_Der 12-jährige Tecumseh Sparrow Spivet_, von allen nur T.S. genannt, wohnt mit seiner Familie auf der Coppertop-Ranch in Divide, Montana. Sein Vater ist ein schweigsamer Cowboy durch und durch, seine Mutter eine Käferforscherin, die seit Jahren erfolglos nach dem Tigermönchskäfer forscht, den noch nie jemand gesehen hat. Seine Schwestern Gracie ist 16 Jahre alt und mitten in der Pubertät und sein Bruder Layton ist vor kurzem bei einem Gewehrunfall gestorben, für den sich T.S. die Schuld gibt.
Seit T.S. zeichnen kann, tut er kaum etwas anderes. Er fertigt von allem, was rund um ihn herum passiert, Karten, Diagramme und Zeichnungen an. Auch von seiner Schwester, wie sie Maiskolben schält und aussortiert. Er zeichnet Skizzen der Käfer seiner Mutter, und sogar die Art, wie sein Vater seinen Whiskey zu trinken pflegt, wird genauestens festgehalten. Ebenso kartographiert er das Land um sich herum. Seine Zeichnungen sind in farblich unterschiedlichen Notizbüchern ordentlich in seinem Zimmer untergebracht.
Seine Schaubilder werden schon in diversen wissenschaftlichen Zeitungen und sogar im Smithsonian Museum in Washington, DC, ausgestellt. Eines Tages bekommt er einen Anruf von Mr. G. H. Jibsen, dem Kurator für Illustration und Design am Smithsonian. Er teilt dem verdutzten T.S. mit, dass dieser, nach Empfehlung seines Mentors Terry Yorn, den begehrten Baid-Preis für die Illustration eines Bomberkäfers gewonnen hat. Er solle bitte in einer Woche dort erscheinen, eine Rede halten und den Preis entgegennehmen. Keiner dort am Smithsonian weiß um das Alter dieses Wunderkindes, denn er wird für einen erwachsenen Wissenschaftler gehalten.
Ohne es seiner Familie zu sagen, macht sich T.S. am nächsten Morgen, lediglich mit den wichtigsten Zeichensachen, seinen für ihn wichtigsten Geräten, etwas frischer Wäsche und einem gestohlenen Notizbuch seiner Mutter ausgestattet, auf die gut 2400 Kilometer lange Reise vom Westen in den Osten. Da er nicht sehr viel Geld besitzt, tritt er die Reise wie ein „Hobo“ an: Er will diese Strecke mit dem Güterzug bewältigen. In Divide besteigt er einen Güterzug, den er erst wieder in Chicago verlassen wird …
_Kritik_
Mit seinem Debüt-Roman „Die Karte meiner Träume“ hat Reif Larsen eine wunderbare Geschichte über das Wunderkind T.S. Spinet geschrieben. Aufgrund der leicht zu lesenden Sprache findet man sich schnell in die Geschichte ein und staunt dann über den großartigen Plot.
Die Geschichte spielt in der Gegenwart, auch wenn man anfangs fast das Gefühl hat, einen Roman zu lesen, der vielleicht Anfang des 20. Jahrhunderts spielt. Erst als |moderne| Wörter wie „iPod“ und „Computer“ fallen, merkt man, dass der Roman in der heutigen Zeit spielt.
Die Protagonisten sind allesamt überzeugend beschrieben. T.S. kann man nur mögen, so sympathisch ist dem Leser dieses Wunderkind. Seine Art, seine Geschichte zu erzählen, seine Familie zu beschreiben, die er trotz oder gerade wegen der Verrücktheit der einzelnen Mitglieder liebt, ist einzigartig. Die Art wie das Denken und Handeln der Hauptfigur beschrieben ist, ist beachtenswert.
Anfangs etwas gewöhnungsbedürftig erscheinen die Zeichnungen am Rand der Seiten. Mitten im Text führt ein Pfeil zu einer Skizze, die dann erklärt wird. Mit jeder weiteren Seite findet der Leser aber mehr und mehr in diese Eigenart hinein und ist schon fast enttäuscht, wenn da plötzlich mal eine Seite ohne diese liebevollen |Randbemerkungen| kommt. Diese machen „Die Karte meiner Träume“ zu etwas wirklich Besonderem.
_Fazit_
„Die Karte meiner Träume“ von Reif Larsen ist ein wunderbarer Roman, der den Leser spannend unterhält und auch zum Nachdenken anregt.
Ich kann diesen Roman ausdrücklich empfehlen – der Lesegenuss ist garantiert.
_Der Autor_
Reif Larsen wurde 1980 geboren und lebt in Brooklyn, New York. Er schreibt, dreht Dokumentarfilme und unterrichtet an der Columbia University. „Die Karte meiner Träume“ ist sein erster Roman, den er noch als Student schrieb und der nun in 30 Ländern erscheint.
|Gebundene Ausgabe: 435 Seiten
Originaltitel: The Selected Works of T.S. Spivet
Übersetzer: Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié
ISBN-13: 978-3100448118|
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Franziska ist etwa vierzig, als ihr mit einem Mal bewusst wird, was in den Schatten ihrer lieblosen Ehe lange gelauert hatte: So geht es nicht weiter. Du kannst nicht ewig und drei Tage darauf warten, dass dein Mann sich wieder für dich interessiert, nachdem ihr schon mehrere Jahre lang nebeneinanderher gelebt habt. Warum solltet ihr jetzt plötzlich wieder Themen findet, über die ihr sprechen könnt, warum solltet ihr jetzt die Nähe wieder finden, die es einst gab und die unmerklich verschwunden ist? Gerade jetzt, wo er seine Libido in fremde Hände gegeben hat?
Franziska macht einen klaren, schmerzlichen Schnitt und verlässt den fremdelnden Gatten zusammen mit ihrer zwölfjährigen Tochter Melanie. Bei einem alten Schulfreund Franziskas, der sich nach einem Burn-out an den Tegernsee zurückgezogen hatte, finden sie eine neue Bleibe. Maja, die Besitzerin eines kleinen Lokals vor Ort, entwickelt sich rasch zur Freundin. In einer hoffnungsfreudigen Stimmung macht sich die frisch gebackene Single-Mutter daran, ihr Leben neu zu ordnen: Sie schreibt Drehbücher und ist völlig aus dem Häuschen, als das erste wirklich angenommen wird.
Jetzt fehlt ja eigentlich nur noch ein passender Mann, denn so ganz ohne Liebe ist es doch sehr einsam und traurig. Nur wo soll man nach einem angenehmen Exemplar suchen? Franziskas Job führt sie zu Recherchezwecken oder Konferenzen an die verschiedensten Schauplätze, und dadurch – wie auch durch ihr Sozialleben – trifft sie auf die unterschiedlichsten Menschentypen. Und Franziska hat ein großes, freundliches Herz, das gern lieben möchte, es immer wieder versucht und häufig genug Bruchlandung erleidet …
_Kritik_
Wir hatten ein ausgesprochen ambivalentes Verhältnis zueinander, dieses Buch und ich. Gabriele Diechler hat mit ihrer Franziska eine Figur erschaffen, die dem Zeitgeist sehr gut entspricht: Vor einem halben Jahrhundert mag es noch nicht gang und gäbe gewesen sein, sich trotz Kindes aus einer unglücklichen Ehe zu befreien; heute dagegen ist es kaum noch verpönt. Glück wird gesucht, verfolgt, eingefordert – man glaubt, Anspruch darauf zu haben. Das hat alles seine guten und schlechten Seiten, und es ist richtig und notwendig, dass jemand über dieses Thema schreibt, denn es ist ein Eckpfeiler unserer sozialen Gesellschaft. Manchmal zuckte ich jedoch zusammen, wenn eine Situation mit zu billigen Platituden beschrieben wurde: „Das Einzige, was ich machen konnte, war leben!“ (S.9) Urks. Dann wiederum gab es sehr originelle Wortbilder, von denen einige schön und andere eher unpassend waren – wie auch immer, es fiel auf und zeigte einen sehr eigenen Stil.
Die Suche Franziskas nach Liebe und Mister Right wirkt ausgesprochen deprimierend. Fast alle beschriebenen Versuche hinterlassen einen schalen Nachgeschmack, und die Tatsache, dass die Tochter während der mütterlichen Selbstfindungstrips immer beim netten Schulfreund abgeladen wird, verstärkt für mich die Trostlosigkeit des Ganzen. Das ist jetzt keine schlechte Wertung: Diese Entwicklung ist sehr lebensnah beschrieben.
Bedauerlicherweise muss ich sagen, dass die banale Pointe mich verärgert hat – es ist ein ziemlicher Gemeinplatz, der nach der 270 Seiten langen Kontemplation über die Suche nach dem Glück als Antwort präsentiert wird. Den findet man auch in Frauenzeitschriften im Wartezimmer beim Arzt. Gut, vielleicht ist das die Andeutung, dass es nun einmal kein Patentrezept gibt, aber unter diesen Umständen hätte man auf diesen Schmalspurpsychologiespruch auch verzichten können.
_Fazit_
„Ein wunderbares Plädoyer für die Liebe“, schrieb laut Klappentext jemand über diesen Roman. Hm. Vielleicht hat dieser Jemand quergelesen oder war mit den Gedanken nicht bei der Sache: Ein Plädoyer für die Liebe ist „Glaub mir, es muss Liebe sein“ nicht. Es ist ein Plädoyer für die Möglichkeiten, die die Gesellschaft momentan bietet, für die stete Chance zu einem Neuanfang. Außerdem ist es eine Sozialstudie, die späterhin Menschen als Quelle für die Rolle der Frau in der heutigen Zeit dienen mag. Ob man das Buch gut findet oder nicht, muss jeder selbst entscheiden, denke ich. Es polarisiert nicht, es stückelt vielmehr die Ansichten. Aber uninteressant ist es nicht. Gucken Sie ruhig mal, ob Sie damit warmwerden können.
Die junge Irin Katie O’Dwyer ist glücklich, einen Job als Verkäuferin in dem mondänen Modehaus Melville bekommen zu haben – doch sie kann nicht ahnen, dass diese Arbeit ihr Leben für immer verändern wird: Sie lernt den Besitzer William Melville kennen und lieben. Und obwohl sie genau weiß, dass eine Affäre mit einem verheirateten Mann und Familienvater für sie nur schlecht ausgehen kann, kann sie dem Charisma Williams nicht widerstehen.
Das erwartete Ende folgt auf dem Fuße. Schwanger und einsam kehrt Katie nach Irland zurück, um ihr Kind allein aufzuziehen. Anderthalb Jahrzehnte später ist sie tot und hinterlässt eine fünfzehnjährige Tochter, die noch völlig traumatisiert von ihrem unbekannten Vater nach London geholt wird: In ein fremdes, großes Haus, zu einer fremden Frau, zu zwei fremden Schwestern. Caitlin ist einsam, die drei Mädchen grundverschieden. Sie durchlaufen dieselbe Schulausbildung, doch dann werden die Weichen neu gestellt. Ihre Lebenswege ähneln sich kaum, wenn auch alle auf dem Weg zu ihrem jeweiligen Traum durch verschiedene Höhen und Tiefen müssen. Niemand hätte gedacht, dass sich die Wege aller Familienmitglieder später so schicksalhaft wieder kreuzen würden – und doch besteht eine unnennbare Verbundenheit zwischen den Melvilles, eine Bereitschaft zum Kampf Schulter an Schulter, mit der die Initiatoren einer niederen Intrige nicht gerechnet haben …
_Kritik_
Tara Hyland ist eine beachtliche Erzählerin. Sie schafft es, eindrückliche Bilder heraufzubeschwören, ohne bis ins letzte Detail zu beschreiben, so dass der Phantasie des Lesers genug Raum zur freien Entfaltung bleibt. Die Unterschiede in den Charakteren der drei Mädchen sind reizvoll, vor allem, weil sie alle drei letztendlich eines verbindet: Die Suche nach Anerkennung und Liebe. Dass die fast krankhaft ehrgeizige Elizabeth, die zutiefst verkorkste, kreative Caitlin und die leichtfertige Grenzgängerin Amber sich gänzlich verschiedene Wege zum Glück suchen, ist folgerichtig und meist auch nachvollziehbar dargestellt. Und wenn man doch mal über eine Entscheidung der Charaktere stolpern sollte, dann macht das nichts, denn die Geschichte spült die Zweifel schnell wieder fort: Es geschieht nur, was geschehen muss.
Dass das Böse sich mit freundlichem Gesicht nähert, ähnlich natürlich präsent ist wie die Schlange im Garten Eden, erklärt das Vertrauen, mit dem alle annehmen, dass es keine Bedrohung am Horizont gibt außer den ganz persönlichen Sorgen und Ängsten, von denen ja auch jeder sein Bündel zu tragen hat. Dass die Geschichte der Melvilles sich vor dem Hintergrund des riesigen, mondänen, gefährdeten Modeunternehmens abspielt, macht die Familiengeschichte noch reizvoller. Hier gibt es Nischen für jeden und unzählige Ausgangspunkte für neue Seitenarme der Saga.
Schließlich und endlich bleibt zu sagen, dass Tara Hyland sich eines angemessenen Stils bedient: Sie erzählt sicher und sauber, ohne in wilde Wortakrobatik oder in Slang zu verfallen; ihr Schreibstil ist das perfekte Gerüst für einen spannenden, romantischen, schrecklichen, schönen Sommerschmöker.
_Fazit_
Es gibt keinen Grund, aus dem man „Das Haus der Melvilles“ nicht lesen sollte. Hier vereinen sich Spannung, Skandale, Tragödien, Romanzen, Enttäuschungen, wilde Entschlossenheit, Hoffnung, Tränen, Familienbande und -zwistigkeiten sowie wirklich hinreißende Beschreibungen von Kleidern (Hallo, Mädels!) zu einer perfekten Erzählung für den Strand. Oder wahlweise die kuschelige Wolldecke auf dem Sofa, wenn der Sommer sich von seiner regnerischen Seite zeigt.
Ich wage zu prophezeien, dass wir von Tara Hyland noch länger hören werden. Sie hat das Talent, in epischer Breite zu erzählen, ohne langatmig zu werden oder in endlose Introspektionen zu verfallen. Man darf gespannt sein, ob ihre nächsten Ideen wieder so viele ausgefeilte Charaktere beinhalten werden, denn das Imperium, das sie mit der Melville-Firma und der Familie erschaffen hat, ist schon von beträchtlicher Größe. Hut ab!
|Gebundene Ausgabe: 608 Seiten
Originaltitel: Daughters of Fortune (01)
Aus dem Englischen von Christoph Göhler
ISBN-13: 978-3809025825|
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Rivka Galchens Debutroman „Atmosphärische Störungen“ war in den USA ein Erfolg und heimste positive Rezensionen unter anderem im „New Yorker“ ein. Die Autorin, geboren 1976 in Kanada und aufgewachsen in den USA, verwebt in ihrem ersten Roman Psychiatrie, Meteorologie und ihre eigene Familiengeschichte zu einer höchst seltsamen Geschichte über die Liebe beziehungsweise deren Abwesenheit. Eine illustre literarische Mischung also.
_Es geht um_ Leo Liebenstein. Leo ist Psychiater und sein interessantester Patient im Moment ist Harvey, der sich einbildet eine Art Geheimagent zu sein. Von seinem Arbeitgeber, der Royal Academy of Meteorology, erhält er Aufträge, die verschlüsselt auf Seite 6 der Tageszeitung zu lesen sind. Dann verschwindet er oftmals für Tage, um seinen Auftrag auszuführen, während seine Mutter – wenig überraschend – umkommt vor Sorge. Doch das soll fürs Erste nicht so wichtig sein.
Statt dessen sieht sich Leo eines Tages bei seiner Heimkehr mit einer bösen Überraschung konfrontiert: Die junge, hübsche Frau, die plötzlich die Wohnung betritt, sieht zwar aus wie seine Ehefrau Rema. Trotzdem ist er überzeugt, dass sie es nicht ist. Sie hat einen Hundewelpen dabei – dabei mag Rema doch gar keine Hunde. Und andere Details stimmen ebenfalls nicht, kleine Ticks der „alten“ Rema, die die neue eben nicht besitzt. Kurzum, Leo ist überzeugt, seine Frau sei verschwunden, während eine Doppelgängerin mit ihm Tisch und Bett teilt. Also macht er sich schließlich auf die Suche nach der echten Rema. Eine Suche, die ihn in deren Heimatland Argentinien, zu Remas Mutter und schlussendlich zur Royal Academy of Meteorology führt, die ihm prompt einen Job anbietet. Und da wird dann auch Harvey wieder wichtig.
_Das Zentrum der_ Geschichte bildet Leo, er ist Galchens Versuchsobjekt. An ihm arbeitet sich die Autorin ab und schickt ihn abwärts in die unlogischen Tiefen der menschlichen Psyche, um dem Leser eines zu zeigen: Leo, der Ich-Erzähler, ist unzuverlässig. Das wird relativ schnell klar, denn erste Zweifel stellen sich bereits ein, als er steif und fest behauptet, die Rema in seinem Bett sei eine Doppelgängerin. Seine erzählerische Unzuverlässigkeit potenziert sich im Verlauf des Romans und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, hier in Echtzeit zu beobachten, wie ein Mensch dem Wahnsinn anheim fällt. Ironie des Schicksals: Leo ist eben Psychiater. „Es gab eine Zeit, da glaubte man, alle, die sich um Geisteskranke kümmern, würden selbst geisteskrank, und als Harveys Nachricht eintraf, streckte diese Vorstellung – die Ansteckung – ihre leichenblasse Hand aus der Vergangenheit nach meinem Geist aus“, sinniert Leo an einer Stelle des Romans. Was Leo lange nicht realisiert, ist, dass diese „leichenblasse Hand“ nicht nur nach ihm ausgestreckt wird, sondern dass sie ihn auch berührt, ihn packt und nicht mehr loslässt. Zwar wird er irgendwann Zweifel an seiner geistigen Gesundheit hegen, doch er ist Wissenschaftler. Und mit logischen Argumenten – oder dem, was er als logisch empfindet – kommt er zu dem Schluss, dass er eben nicht an einer Psychose leidet.
Nichts ist also eindeutig. Bedeutungen werden den Dingen immer von Menschen zugeschrieben und diese bringen ihre eigene Geschichte und Mentalität mit, die die Bedeutungsfindung beeinflusst. Dass nichts festgeschrieben, nichts eindeutig zuzuordnen ist, ist ein immer wiederkehrendes Thema in „Atmosphärische Störungen“. Harvey reinterpretiert die Artikel auf Seite 6, bis sie für ihn eine geheime Botschaft ergeben – einen meteorologischen Auftrag, den es zu erfüllen gilt. Leo macht es genauso. Das Diagramm eines Modellsturms, das er bei seiner Suche nach Rema in einem meteorologischen Artikel findet, wird zum Rorschach-Test. Immer wieder zieht es ihn zu dieser Grafik und jedes Mal schreibt er ihr neue Bedeutungen zu: Mal sieht sie aus wie Rema, mal wie ein einsamer Mann in einer Landschaft. Nie jedoch sieht sie für Leo aus wie das, was sie eigentlich ist: eben der Querschnitt eines Modellsturms. Und so wimmelt es im Roman nur so von Verständnisproblemen, von Freudschen Fehlleistungen und Bedeutungsübertragungen. Am enthüllendsten ist das Prinzip, wenn Leo sich einer schlecht übersetzten Speisekarte gegenüber sieht, wo aus einem Sangria Grande im Englischen plötzlich „bloody great“ wird. Ein Übersetzungsfehler und die Bedeutung hat sich vollkommen gewandelt – so wie sich Bedeutungen in „Atmosphärische Störungen“ eben auch ständig im Wandel befinden, wenn sie die Übersetzungsmaschine Leo Liebenstein durchlaufen.
Als Erzähler ist Leo also unzuverlässig. Der Leser kann nicht darauf vertrauen, dass Leo die Wirklichkeit genau – und eben wirklich – abbildet. Die Frage, die sich daraufhin geradezu aufdrängt, ist: Geht das überhaupt? Kann man Wirklichkeit objektiv abbilden? Gibt es eine Wirklichkeit oder ist es nicht eher so, dass es für jedes Individuum eine eigene Wirklichkeit gibt, eine Rorschach-Wirklichkeit, der immer wieder neue Bedeutungen eingeschrieben werden können? Das zumindest ist Galchens Überzeugung und um diese zu illustrieren, zieht sie Vergleiche zwischen der Realität, der Psychiatrie und der Meteorologie, dem Fachgebiet ihres Vaters Tzvi Gal-Chen, der ebenfalls im Roman auftaucht. Wiederholt erfährt der Leser nämlich, dass es unmöglich ist, das Wetter präzise vorauszusagen, weil man nicht einmal genug Daten hat, um sagen zu können, wie das Wetter in diesem Moment ist. Galchen möchte diesen Grundsatz auf unser Leben übertragen wissen: Nichts ist gewiss.
Nichts ist gewiss, schon gar nicht die Liebe. Denn darum geht es ja im Grunde: Leo liebt Rema, doch Rema ist plötzlich weg. Oder ist es vielleicht genau andersherum? Weil die Liebe sich verflüchtigt, bildet Leo sich ein, dass sei gar nicht die echte Rema, die da durch die Tür kommt. Er vermisst seine Frau mit ganzer Hingabe oder vermisst er vielleicht eher, was er einmal mit ihr hatte? All diese Gedankengänge drängen sich auf, doch ist Leo eben auch hier eine erzählerische Niete. Zwar analysiert er seine Situation wieder und wieder aufs genaueste. Doch kommt er eben zu Erkenntnissen, die verschoben, verschroben – eben ver-rückt klingen.
_Rivka Galchens Debut_ ist in seiner literarischen Methode faszinierend und überaus ambitioniert. Zwar ist der Roman gleichzeitig unglaublich kopflastig, doch versucht Galchen die intellektuellen Kapriolen ihrer Prosa mit kleinen Witzen aufzulockern. Dazu gehört eben auch, dass sie ihren eigenen Vater auftauchen lässt, der aus dem Jenseits mit Leo via BlackBerry kommuniziert. Da muss man schon schmunzeln, keine Frage!
David Safier hat sich im deutschen Sprachraum einen Namen mit leicht lesbaren Komödien gemacht, die auf fantastischen und vollkommen abtrusen Grundideen basieren. In seinem Erstling [„Mieses Karma“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=3977 ging es um Kim, die von einem Waschbecken erschlagen und – wegen Ansammlung schlechten Karmas – nur als Ameise wiedergeboren wurde.
In [„Jesus liebt mich“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5337 traf Marie (!) auf Jesus, der (natürlich in seinem Erstjob als Zimmermann) den Dachstuhl ihres Vaters reparieren sollte. An abwegigen Ideen mangelt es Safier also nicht. Das beweist er erneut in „Plötzlich Shakespeare“, wo er eine weibliche Protagonistin in ein total verrücktes Abenteuer wirft.
_Es geht um_ Rosa. Diese ist ziemlich deprimiert, da ihre große Liebe Jan demnächst das Ehegelübde ablegen will – allerdings mit einer anderen Frau. Ihr Plan, Jan mit einer großen Szene zurückzugewinnen, geht gründlich schief und so sitzt sie auf ihrer heimischen Couch und bläst Trübsal. Einzig Holgi, Rosas schwuler Freund, hält ihr das Händchen und empfiehlt ihr als Therapie einen One-Night-Stand. Rosa hat zwar ihre Zweifel, trotzdem lässt sie sich mit dem Schürzenjäger Axel ein. Die beiden gehen in den Zirkus, wo die Nummer des Hypnotiseurs Prospero Rosas Aufmerksamkeit erregt. Vor Publikum führt er Rückführungen durch, um Menschen ihre eigentliche Bestimmung aufzuzeigen. Rosa, die bestimmungstechnisch gerade absolut in den Seilen hängt, fühlt sich angesprochen. Nach der Vorführung landet sie in Prosperos Wohnwagen und der schickt sie prompt in ein früheres Leben.
Und klar, Rosa war natürlich nicht irgendwer: Sie findet sich im Körper von William Shakespeare wieder, der gerade versucht, einem Duell aus dem Weg zu gehen, ein Liebesgedicht für den Geheimdienstchef von England zu schreiben und den Earl of Essex mit der Gräfin Maria zu verkuppeln (Dramatiker zu sein, ist eben auch kein einfacher Job). Rosa ist ziemlich überfordert: Sie findet sich nicht nur in einem anderen Jahrhundert, sondern auch in einem männlichen Körper wieder. Und darüber hinaus soll sie auch noch gute Reime schreiben. Zwar wollte sie als Kind immer Musicalautorin werden, doch hatte es dafür eben nicht gereicht – aus gutem Grund, wie sie bisher dachte.
Shakespeare – als körperlose Stimme in Rosas Kopf – und Rosa raufen sich schließlich zusammen und bestehen alle möglichen Abenteuer bis Rosa die von Prospero gestellte Aufgabe erfüllt und herausfindet, was die wahre Liebe ist. Und der Leser darf abwechselnd schmunzeln oder laut loslachen, wenn Rosa mal wieder in ein Fettnäppchen tritt.
_Safier bringt in_ seinem Roman gleich zwei Erfolg versprechende literarische Konzepte zum Einsatz: Zum Einen ist „Plötzlich Shakespeare“ eine Zeitreisegeschichte mit all den Fallstricken, die so etwas mit sich bringt. Rosa hat keine Ahnung vom England des 16. Jahrhunderts. Ständig eckt sie mit Modernismen an oder ist unfähig, der Queen den nötigen Respekt entgegen zu bringen. Der Clash von Moderne und Vergangenheit ist immer wieder faszinierend zu beobachten, wobei man anmerken muss, dass Safier sich nicht wirklich lange mit historischer Recherche aufgehalten hat. Es gibt auffallend wenige historische Details und kaum etwas, dass man nicht aus „Shakespeare in Love“ oder auch „The Tudors“ hätte lernen können. Dadurch bleibt die historische Kulisse eben nur das – eine Kulisse, die kaum mit Leben gefüllt wird. Daraus hätte man definitiv mehr machen und damit dem Zeitreiseaspekt mehr Würze geben können.
Zum Anderen ist „Plötzlich Shakespeare“ eine Genderswap-Geschichte, es geht also darum, dass ein Charakter das Geschlecht wechselt. Und auch hieraus erwächst natürlich Komik. Shakespeare der Schürzenjäger wird, nachdem Rosa quasi „in ihn gefahren ist“ plötzlich zum Mönch. Rosa mag ihren neuen Körper nicht nackt sehen, sie mag ihn weder waschen, geschweige denn in ihm Sex haben. Während Shakespeare von den Möglichkeiten schwer angetan ist (wäre das doch die Gelegenheit, mal herauszufinden, wie sich Sex aus der anderen Perspektive anfühlt), ist Rosa hauptsächlich peinlich berührt.
Leider ergeht sich Safier häufig in Klischees oder wenig überraschenden Handlungselementen. Daraus macht er auch keinen Hehl, schließlich startet der Roman mit den Worten: „Au Mann, ich war ja so etwas von einem Frauenklischee!“ Und ja, Rosa ist eine Figur, die man so schon hundertmal gesehen hat. Sie ist ein bisschen pummelig, unglücklich verliebt, hängt in einem unbefriedigenden Job fest und ihr bester Freund ist schwul und dick (Marke Dirk Bach – knuddelig, aber harmlos). Darum liest sich „Plötzlich Shakespeare“ auch wie eine bunte Mischung aus „Bridget Jones“ und „Shakespeare in Love“. Tiefgang braucht der Leser also nicht zu erwarten und auch sprachlich ist dieses Potpourrie reichlich anspruchslos. Rosas Text ist mit Lachern gewürzt und betont flapsig dahin geschrieben. Shakespeare allerdings ist weit weniger gelungen, schließlich fühlte sich Safier offensichtlich nicht bemüßigt, ihm wenigstens die Anmutung eines historischen Charakters zu geben. Zu allem Überfluss ist Safier als Lösung für das Genderswap-Problem nichts besseres eingefallen, als Rosas und Shakepeares Erzählung nebeneinander zu stellen – wobei Shakepeare durch kursiven Text gekennzeichnet ist. Das reißt den Text künstlich auseinander und unterbricht den Lesefluss – ständig muss man sich mitten in einer Szene mit einem Wechsel des Erzählers auseinandersetzen. Das macht keinen Spaß und wirkt irgendwie uninspiriert. Das Problem des Perspektivwechsels hätte man sicherlich auch eleganter lösen können.
_“Plötzlich Shakespeare“ ist_ ein Buch für alle, die leichte Kost mit Lachergarantie suchen und denen es auch nichts ausmacht, wenn ein Roman gegen Ende ins Süßliche abdriftet (gerade gegen Ende greift Safier mit Genuss in den Schmalztopf). Als Urlaubslektüre ist Safiers Roman durchaus geeignet – wer allerdings eine wirklich überzeugende Zeitreisegeschichte erwartet, wird enttäuscht.
_Rose-Ellen Carmichael-Roy_, genannt Zell, ist seit einem Jahr und vier Monaten Witwe. Ihr Mann Nick Roy kam bei einem Unfall während eines Hilfseinsatzes in New Orleans ums Leben. Seitdem lebt Zell total zurückgezogen in dem gemeinsamen Haus in dem Städtchen Wippamunk. Sie redet allein mit ihrem Greyhound Captain Ahab, kein anderer vermag noch Zugang zu Zell zu bekommen.
Als Zell in einer Zeitschrift der Fernsehköchin Polly Pinch von einem Backwettbewerb liest, in dem es $20,000 zu gewinnen gibt – genau die Summe die Nick gerne in New Orleans gespendet hätte -, löst sie beim ersten Versuch einen Küchenbrand aus, da sie nicht wusste, dass im Ofen ein Geschenk von Nick liegt. Sie kann nämlich eigentlich weder Kochen noch Backen.
Durch diesen Brand lernt Zell ihre neuen Nachbarn, den alleinerziehenden Vater Garrett und seine 9-jährige Tochter Ingrid, kennen. Ingrid, die ihre Mutter nicht kennt und der festen Überzeugung ist, diese sei Polly Pinch, überredet Zell dazu, mit ihr an dem Wettbewerb gemeinsam teilzunehmen.
Durch den Kontakt zu Ingrid findet Zell langsam in ihr Leben zurück, auch wenn es immer mal wieder Rückschläge für sie gibt.
Im zweiten Erzählstrang wird von EJ erzählt. Er war bei dem Unfall dabei und macht sich schwere Vorwürfe, dass es Nick, und nicht ihn getroffen hat. Er befürchtet, dass Zell ihn infolgedessen hasst.
_Kritik_
Mit ihrem Erstlingswerk „Weiß der Himmel von dir“ hat Alicia Bessette einen liebenswerten Roman geschrieben. Im Vordergrund steht die junge Witwe Zell, die in der Trauerphase feststeckt und kaum aus dieser herauszufinden scheint. Die Autorin hat das Thema der Trauer und Hoffnung dabei sehr gefühlvoll umgesetzt. Sehr lebensnah und detailliert beschreibt sie das Leben in dem Städtchen Wippamunk und die Gefühle und Leben der einzelnen Charaktere.
Trotz dieses traurigen Themas hat die Autorin es geschafft, auch durchaus lustige Szenen in die Geschichte einfließen zu lassen, um nicht in unerträgliche Klischees abzugleiten. Die Handlung spielt hauptsächlich im Hier und Jetzt, allerdings werden auch Rückblenden in die Kindheit und Ehejahre von Zell und Nick eingespielt. Der Hauptplot wird aus der Perspektive von Zell erzählt, was dem Leser ihre Gefühle natürlich noch mal näherbringt. Auch EJ, Nicks Freund und sogar Nick selber – durch E-Mails, die er in der Zeit in New Orleans geschrieben hat – kommen in diesem Roman zu Wort, und man begreift schnell, wie sehr auch das Umfeld mitleidet. Alles in allem ist der Roman sehr ergreifend und dabei flüssig zu lesen, besonders anspruchsvoll ist er dabei allerdings nicht.
Die Protagonisten sind alle durchweg liebevoll und sehr sympathisch beschrieben. Zell, die teilweise wie ein alter Pirat redet, wirkt leicht verschroben und dabei sehr liebenswert. In ihrer Haut möchte man allerdings nicht stecken, hat sie doch einen der schlimmsten Verluste durchlitten, den man sich vorstellen kann. Die kleine Ingrid wurde sehr lebensnah und bezaubernd konzipiert, und so fliegen ihr die Herzen der Leserschaft schon bald zu. Mit EJ leidet man ebenfalls; er hat so viele Schuldgefühle und befürchtet, dass Zell ihn hasst, weil er noch lebt und Nick tot ist. Auch die Nebendarsteller, allen voran die alte „Küchenhexe“, sind in ihrer Art realistisch und sehr einnehmend ausgearbeitet.
Alles in allem ein gut umgesetzter, leichter Roman, der zwar manch einen Anfängerfehler beinhaltet, trotzdem aber durchaus lesenswert ist.
_Fazit_
„Weiß der Himmel von dir“ von Alicia Bessette ist ein ergreifender, aber trotzdem auch heiterer Roman, der sich nicht in der Trauer verliert, sondern auch die Chance auf ein Leben „danach“ zeigt. Mir hat dieser Roman sehr gut gefallen und ich würde ihn trotz einiger kleiner Schwächten auf jeden Fall weiterempfehlen.
Es würde mich auf jeden Fall freuen, noch mehr aus der Feder dieser Autorin zu lesen.
_Autor_
Alicia Bessette, geboren 1975, mag Kung-Fu-Filme, lehrt Yoga, ist Pianistin und Komponistin und hat mehrere CDs veröffentlicht. Sie arbeitet als Reporterin und Journalistin. Ihr Debütroman erschien in vielen Ländern gleichzeitig. Zusammen mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Matthew Quick, und ihrer Greyhound-Hündin Stella B. Quick lebt Alicia Bessette in der Nähe von Philadelphia. (Verlagsinfo)
|Gebunden: 364 Seiten
Originaltitel: Simply from Scratch
Aus dem Amerikanischen von Andrea Fischer
ISBN-13: 978-3-8105-0265-0|
[www.fischerverlage.de/page/krueger]http://www.fischerverlage.de/page/krueger
Wenn man die Inhaltsangabe zu David Belbins Roman „Der Hochstapler“ liest, könnte man schnell auf die Idee kommen, die Geschichte drehe sich um einen gewieften und erfolgreichen Fälscher literarischer Manuskripte. Jemand, der ein seltenes Talent besitzt und in der obskuren Ecke seiner Begabung Millionen scheffelt, schnelle Autos fährt und an jedem Finger eine Blondine hat. Dem ist jedoch mitnichten so, und dass Belbins Protagonist Mark Trace – trotz des Namens, der wie aus einem Spionagethriller gegriffen klingt – kein solcher Held ist, wird schon nach den ersten Seiten klar.
_Die Eltern von_ Julia Jacobs sind bereits früh durch ungeklärte Unfälle verstorben, und so wachsen Julia und ihre Schwester Janice bei ihrer Tante Rose Jacobs auf. Als Tante Rose plötzlich verstirbt, erwartet Julia eine unangenehme Überraschung: Nachdem es die ganzen Jahre so ausgesehen hat, als hätte Tante Rose sie ihrer Schwester Janice vorgezogen, erbt nun Janice das ganze Vermögen, doch sie bekommt vom Butler Umbero nur einen Brief und einen Schlüssel für ein Bankschließfach in Siena ausgehändigt.
In dem Brief ihrer Tante Rose liest sie, dass ihre Mutter kurz vor ihrem ungeklärten Tod fast ein altes Familienrätsel gelöst hat und einem großen Schatz auf der Spur war. Ebenfalls erfährt sie, dass ihr wahrer Name Giulietta Tolomei und die Geschichte ihrer Ahnen eng mit der von Shakespeares Romeo und Julia verbunden ist.
Um in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten und auch die letzten Geheimnisse und den sagenumwobenen Schatz zu finden, macht Julia sich auf den Weg nach Siena, um die Forschungen ihrer Mutter wieder aufzunehmen.
In dem Bankschießfach findet Julia bzw. Gulietta eine Schatulle, die mit diversen Schriften und einigen Zeichnungen von Giuliettas Mutter gefüllt ist. In ihrem Zimmer schaut sie sich alles genau an und stellt fest, dass die Urgeschichte um Julia und Romeo in Siena stattgefunden hat. Sie lässt bei ihren Nachforschungen nicht locker und gerät in einen Strudel aus Geheimnissen, Verrat, Liebe und Abenteuer.
_Kritik_
Mir ihrem Debütroman „Julia“ hat Anne Fortier gekonnt verschiedene Genres bedient. Zunächst einmal ist er natürlich ein Familienroman, aber auch das historische Genre, eine wunderschöne Liebesgeschichte, Drama und Krimi sind hier vereint.
Der Sprachstil passt sich der Vergangenheit und der Gegenwart an. Spielt die Geschichte in der Vergangenheit, ist er poetisch blumig, spielt sie in der Gegenwart, wirkt er zeitgemäß. Die Erlebnisse von Julia bzw. Giulietta werden aus ihrer Perspektive erzählt, die der Giulietta aus dem 14. Jahrhundert hingegen aus der Perspektive eines Beobachters, was durch diese unterschiedliche Art der Herangehensweise recht ausgereift wirkt.
Mir ihrem Erzählstil schafft es die Autorin, dass der Leser glaubt, sich direkt in Siena zu befinden. Anne Fortier beschreibt die Umgebung so detailreich, dass man sich die Orte und Gebäude bildlich vorstellen kann und Lust darauf bekommt, diese auch tatsächlich zu besuchen.
Gerade in der Geschichte, die in der heutigen Zeit spielt, baut die Autorin einen gelungenen Spannungsbogen auf, der sich beständig steigert. Bis zum Schluss ist man sich nie zu hundert Prozent sicher, wer auf wessen Seite steht. Man kann das Buch aufgrund des Verwirrspiels und des fließenden Schreibstils der Autorin nur schwer aus der Hand legen.
Auch wenn der Part der Giulietta aus dem 14. Jahrhundert dem Leser vermutlich vertraut ist, wird dieser interessant genug aufgebaut, und Lesern, die Shakespeares „Romeo und Julia“ nicht kennen sollten, wird diese romantische Geschichte nähergebracht.
Die Protagonisten aus Gegenwart und Vergangenheit sind ausnahmslos greifbar, lebendig und detailreich konzipiert. Keinesfalls eindimensional, bietet jeder Darsteller eine Fülle von Stärken und Schwächen, die so lebensnah ausgearbeitet sind, dass man sich mit den Personen durchaus identifizieren kann. Auch die Beziehung zwischen Julia bzw. Giulietta und Alessandro (Romeo oder Paris?) ist hervorragend ausgearbeitet und hält den Leser bis zum Schluss in Atem.
In ihrem Nachwort geht die Autorin noch auf die Ursprünge von Romeo und Julia ein – diese Geschichte hat ihre Anfänge wohl tatsächlich in Siena.
_Die Autorin_
Anne Fortier wuchs in Dänemark auf, wo sie im Fach Ideengeschichte promovierte. Mit ihrem Mann, den sie in Oxford kennenlernte, ging sie nach Amerika. Sie war Co-Produzentin von Dokumentarfilmen und lehrte Philosophie und Europäische Geschichte an verschiedenen Universitäten. Sie fühlt sich auf beiden Seiten des Atlantiks zu Hause. Seit der Kindheit von Shakespeares Heldin fasziniert, forschte sie für ihren Roman in Sienas Archiven und Museen. (Verlagsinfo)
_Fazit_
Anne Fortiers Debütroman „Julia“ ist auf jeden Fall zu empfehlen. Leser der verschiedenen Genres kommen voll auf ihre Kosten, und auch die Männerwelt wird diesen Roman durchaus gerne lesen. Mit ihrem Stil hat die Autorin mich voll überzeugt und ich hoffe darauf, noch viel aus ihrer Feder lesen zu können.
|Gebunden: 637 Seiten
Originaltitel: Juliet
Aus dem Amerikanischen von Birgit Moosmüller
ISBN-13: 978-3810506788|
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Erwachsenwerden ist nicht leicht. Probleme mit sich selbst, Probleme mit den Eltern und die erste Liebe sind alleine schon schwer zu bewältigen, aber wenn diese drei Dinge zusammen treffen, dann steckt man wahrlich in einem Schlamassel. Schlamassel machen allerdings ziemlich gute Bücher. Ein aktuelles Beispiel ist „Sperm & Egg – Eine Liebesgeschichte“, der Debütroman von Ryan Boudinot.
_Um seine große_ Liebe Kat Daniels zu beeindrucken bringt Cedar sein Sperma zum Mikroskopieren in den Biologieunterricht mit. Und tatsächlich! Es funktioniert. Die beiden kommen zusammen, doch so einfach, wie er sich das mit der ersten Liebe vorgestellt hat, ist sie nicht. So richtig klappt das mit dem Sex leider nicht – und als Kat von einer Urlaubsreise zurück kommt und plötzlich schwanger ist, läuten bei Cedar die Alarmglocken. Er ist sich ziemlich sicher, dass er es nicht war, doch Kat möchte nicht damit heraus rücken, wer sonst in Frage kommt. Also reimt sich Cedar zusammen, dass es George gewesen sein muss, der Freund von Kats Mutter, den diese nicht besonders leiden kann.
Er steigert sich in diese Theorie rein und steht Kat natürlich hilfreich zur Seite, als sie beschließt, das Baby abzutreiben. Doch die dankt es ihm nicht. Nach der Abtreibung zieht sie sich immer mehr von ihm zurück bis die Beziehung auseinander bricht. Dabei hätte Cedar eine Schulter zum Anlehnen gebrauchen können. Seine Eltern sind nämlich auf die Idee gekommen, sich scheiden zu lassen. In seiner Wut konzentriert er sich auf den mutmaßlichen Vergewaltiger George und heckt einen teuflischen Plan aus …
_“Sperm & Egg“ lässt_ einen als Leser etwas ratlos zurück. Boudinot hat gute Ideen und auch sein Erzählstil mit den sehr konkreten, häufig überraschenden Metaphern und dem unterschwelligen Humor kann sich sehen lassen. Die Handlung des Buches lässt allerdings Fragen offen. Obwohl die oben erwähnten Ereignisse aus dem Teenagerleben von Cedar und Kat im Mittelpunkt stehen, konstruiert Boudinot eine Rahmenhandlung außenrum, die mehr oder weniger unnötig ist. Zwanzig Jahre später treffen Kat und Cedar sich, da Kat ein Buch über diese Phase ihrer Jugend geschrieben hat und sich absichern will, dass Cedar sie nicht wegen der darin beschriebenen Ereignisse verklagen wird. In dieser Rahmenhandlung passiert aber nichts Wichtiges außer ein bisschen Geplänkel zwischen den Ex-Geliebten. Umso störender ist es da, dass die Kerngeschichte dadurch nicht nur unterbrochen wird, sondern auch seltsam komprimiert wirkt. Sie hätte alleine genug Kraft gehabt, um ein ziemlich gutes Buch zu werden, wenn Boudinot sie entsprechend noch etwas erweitert hätte. Sie ist komisch, dramatisch und mitreißend. Sie hat alles, was man sich von einem guten Coming-Of-Age-Roman wünscht und da ist es mehr als schade, dass der Autor den Leser mit Fragezeichen in den Augen und einer unpassenden Rahmenhandlung abspeist.
Cedar und Kat, aus deren Ich-Perspektive abwechselnd berichtet wird, sind zwei charmante Charaktere, die neben viel Witz auch eine gewisse Ernsthaftigkeit besitzen. Dadurch ähneln sie Figuren aus anderen Pubertätsromanen nicht besonders, was gut ist. Obwohl Boudinot sie immer wieder in skurrile Situationen schickt, wirken die beiden echt und lebensnah. Es macht Spaß, ihnen zu folgen – auch als erwachsener Leser. Die unbedarfte und unverfälschte Sichtweise der zwei auf das Leben und vor allem auf die Erwachsenen, gerade ihre Eltern, ist stellenweise wie ein Spiegel. So ist es kein Wunder, dass gerade diese am Negativsten betrachtet und häufig beinahe ins Lächerliche gezogen werden. Das ist zum Einen der jugendlichen Perspektive geschuldet, die die eigenen Probleme als wichtiger erachtet als die Scheidung der Eltern. Zum Anderen treffen sie dabei auch den einen oder anderen wunden Punkt.
Sprachlich findet Boudinot einen guten Mittelweg zwischen Humor und Ernsthaftigkeit. Seine Schreibweise ist nicht gewollt witzig. Vielmehr entstehen Scherze aus der Situation heraus, als Reaktion auf Gesagtes oder ein Ereignis. Der Autor übertreibt es dabei aber nicht. Er zieht weder die Geschichte noch deren Charaktere ins Lächerliche. Außerdem verlässt er sich nicht auf den Humor, sondern hat auch sonst einiges zu bieten. Sein lockerer Umgang mit Metaphern, die teilweise ungewöhnlich sind, und anderen Sprachbildern lassen „Sperm & Egg“ zu einem fluffigen Lesevergnügen werden, das man schon alleine deshalb in einem Rutsch liest, weil man gespannt auf die nächste sprachliche Raffinesse ist.
_“Sperm & Egg“ macht_ definitiv einen guten ersten Eindruck auf dem Büchermarkt. Die lockere, witzige Schreibweise und die gut durchdachte Kerngeschichte zeigen, dass Boudinot sein Handwerk beherrscht. Die Rahmenhandlung allerdings schmälert den Genuss etwas.
_Kurzweilige Reise in die jüngere Vergangenheit Roms_
Über die Vampire und Zauberer, von denen es in der zeitgenössischen Literatur nur so wimmelt, über historische Romane und andere überwiegend unterhaltenden Literatur vergisst man fast, dass es auch noch Schriftsteller gab und gibt, die sich durchaus realistisch mit der sie umgebenen Welt auseinandergesetzt haben. So ist es leicht möglich, dass man sich Alberto Moravias „Römische Erzählungen“ in Vorfreude auf einen Italienurlaub in der Buchhandlung greift und überrascht wird. Rot wie der Mohn zwischen den Steinen im Forum Romanum dominiert die Zeichnung eines leichten Schals den Einband von Luchterhands Wiederauflage. Sie zeigt bereits, wo die Reise hingeht: in undurchsichtige, in erotische, sogar in blutige Gefilde. „Meisterhafte literarische Momentaufnahmen (…) Ein Buch über Rom, über die Liebe, die Tragödien des Alltags und die Labyrinthe der menschlichen Seele.“ verspricht der Umschlagtext. Und er hält, was er verspricht.
Mit seinen 1954 und 1959 zum erstem Mal veröffentlichten „Racconti romani“ nimmt Moravia den Leser mit in das Nachkriegsitalien der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts. Bereits die erste Geschichte „Der Dickschädel“ skizziert das Milieu, in dem sich alle Erzählungen bewegen. Der männliche Ich-Erzähler, ein römischer Taxifahrer, lässt sich in der Hoffnung auf ein amouröses Abenteuer darauf ein, zwei Männer und eine Frau nach außerhalb von Rom ans Meer zubringen. Obwohl die Frau wie eine Schlange wirkt, sind ihr roter und voller Mund sowie ihre schwarzen leuchtenden Augen zu verführerisch, um die Fahrt abzulehnen. Schnell stellt sich jedoch heraus, dass die Bande ihn erschießen und sein Auto stehlen will. Der Mordversuch missglückt, weil selbst die Pistole zu heruntergekommen ist, als dass sie noch richtig funktionieren würde. So recht trauen sich die Männer einen Mord auch gar nicht zu. Nach einer absurden Diskussion fährt der Taxifahrer nur mit der Frau nach Rom zurück und muss unterwegs auch noch feststellen, dass diese ihn die ganze Zeit an der Nase herumgeführt hat und es kein amouröses Abenteuer geben wird. Ganz im Gegenteil – er, der Arbeitszeit und Benzin vergeudet hat, wird am Ende noch als „Dickschädel“ beschimpft.
So oder ähnlich sind auch die Protagonisten der anderen Erzählungen gelagert. Man bekommt es mit leichten Mädchen, mit Mördern, Dieben, Messerstechern, Krüppeln, Kleinhändlern und merkwürdigen Figuren zu tun, die sich mehr schlecht als recht durch das Leben schlagen. Wie der Lastwagenfahrer aus der gleichnamigen Erzählung oder Gino aus „Das Double“ sind sie auf der Suche nach Freundschaft und Liebe. Dabei blickt Moravia auch in die Abgründe der menschlichen Seele, in der sich auch Hass und der Wunsch nach Rache ausbreiten können. Doch wie in der Erzählung „Das perfekte Verbrechen“ schlägt die bedrohliche Atmosphäre häufig ins Komische um und macht das perfekte Verbrechen auf ironische Weiser zu einem Verbrechen, das gar nicht erst geschieht.
Der Leser schmunzelt immer wieder über die Fehlinterpretation der Situationen durch die durchweg männlichen Ich-Erzähler Moravias. Diese sind nicht in der Lage, ihr Leben zu reflektieren, und versuchen nie, den Ursachen der ihnen widerfahrenden Schicksale auf den Grund zu gehen. Am Ende stehen sie meist so gewollt ahnungslos da wie der Erzähler aus „Laß es gut sein“, der bis zum Schluss der Geschichte nicht versteht, warum ihn seine Frau verlassen hat, obwohl durch die Schilderung des Charakters und der Taten des Protagonisten dem Leser auf didaktisch anschauliche Weise ganz genau vermittelt wird, dass es sich um einen Mann handelt, der seine Frau Tag und Nacht nicht für eine Minute allein gelassen hat und ihr in seiner „Anhänglichkeit“ sogar bis auf öffentliche Toiletten nachgelaufen ist. In seiner Verzweiflung wirkt er, der sich für den besten Ehemann hält, schon fast tragisch. Doch auch der Leser erkennt, dass es für diesen selbstverliebten Menschen nur den einen Rat gibt: „Lass es gut sein.“
Tatsächlich wirken die Geschichten, auch wenn sie von Versagen, Zurückweisung und Misserfolg erzählen, nie sentimental, sondern amüsant; bestes Beispiel ist auch die Geschichte des Müllmanns Luigi aus „Und du bist dran“, der seinen Beruf vor seiner Freundin geheimhalten will, weil er denkt, dass Frauen keine Müllmänner mögen, bis er schließlich seinen Job aufgibt und arbeitslos wird, woraufhin sie schließlich jemand anderen heiratet – einen Müllmann nämlich.
Einen beispielhaft mustergültigen Menschen gibt es trotz der didaktischen Absichten Moravias nicht. Seine Figuren sind nicht nur moralisch fehlerbehaftet wie jeder gewöhnliche Mensch. Sie sind auch äußerlich nicht perfekt und stehen dem Leser gerade deshalb nahe. Die Männer verlieben sich nicht in wunderschöne weibliche Überwesen, sondern beispielsweise in „ein kräftiges, nicht sehr großes Mädchen mit einem breiten, frischen, von Sommersprossen übersäten Gesicht und einer Brille für Kurzsichtige“ („Die Krankenschwester“) oder „dralle Mädchen, klein und krumm“ („Tarzans Revanche“).
Moravia, der in Rom geboren wurde und viele Jahre seines Lebens in dieser Stadt verbrachte, skizziert in den kurzen Geschichten eine bunte Stadt voller Leben. Sein Rom besteht aus kleinen Cafés und Bars, schmuddeligen Straßen, nachtfinsteren Parks, der braunen Dreckbrühe des trägen Tibers, dem hinter sonnenverbrannten Gräsern und trockenen Sträuchern gelegenem Meer sowie Wohnungen der Unter- und Mittelschicht. Es gibt kleine Geschäfte, mit denen sich die Inhaber gerade so über Wasser halten können. Die Menschen müssen im Kampf ums tägliche Überleben erfinderisch sein. Vom beginnenden Nachkriegsaufschwung hingegen zeugen Autos, Theater und Kinos. Man amüsiert sich beim Spazieren, bei Pferde- oder Windhundrennen oder bei einer Partie Billard, während man auf dem Land „die Hühner zwischen den Beinen hat“ und noch auf Pferde als Fortbewegungsmittel angewiesen ist. Solchermaßen kontrastierend erhält Rom seine Gestalt als Magnet für alle, die sich nach Fortschritt und einem besseren Leben sehnen. Die Landbevölkerung schneidet in Moravias Geschichten dabei schlechter ab als die Variation recht schlitzohriger oder trotteliger Römer. Tuda, das „Mädchen aus Ciociaria“, kann beispielsweise weder lesen noch schreiben und ist so einfältig, dass sie den Wert von Büchern allein an deren Anzahl und nicht an ihrem Inhalt misst.
So einfach wie die Menschen selbst und ihre Lebenswelt ist auch ihre Sprache. Schwarze Augen werden mit Kohlen verglichen; Körper mit Kohlköpfen. Schimpfwörter wie Nichtsnutz, Drückeberger, Faulpelz, Schurke, Hundsfott, gerissenes Luder oder Hexe begegnen dem Leser allenthalben. Sie klingen im Deutschen fast zahm, aber wenn man sie sich zusammen mit lebhaften Gesten und der leidenschaftlichen Intonation der Italiener vorstellt, ahnt man das Unbehagen, das die Darstellung der ungeschminkten Realität der einfachen Bevölkerung in ihren Entstehungsjahren ausgelöst hat. In diesem Sinne ist dieser moderne Klassiker der italienischen Literaturgeschichte dann doch wieder richtig aufgehoben im Urlaubsreisegepäck; als eine kurzweilige Reise in Roms jüngere Vergangenheit und die italienische Kultur, sicherlich keine ganz leichte Kost, aber in Häppchen dargeboten und daher gut verdaulich.
|Originaltitel: Racconti romani, 1954
Übersetzung: Michael von Killisch-Horn
476 Seiten, kartoniert
ISBN-13: 978-3-630-62180-7|
http://www.Luchterhand-Literaturverlag.de
Acht Freundinnen, alle etwa um die vierzig Jahre alt und alle Mütter, treffen sich zu einer Übernachtungsparty. Das ist eine kostbare Ausnahme im stressigen Alltag, die entsprechend zelebriert wird: Mit Unmengen hervorragenden Essens, mit Erdbeer-Daiquiris und Karamelllikör, mit Frauenfilmen und jeder Menge Gesprächen.
Die Mutterschaft ist das bindende Glied zwischen der Ich-Erzählerin Joanne und ihren Freundinnen. Einstellungen und Anschauungen weichen voneinander ab und erzeugen durchaus Reibungsflächen. Doch da ist diese eine Erfahrung, diese Mutterschaftserfahrung, die sie verbindet und die ihnen genügend Plattform bietet, um sich immer wieder zusammenzuraufen und um ihre seltenen Auszeiten zu genießen. Selbst, wenn man dafür großmütig über Makel hinwegsehen muss, die man an den anderen findet.
Acht unterschiedliche Frauen bringen ihre Geschichten, ihre Hoffnungen, Ängste und Träume mit und tauschen sich aus: Der Abend schwankt zwischen Lachen und Weinen, zwischen Wehmut und Albernheit, zwischen der Ausnahme-Zigarette und dem Dinnermarathon. Geheimnisse werden verraten oder zumindest angedeutet, Schwächen aufgedeckt, Eingeständnisse gemacht. Kleine Lästereien fehlen ebenfalls nicht, aber vorrangig geht es um größere Eintracht: Die größere Eintracht, die entsteht, wenn man merkt, dass man nicht allein ist mit den persönlichen Katastrophen, den kleinen Siegen.
Es geht darum, einmal von der Familie wegzukommen, sich einen Abend lang nicht nur um andere zu kümmern, das eigene, zurückgestellte Selbst hervorzukramen und es ein bisschen zu pflegen. Es geht darum, sich eine Auszeit zu gönnen, um am nächsten Tag voller Liebe und Sehnsucht und mit einem leichten Kater in den Schoß der Familie zurückkehren zu können.
_Kritik_
Acht Frauen, acht Leben, eine Nacht und Erdbeer-Daiquiris – natürlich ist das spannend. Für Frauen jedenfalls. Ich konnte schon beim Lesen des Klappentextes vor meinem inneren Auge die kleine Staubwolke sehen, die der letzte Mann hinterlassen hat, der umgehend die Flucht ergriffen hat, sobald er diese Zusammenfassung gelesen hatte. Nein, „Weiberabend“ ist ein Weiberbuch.
Schnell wird „frau“ also warm mit der Authentizität, die sie aus diesen Seiten anspringt: Frauen, die essen, reden, trinken, reden, kichern, reden, weinen, reden … Das kennen wir alle. Wahrscheinlich ist ein schönes Männeräquivalent zu einem solchen Abend ein spannendes Fußballspiel, ein Kasten kalten Biers und ein, zwei Kumpel, mit denen man nur unter Verwendung des Wortes „Alter“ kommuniziert, das auch je nach Betonung eine Menge aussagen kann.
Joanne Fedler schreibt ungekünstelt, und das ist gut so. Sie will ja keine bedeutungsschwangere Literatur verfassen, sie will das Leben zeigen. Zwar hat sie einen angenehmen Stil, aber sie übertreibt es nicht, lässt die Frauen für sich selbst sprechen.
So weit, so schön. Allerdings fehlt mir der letzte Funke des Verständnisses, da ich selbst nicht Mutter bin. Da ich mich noch auf der Seite des Unwissens befinde, kann ich also nur Vermutungen anstellen, was den Wahrheitsgehalt der Aussagen angeht, und mir kam da so das eine oder andere ein bisschen fatalistisch vor. Andererseits – wer bin ich denn, zu urteilen? Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Klappe halten.
Ahnung habe ich lediglich von dem Thementeil des „Frauen unter sich“, und der ist schön gemacht, wenn ich auch nicht jede erzählte Aktion mitmachen würde, und von der Darreichungsform, und daran gibt es nichts auszusetzen.
_Fazit_
„Weiberabend“ ist ein Buch, das ich jederzeit einer Freundin weiterreichen würde. Es ist lebensnah und unmittelbar geschrieben und verfügt über ein sorgsam ausgewogenes Verhältnis von Kichern und Tränen. Da ich zum Hauptthema des Ganzen wenig sagen kann, bleibt mir nur, die Mütter unter euch aufzufordern, sich selbst ein Bild zu machen. Schon für Stil und Atmosphäre lohnt sich die Lektüre, also gebt ihr eine Chance.
|Broschiert: 409 Seiten
Originaltitel: Secret Mothers‘ Business
Aus dem Englischen von Katharina Volk
ISBN-13: 978-3426637975|
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Saramee – eine Stadt unzähliger Schicksale, Abenteuer und Geschichten. Einige hiervon werden in dieser Anthologie erzählt.
_Meinung: _
Den Opener der Anthologie stellt das Vorwort des Herausgebers Chris Weidler dar. Dieser kündigt an, dass sich die Serie künftig auf Kurzgeschichtensammlungen konzentrieren wird, was hoffentlich nicht bedeutet, dass es keine komplexen Romane mehr gibt! Doch diese Anthologie beweist, dass auch die Kurzgeschichte zu unterhalten weiß.
Daher einige Worte zu denen von „Das Glück Saramees“:
|Das Glück Saramees| – Stephan R. Bellem
Die Titelstory eröffnet den Geschichtenreigen rund um die Stadt der Abenteurer und ist auch eine der stilistisch besten Stories. „Jeder findet sein Glück in Saramee”, sagte der Vater des Protagonisten der Eröffnungsstory immer. Er ist jung, fremd in der Stadt und mittellos. In Saramee trifft er auf einen Fremden, der ihn mit einem Botendienst beauftragt – und ihn in ein gefährliches Abenteuer stürzt, das ihm zeigt wofür sein Herz schlägt.
|Mit Brief und Siegel| – Katja Brandis
Shira Jatam, eine Schreiberin, steht der Liebe sehr skeptisch gegenüber. Da taucht ein Fremder bei ihr auf, um ihr einen Erpresserbrief zu diktieren, unter Einsatz seines Dolches. Nur einen Tag später findet Shira den Unbekannten in einer Blutlache liegend und erfährt von ihm an wen der Brief gegangen ist. Shira kennt den Empfänger – das ruft unliebsame Erinnerungen in ihr wach.
|Das Götzenloch| – Tom Cohel
In der Taverne „Sperberhöhle“ lebt Zenja, die tönerne Götterfiguren verkauft und es mit der Eifersucht ihrer „Kollegin“ zu tun bekommt. Doch Zenja verfolgt längst eigene Pläne.
|Abu Risas zweite Chance| – Andrea Tillmanns
Milo Londe bittet Meister Abu Risa (Arzt) darum, ihm einen Platz in seinem Labor zu geben, da er glaubt eine Pflanze zu haben, die das Sumpffieber heilt. Abu Risa sieht eine zweite Chance, seine seit seiner Heirat gesunkene Reputation wieder zu steigern …
|Der Glanz der Durtone| – Michael Schmidt
Adyra, ein Vogelwesen, bittet den Geldwechsler Balduin Baal eine Handvoll Münzen zu schätzen. Der feilscht Adyra die Münzen ab, mit dem Gefühl ein gutes Geschäft gemacht zu haben. Doch an den Münzen klebt das Unglück und das bekommt auch Balduin Baal sehr bald zu spüren.
|Goldrausch| – Guido Krain
Viona Makanar, leitet ein Waisenhaus in Saramee und steht im Ruf, dank ihrer Spendeneintreibung, über einen großen Reichtum zu verfügen. Fellon, der Dieb, will sich etwas davon aneignen, bricht in das Heim steht, steht bald vor einem Goldschatz – und Vionda Makanar.
|Neue Wege| – Chris Schlicht
Der Straßenjunge Balay ist ein geschickter Kletterer und landet auf der Flucht vor Verfolgern im Haus des Baumeisters Gerakas – eine Begegnung, die beider Leben zu verändert scheint.
|Das 226. Elixier| – Tobias Radloff
Sinton will den Meister der Giftmischergilde töten und dessen Platz einnehmen und das Rezept eines Elixiers (Trank der Unsterblichkeit) an sich bringen. Als der Meister den Verrat bemerkt, erzählt er Sinton zur Abschreckung seine Geschichte.
|Turm der Fallen| – Markus K. Korb
Kronn, zu dem Markus K. Korb bereits Romane zur Serie verfasste, schlägt sich nach seiner ehrlosen Entlassung aus dem Dienst der Stadtwache, mehr schlecht als recht durch und gibt sich immer mehr dem Suff hin. Doch das hat seinen Grund: Kronn weiß von einem Tier in Menschengestalt, das in Saramee unter ihnen lebt und von dem Gefahr ausgeht. Und Kronns Gesanken kreisen um den Roten Turm. Dort soll der Hauptteil des Stadtschatzes liegen, den ein furchtbarer Dämon bewacht – Kronn geht dem nach …
|In den Gärten von Bol D’Agon| – Arthur Gordon Wolf
Der Geldwechsler Thallek Yur wird von einem Mitglied der obskuren Sekte „Hüter des Opalwaldes“ aufgesucht, der eine Art Smaragd zu Geld machen will. Dadurch wird Thalleks Gier geweckt und er macht sich auf die Suche nach dem sagenumwobenen Opalwald, die finsteren Gärten des Alten Volkes.
|Helden der Nacht| – Christian Endres
Der Heiler Miravles wird abends von zwei Glisk (Baumbewohner) überfallen, doch ihm kommt ein Fremder mit heiserer Stimme zu Hilfe – Schattenschwinge. Von einem Kampf im Dienste der Gerechtigkeit als selbsternannter Rächer Saramees verletzt, sucht Schattenschwinge erneut Hilfe bei Miravles. Als dieser entführt wird kreuzen sich erneut ihre Wege …
|Träume, Blüten und Liköre| – Martin Clauß
Liwend ist der schönen Saheya verfallen, die er seit zehn Jahren kennt und der er einmal die Woche neue Liköre aus der Brennerei seines Dienstherrn Horoun verkauft. Saheya gehört zu den kostspieligsten Freudenmädchen der Stadt und Liwend spart eisern um nur einmal ein oder zwei Stunden mit ihr verbringen zu können – doch die beiden verbindet auch ein Geheimnis.
|Dschungelatem| – Linda Budinger
Dariu erinnert sich nicht mehr an seine Herkunft, steht gegen seinen Willen bei dem Alchemisten Royard im Dienst und sehnt sich nach nichts mehr als seiner Freiheit. Als Fremde in Royards Anwesen auftauchen, wittert Dariu seine Chance der Gefangenschaft und den Schrecken in dem Labor des Alchemisten zu entgehen.
|Das Geheimnis der Schatulle| – Alfred Bekker & Hendrik M. Bekker
Darisel schleicht sich heimlich auf ein Schiff des Imperiums – er soll das Schiff und andere zerstören und will eine wertvolle Schatulle an sich bringen – und erlebt sein blaues Wunder.
Diese Anthologie bietet kurzweilige und phantasievolle neue Abenteuer aus der Vielfalt der Stadt Saramee. Dabei bewegen sich die Texte – bis auf eine einzige Ausnahme – auf gleich gutem Level und bieten eine unterhaltsame Bandbreite. Ein Band mehr, der beweist, dass die Anthologie zu unrecht ein solches Schattendasein führt. Man kann nur hoffen, dass das Interesse der Leser das ändert.
Die Aufmachung ist wie bei dem Titel „Geweckte Hunde“ wieder sehr künstlerisch und aufwändig. Seien es die gezeichneten Bordüren als Kopf- und Fußzeilen oder die Vitae aller Beteiligter. Im Anschluss an den Text und zu jeder Story gibt es als Entry eine Illustration von Chris Schlicht, die die Serie grafisch betreut und ihr damit eine besondere Note gibt. Diese Serie birgt enormes Potential und es bleibt nur zu hoffen, dass Herausgeber und Verlag dieses auch nutzen und wie aus einem Füllhorn daraus schöpfen werden. Und die Leser das auch honorieren – es wäre eine Schande, wenn nicht.
_Fazit:_
Textlich und optisch gelungener Kurzgeschichtenband aus Saramee, der Lust auf mehr macht – dennoch bleibt zu hoffen, dass es auch weiterhin komplexe Romane geben wird. Denn diese Anthologie aber auch alle anderen Bände der Serie sind absolut empfehlenswert!
|Taschenbuch: 172 Seiten
Mit Innenillustrationen von Chris Schlicht
Layout: Timo Kümmel
ISBN-13: 9783941258174|
[www.atlantis-verlag.de]http://www.atlantis-verlag.de
Als aus Rhodesien Simbabwe wird, ist die Schwarze Lindiwe noch ein Kind. Ein Kind, das von den Geschehnissen in seiner unmittelbaren Umgebung mehr betroffen ist als von umwälzender Politik. Und es geschieht ja auch etwas extrem Gruseliges: ihre Nachbarin, die weiße, rassistische Mrs. MacKenzie, verbrennt bei lebendigem Leibe. Ihr Stiefsohn Ian, ein Jugendlicher, der eben erst aus Südafrika zum Begräbnis seines Vaters gekommen ist, wird verhaftet, vor Gericht gestellt und verurteilt.
Lindiwe ist verängstigt und fasziniert gleichermaßen: Was bringt einen Menschen dazu, so etwas zu tun? Zwei Jahre später kommt Ian aus dem Gefängnis frei und kehrt zurück in das Nachbarhaus Lindiwes. Deren Mutter verbietet ihr den Umgang mit dem Jungen, doch heimlich freunden die beiden sich an, obwohl sie mehr als nur die Hautfarbe trennt: Ian hat die Schule abgebrochen, während Lindiwe immer Klassenbeste war.
Die beiden überwinden zwar ihre Differenzen, aber der Bürgerkrieg hat das Land fest im Griff. Nach einigen traumatischen Erfahrungen beschließt Ian, wieder nach Südafrika zu gehen. Lindiwe möchte ihn begleiten, doch nach nur einer gemeinsamen Nacht lässt Ian sie in einem Hotel an der Grenze zurück.
Die beiden halten über Briefe Kontakt, und als sie sich eigentlich schon in ihren neuen Leben eingerichtet haben, laufen sie sich wieder über den Weg. Was einst so zart begann, hat trotz der Jahre und der Entfernung an Stärke gewonnen. Die neue Nähe und die neuen Umstände schweißen sie zusammen und zwingt sie, sich in einem völlig neuen, gemeinsamen, von Unterschieden geprägten Leben zurechtzufinden – und das in einem Land, das einem Pulverfass gleicht. Während die Lunte schon brennt, kämpfen Lindiwe und Ian verbissen um ihr Glück …
_Kritik_
Irene Sabatini hat eine ganz besondere Liebesgeschichte erschaffen: Zarte Gefühle überwinden Seidenfäden gleich Diskrepanzen, die dafür zu groß erscheinen, und haben nicht lange Zeit, sich zu entwickeln. Viel zu schnell muss die Romanze plötzlich den Härten eines von Komplikationen geplagten Lebens standhalten.
An sich wäre das schon Stoff genug für eine wirklich interessante Geschichte, aber der Hintergrund des vom Bürgerkrieg gebeutelten Simbabwe macht die Liebesgeschichte des ungleichen Paares zu einer einmaligen Lektüre. Die stilistischen Unterschiede in der Redeweise des cleveren, aber ungebildeten Ian und der Akademikerin Lindiwe bilden einen reizvollen Kontrast. Im Anhang befindet sich eine Liste der im Roman verwendeten typischen Ausdrücke, die die authentische Wirkung des Buches noch unterstreichen.
Da Lindiwes und Ians Lebensgeschichte mit dem Aufstieg Mugabes zur Macht verknüpft ist, lernt der Leser ganz nebenbei etwas über die ersten Tage des jetzigen Diktators: Kaum vorstellbar, dass dieser Mann einst als Hoffnungsträger angesehen worden ist.
Politik, Liebe, Verletzungen, Verzeihungen, Tod, Geburt, Glück und Verzweiflung verwebt Irene Sabatini stilistisch wunderschön zu einem atmosphärisch dichten Roman, der eine Art nostalgische Liebeserklärung an eine gestorbene Hoffnung zu sein scheint.
_Fazit_
„Geteiltes Herz“ ist ein Roman, der unter die Haut geht und berührt. Es ist unmöglich, sich dem Zauber zu entziehen, den Sabatini webt: Zwar ist es nicht das geheimnisvolle, urtümliche Afrika, das so gern benutzt wird, um ein romantisches Bild des Kontinents zu zeichnen, aber es ist ebenso unbegreiflich in seiner Gewalt, seinem Hass und seiner Zerstörungswut. Die unerbittliche Lebenslust Lindiwes und Ians hingegen, ihre starken Gefühle füreinander und ihre Hoffnung auf ein besseres Morgen ziehen sich wie eine positive Macht durch all die Verwüstungen, die das instabile Staatenkonstrukt Simbabwes darstellt.
Ein dringender Tipp: Lesen Sie dieses Buch. Es wird Ihnen Einblicke gewähren, die Sie noch nicht hatten.
|Taschenbuch: 480 Seiten
Originaltitel: The Boy Next Door
Aus dem Englischen von Judith Schwaab
ISBN-13: 978-3442740956|
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Der internationale Konzern LoveStar hat in Island den größten Freizeitpark errichtet, den es je gab. LoveStar ist es gelungen, die Träume der Menschen zu entschlüsseln, die sich vor allem um die Liebe und den Tod drehen. Doch nicht alle lassen sich bei der Beglückung gleichschalten – ein junges Paar schafft es, seine ganz individuelle Liebe zu retten.
Bis ein größenwahnsinniger Mitarbeiter des Konzerns eine noch nie dagewesene Begräbniszeremonie organisiert, das „Millionensternefestival“, bei dem eine Million Tote ins All geschossen werden – um dann gleichzeitig weltweit als Sternschnuppen vom Himmel zu fallen. Allerdings geht dieser Plan nicht so ganz auf wie vorgesehen … (abgewandelte Verlagsinfo)
_Der Autor_
Andri Snær Magnason, geboren 1973 in Reykjavík, studierte Physik an der Isländischen Universität mit dem Abschluss Bachelor 1997.
Sein erstes veröffentlichtes Werk war der Gedichtband „Ljóðasmygl og skáldarán“ 1995. Es folgten der Gedichtband „Bónusljóð“ und der Kurzgeschichtenband „Engar smá sögur“. Sein bekanntestes Werk sind wohl seine Kinderbücher so wie „Blái hnötturinn“ oder „Sagan af bláa hnettinum“, deutsch: „Die Geschichte vom blauen Planeten“. Dieses wurde in zwölf Sprachen übersetzt und die isländische Band |múm| komponierte dazu 2001 einen Soundtrack. Sein Roman „LoveStar“ wurde im Jahr 2002 veröffentlicht und gewann zahlreiche Auszeichnungen.
Im März 2006 gab Andri Snær Magnason das Buch „Draumalandið – sjálfshjálparbók handa hræddri þjóð“ heraus, auf Englisch „Dreamland: A Self-Help Manual for a Frightened Nation“. Dafür erhielt er 2006 den Isländischen Literaturpreis. Im Februar 2010 erhielt er nach anderen Ehrungen den hoch dotierten Kairos-Preis. Er ist verheiratet und hat vier Kinder. Er bekämpft die Zerstörung des isländischen Hochlands durch das Eindämmen der Flüsse, das zur Aluminiumverhüttung vorangetrieben wird.
_Handlung_
Örvar Arnason ist ein Mann mit einer Vision. Der isländische Vogelforscher hat die sonderbaren Wellen von Vögeln und Schmetterlingen studiert und dabei ein neuartige elektronische Methode zur Markierung von Einzelwesen entwickelt. Das entsprechende Gerät ist winzig und kann sowohl senden als auch empfangen. Diese Entsprechung eines Handys lässt sich auch beim Menschen einsetzen, entdeckt er zu seiner Freude. Und ohne Handy hätten die Menschen endlich wieder beide Hände frei, um andere, sinnvollere Dinge zu tun, als ständig mit einem Hörer am Kopf herumzulaufen.
Nachdem er das Patent erhalten hat, nennt sich Örvar LOVE-STAR und gründet die gleichnamige Firma zwecks Vermarktung von Geschäftsmodellen, die auf diesem Gerät basieren. Weil die Vogelwellen die Satellitenübertragungen stören, ist seinem „Digitalfunk“ Erfolg beschieden. Natürlich nutzt er zunächst sein Heimatland als Versuchsfeld, bevor er den Rest der Welt beglückt. Schon bald stutzen die Isländer über neuartige Phänomene.
|Marketing für Handfreie|
Da gibt es beispielsweise die KRÄHER. Sie sind die neuzeitliche Entsprechung zum Marktschreier. Allerdings geben sie nur Werbesprüche von sich, die ihnen die LoveStar-Zentrale, an die sie ihr Sprachzentrum vermietet haben, auch eingegeben hat – wandelnde Litfasssäulen also. Und es gibt die GEHEIMWIRTE. Sie streuen im Sinne des viralen Marketings Werbeparolen, empfehlen selbst schlechteste Filme in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis, betreiben also bezahlte Mundpropaganda – gegen Cash versteht sich. Beide, Kräher und Geheimwirte, erwerben sowohl Geld als auch Bewertungspunkte im System von LoveStar, so dass sie sich ihren Aufstieg im aufstrebenden Konzern verdienen können. Demokratisch und gerecht, oder nicht?
|LoveDeath|
Eine weitere Idee, welche Örvar Arnason gekommen ist, vermarktet er jetzt als LoveDeath: Er schießt Verstorbene mit Billigraketen in die Umlaufbahn und lässt sie wieder abstürzen. Bei Wiedereintritt in die Atmosphäre verglüht die Rakete und schickt als aufflammendes Feuerwerk einen letzten Gruß an die auf der Erde andächtig zuschauenden Hinterbliebenen. Nach fünf Jahren braucht LoveStar ganze Flotten von Frachtern aus aller Herren Länder, um die vielen Toten, die seinem Konzern anvertraut werden, transportieren und in den Himmel zu schießen zu können. Die weltweite Markteinführung LoveDeaths steht kurz bevor.
Die Konzernzentrale ist in einen Berg hineingebaut worden. Jeder, der sie mit dem Touristenbus in der isländischen Heide besucht, staunt Bauklötze über die himmelhohe Eingangshalle, die in die Bergflanke eingelassen ist, die Aussegnungsräume und über die zahlreichen Abschussrampen für die Verblichenen. Es vergeht keine isländische Nacht mehr ohne Feuerwerk. Und die Telefonseelsorge REUE sorgt dafür, dass sich immer mehr Isländer vor dem Tod fürchten. Sie beginnen, diejenigen zu beneiden, die den „Absprung“ geschafft haben.
|LoveStar|
Örvar will seinem Land etwas zurückgeben. Zu diesem Zweck hat er LoveStar eigentlich gegründet, sagt er: zur wissenschaftlich fundierten Anbahnung der Liebe. Das Verlieben ist von nun an wegen der ausgeklügelten Computerauswahlverfahren keine Lotterie mehr, keine Iteration aus Verlieben und Entlieben, bis der oder die Nächste kommt, sondern eine verlässliche Zuweisung von WAHREN PARTNERN. Immer mehr Isländer vertrauen darauf, ganz ehrlich, da kannst du jeder Kräher und jeden Geheimwirt fragen.
Und so kommt es, dass auch das Liebespaar Indridi und Sigrídur nach fast genau fünf Jahren und sieben Monaten erfährt, dass es für Sigrídur den WAHREN PARTNER gibt: Per Möller. Indridi, seines Zeichen ein Gärtner auf einer Pflanzenfarm von LoveStar, ist wie vor den Kopf geschlagen. Aber genauso wenig wie die Altenpflegerin Sigrídur will er von seiner Liebe lassen. Zusammen, denken sie, sind sie stärker als der Konzern LoveStar.
|Liebesproben|
Doch der Konzern verfügt über modernste Mittel und Wege. Schon bald macht er den beiden unvernünftigen, UNWISSENSCHAFTLICHEN Turteltauben das Leben erheblich schwererer. Als auch der Einsatz eines Geheimwirts nicht fruchtet, sieht Indridi alsbald in wirtschaftlichen Schwierigkeiten und wird kurzerhand als Kräher rekrutiert. Wenn ein Kerl seiner einzig wahren Liebe ständig ins Ohr trällert, wie TOLL er ihr SCHICKES Kleid findet, wo es doch von ihrer Oma stammen könnte, stellt das auch seine beste Glaubwürdigkeit auf eine harte Probe.
Aber das ist erst der Anfang …
_Mein Eindruck_
Auf der einen Seite erscheint das Utopia, das LoveStar alias Örvar Arnason errichtet, zunehmend finsterer in seinen Folgen, auf der anderen Seite erscheint uns die Liebe zwischen Indridi und Sigrídur zunehmend in Gefahr zu sein – eben durch die LoveStar-Utopie. Spätestens nach zwei Dritteln des Buches ist klar, wo unsere Sympathien liegen sollten – bei den beiden Liebenden.
Doch so einfach macht es uns der Autor nicht: LoveStar ist ein Visionär, der ein wertvolles Geschenk erhalten hat, ein Samenkorn mit einem ganz besonderen, nahezu magischen Ursprung. Und Sigrídur scheint sich endgültig in die Arme von inLOVE begeben zu haben, um den ihr zugemessenen Mann kennenzulernen. Kann all dies zu einem guten Ende gelangen? Wahrscheinlich nur im Märchen. Und so kommt es auch.
|Fabel-haft|
Aber dies ist nicht irgendein ein Märchen von den Brüdern Grimm, o nein. Vielmehr haben die Isländer ganz spezielle Märchen, Sagen, Legenden, Fabeln und natürlich epische Sagas – ein ungeheurer Reichtum an Geschichten, den schon Professor Tolkien auszuschlachten wusste, um sein Privatuniversum aufzubauen (er war Spezialist für Altisländisch und Altenglisch). Deshalb sind unsere Liebenden zwar füreinander bestimmt, doch die Liebe muss zuerst über den Teufel und den Tod triumphieren. Darunter läuft gar nichts.
|Die Zauberlehrlinge|
Teufel gibt es genügend in LoveStars Imperium der Liebe. Hier ist alles von der Wissenschaft der Gentechnik, der Fernkommunikation und des verhaltensgestützten Marketings durchdrungen. Die fleißigen Zauberlehrlinge LoveStars haben das Geheimnis der Liebe ebenso ergründet, wie sie den Tod durchorganisiert haben. Nun öffnet sich ihrem suchenden Blick auf das allerletzte Geheimnis: Wohin sich die Gebete aller Menschen richten – es ist ein ganz bestimmter Ort irgendwo in Ostafrika. Mit anderen Worten: Dort wohnt Gott, was alle praktischen Zwecke angeht. Stracks verfügt sich LoveStar dorthin. Nur um auf ein noch größeres Geheimnis zu stoßen – und ein Samenkorn.
|Der Widersacher und das Ende der Welt|
Doch er hat einen Teufel geschaffen, der ihm an Einfallsreichtum ebenbürtig ist: Ragnar. Indem er dessen Ideenreichtum erst von inLOVE, der Vermarktung der Liebe, abgezogen und auf LoveDeath abgeschoben hat, schuf er eine unheilvolle Allianz aus Genialität und Morbidität. Das Ergebnis ist – tadaaa! – das „Millionensternefestival“. Dabei sollen eine Million Tote gleichzeitig erst auf eine Kreisbahn um die Erde gebracht werden – dabei entsteht eine Art Saturnring – und diese dann alle auf ein Kommando hin in die Atmosphäre der Erde abgeschossen werden. Theoretisch sollen sie alle darin wie Meteore verglühen, sozusagen als das ultimative Feuerwerk. Doch leider ist bei der Berechnung der Brenndauer etwas schiefgegangen.
Werden unsere Liebenden, Verkörperungen der Unschuld und Zuneigung, diesen Weltuntergang überdauern oder wie fast der gesamte Rest der Welt unter den Überresten der nicht verglühten Toten begraben werden? Das soll hier nicht verraten werden. Nur eines: Sie haben einen mächtigen und nicht gerade alltäglichen Beistand.
Ein satirisches Märchen also zwischen Utopie und Apokalypse – ist dies die Essenz des Buches? Wäre dies alles, was der Leser mitnehmen könnte, dann würde die Geschichte auf nicht mehr als ein hübsche Idee hinauslaufen. In Wahrheit handelt es sich jedoch aufgrund der Kraft der Satire um einen bissigen, wenn auch charmant vorgetragenen Angriff auf zahlreiche Werte, die die heutige Welt bestimmen.
|Der Teufel in der Maschine|
Der Erfindungsreichtum LoveStars, der die Menschen von Handys, Liebesirrtümern, elenden Siechtum usw. befreien soll, läuft auf eine Entmündigung hinaus, im Falle von Indridis und Sigrídurs Schicksal gar auf kriminelle Machenschaften. Doch die Firmenleiter haben im Geist der Maschine einen Teufel geschaffen, der sich nur zu bereitwillig gegen die Ziele der Wohlmeinenden und zur Verfolgung egoistischer Ziele einsetzen lässt. Der Computermanipulation ist, wie jeder weiß, stets Tür und Tor geöffnet. Der Autor verteufelt nicht die Rechenknechte, sondern ihre fahrlässigen Bediener und Verwalter.
|Tödliches Marketing |
Ein weiteres Angriffsziel, das der Autor aufs Korn nimmt, ist das Marketing. Hier kennt er sich offenbar bestens und womöglich aus eigener Anschauung aus. Die Mechanismen, die die Marketingabteilung LoveStars anwendet, sind heute alle bereits im Einsatz. Doch aufgrund der (mehr oder weniger freiwillig gewährten) Übernahme des Sprachzentrums von Mitarbeitern lassen sich den Werbebotschaften weitaus glaubwürdigere Übermittler zugesellen: Der Mensch ist das Medium! Marshall McLuhan, der Künder des Slogans „Das Medium ist die Botschaft!“, würde sich im Grabe umdrehen. Aber der Autor folgt lediglich der Logik der Entwicklung zur letzten Konsequenz.
|Liebe und Tod GmbH|
Ein drittes Ziel ist die profitorientierte Bewirtschaftung der letzten tabuisierten Lebensbereiche: Tod und Liebe. Da karren die Isländer Mütterchen und Väterchen zur Festung von LoveStar, um sie abschießen zu lassen und als Feuerwerk zu genießen – eine Wachstumsbranche. Von inLOVE werden die Liebenden neu berechnet, um den wahren Geliebten zu finden. Dieser Schuss geht allerdings nach hinten los: Wunschlos glücklichen Menschen kann man einfach nichts mehr verkaufen, mit dem sie ihre Unzufriedenheit besänftigen könnten, beispielsweise ein dickeres Auto oder eine schickere Waschmaschine (oder ein Apple iPad). Dumm gelaufen, LoveStar. Tatsächlich erinnert sein Imperium stark an das von Kultfirmen wie Apple, Virgin (Richard Branson) oder Microsoft.
|Mickey der Fleischfresser|
Es gibt noch zahlreiche weitere Einfälle, die Seitenhiebe auf liebgewordene Kulturikonen austeilen. In einer grotesken Szene stellen uns LoveStars Zauberlehrlinge das neueste, gentechnisch produzierte (und patentierte) Haustierchen vor: Mickey Mouse! Diese echten Riesenmäuse ähneln Walt Disneys gezeichnetem Vorbild bis aufs runde Näschen und die süüüßen großen Öhrchen. Doch unter dem Fell, das gestreichelt werden will, verbirgt sich ein Raubtier, das am liebsten Kinder anfällt! Daran müssen die Gentechniker noch ein wenig schrauben. Zu dumm, dass einzelne Länder in Fernost bereits Chargen des fehlerhaften Maskottchens erhalten und in Umlauf gebracht haben. Die Zeitungen berichten von ersten Zwischenfällen …
|Eine Schwäche?|
Eine der Schwächen, die ich dem Roman vorwerfen könnte, ist seine Unausgewogenheit. Die Story selbst reicht gerade mal für hundert Seiten, also eine Novelle. Doch der Autor hat sie durch Beschreibungen zahlreicher Nebenfiguren und vor allem durch Meditationen seiner Hauptfigur LoveStar so aufgeblasen, dass die Story eine weltumspannende Bedeutung annimmt und zur Besichtigung eines Zeitalters – verzerrt durch den Spiegel eines warnenden Narren – gerät.
Kein Wunder also, dass die meiste Action im ersten und im letzten Drittel zu finden ist. Zunächst muss der Konflikt herbeigeführt und zuletzt aufgelöst werden – mit den bekannt fatalen Verwicklungen. Gerade das Finale hat mich umgehauen. Hier wartet der Autor mit zwei oder drei netten Ideen auf, die man so noch nirgends gelesen hat. Und so schloss ich das Buch mit einem recht zufriedenen Gefühl und dem Appetit, es noch einmal zu lesen, diesmal in aller Ruhe.
|Die Übersetzung|
Die Übersetzung aus dem Isländischen ist fehlerlos gelungen und es finden sich kaum nennenswerte Druckfehler. Auch der deutsche Stil lässt keine Wünsche offen, es sei denn, man wünscht sich eine etwas flapsigere Ausdrucksweise. Diese beherrschen aber nur sehr wenige Übersetzer sicher, so etwa Bernhard Kempen. Und so wirkt der deutsche Stil zwar korrekt, aber auch ein wenig blass und kraftlos. Manchmal kann man eben nicht beides bekommen.
_Unterm Strich_
Die Satire nutzt sowohl die Mittel der Sciencefiction als auch der reichen Erzählkultur Islands. Im ersten und letzten Drittel überzeugt die Geschichte daher mit einem straffen, ziemlich unvorhersehbaren Plot, der sich zu einem grandiosen Finale aufschwingt. Im Mittelteil kommen der Satiriker und der Werbefachmann zur Geltung, was mitunter zu seitenlangen Rückblenden, Meditationen usw. führt.
Überhaupt bleibt der Mensch Örvar Arnason seltsam blass: Er hat die beste aller Welten gewollt, seine Familie auf dem Altar dieses Ziels geopfert und sich zu Gott aufgeschwungen, aber dennoch einen Teufel und die Hölle auf Erden geschaffen. Dass alles „gut gemeint“ gewesen sei, hilft ihm jetzt auch nicht mehr: Er ist der einsamste Mensch des Planeten, als er den Löffel abgibt. Nicht er schreibt das letzte Kapitel, sondern die Überlebenden. Ob die Liebenden dazugehören werden, soll hier nicht verraten werden.
„LoveStar“ ist keine Thriller- oder SF-Massenware, sondern erfordert schon ein wenig Offenheit und Mitdenken vom Leser, um all die ungewöhnlichen Ideen zu durchdenken. Besonders der Mittelteil kann so zu einer gewissen Durststrecke werden. Doch dafür wird man durch ein fulminantes Finale belohnt. Der Autor wurde dafür nicht ohne Grund mit Preisen ausgezeichnet.
|Originaltitel: LoveStar, 2002
Aus dem Isländischen von Tina Flecken
299 Seiten
ISBN-13: 9783785760284|
http://www.luebbe.de
La Hague im Nordwesten der Normandie ist ein winziges Dorf, das halb im Niemandsland und halb im Meer zu liegen scheint. Die Protagonistin und Ich-Erzählerin kam hierher, um zu lernen, mit dem Verlust zu leben: Ihr Geliebter starb, und mit seinem Tod kam der Schmerz, und nach dem Schmerz kam die Leere.
Das raue Klima La Hagues passt gut zu dem zerrissenen Seelenleben der Trauernden. Sie darf für ein ornithologisches Institut arbeiten, klettert durch die Klippen, zählt Vögel und Eier und wird miserabel bezahlt. Sie lebt in der oberen Wohnung in einem zweigeschossigen Haus, das beinahe im Meer steht. Unter ihr hausen ein Bildhauer und seine schöne, gelangweilte Schwester. Dann gibt es da noch Max, der geistig etwas langsam ist, und Lilli, die ein Bistro führt. Ihre Eltern, die jeder für sich alt werden und nicht miteinander sprechen. Die alte Nan, die einst all ihre Angehörigen ans Meer verloren hat. Und Monsieur Anselme, der Prévert-Forscher aus Passion.
Es ist ein Mikrokosmos voller stiller Momente, in denen man hört, dass hinter dem Schweigen Worte lauern, Bekenntnisse, Geheimnisse, Verbitterungen. Und doch ist alles eingespielt, jeder hält sich an die Regeln, und die Neue, die Trauernde, ist still genug, um nicht zu stören.
Doch dann kommt Lambert ins Dorf, dessen Familie hier vor langer Zeit bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen ist. Er stellt alte Wahrheiten und glatte Oberflächen in Frage, ist unbequem. Und die Mauer des Schweigens in La Hague bekommt Risse, während die hartnäckigen Fragen alte Wunden aufreißen.
Auch die Trauernde wird aufgestört in ihrer selbst gewählten Einsamkeit. Langsam, unsicher und ängstlich tasten sie und Lambert sich durch die alten Geschichten des Hafenfleckens zur Wahrheit vor – und aufeinander zu.
_Kritik_
„Die Brandungswelle“ ist ein stilistisches Meisterwerk. Der Charakter der Natur, der Menschen und der Stimmungen, die darin beschrieben werden, ist perfekt wiedergegeben: Kurze Sätze beschreiben ein schönes, dürftiges Bild: Möwen, Wellen, Klippen. Ein paar Häuser, nicht mehr neu. Tiere, die im Dorf herumwandern. Menschen, denen langes Leid oder langer Groll das Leben verbittert und die Gesichter gezeichnet hat.
Der hilflose Schmerz der Trauernden, die die Leere in sich nicht zu füllen weiß und schreiend im Wind auf den Klippen steht, geht unter die Haut. Ebenso wie die lange Einsamkeit von Menschen, die nicht zu verzeihen verstehen oder kein Interesse daran haben. Die Sinnlosigkeit einseitiger Liebe wird mit ebenso klaren, kurzen Sätzen dargelegt wie die Besessenheit des Künstlers. Und trotz dieser Kürze, dieses gerafften Stils wird das langsame Entdecken der Geheimnisse des knorrigen Orts und seiner Menschen nicht langweilig oder platt. Gegenteilig hat man das Gefühl, im Kopf der Trauernden zu sitzen und zu lauschen; mitzuerleben, wie langsam das Interesse an etwas anderem als ihrem Schmerz in ihr erwacht.
Da wir durch ihre Augen sehen und ihre Gedanken lesen, erfahren wir unvoreingenommen, was geschieht: Sie ist eine Außenstehende in diesem Dorf, akzeptiert, aber ohne Partei. Sie bewegt sich zwischen verhärteten Fronten und ist allen fern genug, dass ihr das nicht übel genommen wird.
Trotz aller Härte und Kühle, trotz aller Trauer und Melancholie, trotz Schmerz und Groll unter der Oberfläche La Hagues ist die letztendliche Aussage des Romans eine versöhnliche: Es gibt immer Hoffnung, vor allem, wenn man nicht mehr an sie glauben kann.
_Fazit_
Dieses Buch bezaubert. Wie die innere Entwicklung der Trauernden sich mit dem Geheimnis vermischt, das über dem Dorf lastet, ist absolut faszinierend. Claudie Gallay fertigt ein engmaschiges Gewebe aus Erzählkunst, das sie ganz sachte um den Leser gleiten lässt, ohne dass der es bemerkt, bis er hilflos gefangen ist und sich erst am Ende des Romans wieder befreien kann. „Die Brandungswelle“ ist schön, traurig, spannend und intensiv. Und es ist ein absoluter Volltreffer.
|Gebundene Ausgabe: 560 Seiten
Originaltitel: Les déferlantes
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
ISBN-13: 9783442752423|
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In Laura Restrepos 2004 in Kolumbien veröffentlichten und jetzt auf deutsch erschienenen Roman „Land der Geister“ geht es um ein Geheimnis – ein durchaus würdiges Thema für eine Erzählung. Aguilar, ein Ex-Literaturprofessor in Bogotá und momentan Tierfutterausfahrer, besucht für ein verlängertes Wochenende seine zwei Söhne aus erster Ehe. Seine jetzige Ehefrau Agustina bleibt derweil allein zu Hause. Und obwohl sie in bester Stimmung ist, als Aguilar aufbricht (sie ist eben dabei, das Wohnzimmer moosgrün zu streichen – eine Farbe, die das Feng-Shui für „Paare wie sie“ empfiehlt), ist sie wie ausgewechselt, als Aguilar nach vier Tagen heimkehrt.
Ein anonymer Anrufer trägt ihm auf, seine Frau aus dem Hotel Wellington abzuholen. Dort findet er sie verwirrt und stumm – kurzum mit psychischem Knacks – vor. Zurück in ihrer Wohnung ändert sich die Situation kaum. Agustina stellt überall Schalen mit Wasser auf und schweigt darüber, was während Aguilars Abwesenheit passiert ist. Dieser wiederum wird vom Gedanken gepeinigt, dass Agustina im Wellington ein Stelldichein mit einem Liebhaber hatte. Doch dann taucht plötzlich Tante Sofi auf, eine verschollene Verwandte Agustinas, die sich ihrer verwirrten Nichte annimmt und sich rührend um sie kümmert. Und so endlich erhält Aguilar erste Einblicke in die Gründe für Agustinas Wahnsinn.
„Land der Geister“ ist ein Roman der Überraschungen und literarischen Winkelzüge, ein Angebot der kolumbianischen Autorin Restrepo zum mitfühlen und mitwundern. Denn das voran gestellte Geheimnis, der seltsame Wahnsinn Agustinas, ist der zentrale Knackpunkt des Romans, an dem sich die gesamte Handlung aufhängt. Dabei geht es nicht nur um Agustina und Aguilar. Vielmehr ist das ungleiche Paar (er – linker Intellektueller, sie – Geldadel, die mit ihrer Familie gebrochen hat) nur der Anlass, um ein breites Panorama zu spannen. So erzählt Restrepo von Agustinas Eltern und Großeltern, beleuchtet deren Lebensumstände und Familien, skizziert Kolumbien in all seiner Widersprüchlichkeit. Und immer wieder unterbricht sie ihre eigenen Erzählfäden, um scheinbar unzusammenhängende Szenen aus verschiedenen Zeiten wie Puzzleteile gegeneinander zu setzen. Nur, um den Leser am Ende erkennen zu lassen, dass all diese kleinen Teile schlussendlich wirklich ein großes Bild ergeben.
Dabei vermutet man als Leser zunächst, dass „Land der Geister“ eine sehr persönliche, sehr kleinteilige Geschichte erzählt – die Geschichte eines Ehepaars oder einer Familie. Wie Aguilar vermutet man den Grund für Agustinas Wahnsinn in einer Affäre, die wohl schief gelaufen ist. Man nimmt an, dass es Restrepos Bestreben ist, Charaktere in ihren Beziehungen zueinander darzustellen – in Liebesbeziehungen, Familienbeziehungen, Abhängigkeiten. Und natürlich ist das tatsächlich ihre Absicht. Doch je länger man liest, desto mehr bricht die Umwelt – Politik, Wirtschaft, Kriminalität – in die Geschichte ein und es wird deutlich, dass die Charaktere nicht unabhängig von dieser Umwelt existieren bzw. existieren können. Was auf der Straße, im Land passiert, beeinflusst Familien und deren Beziehungen und so stellt sich schließlich heraus, dass Agustinas Zustand eben nicht nur eine persönliche Komponente hat.
Denn Restrepos Roman spielt im Bogotà der 1980er Jahre – eine turbulente Zeit für Kolumbien, und zwar nicht im positiven Sinne. Dass das Leben weder einfach noch sicher war, wird an mehreren Stellen deutlich, etwa wenn Charaktere überlegen, ob eine Straße befahrbar ist (Antwort: Nein, denn sie wird von der Guerilla überwacht) oder wenn mitten in der Stadt Bomben explodieren. Zu dieser Zeit befand sich Kolumbien unter dem Einfluss des Medellin-Kartells, einer Drogenorganisation unter Führung von Pablo Escobar, der auch in „Land der Geister“ eine Nebenrolle spielt. Repräsentiert wird die Arbeitsweise des Drogenkartells im Roman allerdings durch Midas MacAlister, einen Ex-Freund von Agustina, der sich aus armen Verhältnissen durch Geldwäsche nach oben gearbeitet hat und nun monetär den alteingesessenen Geldadel des Landes längst überholt hat – eine Tatsache, die ihm ungemeine Befriedigung verschafft. An Midas zeigt Restrepo, wie der Aufstieg um jeden Preis und ohne Gewissen funktioniert, ohne die Figur zum Buhmann zu machen. Er bleibt immer irgendwie sympathisch. Ein echter Gewissenskonflikt für den Leser!
„Land der Geister“ ist allerdings kein einfaches Buch, auch keines, das man in einem Rutsch verschlingen könnte – dafür ist Restrepos Erzählung zu anspruchsvoll und zu dicht. Restrepos Technik, den sie Reportage-Stil nennt, macht das Lesen zu einem besonderen, jedoch auch von Frustrationen geprägten Erlebnis: Es gibt keine Absätze, keine wörtliche Rede und schon gar keine verlässlichen Erzähler. Restrepo schreibt, als würde sie die mündlichen Aussagen ihrer Charaktere stenographieren. Dabei wechselt sie sprunghaft die Perspektive (um vom Ich- zum personalen Erzähler zu wechseln, braucht sie in der Regel nur einen Nebensatz), den Erzähler oder die Zeitform. Lässt man sich auf diese Technik ein, erhält man den Eindruck, die handelnden Figuren erzählten selbst – unverfälscht und damit eben auch fehlerhaft. Gleichzeitig verlangt dieser Stil dem Leser aber auch einiges ab, denn wie in einer mündlichen Erzählung auch gibt es Abschweifungen und Verzögerungen. Um Ermüdungserscheinungen beim Lesen vorzubeugen, empfiehlt es sich daher, sich den Roman in kleinen Dosen zu Gemüte zu führen. Das führt auch dazu, den bis ins letzte geschliffenen Stil der Autorin (der nur eben nicht danach aussieht) besser genießen zu können.
|Taschenbuch: 384 Seiten
ISBN-13: 978-3630621739
Originaltitel:| Delirio|
Deutsch von Elisabeth Müller|
http://www.luchterhand-literaturverlag.de
Seit drei Jahrzehnten schon fegt Salvador den Flughafen. Er kennt sich aus mit den Reisenden, weiß, wer wohin fliegt und was in ihnen vorgeht. Ab und zu unterbricht er gern seine Arbeit, um mit den Menschen zu plaudern. Er tröstet, unterhält, gibt Tipps und Warnungen. Gern spricht er auch mit dem übrigen Flughafenpersonal, speziell mit der hübschen Frau am Kiosk.
Salvador hat für jeden die passende Geschichte auf Lager, und sein Fundus vergrößert sich mit der Zeit: Seine Gesprächspartner revanchieren sich gern. Und so lernt Salvador durch die schönen, traurigen, absurden und melancholischen Geschichten in seinem Mikrokosmos Flughafen die ganze Welt kennen. Er gibt sie weiter an alle, die sie haben wollen. Ob es um die Liebe geht oder um Menschen, die mit der Welt nicht klarkommen, ob es um Grenzgänger geht oder um den ominösen Club der unerhörten Wünsche: Salvadors Gehirn ist ein wohlgeordnetes Regal mit vielen kleinen Bändchen voller Anekdoten, die zum Nachdenken anregen, zum Schmunzeln, zum Seufzen oder zum Schaudern.
Salvador ist der Kitt, der den Flughafen zusammenhält und zu einer Einheit formt, er ist der Zauberer, der den Menschen durch seine Zuwendung ein Lächeln aufs Gesicht malt. Und sie hier und da um eine Zigarette bittet. Obwohl er ja nicht raucht, eigentlich. Nur hin und wieder.
_Kritik_
„Salvador und der Club der unerhörten Wünsche“ ist ein langer Monolog des Kehrers. Was seine Gesprächspartner antworten, geht aus dem hervor, was Salvador sagt. Der Fokus liegt klar auf dem älteren Herrn – und doch erfahren wir nicht nur über ihn, sein Leben und seine verstorbene Frau eine Menge, sondern auch über die Menschen, die auf dem Flughafen sitzen und auf ihre Flüge warten. Und über Salvadors Kollegen, die Tag für Tag mit ihm dafür sorgen, dass der Betrieb reibungslos läuft.
Die Geschichten sind kurz gehalten, in einzelnen Kapitelchen reihen sie sich aneinander, bauen aufeinander auf. Manchmal gibt es Fortsetzungen, die erst nach anderen Anekdoten folgen, so wie auch die Informationen über den Protagonisten nur häppchenweise preisgegeben werden. Das führt dazu, dass man theoretisch viele Einschnitte hätte, an denen man das Buch aus der Hand legen könnte – tut man aber nicht. Viel zu gern möchte man wissen, was weiterhin passiert, wie es zu bestimmten Umständen kommen konnte. Spannung und Leichtigkeit mischen sich in der Anekdotensammlung mit Freude, Trauer, Wehmut, Sehnsucht, Abscheu und Reisefieber zu einem filigranen, vielschichtigen Gewebe, aus dem die Figur des Salvador bescheiden wie facettenreich hervortritt.
Der Stil des Buches ist dem Rahmen angemessen. Er hält sich strikt an das Medium der Erzählung, ohne Capricen und Ausfälle, so dass die Figur des Sprechenden nicht nur glaubwürdig erscheint, sondern fast vor dem Leserauge Gestalt annehmen möchte: Zwinkernd, lächelnd, auf den Besen gestützt.
Es ist schwer zu glauben, dass Alberto Torres Blandina erst 1976 geboren wurde: Seine Geschichten sind von so tiefer Weisheit und trotz den teilweise abstrusen, gemeinen und traurigen Einsprengseln von so umfassender Philanthropie, dass die Erzählergestalt des älteren Herren Salvador viel besser zu ihnen passt als die eines so jungen Mannes.
_Fazit_
„Salvador und der Club der unerhörten Wünsche“ ist ein zauberhaftes Buch. Es ist keine schwere Lektüre und nicht von eherner Wucht, aber sein zarter Abdruck im Gehirn ist deutlich und hält lange vor. Man erinnert sich und lächelt, und man kann nicht anders, als den Kehrer ein bisschen lieb zu gewinnen. Tatsächlich ist das kleine Buch eines der schönsten, die ich seit langem gelesen habe, und ich werde es noch oft zur Hand nehmen: Zum Wiederlesen, zum Verschenken.
Ich kann es nur jedem ans Herz legen, ebenso, wie das weitere Schaffen des jungen Autors mitzuverfolgen: Das vorliegende Buch war sein preisgekrönter Erstling, und in Spanien wurden seine nächsten beiden ebenfalls mit Preisen ausgezeichnet. Es wird sich lohnen, auf die Übersetzungen zu lauern und sofort zuzuschlagen
|Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
Originaltitel: Cosas que nunca occurirían en Tokio
Aus dem Spanischen von Petra Zickmann
ISBN-13: 978-3421044488|
[www.randomhouse.de/dva]http://www.randomhouse.de/dva/
Seit ihren Romanen rund um die Schnäppchenjägerin Rebecca Bloomwood hat sich Sophie Kinsella in die Herzen der Frauenroman-Fans geschrieben – so auch in meines. Entsprechend gespannt war ich auf ihr neuestes Werk, denn jede Figur, die Kinsella ins Leben ruft, misst man doch unweigerlich an der sympathischen und völlig chaotischen Becky Bloomwood.
In „Charleston Girl“ steht Lara Lington im Mittelpunkt des Geschehens. Sie ist Anfang 30 und stolpert gerade von einem Unglück ins nächste. Erst hat ihr Freund Josh aus unerfindlichen Gründen mit ihr Schluss gemacht und reagiert nun nicht einmal auf ihre immer verzweifelter werdenden SMS und dann ist auch noch ihre Freundin Natalie nach Goa entschwunden, mit der sie kürzlich eine Headhunting-Agentur aufgemacht hat. Nur leider ist Natalie die Expertin auf diesem Gebiet, nicht aber Lara. So klingeln immer mehr erboste Kunden an, die Lara kaum noch besänftigen kann. Schließlich muss Lara zum Begräbnis ihrer Großtante Sadie, die im gesegneten Alter von 105 gestorben ist. Die Beerdigung wird zum Wendepunkt in Laras Leben, erscheint ihr dort doch plötzlich der Geist ihrer verstorbenen Großtante – und zwar nicht im Greisenalter, sondern als putzmuntere und sehr aufsässige 23-Jährige, die Hände ringend eine Perlenkette mit einem Libellenanhänger sucht, die ihr vor Jahrzehnten abhanden gekommen ist.
Zunächst zweifelt Lara an ihrem Verstand – handelt es sich bei Sadies Geist um eine Halluzination? Doch dafür ist die Erscheinung zu lebendig und allzu präsent, denn lautstark fordert Sadie ihr Recht ein und kommandiert Lara fortan herum. Ohne diese spezielle Kette kann Sadie keine Ruhe finden, und so macht sich Lara auf die Suche nach der verschollenen Kette und verhindert dafür zunächst einmal unter einem sehr abstrusen Vorwand Sadies Einäscherung. Und wo Sadie schon einmal in Laras Leben getreten ist, verändert sie dieses gehörig: Sie sagt Lara ihre ehrliche Meinung über Josh und sorgt dafür, dass Lara einen wildfremden Mann – Ed – um ein Date bittet – nur damit Sadie mit ihm zum Tanzen gehen kann. Und da es ja Sadies Verabredung ist, stylt sie Lara ganz nach ihren Wünschen – mit wasserfestem 20er-Jahre Make-up, Brennscheren-gewellten Haaren und einem Flapper-Kleid. Auch die Kommunikation bei dem Date mit dem spießigen Typen mit der dicken Sorgenfalte auf der Stirn übernimmt Sadie und bringt Lara damit manchmal ziemlich in Verlegenheit. Als Sadie dafür sorgt, dass Ed Lara zu einer zweiten Verabredung einlädt, ahnt sie nicht, wie sie damit Laras Leben auf den Kopf stellt …
_Dein ständiger Begleiter_
Zunächst war ich völlig irritiert von Sophie Kinsellas Idee, ihrer Hauptfigur Lara einen Geist an die Seite zu stellen, der permanent dabei ist und sich in jede Unterhaltung lautstark einmischt. Manchmal ging mir Sadie im wahrsten Sinne des Wortes auf den Geist mit ihrer Penetranz, ihrem mangelnden Einfühlungsvermögen und ihren ständigen Einmischungen. Und auch Lara hat sie mit diesem Verhalten häufig auf die Palme gebracht. Irgendwann aber gewinnt man Sadie lieb, wenn sie beginnt, auch an andere zu denken, sich um Lara zu kümmern und ihr Leben in die richtige Bahn zu lenken. Doch die Gratwanderung, die Sophie Kinsella hier unternimmt, ist aus meiner Sicht nicht immer gelungen. Bis man an den Punkt kommt, an dem man Sadie ins Herz schließt, hat man vor Ärger bereits einige graue Haare bekommen.
Lara Lington trägt die gleichen Züge wie die meisten Heldinnen in Frauenromanen: Sie ist Anfang 30, unglücklich verliebt, unzufrieden mit ihrem Job und ziemlich naiv, wenn es darum geht zu akzeptieren, dass der Ex einen vielleicht doch nicht zurück haben möchte und es auch nichts bringt, ihm nach der Trennung alle fünf Minuten eine verzweifelte SMS zu schicken, bis der Ex gezwungen ist, sich eine neue Handynummer zu besorgen. Diese Phase macht auch Lara durch, glücklicherweise aber übertreibt es Kinsella nicht. Diese nervigen und naiven Charakterzüge, die einer über 30-jährigen Frau im übrigen nicht sonderlich gut anstehen, treten relativ selten in den Vordergrund. Daher dauert es nicht lange, bis Lara beim Leser (bzw. bei der Leserin) Sympathiepunkte sammelt, denn sie muss dank Sadie zunächst einiges ertragen und auch im Job läuft es alles andere als rund, da ihre Partnerin Natalie sie unverhofft im Stich gelassen hat und Lara keine geeigneten Marketing-Direktoren auftreiben kann.
Im Laufe des Buches emanzipiert Lara sich sichtbar: Sie schickt Josh endgültig in die Wüste, kümmert sich herzensgut um Sadie und hängt ihren Job an den Nagel, obwohl sie all ihre Ersparnisse in die Firma gesteckt hat. Diese Wendung kommt zwar nicht völlig überraschend, passt aber wunderbar zu der Geschichte, die Sophie Kinsella erzählt.
_Erfrischend anders_
Auch wenn Lara Lington sich kaum von anderen Figuren in der Frauenliteratur unterscheidet, so schafft es doch die Geschichte, sich vom Durchschnitt deutlich abzuheben. Natürlich geht es auch hier um Männer, Liebe und Karriere, aber gewürzt hat Sophie Kinsella diese alltägliche Geschichte mit dem Geist Sadie, der für allerlei Trubel in Laras Leben sorgt und auch die ganze Handlung belebt. So befremdlich ich es zunächst fand, hier einen Geist präsentiert zu bekommen, so erfrischend anders fand ich diese Wendung im Laufe der Zeit. Zudem sorgt Sadie für allerlei komische, merkwürdige und abstruse Situationen, die mir immer wieder ein breites Grinsen ins Gesicht gezaubert haben. Allein die Vorstellung, dass Lara zu ihrem Date in voller 20er-Jahre-Montur erscheint und sich dafür in Grund und Boden schämen muss, war schon ziemlich komisch. Aber auch die vermeintlichen Selbstgespräche, die Lara mit Sadie führt, machen die Geschichte lebendig, da natürlich in Laras Umfeld niemand ahnen kann, dass sie mit einem Geist kommuniziert.
_Unter dem Strich_ gefiel mir „Charleston Girl“ mit kleinen Abstrichen sehr gut. Als ich mich an Sadie und ihre Eigenarten gewöhnt hatte und Sadie vor allem nicht mehr ganz so egoistisch in alle Gespräche und Verabredungen hinein geplatzt ist, wurde das Buch zu einer echten Wohlfühllektüre, die mich wunderbar unterhalten und mir immer wieder ein Lächeln ins Gesicht gezaubert hat. Es bleibt dabei: Sophie Kinsella ist in ihrem Genre eine sichere Bank!
Bücher sind magisch. Einmal zur Hand genommen, können sie im Kopf des Lesers ganze Welten erstehen lassen. Sie können entführen, verzaubern und gefangen nehmen. Das Medium Buch verdient also selbst die literarische Betrachtung. Das dachte sich auch der dänische Autor Mikkel Birkegaard, der mit seinem Debutroman „Die Bibliothek der Schatten“ 2007 in seinem Heimatland einen Überraschungserfolg landete. Nun ist sein literarischer Thriller auch auf deutsch erschienen: ein Schmöker von 500 Seiten, der zum Eintauchen einlädt. Denn Birkegaards Grundidee ist zunächst durchaus interessant:
_In seinem Universum gibt_ es ganz besondere Menschen, die sogenannten Lettori, die die Fähigkeit haben, Leseerfahrungen zu beeinflussen. Manche dieser Lettori sind Sender – begabte Vorleser, die die Reaktion des Zuhörers auf den Text bewusst steuern können. Andere hingegen sind Empfänger – sie hören jeden gelesenen Text und können dadurch Einfluss auf den Leser nehmen.
Luca Campelli, seines Zeichens Antiquitätenhändler, ist ein solcher Lettore. Gleich zu Beginn des Romans ereilt ihn jedoch der Tod und so wird sein Sohn Jon, ein erfolgreicher Anwalt, in die Geschichte hinein gezogen. Er erfährt, dass sein Vater eine ganze Schar Lettori um sich gesammelt hatte und schließlich stellt sich heraus, dass Jon selbst der bisher fähigste Sender ist. Er kann nicht nur Emotionen im Zuhörer, sondern sogar physische Manifestationen hervor rufen.
Das ruft eine weitere, bisher im geheimen agierende Lettori-Organisation auf den Plan, die aus ihren Talenten praktischen Nutzen ziehen will. Mit den Mitgliedern an der richtigen Stelle (z. B. in der Nähe eines Politikers oder Wirtschaftsbosses) könnten sie das Weltgeschehen nach ihrem Gutdünken dirigieren. Und natürlich möchten sie Jon in die Finger bekommen, denn seine Fähigkeiten wären bei ihren Weltübernahmeplänen äußerst hilfreich!
_Das Positive zuerst_: Der Roman ist bei dem Verlag Page & Turner erschienen und der Name ist hier Programm. Tatsächlich liest sich „Die Bibliothek der Schatten“ durchaus flüssig und man hat selten Gelegenheit, sich zu langweilen. Birkegaard ist ein passabler Erzähler und fähig, den Leser bei der Stange zu halten. Sein erzählerisches Können rangiert allerdings im Mittelfeld, einen Sprühregen an originellen Einfällen darf man nicht erwarten.
Tatsächlich scheut sich Birkegaard nicht, eine ganze Reihe Klischees zu bedienen. Das beginnt mit einer reichlich uninspirierten Liebesgeschichte und endet mit der Tatsache, dass er als Gegenspieler für Jon eine uralte Geheimorganisation aus dem Hut zaubert, die die Weltherrschaft übernehmen will und sich bei ihren Zusammenkünften Umhänge mit Kapuze anzieht. Dass zwischen diesen Polen dann nicht mehr viel Originelles passiert, versteht sich von selbst. Auch nimmt er den logischen Aufbau seiner Thriller-Elemente etwas zu ernst. Er weiß um die wichtige Regel, dass Hilfsmittel, Erkenntnisse oder Figuren nicht einfach aus dem Nichts auftauchen dürfen. Sie müssen bereits an früherer Stelle eingeführt worden sein, damit sie später mit einem Knall wichtig werden dürfen. Birkegaard befolgt diese Regel mit geradezu penibler Akribie, was allerdings dazu führt, dass der Leser diesen Kniff bald durchschaut. Ab diesem Moment, der mit der Erkenntnis einher geht, dass der Roman keinen Überschuss enthält und stattdessen jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werden muss, fällt es leicht, Birkegaards nächste Schritte und die Wendungen der Geschichte vorauszusagen. Eine Tatsache, die naturgemäß das Tempo aus der Erzählung nimmt und Überraschungsmomente eliminiert.
Ein viel größeres Problem ist jedoch die Idee der Lettori selbst. So charmant und zauberhaft sie anfangs auch klingt, ist sie leider nicht tragfähig genug für einen Roman dieser Dimension. Birkegaard nimmt sich selbst den Wind aus den Segeln, indem er versucht, die Wirkkraft der Lettori psychologisch bzw. wissenschaftlich zu erklären. Das wirkt bemüht und keineswegs überzeugend, vor allem, da es einfacher gewesen wäre, die Lettori einfach als fantastisches Element zu akzeptieren und entsprechend auszugestalten. Auch ist Birkegaard leider nicht in der Lage, den Zauber des Lesens in Worte zu fassen bzw. das Eintauchen in einen Text literarisch überzeugend zu gestalten. Trotzdem widmet er sich diesem Element wiederholt und ausführlich, was beim Leser zu Ermüdungserscheinungen führt. Am deutlichsten wird dies während des Showdowns in der Bibliothek von Alexandria, in dem mehrere Lettori aus einem Buch lesen und im Kopf der jeweils anderen Empfindungen entstehen lassen. Das erscheint als Auflösung eines Verschwörungsthrillers unglaublich abstrakt und statisch. Diese Szene – durchaus lang und komplex – führt über weite Stellen nämlich nirgendwohin und Birkegaard verwirrt den Leser nur, indem er ständig zwischen der Realität (einige Männer stehen auf der Bühne und lesen) und der Lettore-Empfindung (Gewitterwolken, Sturm, Blitze – das ganze Repertoire) hin und her springt. Diese beiden Handlungsebenen gelingen Birkegaard kaum, eine Tatsache, die sich im gesamten Roman widerspiegelt. Mehrdeutigkeiten, Anspielungen, literarische Witze oder gar Intertextualität sind seine Sache nicht, jedoch sind dies alles Zutaten, die man in einem Buch über Bücher erwarten würde. Stattdessen ist bei Birkegaard alles wörtlich zu nehmen und wenn er auf andere Werke Bezug nimmt, dann passiert auch das nur deutlich und eindimensional ausgesprochen, nämlich zum Beispiel, wenn jemand die Titel in einem Bücherregal vorliest. So erklärt der Autor dem Leser vollkommen unverschlüsselt, in welcher Tradition er sein Buch gesehen haben will (Stichwort: „Der Club Dumas“ oder „Der Name der Rose“ – beide Titel werden namentlich erwähnt), anstatt dem Leser Hinweise zu bieten und ihm selbst die Deutung zu überlassen. Dergestalt enthält er dem Leser viel Genuss vor, denn er ist im Ganzen zu deutlich und spricht zu viel aus. Denn als Leser eines literarischen Rätsels wie „Die Bibliothek der Schatten“ eines sein will, möchte man gefordert werden und sein eigenes literarisches Wissen mit dem des Autors messen. Birkegaard jedoch ist übervorsichtig und erklärt lieber einen Großteil der Faszination seiner Geschichte weg.
_Und so ist_ „Die Bibliothek der Schatten“ zwar ein unterhaltsames und spannendes, aber eben auch ziemlich eindimensionales Werk geworden. Buchliebhaber sollten das bedenken, wenn sie sich auf die Lektüre einlassen. Wer sich einen angenehmen Abend mit Verschwörungstheorien und Geheimnissen machen will, den wird Birkegaards Erstling nicht enttäuschen. Wer darüber hinaus jedoch auch literarische Happen genießen möchte, dem wird wahrscheinlich beim Lesen der Magen knurren.
|Gebundene Ausgabe: 512 Seiten
ISBN-13: 978-3442203628
Originaltitel: |Libri di Luca|
Deutsch von Günther Frauenlob und Maike Dörries|
Zaki und seine Cousine Samar Api wachsen zusammen in einem Haus in Lahore auf. Der Alltag wird dominiert von Reibereien zwischen Zakia, Zakis unabhängiger, revolutionär denkender Mutter und ihrer Schwiegermutter, der konservativen Daadi.
Wie üblich empfinden die Heranwachsenden die Zeit, in der sie leben, nicht als besonders. Benazir Bhutto kommt an die Macht und scheidet die Geister – wen interessiert das, wenn Samar Api das erste Mal verliebt ist? Warum sollte man über das Alkoholverbot klagen, wenn es doch überall Schmuggler gibt? In der Welt von Zaki und Samar Api geschehen mehr Abenteuer, als die neuen islamischen Verbote und Gesetze jemals zugelassen hätten: Individuelle Triumphe, Intrigen, Freund- und Feindschaften lassen den beiden jungen Leuten nur wenig Raum, sich über Politik Gedanken zu machen. Außerdem tut das ja schon die ältere Generation und streitet sich andauernd. Zakia gibt gar ein Frauenjournal heraus, in dem sie kein Blatt vor den Mund nimmt.
Die Jahre vergehen, Jammer und Freude wechseln einander ab. Freude folgt auf Enttäuschung, und Menschen werden wie Blätter im Wind in verschiedene Richtungen geweht. Zaki besucht verschiedene Schulen, sticht durch Talent zum Schreiben hervor und studiert schließlich in Boston. Als er zur Hochzeit seiner Cousine nach Hause kommt, ist es eine Reise in die Vergangenheit, die durch seine Erinnerungen führt.
_Kritik:_
Ali Sethi hat eine berührende und schöne Familiensage geschrieben. Die Ängste, Zwänge und wilden Freiheiten des Heranwachsens sind unmittelbar und eindringlich geschildert. Dass sie sich vor dem Hintergrund des politisch gebeutelten Pakistan abspielen, gibt dem Ganzen eine besondere Würze.
Ali Sethi verfügt über eine stilistische Kunst, die seine Bilder beeindruckend hervortreten lässt. Der Mann kann |schreiben|! Ohne mit erhobenem Zeigefinger zu belehren, führt Sethi durch ein interessantes und beängstigendes Kapitel von Pakistans Geschichte. Durch die lebenden, atmenden, hoffenden und ringenden Menschen erhält auch dieser Hintergrund Farbe und Leben, und plötzlich ist Pakistan nicht mehr nur eine Krisenregion aus den Nachrichten, sondern der Platz, an dem Zaki mit seinen beiden älteren Cousins nachts Auto fährt und Samar Api sich heimlich aus dem Haus schleicht, um ihren Freund zu treffen.
Sethi verwendet keine Gemeinplätze, all seine Bilder und Geschichten sind frisch, eindringlich und anrührend. Natürlich bleibt naturgemäß auch der Jammer des Umsturzes nicht aus, aber er reiht sich ein in die privaten Sorgen und Nöte, vermengt sich mit ihnen und wird dadurch auf eine viel weniger abstrakte Ebene gehoben, als stures Aufzählen von Daten und Fakten das jemals vermöchte. Und Zakis Aufbruch in die fremde Welt jenseits des Meeres erscheint vor diesem Hintergrund wie ein großes Abenteuer.
_Fazit:_
Man möchte „Meister der Wünsche“ nehmen und es jedem geben, den man trifft. Es ist ein gutes, ein eindringliches und liebevolles Buch, das verschiedene komplizierte Themen in sich vereint und auf zarte Weise dem Leser nahe bringt. Khaled Hosseini, Autor des „Drachenläufer“, zeigte sich begeistert und erklärte: „Ali Sethi […] schenkt uns eine differenzierte, oft komische und immer völlig überraschende Sicht auf das Leben im heutigen Pakistan.“ Dem bleibt nur mehr wenig hinzuzufügen.
Wenn Sie sich für dieses gebeutelte Land interessieren, wenn Sie gern Geschichten von interessanten Menschen lesen, die wunderschön erzählt sind, dann kommen Sie am „Meister der Wünsche“ kaum vorbei. Das Glossar, das sich im Anhang befindet und das die im Text verwendeten landestypischen Ausdrücke erklärt, ist umfassend und hilft beim tieferen Eintauchen in diese fremde Kultur.
|Taschenbuch: 495 Seiten
Originaltitel: The Wish Maker
Aus dem Englischen von Claudia Wenner
ISBN-13: 9783423247894|
[www.dtv.de]http://www.dtv.de/
[www.alisethi.com]http://www.alisethi.com
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