lässt der Geschichte den nötigen Respekt angedeihen. Seiner Darstellung zu lauschen ist eine wahre Freude.

Ein Titel wie „Die langweiligste Frau der Welt“ („The Most Boring Woman in the World“, 1995 von Christopher Fowler) lässt nichts Gutes erahnen. Doch weit gefehlt! Es handelt sich um die beste Geschichte der Anthologie, was wohl auch der exzellenten Interpretation durch Arianne Borbach zu verdanken ist.

Fowler widmet sich hier dem Wahnsinn des ganz alltäglichen Vorstadtlebens. Sie, Hausfrau, verheiratet, hat zwei Kinder und einen Hund. Ihre Tage laufen immer gleich ab, wie das eben so ist bei Hausfrauen. Doch da gibt es ein paar Kleinigkeiten. Die Schnapsflasche unter der Spüle. Die Kippe, die sie sich anzündet, wenn die Kinder in der Schule sind. Der Tag, an dem sie zum ersten Mal Koks probiert und die Lasagne anbrennen lässt.

Über weite Strecken ist die Geschichte damit nicht gruselig, aber doch beunruhigend. Immer hat man das Gefühl, dass die Handlung unweigerlich auf eine Katastrophe zusteuert. Am Schluss, wenn die Katastrophe dann eingetreten ist, wird die Erwartungshaltung des Hörers sowohl bestätigt als auch enttäuscht und man bleibt verstört zurück. Marianne Borbach als Ich-Erzählerin lotet gekonnt die Tiefen der nicht ganz wahnsinnigen, aber auch nicht ganz normalen Protagonistin aus. Manchmal klingt sie gelangweilt, manchmal resigniert, manchmal überschlägt sich ihre Stimme. Einfach ein echter Ohrenschmaus!

Die letzte Geschichte im Bunde ist „Die graue Madonna“ („The grey Madonna“, 1995) von Graham Masterton. Eine Frau wird ermordet aufgefunden und ihr Mann ist am Boden zerstört. Es finden sich weder ein Mörder noch ein Motiv. Die Polizei hat nichts weiter als einen Zeugen, der gesehen haben will, wie die Frau kurz vor ihrem Tod mit einer Nonne in grauer Tracht sprach. Nur lässt sich diese Nonne nicht auffinden. Und überhaupt, es gibt gar keine Nonnen in grauem Habit.

„Die graue Madonna“ ist eine Geschichte über Schuld und Selbstzweifel. Sie lebt vom psychologischen Horror, den der Autor verbreitet. Und so bleibt es letztlich dem Hörer überlassen zu entscheiden, ob es sich hier um ein übernatürliches Phänomen handelt oder um einen Mann, der Extremes tut, weil seine Schuldgefühle ihn zerfressen.

Die dritte „Necrophobia“-Anthologie schwächelt zunächst etwas, kann sich dann aber doch noch auf gewohnt hohem Niveau einpendeln. Grusel entsteht diesmal hauptsächlich im Kopf, da wirklich Übernatürliches in den ausgewählten Geschichten eher in der Unterzahl ist. Die Erzählungen psychologisieren oder halten den Finger schmerzhaft auf Wunden unserer Gesellschaft. Nur „Necropolis“ ist eine Gruselgeschichte im klassischen Sinne.

Doch bekanntermaßen kann Horror ja aus den banalsten Situationen entstehen. Und so muss der geneigte Hörer wohl selbst herausfinden, welche der fünf ausgewählten Geschichten ihm den wohligsten Schauer über den Rücken laufen lässt.

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Bionda, Alisha / Kleudgen, Jörg – Seelentor, Das (Wolfgang Hohlbeins Schattenchronik, Band 8)

Im letzten Band der Serie, [„Zorn des Drachen“, 5032 begann das Autorenduo Alisha Bionda und Jörg Kleudgen einen neuen Gegner für den Bund der Fünf und die Vampire im Allgemeinen vorzustellen: Ein geheimnisvoller Chinese pirschte sich an Dilara und ihre Gefährten heran und hatte offensichtlich nichts Gutes im Sinn. Bisher hielten sich die Autoren allerdings reichlich bedeckt zu der Frage, was es mit dieser neuen Unbekannten in der Welt der Schattenchronik auf sich hatte. Der achte Band der Serie, „Das Seelentor“, soll nun jedoch etwas Licht ins Dunkel bringen.

Lee Khan ist der Name des Drachens, der in London Unruhe in der Gemeinschaft der Vampire verbreitet. Wie ein Schnitter geht er durch ihre Reihen und befördert sie in die ewigen Jagdgründe, ohne dass jemand dazu fähig wäre, den Drachen aufzuhalten. Zu allem Überfluss entführt er dann auch noch Dilara ins ferne China, um den Bund zu spalten und ihre Freunde in eine Falle zu locken.

Natürlich ist Calvin, Dilaras Gefährte, außer sich vor Wut und Sorge. Zwar kann er selbst über diese Entfernung spüren, dass Dilara noch am Leben ist, doch ist der Drachen noch immer eine unbekannte Größe, und so ist es schwierig, seinen nächsten Schachzug vorherzusagen. Zusammen mit dem Cop Mick macht sich Calvin also nach China auf, um die Fährte des Drachen aufzunehmen und Dilara aus seinen Fängen zu befreien.

Dilara wiederum wird vom Drachen in einem fensterlosen Zimmer gehalten und bekommt von Zeit zu Zeit ein Kaninchen zugeschoben, damit sie nicht vollkommen vom Fleische fällt. Da sie nichts hat, womit sie sich die Zeit vertreiben könnte, erinnert sie sich an ihren ersten Besuch in China im Jahre 1908. Damals hatte sie Antediluvian ins Reich der Mitte geschickt, um der dort herrschenden Vampirin ein Geschenk zu überreichen. Dilara ist fasziniert von der vollkommen gegensätzlichen Kultur und lässt sich gern von Tai Xian, der Antediluvians Statthalter in Shanghai ist, führen, um diese fremde Welt zu erkunden. Gemeinsam reisen sie in die Verbotene Stadt, wo sie feststellen muss, dass dieses Zentrum chinesischer Macht ausschließlich von Vampiren bewohnt wird. Selbst Tze Hsi, die Nebenfrau des verstorbenen Kaisers, die nun die Geschicke des Landes führt, hat den Kuss der Verdammnis empfangen, und sie ist es, für die Antediluvians Geschenk bestimmt ist.

Tze Hsi findet Gefallen an Dilara (und ihrem Geschenk) und lädt sie ein, der Vernichtung einiger Vampire beizuwohnen, die die Gunst der Kaiserwitwe verloren haben. Die chinesischen Vampire bedienen sich dazu des Seelentors, durch das ein in Ungnade gefallener Vampir treten muss, um daraufhin ins ewige Nichts einzugehen. Die Vampire verschwinden einfach und niemand weiß so genau, was eigentlich mit ihnen geschieht. Das Schauspiel ist faszinierend und angsteinflößend zugleich.

Während Dilara also ihren Gedanken nachhängt, reisen Calvin und Mick nach Shanghai, um dort die Spur des Drachen aufzunehmen. Durch seinen Job bei der Polizei kann Mick der ganzen Sache einen halboffiziellen Anstrich verleihen, und so wird ihnen bei ihrer Ankunft die Geheimdienstlerin Suemi an die Seite gestellt, die sie bei ihren Ermittlungen unterstützen soll. Es dauert nicht lange, bis die beiden Männer wissen, wo der Drache zu finden ist. Doch Dilara zu befreien, wird sich schwierig gestalten, schließlich rechnet Lee Khan mit der Ankunft der beiden und sehnt sie sogar herbei. Die Befreiungsaktion der beiden ist das letzte Puzzlestück in Lee Khans Racheplan.

Nach dem eher beschaulicheren siebten Teil dreht die „Schattenchronik“ nun wieder auf und liefert mehr Action, mehr wechselnde Schauplätze und mehrere Zeitebenen, auf denen die Geschichte spielt. Bionda und Kleudgen haben sich diesmal China vorgenommen und entführen den Leser sowohl in das heutige Shanghai, das sich als pulsierende Metropole präsentiert, als auch in das vergangene Kaiserreich China, das exotisch und gleichzeitig gefährlich daherkommt. Wieder einmal sind diese Passagen das Highlight des Bandes – sie erweisen sich als gut recherchiert und überzeugend dargestellt. Besonders die Tatsache, dass die Autoren reale Personen in ihre Handlung einweben, macht die China-Passagen reizvoll.

Hinter dem schillernden China des beginnenden 20. Jahrhunderts verblasst das heutige Shanghai etwas, in das es Calvin und Mick verschlägt. Die beiden geben kein besonders gutes Team ab: Während Calvin von einer Depression in die nächste verfällt, weil er sich Sorgen um Dilara macht, versucht Mick mit coolen Sprüchen zu punkten, die zu salopp und gekünstelt für die eher ernste Situation wirken. Beide Charaktere verfallen in Extreme, die übertrieben wirken – der eine erscheint zu leidend, während der andere zu forsch wirkt. Ein wirklich gutes Gleichgewicht stellt sich nicht ein.

Auch der Drache Lee Khan gibt längst nicht alle seine Geheimnisse preis. Der Leser lernt zwar, warum er Rache an den Vampiren nehmen will, doch bleibt im Dunkeln, warum es gerade diese Vampire sein müssen. Ist Dilara persönlich für Lee Khans Unglück verantwortlich oder hofft er, die Vampirgemeinschaft völlig zu zerschlagen, indem er ihre Führer tötet? Lee Khan lässt sich nicht vollkommen in die Karten schauen, und so steht zu vermuten, dass der Leser noch nicht alles von ihm gesehen hat.

In guter Serienmanier dreht „Das Seelentor“ gerade am Schluss so richtig auf, wenn es zur Konfrontation zwischen den Vampiren und dem Drachen kommt. Der Showdown ist actionlastig und schnell, und mit sadistischer Freude reißen Bionda und Kleudgen auf der letzten Seite das Ruder noch einmal komplett herum und drehen die Handlung in eine neue beunruhigende Richtung. Wie immer darf man gespannt sein, wie Dilara und Calvin sich aus dieser misslichen Lage befreien!

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_Wolfgang Hohlbeins Schattenchronik auf |Buchwurm.info|:_

Band 1: [„Der ewig dunkle Traum“ 1899
Band 2: [„Kuss der Verdammnis“ 1900
Band 3: [„Die Kinder der fünften Sonne“ 1949
Band 4: [„Blutopfer“ 1977
Band 5: [„Der Schattenkelch“ 2483
Band 6: [„Calvin“ 2490
Band 7:
[„Zorn des Drachen“ 5032
Band 9: [„Der Vampir von Düsseldorf“ 4100
Band 10: [„Vabanque“ 4787
Band 11: [„Der Sturz des Drachenthrons“ 4809

Bionda, Alisha / Kleudgen, Jörg – Zorn des Drachen (Wolfgang Hohlbeins Schattenchronik, Band 7)

Der sechste Band der „Schattenchronik“ – [„Calvin“ 2490 – endete mit großen Umstürzen: Der Schattenkelch ist gefunden und entfaltet in einem Blutritual seine ganze Kraft. Aus Dilara, ihrem Gefährten Calvin, ihrem Bruder Guardian, dem Vampircop Mick und der unberechenbaren Vampirin Luna Sangue wird der Bund der Fünf. Solange der Bund einig ist, werden die Fünf wirklich unsterblich sein, und ihre Macht über die Vampire der Welt ist grenzenlos.

Guardian, der Besonnene und Nachdenkliche, ist sofort in seinem Element. Zusammen mit Dilara arbeitet er an einer Art Gesetzessammlung für Vampire und lädt die Ältesten ein, zusammen mit dem Bund so etwas wie den Bundestag der Vampire zu bilden.

Lunas Konzentration ist während dieser Formungsphase etwas abgelenkt: Ein Unbekannter versucht ihr Kosmetikimperium zu unterwandern. Es sind bereits Nachahmerprodukte ihrer überaus erfolgreichen LUNATICS-Reihe auf dem Markt aufgetaucht, und es wird höchste Zeit, dass sie dem Problem ihre ganze Aufmerksamkeit schenkt. Dazu stellt sie einen neuen Mitarbeiter – Mike O’Connell – ein, der mit allen verfügbaren Mitteln zum Kern der Wirtschaftsspionage vordringen soll.

Auch Calvins Freude über die Bildung des Bunds der Fünf ist getrübt. Ihn plagt die Tatsache, dass er praktisch nichts über seine Mutter und deren Familie weiß. Nach dem Bruch mit seinem Vater fühlt er sich – abgesehen von Dilara – vollkommen allein gelassen und wünscht sich nichts sehnlicher als seine Familie ausfindig zu machen. Er hat jedoch wenig mehr als nebulöse Erinnerungen: Diese führen ihn in ein verschlafenes Nest in Wales, wo er hofft, mit seinen Nachforschungen, wenn nicht auf seine Mutter, so doch wenigstens auf den Rest seiner Familie mütterlicherseits zu stoßen.

All diese Vorkommnisse werden jedoch überschattet von einer Reihe von Morden in der Vampirgemeinde. Jemand will den Untoten wohl wirklich ans Leder, doch lange bleiben sein Name und seine Motivation im Dunkeln. Nur eines ist schnell klar: Sein Zeichen ist ein Drache.

Nachdem der „Schattenkelch“ nun die fünf Hauptcharaktere der Serie in einem machtvollen Bund vereint, könnte man annehmen, dass Ruhe in Dilaras Leben einkehrt. Und tatsächlich startet „Zorn des Drachen“ durchaus gemächlich. Die neue Situation in der Gemeinschaft der Vampire will erkundet und ausgelotet werden. Es gilt, neue Regeln des Zusammenlebens aufzustellen und seinen Platz in der veränderten Hierarchie zu finden. So ganz trauen sich die fünf Bündler allerdings nicht über den Weg. Besonders die undurchschaubare Luna Sangue ist den anderen vier ein Dorn im Auge. Sie halten sie für die Schwachstelle im Bund, müssen sie doch jederzeit damit rechnen, dass Luna sich entscheidet, fortan doch nur ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Sollte das geschehen, wäre die Macht des Bundes zerschlagen und keiner der fünf könnte künftig vom Schattenkelch profitieren.

In „Zorn des Drachen“ gibt es – und das ist ungewöhnlich für die „Schattenchronik“ – keinen zweiten Handlungsstrang, der in Rückblenden erzählt wird. Ausnahmsweise widmen sich Alisha Bionda und Jörg Kleudgen nicht fremden Kulturen und vergangenen Zeiten, um Dilaras Unleben auszuloten. Stattdessen konzentriert sich das Autorenduo auf Calvin, der allein nach Wales reist, um dort Näheres über seine Familie zu erfahren. Diese Passagen sind die besten und spannendsten des Romans – denn im Gegensatz zur nur angedeuteten Gefahr des titelgebenden Drachen gelingt es ihnen, den Leser sofort zu fesseln. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Calvin eine Reise in die Vergangenheit unternimmt. Brynddumaen, der kleine Küstenort, den Calvin in Wales besucht, erscheint dem Leser fast wie unter einer Glasglocke konserviert. Die Urlaubssaison ist vorüber und die Bürgersteige wurden hochgeklappt. Kaum jemand lässt sich in dem Örtchen blicken. Die meisten Hotels scheinen bereits für den Winter geschlossen zu haben. Calvin kommt in einem Hotel unter, das offenbar auch schon bessere Tage gesehen hat – man sieht förmlich den Staub im faden Sonnenlicht tanzen. Nur noch ein Angestellter ist anzutreffen und Calvin ist der einzige Gast. Das Hotel wird sein Hauptquartier, von dem aus er seine Nachforschungen anstellt. Bald stößt er auf erste Anzeichen, dass die Familie seiner Mutter tatsächlich aus dieser Gegend stammt. Außerhalb des Ortes lebte sie zurückgezogen in einem Haus am Meer, das in einem tragischen Feuer komplett zerstört wurde. Doch was hatte das Feuer verursacht?

Die Kapitel in Wales atmen Lokalkolorit. Sie machen schon durch das leicht staubige und gottvergessene Ambiente unglaublich Spaß, denn als Leser hat man fast das Gefühlt in einem Horrorfilm aus den 50ern gelandet zu sein, in dem es Protagonisten in ein menschenleeres Hotel verschlägt. Und auch das Geheimnis, das Calvin im Verlauf des Romans aufzudecken beginnt, passt sich in diese Gefühlswelt ein. Dahinter verblassen allerdings die anderen Handlungsstränge des Romans. Gerade der Drache, der Vampire mordend durch London zieht, ist bisher nicht mehr als ein Schemen. Seine Identität wird nicht preisgegeben – ein Vergnügen, das sich Bionda und Kleudgen offenbar für den nächsten Band aufheben -, und so bleibt dem Leser nichts anderes übrig als Vermutungen anzustellen. Aber auch das ist schließlich ein Teil der Lektüre, der ungemein Spaß machen kann!

„Zorn des Drachen“ entbehrt eines wirklichen „Gegners“. Die Autoren Alisha Bionda und Jörg Kleudgen konzentrieren sich im Gegenzug auf ihre Charaktere und versuchen, sie im siebten Band der „Schattenchronik“ etwas mehr auszuleuchten und ihnen mehr Tiefe zu geben. Das bietet dem Leser eine wohlverdiente Verschnaufpause zwischen den actiongeladenen Teilen der Romanserie. Denn vermutlich wird es schon im Nachfolger, „Das Seelentor“, wieder heiß hergehen.

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_Wolfgang Hohlbeins Schattenchronik auf |Buchwurm.info|:_

Band 1: [„Der ewig dunkle Traum“ 1899
Band 2: [„Kuss der Verdammnis“ 1900
Band 3: [„Die Kinder der fünften Sonne“ 1949
Band 4: [„Blutopfer“ 1977
Band 5: [„Der Schattenkelch“ 2483
Band 6: [„Calvin“ 2490
Band 9: [„Der Vampir von Düsseldorf“ 4100
Band 10: [„Vabanque“ 4787
Band 11: [„Der Sturz des Drachenthrons“ 4809

Festa, Frank (Hg.) – Denn das Blut ist Leben. Geschichten der Vampire

Schon einmal ist im |Festa|-Verlag eine Anthologie mit Vampirgeschichten erschienen. Damals suchte HR Giger, wohl am besten bekannt als der Schöpfer des „Aliens“, die Geschichten aus und veröffentlichte sie in einem durchaus umfangreichen Band namens „HR Gigers Vampirric“ – mehrere Geschichten dieser Anthologie fanden sich später auch als [Hörbuchfassungen bei LPL records 1839 wieder. Nun hat Verleger Frank Festa die Zügel selbst in die Hand genommen und ebenfalls eine stattliche Zahl von Geschichten zusammengestellt: „Denn das Blut ist Leben“ heißt seine Anthologie ziemlich treffend. Und im Untertitel liest man dann „Geschichten der Vampire“ – nicht etwa Geschichten |von| Vampiren oder |über| Vampire. Nein, solcherart einschränken möchte sich Festa nicht, und daher sind die zweiundzwanzig ausgewählten Erzählungen so abwechslungsreich wie nur irgend möglich. Sie sind jung oder alt, lang oder kurz, bekannt oder unbekannt, realistisch oder völlig fantastisch, historisch oder zeitgenössisch. Kurzum, in „Denn das Blut ist Leben“ dürfte sich für jeden Geschmack die passende Geschichte finden.

Dabei sieht sich eine Vampiranthologie natürlich mit einer gewissen Startschwierigkeit konfrontiert: Der Leser weiß, womit er es zu tun hat. Die Überraschung, die ein Autor für seine Geschichte geplant hatte, wird eventuell dadurch zerstört, dass der Leser zu gut informiert ist. Er weiß, dass es in der Geschichte auf irgendeine Art und Weise um Vampire gehen muss, und er interpretiert die Hinweise, die ein Autor wohlweislich hinterlässt, in entsprechender Weise. Dadurch durchschaut er in der Regel die Crux einer Geschichte schneller, als der Autor dies wohl ursprünglich geplant hatte.

Mit diesem Problem müssen sich viele Geschichten dieser Anthologie herumschlagen. So könnte „Stragella“ von Hugh B. Cave den Leser lange an der Nase herumführen. Cave spinnt hier ein wunderbares Seemannsgarn und erzählt die Geschichte von zwei Schiffbrüchigen, die in ihrem kleinen Rettungsboot in einer Nebelbank auf ein verlassenes Schiff treffen. Lange könnte der Leser spekulieren, was es mit diesem Schiff auf sich hat, denn es wird bald klar, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Doch der Leser kommt ihm zuvor und erwartet förmlich die Ankunft der Vampire. Dieses Wissen, diese Erwartungshaltung schmälert in Caves Fall kaum die Wirkung der Geschichte. Seine Erzählung ist so wild, abenteuerlich und ungeheuerlich, dass man sie trotzdem in vollen Zügen genießen kann. Einer kurzen Erzählung wie „Rückkehr in den Tod“ von J. Wesley Rosenquist ist dieses Privileg nicht vergönnt. Seine kleine Mär von einem lebendig Begrabenen, der bei seiner „Wiederauferstehung“ fälschlicherweise für einen Vampir gehalten und daraufhin prompt wieder in die ewigen Jagdgründe befördert wird, kann den Leser kaum überraschen.

Ein erstes Highlight (wenn man mal von der Auftakterzählung [„Draculas Gast“ 1086 von Bram Stoker absieht, die sich ohnehin in wirklich jeder Vampiranthologie wiederfindet) ist Graham Mastertons „Der Laird von Dunain“. Als armer Leser fühlt man sich zunächst wie im falschen Film: Claire macht Bildungsurlaub in Schottland. Zusammen mit einer Gruppe Gleichgesinnter verbringt sie einige Tage auf dem Anwesen des Laird von Dunain, um dort einen Malkurs zu absolvieren und etwas von der Landschaft zu sehen. Der Laird stellt sich zunächst als archetypischer Schotte dar, komplett mit Kilt, Schafwollpullover und roter, wilder Mähne. Die Frauen im Malkurs können sich ob des Anblicks einen kollektiven Seufzer nicht verkneifen, doch es ist Claire, auf die es der Laird abgesehen hat. Sein Porträt soll sie malen, doch da sie seine Gesichtsfarbe auf der Leinwand einfach nicht hinbekommt, greift sie zu drastischen Mitteln … Zu Beginn fühlt man sich ein bisschen wie in einem Groschenroman – dieses Setting, diese Charaktere sind wie gemacht für eine Liebesschnulze. Doch Masterton dreht das Ruder flott herum und schreibt stattdessen eine Geschichte, die sich irgendwo zwischen Vampirmär und Dorian-Grey-Interpretation einordnen lässt. Das Thema des Porträts, das stellvertretend für einen Menschen steht, scheint ihn zu faszinieren. In seinem Roman „Family Potrait“ hat er diesen Plot noch einmal aufgegriffen.

Auch Edgar Alan Poe findet sich mit seiner Geschichte „Ligeia“ in Festas Anthologie. Sicherlich hätte es auch „Berenice“ treffen können – beide Geschichten befassen sich mit dem Vampirthema. Poe jedoch, und diese Meisterschaft erkennt man schon nach wenigen Absätzen, verabschiedet sich vom gemeinen Blutsauger, vom geradlinigen Blutausaugen, Sterben, Wiederauferstehen. Bei ihm geht es um die vampirische Liebe – um die Liebe, die alles verzehrt, bis das geliebte Objekt daran zugrunde gehen muss. Dieses subtile Grauen, dieses Unterschwellige, nie wirklich Ausgesprochene macht Poes Erzählung so beunruhigend. Der Ich-Erzähler verfällt dem Wahn, kann nichts anderes denken als „Ligeia“, verzehrt sich nach der Geliebten und bringt ihr damit den Tod. Doch dieser Wahn ist nicht nur böse, er leuchtet mit einer düsteren Schönheit, und diese Schönheit ist es, die den Leser ängstigt.

Noch einmal ist es Graham Masterton, der mit der kurzen Geschichte „Verkehrstote“ ein kleines Juwel besteuert, das ganz auf den Effekt und die Pointe setzt. Sein Protagonist ist Dracula, doch ist er nicht der übergroße Vampir, den wir aus Stokers Roman kennen. Auch Dracula scheint müde geworden. So ganz ist er nicht im 20. Jahrhundert angekommen. Er ärgert sich darüber, dass man heutzutage kein vernünftiges Personal mehr finden kann, und hat das Briefeschreiben aufgegeben, weil es ihn deprimiert, dass seine Briefpartner irgendwann sterben. Dieser Dracula ist kauzig, nicht lebensfähig, und so wird ihm am Ende der Geschichte ein wirklich banaler Schicksalsschlag den Garaus machen. Er wird eingeholt von der Zivilisation, wortwörtlich überfahren vom Fortschritt. Der arme Kerl!

Frank Festa ist mit „Denn das Blut ist Leben“ eine vergnügliche (nun ja, im gruseligen Sinne) Auswahl gelungen. Die Geschichten kommen, bis auf wenige Ausnahmen, auf wirklich hohem Niveau daher. Man wird einige alte Bekannte wiedertreffen, wie zum Beispiel H. P. Lovecraft oder Théophile Gautier. Und man kann einige unbekanntere Namen entdecken – Frank Festa ist sich auch nicht zu schade, seinen „eigenen“ Autoren (wie F. Paul Wilson oder P. N. Elrod, die eine ungemein amüsante Geschichte aus ihrem Jack-Fleming-Universum beisteuert) eine Plattform zu bieten. Mit den über 400 Seiten garantiert die Anthologie jedenfalls langanhaltenden Lesegenuss.

In Festas Anthologie sind folgende Geschichten enthalten:

Bram Stoker: „Draculas Gast“
J. Wesley Rosenquist: „Rückkehr in den Tod“
Graham Masterton: „Der Laird von Dunain“
Simon Clark: „Vampir-Abschaum“
Edgar Allan Poe: „Ligeia“
Edmond Hamilton: „Das Vampirdorf“
F. Marion Crawford: „Denn das Blut ist Leben“
Brian Hodge: „Die Alchemie der Stimme“
H.P Lovecraft: „Das gemiedene Haus“
Simon Clark: „Hotel Midnight“
Théophile Gaultier: „Die verliebte Tote“
Alice Olsen: „Winternacht“
Raymond Whetstone: „Die durstigen Toten“
Clark Ashton Smith: „Ilalothas Tod“
Graham Masterton: „Verkehrstote“
Karl Hans Strobl: „Das Aderlassmännchen“
Anonymus: „Die Vampirkatze von Nabèshima“
Hugh B. Cave: „Stragella“
Henry Kuttner: „Ich, der Vampir“
Patricia N. Elrod: „Spätvorstellung“
Lester del Rey: „Feuerkrank“
F. Paul Wilson: „Mitternachtsmesse“

|Originalausgabe
Großformat Paperback 13,5 x 21 cm
416 Seiten|
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Hensel, Jana / Raether, Elisabeth – Neue deutsche Mädchen

2002 trat Jana Hensels Erinnerungsbuch [„Zonenkinder“ 4989 seinen Siegeszug durch das deutsche Feuilleton und – vor allem – die Bestellerlisten an. Die Idee, die dem Buch vorangestellt war, hatte durchaus Potenzial: Hensel, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung so lange in der BRD wie in der DDR gelebt hatte (als die Mauer fiel, war sie gerade dreizehn), war angetreten, exemplarisch aufzuzeigen, wie es ist, ein Wendekind zu sein. Nur kann man so einen biographischen Knick offensichtlich nicht exemplarisch aufzeigen, und „Zonenkinder“ scheiterte an genau diesem Anspruch. Das kollektive „Wir“, das Hensel während des gesamten Buches beschwor, war nervtötend, anmaßend und schlussendlich falsch.

Mittlerweile ist Jana Hensel irgendwie angekommen im neuen größeren Deutschland und hat sich auch von dem allgemeingültigen Wir verabschiedet. Zusammen mit ihrer Freundin Elisabeth Raether hat sie sich nun noch einmal zusammengetan, um aktuellen Befindlichkeiten nachzuspüren. Wieder ist die zugrunde liegende Idee originell: Hensel mit ihrer DDR-Biographie und Raether als BRD-Kind wollen herausfinden, was es heißt, heute eine Frau zu sein. Alice Schwarzer, deren Name traditionell immer fällt, wenn es um Feminismus in Deutschland geht, spielt dabei eigentlich nur als Aufhänger eine Rolle. Hensel lässt sich zwar zu ein wenig Schwarzer-Kritik hinreißen, aber mit Leidenschaft scheint sie nicht am Werke. Es scheint vielmehr, als fühlten sich die Autorinnen verpflichtet, die große Mutter des Feminismus in Deutschland wenigstens auf einer Seite namentlich zu erwähnen, um dann nahtlos dazu überzugehen, was sie als wichtig empfinden: Liebe oder deren Abwesenheit, Sex, Geld, Arbeit und die Unverbindlichkeit des Berliner Großstadtlebens.

In einzelnen Essays widmen sich Hensel und Raether also verschiedenen Aspekten des Frauseins. Das liest sich durchaus interessant und flüssig. Geradezu anekdotisch erzählen die beiden von (in der Regel missglückten) Affären, von dem Versuch, in der taffen „Männerwelt“ zu bestehen, von der seltsamen Entwurzelung im zusammenwachsenden Berlin. Die Nabelschau hat einen gewissen Tagebuchcharakter: Das Geschehene wird durchaus kritisch betrachtet und analysiert, und doch bleiben die Erzählungen des Scheiterns rein privat. Die Autorinnen sagen „überhaupt nichts aus, was über die jeweiligen Geschichten hinausginge“, meint beispielsweise der Rezensent der |F.A.Z.| und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Hensel und Raether haben ein persönliches Buch geschrieben, ein Buch, in dem sich Frauen ihres Jahrgangs wiederfinden oder auch nicht. Doch über ihre Selbstanalyse hinaus wollen die neuen deutschen Mädchen keine Auskunft darüber geben, wie die Sache mit dem Feminismus denn nun weitergehen sollte. Wenn die Ideen Schwarzers so überkommen sind, womit sollten wir sie ersetzen?

Abgesehen von den persönlichen Betrachtungen, finden sich in dem Buch auch zwei Essays zur Mütterngeneration, die sich durchaus interessant lesen. Da geht es auf der einen Seite um Elisabeth Raethers Mutter, die zunächst eine vollkommen durchschnittliche Mittelschichtenkarriere in der BRD macht: Heirat, Kinder, Hausfrau. Doch dann entscheidet sie, dass das nicht alles gewesen sein kann. Sie lässt sich scheiden, beginnt wieder zu arbeiten, wird ihre eigene Herrin. Für Raether ist diese Mütterbiographie ein Zeichen dafür, dass der Feminismus damals begann, die Mittelschicht zu erobern.

Auch Hensel ist ein Scheidungskind, und auch ihre Mutter steht geradezu beispielhaft für den Lebenslauf vieler Frauen in der noch jungen DDR. Sie arbeitet Vollzeit. Sie zieht aus dem Ledigenwohnheim aus, um zu heiraten. Die kleine Jana wird geboren. Durchaus genau schildert Hensel diese Jahre und analysiert die Unterschiede zur heutigen Zeit. Sie stellt das damalige Denken im „Kollektiv“ dem heutigen Götzen des „Individualismus“ gegenüber. Ihre Mutter, sagt sie, war noch eingebunden in ein großes Ganzes, war ein Rädchen in einer riesigen Maschine. Jana Hensel nennt das „Perspektivlosigkeit“, ist aber gleichzeitig ehrlich genug, einen gewissen Neid zuzugeben. Denn es kann auch sinnstiftend und beruhigend sein, sich als Teil einer Gruppe fühlen zu können. Heute will man das natürlich nicht mehr. Jeder ist sich selbst der nächste. Das Denken kreist nur um das eigene Individuum. Die Frage darf gestattet sein, ob man das, was auch zur Zersplitterung der Gesellschaft beiträgt, nun Fortschritt nennen soll.

Die beiden Mütter-Kapitel bieten den meisten Mehrwert in einem Buch, das ansonsten eher zufällig wirkt. Vielleicht war das auch den Autorinnen klar und sie haben die beiden Essays deshalb in der Mitte des schmalen Bandes platziert. In der Elterngeneration bietet sich die Möglichkeit, eine Rückschau zu halten – eine Sache, die die Analyse ungemein erleichtert. Im Rest des Buches finden sich dagegen kaum Erkenntnisse, die irgendeine Art von Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen könnten.

Das heißt jedoch nicht, dass die Autorinnen sich jeglicher Wertung enthielten. Ganz im Gegenteil! Raether bevorzugt die Innenansicht. Auf geradezu intime Weise nimmt sie den Leser an die Hand und erkundet mit ihm ihre eigene Seelenlandschaft. Geht eine Affäre in die Brüche, so spürt sie den Gründen nach, und der Leser begleitet sie Stück für Stück, wenn ihr Muster in ihrem Verhalten bewusst werden. Jana Hensel ist da anders. Die Gründe für ihr Scheitern (in einer Beziehung, am Arbeitsplatz) sucht sie nicht in erster Linie in sich selbst, sondern in anderen. Und natürlich wird sie fündig. Mal sind es die bösen tradierten Männerstrukturen in einer Berliner Redaktion, dann die reaktionären Familienvorstellungen anderer Leute. Immer jedoch überanalysiert Hensel ihre Deutungsmuster und überreizt sie dadurch.

Was bleibt von „Neue deutsche Mädchen“? Nicht viel, leider. Hensel und Raether haben ein wirklich lesenswertes, ja sogar kurzweiliges Buch über ihr eigenes Leben geschrieben, das sich kaum auf eine ganze Generation verallgemeinern lässt. Sie verweigern sich jeglicher Theorie und konfrontieren den Leser mit ihren persönlichen Geschichten, um ihn dann mit der eventuellen „Deutung“ allein zu lassen. Wie Jana Hensel im Essay „Über eine ostdeutsche Herkunft“ festgestellt hat, geht es nur um das Individuum. Auch „Neue Deutsche Mädchen“ kreist nur um diesen Götzen, und so stellt sich beim Leser leider Leere ein, wo er wohl Erkenntnis erwartet hatte.

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Katie MacAlister – Blind Date mit einem Vampir

Joy und ihre beste Freundin Roxy sind jung, hübsch und – leider – ledig. Nun ja, so ganz ledig ist Joy, die Heldin in Katie MacAlisters Romanze „Blind Date mit einem Vampir“, doch nicht. Es gibt da Bradley, der offensichtlich genauso langweilig ist wie sein Name klingt und von dem sich Joy ständig trennt, nur um ihn dann doch wieder in ihr Bett zu lassen. Roxy dagegen ist überzeugte Jungfrau und wartet auf den Richtigen. Der könnte nun aber langsam vorbeikommen, findet sie, und deswegen haben sich Joy und Roxy mit ihrer Freundin Miranda verabredet. Diese ist Hexe und hat den beiden versprochen, ihnen männertechnisch die Zukunft vorherzusagen. Glücklicherweise hat Miranda nur Gutes zu berichten: Sowohl Joy als auch Roxy werden demnächst den Mann ihres Lebens kennenlernen – und zwar während ihres Urlaubs in Tschechien.

Katie MacAlister – Blind Date mit einem Vampir weiterlesen

Craw, Bernard – Sanguis B. – Vampire erobern Köln

Thomas ist kein Held, aber als Weichei kann man ihn auch nicht bezeichnen. Er selbst sieht sich wahrscheinlich als einen jungen Mann mit Träumen, die aber ständig an der Realität scheitern. Und irgendwie kann er nie die Energie und den Mut aufbringen, diese Träume mit wirklichem Einsatz zu verfolgen. Also studiert er Alte Geschichte „ohne sichtbaren Fortschritt“ und hätte gern was mit Doro – aber auch dort kommt er nicht voran, schon weil Doro mit Wilhelm zusammen ist. Der studiert BWL, was ihn zu einem echten Langweiler, aber eben auch zu einer guten Partie macht.

Thomas wird nicht mehr viel Zeit haben, sich über solche Nichtigkeiten den Kopf zu zerbrechen. Denn schon am Anfang von Bernard Craws Roman „Sanguis B. Vampire erobern Köln“ wird er von Doro angefallen und getötet, nur um eine halbe Stunde später als Vampir wieder aufzuerstehen. Doro hat sich vor Thomas schon an ihrer besten Freundin und an Wilhelm vergriffen. Die beiden verspürten allerdings nicht den Drang, sich als Untote zu erheben, und so sind Doro und Thomas erstmal auf sich allein gestellt in dem Versuch, ihren neuen Zustand zu verstehen.

Der furchtbare Hunger nach Blut und die Aversion gegen Sonnenlicht lassen die beiden schnell erkennen, dass sie zu Vampiren geworden sind; doch das Wie und Warum bleibt ihnen verborgen. Wie zwei Neugeborene müssen sie sich in einer plötzlich veränderten Welt zurechtfinden. Sie beschließen, Doros Wohnung zu verlassen und Thomas‘ Freundin Epi um Hilfe zu bitten. Die studiert nämlich Medizin und kann vielleicht herausfinden, was es mit der Veränderung auf sich hat.

Bernard Craw macht seine Vampire jedoch äußerst aggressiv. Kommen sie einmal in die Nähe von Menschen, können sie in der Regel nicht an sich halten. Es ist ihnen unmöglich, ihren Hunger zu kontrollieren, und so ergeben sie sich schließlich dem Blutrausch. Daher sind bald nicht nur Epi und deren Bruder Christoph vampirisiert, sondern auch immer größere Teile der Kölner Bevölkerung. Ähnlich sieht es in anderen Großstädten aus: Der Vampirismus greift seuchenartig um sich und droht, bald die gesamte Menschheit auszulöschen.

Die verbleibenden Menschen brauchen eine Weile, um eine Verteidigung aufzubauen, doch auch die Vampire sind nicht untätig. Bald bilden sich in ihren Reihen erste Machtzentren, die mit Strategie und Reißzähnen die Militärschläge der Menschen abzuwehren wissen und gleichzeitig eine neue Gesellschaftsordnung aufbauen wollen. Doch das entscheidende Problem ist: So rasend, wie sich die Seuche ausbreitet, wird die Menschheit in wenigen Monaten ausgerottet sein. Und wovon sollen sich die Vampire dann ernähren?

„Sanguis B.“ ist ein Roman, der viele Geschichten erzählt und trotzdem eine geradlinige Handlung bietet, die niemals überfrachtet wirkt. Bernard Craw nähert sich dem Thema Vampirismus zunächst von der medizinischen Seite. Ähnlich wie Richard Matheson in [„Ich bin Legende“, 4639 erklärt er den Vampirismus zu einer rasch um sich greifenden Seuche, der die Menschen nichts entgegenhalten können. Die Infizierten sind Opfer, die zwangsläufig selbst zu Tätern werden. Epi wird herausfinden, dass es sich bei der Vampirseuche um ein Bakterium handelt, und sie wird erkennen, warum manche Menschen angesteckt werden und manche sterben. Schlussendlich macht sie sich sogar an die Entwicklung eines künstlichen Blutersatzstoffes, um die Menschheit vor weiteren Morden zu bewahren und den Vampiren eine Überlebenschance zu geben. Doch auch sie muss vor so manchem Mysterium kapitulieren: Warum vertragen Vampire kein Sonnenlicht? Warum fallen sie tagsüber ins Koma?

Im Gegensatz zu Matheson entscheidet sich Craw allerdings dafür, aus der Innenansicht der Vampire zu erzählen, was den Plot ungemein reizvoll macht. Der Blutdurst zwingt die Vampire zu unmenschlichen Morden, und doch verlieren sie nur zum Teil (oder gar nicht) ihre menschlichen Skrupel und Moralvorstellungen. Was macht das mit einem Menschen, wenn er plötzlich schuldlos zu einem Mörder wird / werden muss? Wie schafft man es, nach einer solchen Katastrophe seine eigene und die umgebende Welt neu zu ordnen? Das sind Fragen, die Thomas und seine Freunde immer wieder beschäftigen. Eine grundlegende Antwort können sie jedoch nicht finden, und schließlich überrollen die Ereignisse jegliche Moraldiskussion und es geht für beide Seiten nur noch ums nackte Überleben. So kommt es dann auch, dass sich ein Vampir irgendwann die Frage stellt: Was würde Jesus machen, wenn er Vampir wäre? Die Frage bleibt unbeantwortet, setzt sich aber im Gedächtnis des Lesers fest. Im Kontext des Romans ist es die ultimative Frage, wie Schuld, Moral und persönliche Verantwortung im Angesicht so drastisch veränderter Lebensbedingungen zu verteilen sind, die immer wieder auf die ein oder andere Art auftaucht und an der die Charaktere jedes Mal aufs Neue scheitern.

Craw ist ein sehr wandelbarer Erzähler mit genauer Beobachtungsgabe und viel Wissen über sein Thema. Sein Köln ist greifbar und realistisch und seine Personage lebendig und vielschichtig. Jeder seiner Charaktere ist beispielhaft für ein Handlungsmodell angesichts der Katastrophe, und so hätte es leicht passieren können, dass die Protagonisten kaum mehr sind als Schablonen oder hölzerne Spielfiguren auf Craws Schachbrett. Glücklicherweise tappt der Autor nicht in diese Falle; stattdessen schafft er es, den Leser über vierhundert Seiten bei Laune zu halten. Soll er nun Mitleid mit den Infizierten haben? Sie haben sich ihr Schicksal nicht ausgesucht. Doch andererseits: Müsste es nicht eine andere Möglichkeit geben, als Kinder nachts aus ihren Betten zu reißen, um sie in einem Blutbad leerzutrinken? Craw gibt diese Frage an den Leser weiter und fordert ihn auf, eine gültige Antwort zu finden.

Für alle Fans des Genres wurden zahlreiche Anspielungen und Querverweise in die Handlung eingebaut. Craw bedient sich bei bekannten Vampirmythen und tradierten literarischen Vorstellungen. Nur ein Beispiel dafür ist die Vampirin Camilla (warum eigentlich nicht [Carmilla?), 993 die beschlossen hat, dass man als Vampir in blumiger Sprache Verantwortung für seine „höhere Geburt“ übernehmen muss. Ganz klar eine Anspielung auf all die romantischen Vampire, die im Kielwasser von Anne Rice den Buchmarkt überrollt haben.

Bernard Craw hat einen wirklich klugen Vampirroman geschrieben, ohne diese Tatsache auf jeder Seite plakativ zur Schau zu stellen. Ja, „Sanguis B.“ lädt durchaus zu weiterem Nachdenken ein und macht es sich zur Aufgabe, das Prinzip Vampirismus ständig auf die ein oder andere Art und Weise zu hinterfragen. Doch darüber vergisst Craw auch nicht, seinen Lesern eine Handlung zu bieten. Es geht zur Sache in dem Roman – Action, Folter, Flammenwerfer, zerrissene Körper und herumliegende Leichen gibt es in rauen Mengen. Craw ist sich nicht zu schade, auch jene Leser zu bedienen, die auf etwas härtere Kost stehen. Und so kann „Sanguis B.“ vieles auf einmal und alles davon gut. Beeindruckend!

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Atwater-Rhodes, Amelia – Vampirjägerin, Die

Turquoise ist Mitglied einer Organisation von Auftragskillern, die sich auf das Übernatürliche spezialisiert hat. Der Einfachheit halber gibt es in den Räumen dieser Organisation ein schwarzes Brett, an dem ganz praktisch ausgehängt ist, welches schlimme Übel gerade zur Strecke gebracht werden muss. Turqouise hat jedoch zunächst andere Sorgen, denn mit Ravyn kämpft sie – buchstäblich bis aufs Blut – um den Führungsposten bei Bruja, so der Name des elitären Grüppchens. Die beiden sind allerdings relativ gleichstark, sodass der Kampf ergebnislos auf einen späteren Zeitpunkt verschoben wird.

Turquoise und Ravyn können sich zwar nicht ausstehen, doch als sie Bruja verlassen, bekommen sie beide denselben Job angeboten: In Midnight einzudringen und die Vampirin Jeshickah zu töten. Da der Auftraggeber bei Erfüllung des Jobs ein nettes Sümmchen in Aussicht stellt, beschließen Turquoise und Ravyn, sich als Sklavinnen nach Midnight verkaufen zu lassen, um dort an ihr Zielobjekt zu kommen.

Midnight ist der Traum eines jeden Vampirs: Ein hübsches Anwesen, geschmackvoll eingerichtet und mit reichlich menschlichen Snacks zu jeder Tages- und Nachtzeit bestückt. Einmal dort angekommen, müssen Turquoise und Ravyn jedoch feststellen, dass ein paar Überraschungen aus der Vergangenheit dort auf sie warten. Turquoise trifft dort Daryl wieder, den Vampir, der einst ihre Familie tötete und sie als Sklavin verkaufte. Von Rachegedanken besessen, vergisst sie allerdings ihren eigentlichen Auftrag.

Amelia Atwater-Rhodes ist eine junge amerikanische Autorin (Jahrgang 1984), die mit dreizehn Jahren ihren ersten Roman schrieb und seither stetig Jugendbücher für Leser veröffentlicht, die sich für Dark Fantasy begeistern können. „Die Vampirjägerin“ ist nach „In den Wäldern tiefer Nacht“ (2000) und „Die Nacht der Dämonen“ (2002) Atwater-Rhodes‘ dritter auf deutsch erschienener Roman. Es fällt schwer, nicht der Versuchung zu erliegen und das zarte Alter der Autorin zu thematisieren – schließlich war sie bei der Erstveröffentlichung von „Die Vampirjägerin“ erst achtzehn Jahre alt. Sicher ist es zu bewundern, wenn jemand schon in so jungen Jahren vom Erzählfieber gepackt ist und Geschichten zu Papier bringt. Doch sollte eine Geschichte nicht nach dem Alter des Autors bewertet werden, sondern von sich aus überzeugen. Und das schafft „Die Vampirjägerin“ leider nicht. Atwater-Rhodes hat zwar durchaus Fantasie (das beweist nicht zuletzt ihr bereits sehr umfangreiches Œuvre), nur hapert es an der Übersetzung ihrer Ideen in wirklich lesenswerte Prosa. Dieses Problem jedoch lässt sich wohl nur durch Übung und Reife überwinden.

Schon den Inhalt von „Die Vampirjägerin“ zusammenzufassen, ist keine leichte Aufgabe. Denn eigentlich beginnt Atwater-Rhodes mit einer Geschichte – nämlich dem Auftrag, Jeshickah zu töten -, um dann nach der Hälfte des Romans eine Kehrtwende zu machen und eine zweite Geschichte zu erzählen. Plötzlich geht es nämlich um Turquoises persönliche Vendetta an Daryl. Dieser hatte, das erfährt der Leser nur aus sporadisch gesähten Rückblenden, Turquoises Familie ermordet. Turquoise selbst, die damals noch Cathy hieß, wurde zu seiner Sklavin und konnte sich erst viel später aus seinen Fängen befreien, um daraufhin zur Vampirjägerin zu werden.

Daryls Eingreifen in Cathys behütetes Familienleben ist also der Knackpunkt in Turquoises Psyche. Aus diesem Grund ist sie Vampirjägerin geworden und hat sich sozusagen aus der „normalen“ Gesellschaft ausgeklinkt. Mehr und mehr spürt sie nun aber die Einsamkeit, die das mit sich bringt. Als sie einen ehemaligen Schulfreund trifft, wird ihr klar, wie wenig die heutige Turquoise noch mit der kleinen Cathy gemein hat. Das alles erinnert ganz stark an ein Dilemma, das eine viel bekanntere Vampirjägerin auch schon hatte. Auch Joss Whedons |Buffy| musste immer wieder feststellen, dass nur eins geht: Vampire jagen oder Cheerleader sein. Doch im Gegensatz zu Buffy glaubt Turquoise, die Lösung für das Problem gefunden zu haben. Wenn sie schon nicht mehr in die menschliche Welt passt, kann sie sich doch den Untoten anschließen! Und prompt offeriert ihr auch ein Vampir das ewige Leben. Na, wenn das keine Alternative ist! Da muss man sich schon fragen, aus welchem Grund Turquoise eigentlich Vampire jagt, wenn sie so wenig Skrupel hat, selbst einer zu werden.

Dieses Beispiel legt den Finger an die Wunde: Atwater-Rhodes‘ Charaktere sind blass, oberflächlich und schablonenhaft. Dabei ist Turquoise als Protagonistin noch die Figur, auf die Atwater-Rhodes die meiste Zeit verwendet. Aber auch ihre Geschichte mag den Leser kaum zu berühren, wird das ganze Ausmaß von Turquoises Vergangenheit doch immer nur schüchtern angedeutet, aber nie wirklich ausgeleuchtet. Selbst dieses zweifelhafte Glück bleibt den anderen Figuren, und sie sind durchaus zahlreich, im Roman verwehrt. Ravyn ist als Charakter vollkommen entbehrlich. Die Obervampirin Jeshickah hat kaum mehr als zwei Szenen und auch der Vampir Jaguar, auf den Turquoise natürlich sofort nach ihrem Eintreffen in Midnight ein Auge wirft, ist nichts weiter als ein untoter Posterboy – gutaussehend, aber ansonsten ohne Tiefe.

Am sympathischsten hätte da noch Nathaniel werden können. Er ist für Turquoise offensichtlich so etwas wie der Vampir für alle Notlagen. Er war derjenige, der sie damals aus Daryls Fängen befreit hat und auch jetzt hilft er ihr wieder aus etlichen Gefahrensituationen. Turquoise dagegen hat nichts als Verachtung für Nathaniel übrig. Für sie ist er nur ein Sklavenhändler, der nichts umsonst macht. Nur fragt sich der Leser, wo Turquoise diese tiefgreifende Erkenntnis her hat. Der Text jedenfalls stützt sie nicht. Immer, wenn Nathaniel auftaucht, handelt er aus Freundschaft und Loyalität. Womit Turquoise diese jedoch verdient haben mag, wird nicht geklärt.

Nicht nur ihre Charaktere behandelt Atwater-Rhodes stiefmütterlich. Ihr ganzer Plot hat unter diesem Defizit zu leiden. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Handlung in einem Vakuum spielt, so wenig gibt sich Atwater-Rhodes mit Exposition und Beschreibung ab. Viele Fragen werden viel zu spät oder gar nicht geklärt: Wie alt ist Turquoise? Was ist diese Bruja-Organisation und wie ist sie aufgebaut? Leben Vampire offen als Teil der menschlichen Gesellschaft? Hat Turquoise noch einen normalen Job? Hat sie überhaupt irgendwelche normalen Sozialkontakte (Freundschaften)? Und vor allem: Wozu brauchen Vampire Sklaven? Atwater-Rhodes versäumt es, diese zentrale Frage hinreichend zu klären. Zwar schreibt sie einen Roman über menschliche Sklaven in einer vampirischen Parallelgesellschaft, doch gleichzeitig schreckt sie davor zurück, was das in seiner Konsequenz wohl bedeuten mag. Da rächt sich dann auch, dass es sich bei „Die Vampirjägerin“ so offensichtlich um ein Jugendbuch handelt. Sie lässt zwei Dutzend Sklaven in Midnight wohnen, gibt ihnen aber nichts zu tun. Dass einen Vampir in der Regel nur drei Dinge interessieren – nämlich Blut, Gewalt und Sex – kann sie wohl kaum so drastisch sagen. Daher zieht sie es vor, ihre Sklaven in einer Grauzone agieren zu lassen, die nicht weiter hinterfragt wird.

Vielleicht sollte man für den Roman eine Empfehlung nach dem Motto „eine einfache Geschichte für junge Leser“ aussprechen. Doch haben auch Jugendliche gute und überzeugende Geschichten verdient. „Die Vampirjägerin“ ist höchstens eine knappe Vorlage, die dem jugendlichen Leser eine Fläche bietet, um seine eigene Fantasie spielen zu lassen und die Handlung weiterzuspinnen. Die schablonenhaften Charaktere eignen sich dafür jedenfalls hervorragend. Über den Roman als solchen lässt sich leider nur sagen: ausgelesen und sofort wieder vergessen.

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Harris, Charlaine – Ball der Vampire

Wenn man einmal in die Welt von Sookie Stackhouse, der gedankenlesenden Kellnerin aus dem südamerikanischen Bon Temps, eingetaucht ist, dann will man nicht so schnell in die reale Welt zurückkehren. Denn auch wenn Sookie mit ganz alltäglichen Problemen zu kämpfen hat (sie braucht eine neue Einbauküche, außerdem ist sie wie immer knapp bei Kasse und überhaupt hat sie Männerprobleme zuhauf), so ist ihre Welt doch einfach viel spannender und bunter als die, in der wir uns tagtäglich bewegen. In Sookies Umkreis tummeln sich nämlich Vampire, Gestaltwandler, Elfen und Hexen und das macht das Leben in einer provinziellen Kleinstadt doch gleich viel interessanter – wenn auch gefährlicher.

Sookie kann ein Lied davon singen. Seit der Vampir Bill in ihr Leben getreten ist, kommt sie kaum noch zur Ruhe. Erst schlüpft sie mit Bill unter die Laken, dann mit dessen Vampirvorgesetztem Eric. Als nächstes nimmt sie sich den Werwolf Alcide vor und zwischendurch muss sie ständig zusehen, dass sie nicht zusammengeschlagen, erschossen, ausgeblutet oder ihr das Dach über dem Kopf angezündet wird. Entspannend ist das sicherlich nicht!

Und so hat Sookie zu Beginn von „Ball der Vampire“, des sechsten Bands der Serie von Charlaine Harris, die Nase mal wieder gestrichen voll. Ihre große Liebe Bill hat eine neue Flamme, die er zu allem Überfluss ständig ins |Merlotte’s| schleppt und damit Sookie unter die Nase hält, was diese natürlich wenig erbaulich findet. Eric, der mittlerweile weiß, was während seines Gedächtnisverlusts zwischen ihm und Sookie passiert ist, scheint peinlich berührt ob der ganzen Geschichte und geht Sookie aus dem Weg. Und die Familie von Alcides Ex-Verlobter drängt Sookie ständig, ihnen doch zu erzählen, was mit Debbie Pelt passiert ist. Doch das wird Sookie sicherlich nicht ausplaudern wollen, schließlich ist Debbie tot und Sookie daran nicht ganz unschuldig.

Und so plätschert Sookies Leben zunächst relativ unspektakulär dahin. Um den Alltagstrott mal hinter ihr zu lassen, verabredet sie sich mit dem Wertiger Quinn, der sich als echt netter Kerl herausstellt. Durch ihre „Begabung“ schafft sie es, einen vermissten Jungen aufzufinden, bevor dieser an seiner Kopfverletzung sterben muss. Sie wartet sehnsüchtig darauf, dass ihre neue Küche eingebaut wird und sonnt sich im Garten. Und sie schafft es, Eric eine Abfuhr zu erteilen, als dieser sie in seinem Gefolge auf eine Vampirkonferenz schleppen will.

Doch dann muss Sookie nach New Orleans, um die Wohnung ihrer Cousine Hadley aufzulösen, die ihrerseits die Geliebte der frisch verheirateten Vampirkönigin von Louisiana war. Damit gehen Sookies Probleme dann los. Im Schlafzimmerschrank findet sich eine Leiche, Hadleys Vermieterin ist eine Hexe mit sonnigem Gemüt und die Königin Sophie-Anne lädt Sookie auf einen Vampirball ein. Klar, dass das nur in einer Katastrophe enden kann!

„Ball der Vampire“ geht sich gemächlicher an als die vorigen Bände der Reihe. Während der ersten einhundert Seiten ist der Roman praktisch handlungsfrei und Sookies Leben mäandert ziemlich richtungslos umher. Gerade als man anfängt, sich zu fragen, wann der Roman nun endlich an Fahrt gewinnt, passieren etliche Dinge auf einmal und die Handlung zersplittert in unzählige verschiedene Richtungen wie eine Streubombe. Man fragt sich zwangsläufig, wo Charlaine Harris nun eigentlich hin will. Da ist die Episode mit dem verschwundenen Kind, das Sookie wieder auffindet, und später die Fehlgeburt von Jasons Freundin Crystal. Beide Handlungsstränge, denen durchaus viel Raum eingeräumt wird, führen innerhalb des Romans nirgendwo hin, und man fragt sich verwirrt, welchen Sinn sie erfüllen sollen. Die Haupthandlung jedenfalls, Sookies Reise nach New Orleans, beginnt erst, als schon ein Drittel des Romans vorüber ist.

Da wird es dann aber auch endlich wieder gewohnt spannend. New Orleans durch Sookies (bzw. Harris‘) Augen zu sehen, ist ein sehr plastisches Erlebnis, und schon die reine Tatsache, dass die Handlung den gewohnten Boden von Bon Temps verlässt, gibt dem Plot ein gewisses Flair von Abenteuer. Die Charaktere, auf die Sookie dann in New Orleans trifft, sind echte Unikate. Da wäre zum Beispiel Amelia, die Hexe, die Hadley ihr Apartment vermietet hat. Sie ist ein bisschen naiv und leichtgläubig, aber trotzdem unglaublich liebenswert, charmant und hilfsbereit. Und auch die Vampirkönigin selbst ist eine geheimnisvolle und beeindruckende Persönlichkeit, die weniger furchteinflößend als ehrfurchtgebietend wirkt.

Hier erlaubt sich Harris dann auch einen kleinen Scherz, denn sie bedient sich großzügig des Plots von Dumas‘ „Die drei Musketiere“, wenn es um den Vampirball geht. Ähnlich wie bei Dumas muss die Königin hier nämlich unbedingt ein Armband tragen, das ihr Gemahl ihr zum Geschenk gemacht hat. Doch das Armband hatte Hadley, und da diese nun tot ist, weiß niemand, wo es sich befindet. Eine verzweifelte Suche beginnt, denn wenn Sophie-Anne ohne das Armband auf dem Ball erscheinen sollte, würde ihr Mann dies zum Anlass für einen Krieg unter der Vampiren nehmen. Und natürlich wird gerade die arme Sookie eingespannt, um die Situation zu retten.

Auch in „Ball der Vampire“ hat Sookie natürlich wieder einen Verehrer. Diesmal handelt es sich um den Wertiger Quinn, den sie beim Kampf um die Werwolfnachfolge kennengelernt hatte. Quinn scheint wirklich an Sookie interessiert, und auch diese ist alles andere als abgeneigt, denn Quinn ist nicht nur gutaussehend, sondern auch noch ein echter Charmeur. Quinn soll sie über ihre eher tragischen Liebesbeziehungen hinwegtrösten, denn Sookie hat offensichtlich ihre bisherigen Männergeschichten noch nicht ganz verwunden, denn besonders die Trennung von Bill – ihrer ersten großen Liebe – schmerzt sie noch immer. Und in New Orleans wird sie einiges über Bill erfahren, das die Wunde, die er ihr geschlagen hat, nur noch vergrößern wird.

Es lässt sich nicht leugnen, dass „Ball der Vampire“ anfangs etwas schwächelt und die Handlung nur schleppend in Gang kommt. Doch wenn sie dann endlich Fahrt aufnimmt, findet Harris schnell ihre alte Form wieder und lässt Sookie gefährliche Abenteuer und romantische Dates mit nicht ganz menschlichen Männern erleben. Wie immer besticht hier vor allem die perfekte Mischung aus Action, Mystery, Romantik und einem guten Schuss Humor. Harris nimmt ihre Welt nie allzu ernst, und so wird es dem Leser leichtgemacht, sich in ein leichtfüßiges Leseabenteuer zu stürzen, das – wie immer – viel zu schnell vorbei ist.

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_Charlaine Harris auf |Buchwurm.info|:_

|Sookie Stackhouse|

1. „Dead Until Dark“ ([„Vorübergehend tot“, 788 2006, ISBN 3937255141
2. „Living Dead in Dallas“ ([„Untot in Dallas“, 939 2006, ISBN 393725515X)
3. „Club Dead“ ([„Club Dead“, 1238 2005, ISBN 3937255168)
4. Dead to the World ([„Der Vampir, der mich liebte“, 2033 2005, ISBN 3423244747)
5. „Dead as a Doornail“ ([„Vampire bevorzugt“, 3157 2006 ISBN 342324545X)
6. „Definitely Dead“ („Ball der Vampire“, 2007 ISBN 3423209879)
7. „All Together Dead“ („Vampire schlafen fest“, 2008)
8. „From Dead to Worse“

|Harper Connelly|
1. „Grave Sight“ ([„Grabesstimmen“, 4704 2008 ISBN 978-3-423-21051-5)
2. „Grave Surprise“
3. „An Ice Cold Grave“

Wellington, David – letzte Vampir, Der

Special Deputy Jameson Arkeley – und auf den |Special Deputy| legt Arkeley genauso viel Wert wie Captain Jack Sparrow auf den |Captain| – ist ein ganz harter Knochen. 1983 schaffte er es, ein ganzes Vampirnest zu vernichten, wenn man einmal von der Vampirin Justinia Malvern absieht, deren verknöcherter untoter Körper einfach nicht recht brennen wollte und die nun, der amerikanischen Justiz unterstellt, in einem leerstehenden Sanatorium als Versuchsobjekt herhalten muss. Diese eine erfolgreiche Vampirjagd ist der Knackpunkt in Arkeleys Karriere. Nicht nur macht sie ihn plötzlich zum einzigen erfolgreichen Vampirjäger der Vereinigten Staaten; sie ist auch der Beginn seines fanatischen Hasses auf die Blutsauger. Dass Malvern ihm durch die Finger geglitten ist, kann Arkeley nicht verwinden. Er will sie unbedingt tot sehen, genauso wie jeden anderen Vampir.

Zwanzig Jahre später wittert Arkeley endlich seine Chance. Bei einer Polizeikontrolle im verschlafenen Pennsylvania stößt State Trooper Laura Caxton auf einen Wagen mit drei Leichen. Schnell wird klar, dass es sich um Vampiropfer handelt. Die eingeschalteten Behörden schicken Arkeley zur Unterstützung, und der kann nicht anders als Malvern hinter den neuen Vampiraktivitäten zu vermuten.

Zusammen mit der in Vampirfragen völlig unbeleckten Caxton macht sich Arkeley also auf, den neuen Vampiren das Handwerk zu legen; eine Angelegenheit, die sich als schwieriger erweist, als man zunächst annehmen würde. Wellingtons Vampire kommen als ziemlich unbesiegbare Kampfgeschosse daher, und so haben Arkeley und Caxton ihre liebe Müh, die neue Vampirplage einzudämmen und die menschlichen Opfer in übersichtlichen Zahlen zu halten. Bis es zum endgültigen Showdown im stillgelegten Sanatorium kommen kann, ist auf beiden Seiten reichlich Blut geflossen und eine stolze Zahl von Nebencharakteren hat ihr Leben ausgehaucht.

Wenn Verlage ihre Publikationen mit Superlativen schmücken, ist in der Regel Vorsicht geboten. |Piper| bezeichnet David Wellingtons „Der letzte Vampir“ ganz unbescheiden als den „kompromisslosesten und wichtigsten Vampirroman des modernen Horrors“ und spricht dann im Klappentext auch noch vom „definitiven Vampir-Epos“. Damit stellt sich |Piper| leider selbst ein Bein, denn bei den unzähligen Veröffentlichungen zum Thema Vampire müsste Wellington schon arg von der Muse geküsst worden sein, um derartige Lobeshymnen zu verdienen. Tatsächlich hat er einen grundsoliden Actionreißer geschrieben, jedoch keinen „wichtigen Vampirroman“ und schon gar kein „Vampir-Epos“.

Bei Wellington geht es richtig zur Sache, und das macht er seinem Leser gleich auf den ersten Seiten klar. Schon die Beschreibung von Arkeleys erster Vampirjagd gibt den Kurs für die folgenden vierhundert Seiten vor. Da wird geschossen und verfolgt und gestorben, und schlussendlich kotzt der böse Vampir seine komatösen Vampirgefährten mit halbverdautem Blut voll, um sie wiederzubeleben. Das alles schildert Wellington mit echter Hingabe, und wer seine Begeisterung für das Eklige und Brutale nicht teilt, der wird sich mit „Der letzte Vampir“ wohl schwertun.

In den relativ kurzen Kapiteln reiht sich eine halsbrecherische Actionsequenz an die nächste, und Wellington gönnt seinen beiden Protagonisten kaum eine Verschnaufpause. Trotzdem schafft er es, die beiden durchaus plastisch zu schildern. Arkeley sieht mit seinen versteiften Wirbeln so aus, als hätte er buchstäblich einen Stock verschluckt – und so benimmt er sich auch. Außer seiner Rache an Malvern zählt für ihn nichts im Leben, selbst seine Ehe und sein Sohn sind für ihn nichts weiter als eine Art, die Zeit zwischen den Vampirjagden zu füllen. Arkeley ist ein Einzelgänger, und das lässt er seine neue Partnerin gern spüren. Doch Caxton ist zu sehr damit beschäftigt, sich vor den herumfliegenden Kugeln zu ducken, um Arkeley wirklich lange böse zu sein.

Überhaupt, Caxton. Wellington schreibt aus ihrer Perspektive, der Leser erkundet also mit ihr diese neue und ungewohnte Welt der Vampire. Sie hält sich ganz gut, schaut bei den übel zugerichteten Leichen immer hin und stellt sich auch bei der Jagd auf den Vampir Congreve nicht dumm. Im Gegensatz zu Arkeley hat sie auch so etwas wie ein Privatleben – eine Freundin, eine Meute Hunde und ein Haus. Deanne, Caxtons Liebste, ist der Schwachpunkt des Romans. Sie ist nie mehr als ein Plot Device, ein Kunstgriff, um die Handlung in die richtigen Bahnen zu lenken, und ein so billiger Trick erscheint als ein hässlicher Fleck auf dem ansonsten durchaus logisch gewebten Handlungsteppich des Romans.

Aber natürlich sollte man auch ein paar Worte über Wellingtons Vampire verlieren, sie sind schließlich der Dreh- und Angelpunkt der Handlung. Sie sind triebgesteuerte Monstren: große, kahlköpfige Albinos mit spitzen Ohren und mehreren scharfen Zahnreihen. Sie nippen nicht etwa gepflegt an ihrem Opfer, sondern reißen es in Stücke, und wenn es ihnen beliebt, können sie die so Getöteten als Halbtote wieder auferstehen lassen: praktische Zombies, die niedere Arbeiten verrichten können. Seltsamerweise sind Wellingtons Vampire (und das wird nie wirklich thematisiert) eine evolutionäre Sackgasse. Im Gegensatz zum normalen literarischen Vampir, der mit zunehmendem Alter immer stärker wird und immer weniger Blut benötigt, sind die Vampire Wellingtons nie so stark wie in ihrer ersten Nacht und mit zunehmendem Alter brauchen sie immer größere Blutmengen. Sicher, das verstärkt die Gefahr für die Menschen, doch gleichzeitig sorgt es auch dafür, dass eine Vampirin wie Malvern (ca. 400 Jahre alt) nur noch aus lose zusammenhängendem Gewebe besteht. Sie kann nicht mehr laufen, kommuniziert nur noch über einen Laptop und ihr fehlt ein Auge. So möchte man sich die Ewigkeit nicht vorstellen …

Und zu allem Überfluss zerfallen Vampire tagsüber auch noch in eine Art Glibber. In diesem Urschleim aus Nägeln, herumschwimmenden Knochen und halbverflüssigten Eingeweiden muss der geneigte Jäger dann das Herz finden, denn nur so kann ein Vampir vernichtet werden. Bei Wellington klingt das dann so: |“Sie sah Reyes‘ Knochen, so wie sie Malverns Skelett gesehen hatte, aber während das Fleisch der Vampirin zu einem oder zwei Litern breiigem Matsch reduziert gewesen war, stand in Reyes‘ Sarg die zähflüssige Suppe bis zur Hälfte. Nun, bei ihm gab es ja auch viel mehr Fleisch zu verflüssigen als bei Malvern. Ein paar Knochen trieben an der Oberfläche; an den knorpeligen Vorsprüngen klebten ganze Madenkolonien. Der Schädel lag völlig untergetaucht auf dem Grund, starrte sie mit weit aufgeklapptem Unterkiefer an.“| (S. 263) Für solche Szenen lebt Wellington, gepflegter Grusel ist seine Sache nicht. Bei ihm geht es deftig zu und er liebt es, sich der Schmerzgrenze Satz für Satz zu nähern, um sie dann plötzlich zu überspringen.

Wellingtons Roman ist sicher nichts für zarte Gemüter. Wohlerzogene adlige Vampire mit schwarzen Capes wird der Leser hier nicht finden. Wer aber auf der Suche nach einem Actionspektakel mit zwei taffen Helden ist, wer Vampire mal etwas anders erleben will und das Abscheuliche und Groteske sucht, der sollte Wellingtons letzem Vampir eine Chance geben. Dass Wellingtons unverwüstliche Vampire ihre Leserschaft finden, beweist wohl die Tatsache, dass die Fortsetzung, „99 Coffins“, im Dezember 2007 in den USA erschienen ist.

http://www.piper-verlag.de
http://www.brokentype.com/davidwellington/

David Wellington schreibt seine Romane zunächst als Blogeinträge, um sie später als überarbeitete Fassung in Buchform zu veröffentlichen. Das heißt, alle seine Romane sind kostenlos (und völlig legal) im WWW zu finden. Die originale Rohfassung von „Der letzte Vampir“ kann man hier lesen: http://www.brokentype.com/thirteenbullets/.

Harris, Charlaine – Grabesstimmen (Harper Connelly 1)

_Harper Connelly_ ist eine ziemlich außergewöhnliche junge Frau, denn als junges Mädchen wurde sie vom Blitz getroffen. Sie überlebte nur mit Glück, kann seither jedoch die Anwesenheit von Toten spüren und deren letzte Minuten nachempfinden. Zusammen mit ihrem Bruder Tolliver hat sie diese Gabe zur Geschäftsidee entwickelt, und so tingeln die zwei durch die Vereinigten Staaten, um ihre Dienste feilzubieten.

Zu Beginn von Charlaine Harris‘ neuem Roman „Grabesstimmen“ verschlägt es Harper und Tolliver ins verschlafene Städtchen Sarne. Dort wurden sie von der einflussreichen Sybil Teague engagiert, um die Leiche der jungen Teenie zu finden. Diese war vor einiger Zeit zusammen mit ihrem Freund Dell, pikanterweise Sybils Sohn, verschwunden. Dells Überreste wurden gefunden, Teenies nicht – und so geht die Polizei davon aus, dass Dell Teenie ermordet hat, nur um sich danach selbst zu töten.

Tatsächlich findet Harper Teenies Leiche ohne Probleme, doch verkompliziert sich der Einsatz, als immer klarer wird, dass sowohl Teenie als auch Dell ermordet worden sind. Als dann ein weiterer Mord geschieht, finden sich Harper und Tolliver plötzlich in der sprichwörtlichen Schusslinie wieder und sehen sich also gezwungen, Licht in die ganze Geschichte zu bringen.

_Charlaine Harris‘ Romane_ haben leider reichlich spät die Reise über den großen Teich angetreten: Ihr erstes Buch veröffentlichte sie bereits 1981, doch erst 2004 wurde der erste Roman ihrer Serie um die Kellnerin Sookie Stackhouse ins Deutsche übersetzt. Es scheint so, dass ihre unterhaltsame Mischung als Mystery, Krimi und Humor, gewürzt mit einer ordentlichen Prise Erotik, auch hierzulande eine treue Fangemeinde gefunden hat. Zumindest legt der Entschluss ihres Verlages |dtv| (zuvor bei |Feder & Schwert|), eine weitere ihrer Romanserien zu herauszubringen, diesen Schluss nahe. Und auch „Grabesstimmen“ wird zweifellos eine wohlwollende Leserschaft finden, denn Harris schafft es, sich selbst treu zu bleiben, ohne sich zu wiederholen. So kann man die Autorin der Sookie-Bücher problemlos in „Grabesstimmen“ wiedererkennen, und doch hat sie keinen billigen Abklatsch ihrer Vampirserie geschrieben.

Das Verhältnis Mystery/Krimi ist hier im Gegensatz zu den Sookie-Romanen spiegelverkehrt. Abgesehen von der Tatsache, dass Harper Leichen aufspüren und auf geheimnisvolle Weise deren letzte Momente nachempfinden kann, bleibt Harris konsequent in der „realen Welt“. Harpers Fähigkeit ist nur etwas mehr als der übliche Spleen eines jeden Detektivs – der eine züchtet Rosen und der nächste raucht Schaumpfeife. Heutzutage muss man sich also Autor schließlich schon etwas Besonderes für seinen Protagonisten ausdenken! „Grabesstimmen“ kommt also als straff durchkomponierter Krimi mit Mystery-Einschlag daher und bietet den Fans beider Genres genug, um sie durchgehend zu unterhalten.

Harris’ Spezialität ist die Beschreibung hinterwäldlerischer Südstaatennester, und auch in „Grabesstimmen“ hat sie mit Sarne wieder ein solch verqueres Stück Provinz beschrieben. Der Ort lebt im Sommer von Touristen, und die Einwohner sind sich nicht zu schade, sich in rüschige Kostüme zu werfen und in Touristenfallen Kuchen und sinnlose Souvenirs zu verkaufen. In den Wintermonaten werden die Bürgersteige jedoch hochgeklappt und Sarne präsentiert sich als das, was es in Wahrheit ist: ein ziemlich gottverlassenes Provinznest, bewohnt von Landeiern, die glauben, am Nabel der Welt zu leben. Und so wundert es kaum, dass die seltsame Harper zunächst auf Unverständnis, dann auf Ablehnung und schließlich auf offene Feindschaft stößt. Es fällt den Einwohnern leicht, sie als Außenseiterin zu brandmarken, und schlussendlich würden sie am liebsten ihr und ihrem Bruder die Mordserie in die Schuhe schieben. Wie auch schon in ihren Sookie-Romanen, legt Harris den Finger in die Wunde und zeigt Kleingeistigkeit und Provinzialität in all ihrer Härte.

Dabei kommt ihr auch ihre große Begabung zupass: überzeugende und lebensechte Charaktere zu erfinden. Das zeigt sich vor allem in Harper und Tolliver. Die beiden sind Halbgeschwister, deren Eltern sich ins Nirwana getrunken haben. Die harte Kindheit hat beide zusammengeschweißt, und diese ungewöhnliche Geschwisterliebe blitzt in jeder ihrer Szenen durch. Harris schafft es, ihre Beziehung glaubwürdig und trotzdem nicht kitschig wirken zu lassen. Der Leser erfährt einiges über Harpers und Tollivers Vergangenheit, und die Tatsache, dass diese Einschübe mitunter etwas gekünstelt und forciert wirken, ist das einzige Manko des Romans.

Harris‘ Begabung für Charakterstudien zeigt sich auch in diversen Nebenfiguren. Sie hat offensichtlich ein Faible dafür, nervtötende und (fast) überzeichnete Figuren zu erfinden, die nicht nur den Protagonisten, sondern auch dem Leser auf den Wecker fallen – unterhaltsam auf den Wecker fallen, wohlgemerkt. Einer dieser Charaktere ist die junge Mary Nell, ein Teenager im anstrengendsten Alter, die sich sofort unsterblich in Tolliver verliebt und gleichzeitig in Harper eine Konkurrentin um Tollivers Gunst sieht. Mary Nell biedert sich bei Tolliver an und fährt bei Harper die Krallen aus – ein Verhalten, das durchaus seine komischen Momente hat, auch wenn man Mary Nell hauptsächlich am Kragen packen und kräftig schütteln möchte.

_“Grabesstimmen“_ ist ein überaus kurzweiliger und spannender Krimi mit Mystery-Elementen und einem Protagonisten-Paar, das mit Charme, Witz und Charakterstärke schnell die Sympathien der Leser gewinnen wird. Dazu kommt ein Krimiplot um eine steigende Anzahl von Leichen, der sich zwar lange nicht mit den Größen des Genres messen kann, aber doch ein unterhaltsames Rätselspiel für zwei oder drei vergnügliche Leseabende bietet.

Eine Warnung am Schluss: Schwangere sollten sich von dem Roman unbedingt fernhalten. Harris hat für ihre Charaktere fast durchgehend Namen an der Schwelle der Erträglichkeit gewählt. Alle, die auf der Suche nach Babynamen sind, sollten also einen Bogen um „Grabesstimmen“ machen. Denn wer will schon sein Kind Harper, Tolliver, Teenie, Dell, Vernon oder Hollis nennen …

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|Sookie Stackhouse|

1. „Dead Until Dark“ ([„Vorübergehend tot“, 788 2006, ISBN 3937255141
2. „Living Dead in Dallas“ ([„Untot in Dallas“, 939 2006, ISBN 393725515X)
3. „Club Dead“ ([„Club Dead“, 1238 2005, ISBN 3937255168)
4. Dead to the World ([„Der Vampir, der mich liebte“, 2033 2005, ISBN 3423244747)
5. „Dead as a Doornail“ ([„Vampire bevorzugt“, 3157 2006 ISBN 342324545X)
6. „Definitely Dead“ („Ball der Vampire“, 2007 ISBN 3423209879)
7. „All Together Dead“ („Vampire schlafen fest“, 2008)
8. „From Dead to Worse“

Die Sookie-Stackhouse-Reihe wird momentan als TV-Serie unter dem Titel „True Blood“ von HBO verfilmt. Regie führt Alan Ball (Six Feet Under). Sookie Stackhouse wird von Anna Paquin („Das Piano“, ‚Rogue‘ in „X-Men“ 1-3) gespielt, Bill von Stephen Moyer („Land of the Blind“, „88 Minuten“).