Archiv der Kategorie: Belletristik

Kureishi, Hanif – Buddha of Suburbia, The

_“What a mess everything had been“_

|Sex, Drugs und Rock ’n‘ Roll – „Genauso war es!“, werden die Dabeigewesenen nostalgisch seufzen. Die später Geborenen werden sich melancholisch wünschen, sie wären einige Jahre eher zur Welt gekommen. Hanif Kureishis Roman „The Buddha of Suburbia“ (dt. „Der Buddha aus der Vorstadt“) lässt die schrillen Siebziger in England wieder aufleben.|

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines ersten Romans war Kureishi bereits bekannt als Dramatiker und Autor von Filmskripten wie „My Beautiful Laundrette“ (dt. „Mein Wunderbarer Waschsalon“). Sein Erstlingsroman „The Buddha of Suburbia“ gewann den |Whitebread Prize| für den besten Roman des Jahres 1990 und wurde 1993 als TV-Serie von der |BBC| ausgestrahlt.

Der Roman steht in der Tradition des englischen Initationsromans (Fielding: „Tom Jones“ z. B.). Die Integrität einer jugendlichen Hauptfigur wird in der heuchlerischen Erwachsenenwelt getestet. Komisch und traurig zugleich sind die Erlebnisse des Helden im „Buddha of Suburbia“, bis er am Ende die Spielregeln dieser Gesellschaft akzeptiert und seinen Platz in ihr gefunden hat.

So begleitet der Leser den adoleszenten, vom Leben gelangweilten Karim Amir („an Englishman born and bred, almost“) auf seinem verzweifelten Versuch, den Londoner Vororten zu entkommen und dabei alle Möglichkeiten zu nutzen, die die 70er und das Leben selbst ihm bieten. Als erstgeborener Sohn aus einer Ehe zwischen einer weißen Engländerin und einem Vater pakistanischer Herkunft muss er mit ansehen, wie die Ehe seiner Eltern zerbricht, weil sein Vater Haroon eine Beziehung mit Eva eingeht, die sich ihrerseits von ihrem Ehemann getrennt hat. Karim folgt seinem Vater, der mit transzendentalem Geschwafel und Evas Hilfe zu einer Art Guru (ironisch: dem Buddha) aufsteigt und Botschaften verkündet wie |“Follow your feelings. All effort is ignorance. There is innate wisdom. Only do what you love.“| (dt. etwa „Folge deinen Gefühlen. Jegliche Anstrengung ist Ignoranz. Es gibt eine gottgegebene Weisheit. Tu nur, was du liebst.“). Wer hört da nicht die |Beatles| „All You Need is Love“ singen und sieht nicht, wie sich Massen bekiffter Amerikaner im Schlamm von Woodstock wälzen?

Im Verlaufe des Romans zieht die neue Familie nach London um, Karim entwickelt sich zum relativ erfolgreichen Schauspieler. Gemäß den Vorstellungen von freier Liebe erlebt er mit so ziemlich allem erotische Abenteuer, was ihm über den Weg läuft – u. a. mit seinem „Stiefbruder“ Charlie (der seinerseits zu einem gefeierten, international erfolgreichen Rockstar wird), mit seiner „Cousine“ (die sich, ebenso wie ihr Mann, mit den Problemen einer von ihrem Vater arrangierten Ehe auseinandersetzten muss) und mit einem Hund (oder besser der Hund mit ihm) – und an allen Orten, die man sich nur denken kann: im Bett, auf dem Boden, im Park, auf öffentlichen Toiletten. Natürlich darf auch die bei Kureishi übliche Szene nicht fehlen, in der ein Pärchen beim Sex beobachtet wird (pikanterweise sein Vater beim Begehen des Ehebruchs).

Ebenfalls typisch für Kureishi ist, dass sein Protagonist sich mit seiner jugendlichen Verwirrung, mit Rassismus auf verschiedenen Ebenen, mit seiner Identitätsfindung und dem Finden eines Lebensziels sowie verschiedenen Formen des Zusammenlebens auseinandersetzten muss. London bietet dabei alle Möglichkeiten sich auszuprobieren: |“There were kids dressed in velvet cloaks who lived free lifes, there were thousands of black people everywhere, so I wouldn’t feel exposed, there were bookshops with racks of magazines, there were shops selling all the records you could desire; there were parties where girls and boys you didn’t know took you upstairs and fucked you; there were all the drugs you could use …“| (dt. etwa: „Es gab Kids in samtenen Umhängen, die ein freies Leben lebten, es gab überall Tausende Schwarze, so dass ich mich nicht exponiert fühlte, es gab Buchläden mit Regalen voller Magazine, es gab Läden, die alle Aufnahmen verkauften, die man sich nur wünschen konnte, es gab Partys, bei denen dich unbekannte Mädchen oder Jungen mit nach oben nahmen, um dich zu ficken, es gab alle Drogen, die man nutzen konnte …“).

Richtig lesenswert wird der Roman jedoch durch Kureishis Humor. Derbe Witze wechseln mit Ironie, Satire oder komischen Anekdoten. Tragikomisch wirkt zum Beispiel der Hungerstreik von Karims Onkel, der damit die arrangierte Hochzeit seiner Tochter mit Changez erpresst. Tragikomisch geht es weiter, wenn dieser Ehemann sich als beleibter Krüppel herausstellt, der nicht in der Lage ist, die Hoffnung seines Schwiegervaters, der sich für ihn fast zu Tode gehungert und Hilfe in seinem Geschäft erwartet hatte, zu erfüllen. Tragikomisch ist auch die Figur des Changez‘ an sich, der sein Wissen über England aus den Romanen Conan-Doyles bezogen hat und hoffnungsvoll in das gelobte Land kommt, um erfahren zu müssen, dass seine Frau lieber mit Karim und später mit anderen Frauen schläft als mit ihm und, dass er seinen pakistanischen Lebensstandard mit Villa und Dienern letztendlich für das Leben in einer Kommune aufgegeben hat.

Dem Autor gelingt es in seinem teilweise autobiographischen Roman, die asiatische und englische Kultur gegenüberzustellen und zu zeigen, wodurch Vorurteile auf beiden Seiten entstehen. Auf ironisch liebevolle Weise führt er den europäischen Leser in eine für ihn fremde Welt ein und zeigt die Auflösung der östlichen Traditionen und Religion in einer Welt sich mischender Kulturen und Völker. Nach knapp 300 Seiten entlässt Kureishi seine Leser mit dem guten Gefühl, dass das Leben zwar verwirrend und chaotisch sein kann, dass es jedoch nicht so bleiben muss.

Zweifelsohne ist „The Buddha of Suburbia“ ein Höhepunkt in Kureishis Schaffen. Ein komischeres, rührenderes, vielschichtigeres und ehrlicheres zeitgenössisches Werk, das soziale Probleme und jene des Erwachsenwerdens mit dieser Tiefgründigkeit behandelt, habe ich bisher weder von Kureishi noch von jemand anderem gelesen. Die Aussagen pendeln zwischen dem Vulgären und dem Ästhetischen, dem Komischen und Ernsthaften, zwischen schwerwiegenden Fragen und dem Lächerlichen sowie zwischen dem Sentimentalen und dem Obszönen.

Als Londonfan und Anhänger des Musikstils der Siebzigerjahre kommen mir das Setting des Romans und die Anspielungen auf Musiker und Bands dieser Zeit entgegen. Wenn man sich in der Musik der Siebziger auskennt (Beatles, Stones etc.) und die entsprechenden Songs im Ohr hat, kann man während des Lesens quasi einen „Soundtrack zum Buch“ hören. Außerdem findet man Anspielungen auf Künstler dieser und der Folgezeit, die auf der gleichen Schule in Bromley wie Hanif Kureishi waren. Die Geschichte des Stiefbruders Charlie „Hero“ ist angelehnt an die Geschichte von David Bowie. Erwähnt wird auch der spätere Billy Idol (Billy Broad).

Alles in allem ist „The Buddha of Suburbia“ ein lesenswerter Roman über das Aufwachsen in den Siebzigern – für mich ist es Hanif Kureishis bisher bester.

_Corinna Hein_
http://www.corinnahein.net/

|Eine deutsche [Neuauflage]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3499241129/powermetalde-21 ist für November 2005 geplant.|

Franzen, Jonathan – 27ste Stadt, Die

Spätestens seit dem grandiosen Erfolg seines 2001 mit dem |National Book Award| prämierten Romans [„Die Korrekturen“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=1233 ist Jonathan Franzen in fast aller Munde. Wann immer es um moderne amerikanische Literatur geht, wird Franzen gerne als Vergleich bemüht, wirkt er doch gleichermaßen lesevergnügen- wie umsatzversprechend. Umsatzversprechend erschien es dem |Rowohlt|-Verlag offensichtlich auch, nach dem Verkaufsschlager „Die Korrekturen“ einmal ganz tief in der Schublade zu wühlen und die Druckmaschinen mit Franzens Erstling von 1988 zu füttern. Zwischen beiden Werken liegen schon allein zeitlich Welten und inwiefern den „Korrekturen“-begeisterten Leser eine sozusagen „Olle Kamelle“ wie „Die 27ste Stadt“ vom Hocker zu hauen vermag (oder vielleicht auch nicht), soll sich im Folgenden klären.

St. Louis, die ehemals so blühende Metropole im Mittleren Westen, ist zum Zeitpunkt der Geschichte Mitte der Achtziger eine stagnierende Stadt. Stand sie früher noch auf Rang 4 der wichtigsten US-Städte, so ist sie zwischenzeitlich auf einen mageren 27. Platz abgesackt. Der Glanz früherer Tage ist verschwunden und die Stadt erreicht aufgrund der begrenzten Fläche ihre Wachstumsgrenze. In dieser Zeit erhält St. Louis einen neuen Polizeichef: S. Jammu – eine Frau und obendrein eine Inderin. Wirkt sie zunächst jung, sympathisch und zerbrechlich, so entpuppt sie sich schon bald als harter Brocken. Gnadenlos räumt sie in den Problemstadtteilen auf und bewirkt eine Senkung der Kriminalitätsrate.

Doch sonderbarerweise taucht etwa gleichzeitig eine nicht minder sonderbare Terrorgruppe auf. Bomben explodieren, Schüsse fallen, die Gewalt greift um sich, doch Jammu, als strahlender Stern am Polizeihimmel von St. Louis, ist stets Herrin der Lage. Wer sich hinter dem Terror verbirgt, bleibt den Bürgern von St. Louis unklar.

Auch das Leben der Familie Probst macht in dieser Zeit eine Reihe merkwürdiger Veränderungen durch. Tochter Luisa geht plötzlich eigene Wege, für Familienvater Martin Probst brechen harte Zeiten an. Dabei hat er als Vorsitzender des Wachstumsvereins von St. Louis und großer Bauunternehmer stets großes Ansehen genossen. Schließlich hat Probst den „Arch“, das Wahrzeichen von St. Louis, erbaut. Mit der Zeit beginnt die heile Welt der Vorzeigefamilie Probst zu bröckeln.

Gibt es zwischen dem Terror und dem Zerfall der Familie einen Zusammenhang? Martin mag das nicht so recht glauben, während Sam Norris, sein sturköpfiger Freund aus dem Wachstumsverein, eine groß angelegte Verschwörung vermutet – genau genommen eine indische Verschwörung …

Die Erwartungen an „Die 27ste Stadt“ konnten eigentlich nur zu hoch sein, nachdem Franzen mit den „Korrekturen“ so zu begeistern wusste. Sein ausgefeiltes Portrait des Zerfalls einer amerikanischen Familie ist sicherlich ein Glanzpunkt am Buchmarkt der letzten Jahre. Die Euphorie ist damit also berechtigt. Wenn dann aber vom gleichen Autor ein Buch hervorgekramt wird, das bereits mehr als 15 Jahre auf den Buckel hat, sollte man mit hochgesteckten Erwartungen lieber vorsichtig sein, denn wer vorher „Die Korrekturen“ gelesen hat, der hat in gewissem Sinne schon die Sahne abgelöffelt.

Was bleibt, ist dennoch mehr als kalter Kaffee, aber eben ohne Sahne. „Die 27ste Stadt“ lässt Franzens großes Talent zwar immer wieder aufblitzen, hat aber dennoch nicht durchgängig Klasse genug, um auf ganzer Linie zu überzeugen. Die Ansätze dessen, was Franzen auch gerade mit Blick auf „Die Korrekturen“ so brillant gemacht hat, sind zwar erkennbar, das Buch damit sicherlich für Franzen-Fans interessanter Stoff, dennoch fehlt am Ende das gewisse Etwas, das man vielleicht auch deswegen vermisst, weil man aus der Rückschau eben weiß, dass er es Jahre später viel besser machen wird.

Ein wenig wirkt „Die 27ste Stadt“ wie ein Roman, der nicht so recht weiß, was er will. Die Komposition verheißt Großes, keine Frage, aber man wird dabei das Gefühl nicht los, dass Franzen sich damit etwas verschätzt. Ein ehrgeiziges Buch hat er geschaffen, das Kritik am Zerfall der amerikanischen Gesellschaft übt, im Großen, sprich auf sozialer Ebene, wie im Kleinen, anhand der Familie Probst geschildert. Während im Vordergrund der Handlung wirtschaftlicher Aufschwung den Beginn einer neuen Epoche für St. Louis verheißt, verfallen im Hintergrund die moralischen Werte. Aufstieg und Zerfall gehen Hand in Hand, was als Grundkomponente des Romans absolut überzeugend wirkt.

Auch der Mikrokosmos der Familie Probst, den Franzen sehr detailliert beobachtet, genau genommen nicht nur beobachtet, sondern richtig gehend seziert, bleibt als Stärke im Gedächtnis. Franzen zeigt damit, was er auch Jahre später in den „Korrekturen“ besonders überzeugend anzulegen weiß: Das mikroskopisch genaue Portrait einer Familie.

Der Kern also überzeugt auch schon in Franzens Erstlingswerk, was aber hier und da Kopfschmerzen verursacht, ist der Rahmen. Weiß die „indische Verschwörung“ als ironischer Seitenhieb anfangs noch zu überzeugen (schließlich heißen im Englischen sowohl Inder als auch Indianer |Indians|), so bleibt das ganze Verschwörungsgerüst über die kompletten 670 Seiten leider ziemlich wackelig.

Wer was warum macht, geht ein wenig unter. Die Motive bleiben genauso blass wie der Sinn und Zweck der Verschwörung, und man hat als Leser das Gefühl, man würde manchmal einen Schritt hinterherhängen. Die Verschwörungsgeschichte wirkt ein wenig so, als wäre sie einfach nur Mittel zum Zweck. Mit ihrer Hilfe vollzieht Franzen den moralischen Zerfall der Gesellschaft und im Speziellen das Zerbröckeln der heilen Strukturen der Familie Probst. Aber vielleicht wäre das anhand eines anderen Handlungsrahmens überzeugender gewesen.

Franzens Hang zum Darlegen sämtlicher Details lässt ihn manchmal über das Ziel hinausschießen. Es tauchen unheimlich viele Figuren auf, die Erzählung wird in unheimlich viele einzelne Erzählstränge aufgesplittet, dass es hier und da schon mal etwas undurchsichtig werden kann. Bei manchen Figuren weiß man auch am Ende nicht so ganz, warum sie eigentlich in die Handlung eingebracht wurden. Das Einordnen der Figuren in den Gesamtzusammenhang fällt etwas schwer, vor allem weil die Erzählebenen sehr unterschiedlich ausbalanciert sind. Es gibt Figuren, die tauchen nur in kurzen Zwischenblenden auf und es fällt nicht ganz leicht, dabei den Überblick nicht zu verlieren.

Auch der Spannungsbogen kommt nicht ohne Kritik davon. Sehr ausschweifend geht Franzen die Geschichte an, baut dabei zwar auch eine dichte Atmosphäre auf, kommt aber im Mittelteil des Buches manchmal nicht so recht von der Stelle. Die Geschichte stockt ein wenig, zieht dann aber zum Ende hin unheimlich das Tempo an. Im Finale überschlagen sich die Ereignisse derart, dass das Buch zu einem wahren „Pageturner“ wird, und erst in den letzten Kapiteln beginnt die Geschichte sich mit aller Macht so richtig zu entfalten. Die unterschwellige Thrillerthematik kommt erst hier vollständig zum Tragen. Über die ersten zwei Drittel des Buches wird sie mehr angedeutet, als dass sie wirklich durchbrechen kann.

Was Franzen auf erzählerischer Ebene an Punkten verliert, bügelt er sprachlich wieder aus. Auch Franzens Erstling zeichnet sich durch sprachliche Treffsicherheit aus. Wohlakzentuierte und stimmige Vergleiche erzeugen beim Lesen reichhaltige Bilder. Figuren und Handlungen wirken durch Franzens gekonntes Formulieren sehr lebendig. Der Roman hat vor allem auch auf sprachlicher Ebene eine faszinierende Tiefgründigkeit.

Unterm Strich stellt man das Buch nach der Lektüre mit eher gemischten Gefühlen zurück ins Bücherregal. Einerseits deutet sich schon in Franzens 88er Werk an, was er später in den „Korrekturen“ zur vollen Entfaltung bringt, andererseits wirkt „Die 27ste Stadt“ nicht immer ganz ausgereift. Franzen hat unverkennbare Stärken im sprachlichen Bereich, wie auch im mikroskopisch genauen Beobachten seiner Figuren und im Schildern der Mechanismen und Denkweisen innerhalb der Familie. Der Handlungsrahmen, in dem er sein Können entfaltet, wirkt allerdings etwas überzeichnet und unpassend. „Die 27ste Stadt“ ist somit sicherlich kein Buch, das man unbedingt gelesen haben sollte, aber Zeitverschwendung ist die Lektüre definitiv auch nicht.

Nedjma – Mandel, Die

Laut Verlag handelt es sich bei der Autorin um eine Araberin Anfang bis Mitte vierzig, die unter dem Pseudonym „Nedjma“ ihre Lebensgeschichte veröffentlicht. In Frankreich stand das Buch lange Zeit auf den Bestsellerlisten und das wohl aus einem guten Grund, denn Sex verkauft sich natürlich immer hervorragend. Nach der Lektüre des Buches kommen dem nachdenklichen Leser einige begründete Zweifel an der wahren Identität der Autorin, denn bereits das angebliche Alter stimmt nicht mit der im Buch erzählten Geschichte überein. Doch interessiert das wirklich? Wird dieser Roman spektakulärer durch ein wahres Schicksal? Oder ist er als erdachte Erzählung nicht ebenso lesenswert? Ich persönlich glaube nicht an die Wahrheit der erzählten Geschichte und habe das Buch dennoch gern gelesen …

_Badras Geschichte_

Badra ist erst siebzehn Jahre jung, als sie den wesentlich älteren Hmed heiraten muss. Wie die Tradition es haben möchte, wird vor der Hochzeit ihre Jungfräulichkeit überprüft, damit ihr zugedachter Ehemann sie in der Hochzeitsnacht entjungfern kann. Doch bereits die erste Nacht zwischen Badra und Hmed wird für die junge Frau zur Qual. Ihr Ehemann ist bereits zum dritten Mal verheiratet, da seine ersten beiden Frauen ihm keine Kinder hatten schenken können. Schon in der Hochzeitsnacht müssen Badras Schwester und Schwiegermutter hinzukommen, um sie festzuhalten, da Badra sich vor dem Geschlechtsverkehr sträubt. Jede Nacht stirbt Badra ein wenig mehr, wenn ihr Ehemann emotionslos über sie hinwegsteigt und seinen eigenen Orgasmus als einziges Ziel sieht.

Nur drei Jahre lang hält Badra es bei Hmed aus, ihre eigene und glücklich verheiratete Schwester ist es schließlich, die ihr zur Flucht nach Tanger zu ihrer Tante Selma verhilft. Ihrer Tante erzählt Badra von den Qualen ihrer Ehe, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie nicht zu Hmed zurückkehren kann. Bald lernt Badra den angesehenen Arzt Driss kennen und lieben. Er ist es schließlich, der ihr bei der Erfüllung ihrer geheimsten sexuellen Wünsche hilft. Mit ihm erlebt sie über Jahre hinweg scheinbar das sexuelle Glück in Vollendung, doch muss Badra sich schließlich eingestehen, dass sie ihrem Liebhaber hörig ist. Obwohl es sie unendlich quält, dass er neben ihr auch mit anderen Frauen und Männern schläft, kann sie sich nicht von Driss trennen.

_Klartext reden_

Bereits in einem kurzen Vorwort macht Badra deutlich, worum es ihr in diesem Buch geht, denn sie möchte ihre eigene Lebensgeschichte aufschreiben und von ihrer sexuellen Befreiung berichten. Sie ist überzeugt davon, das allerschönste Geschlecht überhaupt zu besitzen, das sie einzusetzen weiß und dies auch tut. Die Autorin nimmt kein Blatt vor den Mund, um von ihren intimsten Erlebnissen zu berichten, das zeigt schon die kurze Leseprobe aus dem Vorwort:

S. 10: |“Ich, Badra, verkünde, mir nur einer Sache sicher zu sein: Dass ich das schönste Geschlecht der Welt habe; es hat die schönste Form von allen; es ist prall, heiß, feucht, duftend und singt wie kein anderes; und es ist unübertrefflich in seinem Verlangen nach harpunengleich sich reckenden Schwänzen.“|

In abgeklärten Worten schildert Badra von ihrer gescheiterten Ehe mit Hmed und den seelischen Qualen, die sie dort erleiden musste. Als die Ehe kinderlos bleibt, muss sie zudem merkwürdige Rituale vollführen, um die Fruchtbarkeit anzulocken, doch selbstverständlich scheitern all diese Versuche. Fast bekommt der Leser den Eindruck, dass Badra eine mögliche Schwangerschaft durch bloßen Widerwillen ihrem Mann gegenüber verhindern konnte.

Wenn Badra von ihren Erlebnissen mit Hmed berichtet, sind ihre Sätze meist kurz und knapp, darüber verliert sie kein Wort zu viel, während sie ihre sexuellen Episoden mit Driss und anderen demgegenüber ausschmückt und ausführlich in allen Facetten zu beschreiben weiß. So drücken sich ihre Gefühle auch in der veränderten Sprache aus:

S. 47: |“Ihn bedienen, dann wieder abräumen. Ihm ins Ehebett folgen. Die Beine breit machen. Mich nicht bewegen. Nicht seufzen. Die Übelkeit bekämpfen. Nichts fühlen. Sterben. Auf den Kelim starren, der an der Wand hängt. Saied Ali zulächeln, der den Menschenfresser mit seinem gegabelten Schwert enthauptet. Mich zwischen den Beinen trockenreiben. Schlafen. Die Männer hassen. Ihr Ding. Ihr übel riechendes Sperma.“|

Der gesamte Roman ist leicht und verständlich geschrieben, ein ausführliches Glossar am Ende des Buches erleichtert das Verständnis des arabischen Vokabulars, das sich nicht immer aus dem Zusammenhang erschließt. Doch deckt das Glossar alle fremden Vokabeln ab, sodass keine Fragen offen bleiben.

_Nichts ist unmöglich_

Die Autorin entwickelt zwei verschiedene Handlungsstränge. Auf der einen Seite berichtet Badra von ihren Erlebnissen bei Tante Selma in Tanger und von ihrer Liebe zu Driss, eingeschoben sind aber immer wieder kursiv gedruckte Kapitel, die Geschichten aus ihrer Vergangenheit erzählen. Im Vordergrund stehen jedoch die Episoden um Driss, die den deutlich größeren Raum in diesem Buch erhalten. Über Badras Vergangenheit erfahren wir nur das Nötigste, hier offenbart sie nur die Fakten, die erforderlich sind, um ihre Handlungsweisen zu verstehen und um deutlich zu machen, dass sie aus ihrer Ehe flüchten musste.

Neben den Episoden einer gescheiterten Ehe erfährt der Leser darüber hinaus Geschichten aus Badras Kindheit und muss erkennen, dass die junge Frau schon lange vor ihrer Entjungferung mehr als neugierig war. Dort lesen wir Geschichten über ihre Cousine Noura, die oftmals mit einigen Freundinnen zu Badra zu Besuch kommt, um dort statt mit Puppen zu spielen, sich gegenseitig zu erkunden und zu befriedigen. Doch auch die Jungen wissen sich zu helfen, denn eines Tages kann Badra eine Reihe von Jungen beobachten, von denen „jeder den neben ihm Liegenden zwischen den Beinen bearbeitete“, so ihre Ausdrucksweise.

Als Badra schließlich ihre Affäre zu Driss beginnt, driftet „Die Mandel“ (welch treffender Titel!) deutlich ins Schlüpfrige ab, der Leser bekommt mehr als offenherzige Episoden zu lesen, nicht nur Badra erscheint uns sexsüchtig, sondern auch Driss, der offen bekennt, dass er auch gerne mit Männern und bisexuellen Frauen schläft. In diesem Buch gibt es nichts, was es nicht gibt. Hier befriedigen sich die Jugendlichen nicht nur untereinander, da gibt es auch Driss‘ Großmutter, die sich mit Vorliebe jungen Mädchen gewidmet hat, auch Geschichten aus der Oberschule erzählt uns Badra, wo die Mädchen des nachts zu zweit in einem Bett geschlafen haben – offiziell, um sich gegenseitig zu wärmen, doch bezeichnet Badra das Schulheim ganz deutlich als „knisterndes Freudenhaus“.

Bei derlei Beschreibungen über den arabischen Lebensstil regen sich nun spätestens leise Zweifel angesichts des Wahrheitsgehalt dieses Buches, denn schwer vorstellbar ist es doch, dass derlei freie Liebe dort wirklich praktiziert wird. Doch haben diese Zweifel auch ihren Reiz, da der Leser für sich entscheiden kann, ob er Nedjmas Lebensbeichte Glauben schenken mag oder das Buch als unterhaltsame erotische Lektüre sieht, die vielleicht noch Anregungen für das eigene Liebesleben zu bieten vermag?!

_Sexuelle Befreiung?_

Ein wichtiger Punkt ist die Frage nach der sexuellen Befreiung, auf den die Autorin besonders deutlich verweist. Badra flüchtet zu ihrer Tante Selma, um ihrem lieblosen Ehemann zu entkommen, der sie als bloßes Stück Fleisch ansieht, an dem er sich allabendlich kurz abreagieren kann. Dass auch seine Frau sexuelle Begierden hat, scheint Hmed nicht zu interessieren. Erst Driss ist es, der seiner Geliebten jeden Wunsch von den Augen ablesen kann, der sie in Sphären mitreißen kann, die sich Badra nie erträumt hätte. Sie ist abhängig von ihm und süchtig nach dem Sex mit ihm, in ihrer Beziehung zueinander dreht sich alles um das Eine und Badra erkennt schnell, dass ihr einmal Sex nicht reicht. Der Leser ist selbstverständlich immer mittendrin im Geschehen und erlebt alles hautnah mit.

Während Badra noch von ihrer sexuellen Befreiung schwärmt, merkt sie offensichtlich nicht, wie sie immer abhängiger wird von Driss. Er gibt ihr jeden Monat Geld für ihren Lebensunterhalt und kauft ihr am Ende sogar eine Wohnung. Obwohl es Badra fast das Herz zerreißt, lässt sie Driss gewähren und mit anderen Frauen und Männern schlafen. Selbst wenn die beiden zusammen ausgehen, ist es doch nicht sicher, dass Driss später Badra auswählt, die er mit nach Hause nehmen wird. Alles schluckt sie runter, auch Zeiten der Abstinenz, in denen Driss Badra nicht beachtet und nicht mit ihr schläft. Badra wird dabei immer unglücklicher und beschließt schlussendlich, sich von ihrem Geliebten zu trennen, doch ist die Hörigkeit so groß, dass sie es nicht schafft.

So wird beim Lesen doch immer offensichtlicher, dass die sexuelle Befreiung keine wirkliche Befreiung ist, da sich Badra in eine Abhängigkeit zu Driss begeben hat. Erst spät erkennt sie die Lage, in die sie geraten ist und nach Driss‘ Tod spricht Badra teils in verbitterten Worten über ihren einstigen Geliebten. Dennoch finde ich es fragwürdig, diese sexuelle Hörigkeit als eine Befreiung hinzustellen, die sie in Wahrheit nicht ist.

_Bildungslektüre mit Spaßfaktor_

Insgesamt ist das Buch angenehm zu lesen und auch eine unterhaltsame Lektüre, die eventuell manchem Leser noch etwas Neues zu berichten weiß. Am Ende ist man fast traurig, dass es nur einen Abend braucht, um dieses schmale Buch zu lesen, das einen in eine exotische und faszinierende Welt versetzt, die man höchstens aus erotischen Filmen kennt, die keine Jugendfreigabe erhalten. Diskussionswürdig ist die Frage nach der sexuellen Befreiung, die eigentlich keine ist, auch wenn die Geschichte einer Frau, die sich von religiösen und kulturellen Fesseln lösen kann, anderen Frauen in einer ähnlichen Situation vielleicht auch Mut machen kann. Das Buch wird ergänzt durch ein umfassendes Glossar, das alle auftauchenden arabischen Wörter erklären kann. Mit nur kleinen Einschränkungen bleibt das Buch insgesamt empfehlens- und auch lesenswert.

http://www.droemer-knaur.de/mandel/

Enquist, Per Olov – Buch von Blanche und Marie, Das

|“Die Liebe kann man nicht erklären. Aber wer wären wir, wenn wir es nicht versuchten?“|

Marie Curie ist bis heute die vielleicht berühmteste Physikerin überhaupt. Sie war nicht nur die erste Frau, die mit dem Physiknobelpreis ausgezeichnet wurde, sondern sie ist bis heute die einzige Frau, der zweimal ein Nobelpreis verliehen wurde; auch ist Curie neben Linus Pauling die einzige, die in zwei unterschiedlichen Fachgebieten den Nobelpreis erhalten hat. Nach dem Unfalltod ihres Mannes Pierre Curie sorgte ihre Beziehung zum verheirateten Kollegen Paul Langevin für einen öffentlichen Skandal. Im Jahre 1934 starb die polnische Physikerin Marie Curie an Leukämie, eine Krankheit, die sie sich höchstwahrscheinlich durch den ständigen Umgang mit radioaktiven Substanzen zugezogen hatte.

Per Olov Enquist hat sich für seinen aktuellen Roman einige bekannte historische Persönlichkeiten herausgepickt, um eine fiktive Geschichte um sie herum zu spinnen. Im Zentrum der Erzählung stehen zwei bekannte Frauen, nämlich eben jene Marie Curie und Blanche Wittman, die als Medium des Nervenarztes Jean Martin Charcot in die Geschichte einging. Darüber hinaus begegnen dem Leser Figuren wie Paul Langevin, der in Physikerkreisen ebenfalls recht bekannt ist, aber auch Sigmund Freud findet sich in diesem Roman wieder.

_Wahrheit oder Fiktion?_

Ein Erzähler präsentiert dem Leser die Geschichte von Blanche und Marie, wobei ein Teil des Romans aus dem sogenannten „Fragebuch“ von Blanche stammt, das sie in Art eines Tagebuches verfasst hat. Der Rest ist aus der Sicht des Erzählers geschrieben und überbrückt meist die Zeit zwischen den Fragebuchpassagen, indem Einschübe über die Geschichte der Radioaktivität und über die gesicherten historischen Daten der bekannten Figuren berichten.

In zwei verschiedenen Handlungssträngen erfährt der Leser mehr über das Leben und Lieben von Marie Curie und Blanche Wittman. Blanche fungiert dabei als Bindeglied zwischen beiden Biographien, da sie zumindest in Enquists Geschichte einige Jahre nach ihrer Entlassung aus der Salpetrière Laborassistentin bei Curie wird. Der Autor beginnt bei bekannten historischen Fakten, erzählt also von Curies physikalischer Karriere und von der Geschichte der Radioaktivität, wir erfahren mehr über die Experimente mit Pechblende und auch über die Ehe zwischen Marie und Pierre Curie. Später beginnt Marie eine Affäre mit dem verheirateten Paul Langevin, die tatsächlich damals zu einem öffentlichen Skandal wurde. Enquist bedient sich also dieses Wissens und schmückt die Fakten mit eigenen Ideen aus.

Seine Phantasie kann etwas weiter gehen in der Zeichnung der Figur von Blanche Wittman, da sie zwar bekanntlich das berühmte Medium von Professor Charcot gewesen ist und als Königin der Hysterikerinnen bezeichnet wurde, doch dichtet Enquist eine kurze Liebesaffäre zwischen Arzt und Patientin hinzu, die alles andere als historisch gesichert ist. Darüber hinaus kann man dem Autor allerdings nicht viel Phantasie zugestehen, da er wenig über bekannte biographische Daten der auftauchenden Figuren hinausgeht.

_Amputierte Figuren_

Schon zu Beginn des Buches wird Blanche Wittman als ein Torso vorgestellt, da ihr im Laufe der Jahre beide Beine und ein Arm amputiert werden müssen. Später verbringt Blanche daher die meiste Zeit des Tages in einer Holzkiste, in der sie mit ihrem einen verbleibenden Arm ihr Fragebuch füllt. Obwohl etliche Passagen des Romans aus Blanches Sicht geschrieben sind, bleibt sie doch recht undurchsichtig. Recht früh wird ihre möglicherweise aktive Beteiligung an Prof. Charcots Tod angedeutet, doch später schildert sie diese Episode ganz anders. Auch über ihre Krankheiten wird der Leser im Dunkeln gelassen, nur andeutungsweise werden die Patientenexperimente und öffentlichen Vorführungen an der Salpetrière geschildert und etwas über die mögliche Krankengeschichte der dortigen Patienten erzählt, doch bleibt alles undurchsichtig und zweifelhaft. Auch kann der Leser nur vermuten, dass Blanches Amputationen von den Experimenten mit radioaktiven Substanzen herrühren.

Selbst ihre Gefühle werden nur zart angedeutet, obwohl sie doch ein Buch über die Liebe schreiben und diese erklären möchte. Ihre gesamte Beziehung zu Charcot und ihr Wesen zeichneten sich für mich nicht klar ab, sodass mir ihre Figur einfach nur absurd erschien. Darüber hinaus legt Enquist meiner Meinung nach zu viel Wert darauf, Blanche als verkrüppelten Torso hinzustellen, sodass es schwierig wird, sich diese Frau als ein liebendes Wesen zu denken, zu deutlich führt uns der Autor ihre Krankheiten vor Augen.

Marie Curie erhält dagegen den ihr zustehenden Raum im Buch, ihre Biographie ist hinlänglich bekannt und gesichert, sodass sich Enquist auf diese Fakten stützen kann, nur ihre Verbindung zu Blanche Wittman stammt aus Enquists Feder. Doch auch Curies Zeichnung gelingt nur mäßig, da wir zwar viele biographische Daten kennen lernen, aber zu wenig über ihre menschliche Seite erfahren.

Erst zum Ende hin lässt Enquist seine beiden Hauptfiguren in den Vordergrund treten, erst dann geht es wirklich um die Liebe, nämlich um die verzweifelte Liebe zwischen Marie Curie und Paul Langevin, die für einen Skandal sorgte und fast das Ende von Curies Karriere gewesen wäre, und um die kurze aber heftige Liebe zwischen Blanche Wittman und ihrem Arzt. Zu viel Zeit vergeudet Enquist damit, zwei Biographien zu entwickeln und zu wenig Raum gibt er der eigentlich interessanten Geschichte, an der seine eigene Phantasie einsetzen kann. So erfährt der kundige Leser wenig Neues über das Leben von Marie Curie, lediglich die Passagen über Blanche Wittman und die Geschichte der Salpetrière offenbarten mir unbekannte Fakten.

_Orientierungslos_

Da Per Olov Enquist gleich zwei sagenumwobene Frauengestalten in den Mittelpunkt seines schlanken Buches stellt und beide Lebensgeschichten zu entwickeln versucht, verheddert er sich leider zu häufig in den einzelnen Episoden. Es gibt zu viele Gedankensprünge im Buch, zu oft wechselt der Erzähler von Blanche zu Marie, zu häufig tauchen Zeitsprünge auf, sodass der Leser ratlos die Seiten umblättert und den Gedankengängen des Autors nur sehr schwierig folgen kann. Ein roter Faden, der uns durch das Buch leitet, wäre sehr wünschenswert gewesen, doch hinterlässt „Das Buch von Blanche und Marie“ eher den Eindruck einer losen Gedankensammlung, die noch sortiert und in die richtige Reihenfolge gebracht werden muss. Auch die häufig wechselnde Erzählerperspektive erschwert das Lesen, da oft erst aus dem Zusammenhang klar wird, ob der Erzähler spricht oder wir Passagen aus Blanches Fragebuch zu lesen bekommen.

Leider möchte der Autor zu viele Aspekte in seinem Büchlein unterbringen, sodass er die meisten Dinge nur anreißen kann, denn natürlich ist die Biographie einer Persönlichkeit wie Marie Curie nicht annähernd in ein so dünnes Buch zu quetschen. Zudem tauchen zahlreiche bekannte Figuren auf, die ihren Raum verlangen; der Versuch, all diese Personen unter einen Hut zu bringen, muss zwangsläufig scheitern.

Wünschenswert wäre gewesen, wenn Per Olov Enquist sich auf ein Thema beschränkt hätte, wenn er also aus Curies und Wittmans Leben nur ihre Liebesgeschichten erzählt hätte oder wenn er nur eine der beiden Damen herausgepickt hätte. Doch hält er sich mit Beschreibungen aus der Vergangenheit der beiden Frauen so sehr auf, dass für die Liebe zu wenig Raum bleibt. Darüber hinaus ist es schade, dass Enquist die Schicksale beider Frauen nicht mehr miteinander verbindet, da beide Erzählungen fast zusammenhanglos nebeneinander stehen.

_Gefühlskalte Worte_

Auch sprachlich weiß das Buch nicht zu überzeugen. Häufig finden sich nur kurze holperige Satzfragmente, die teils ohne Verb auskommen müssen. Darüber hinaus hat Enquist offenbar eine Vorliebe für Ausrufezeichen, die manchmal gehäuft mitten in einem Satz auftauchen und den Lesefluss erheblich stören. Als Stilmittel sind mir diese eingeschobenen Satzzeichen nicht sonderlich positiv aufgefallen, da sie scheinbar zufällig einzelne Worte betonen.

S. 115: |“Der Punkt! von dem aus die Geschichte betrachtet wurde und wirklich wurde! einen Meter von einem Tisch entfernt, an dem sie einst! als Pierre noch lebte! den geheimnisvollen Stoff entdeckt hatte, der! und das blaue radioaktive Licht! war denn dies nicht der richtige Punkt, um die Angst zu überwinden!“|

Besonders negativ aufgestoßen ist mir die Passage über Pierre Curies Unfalltod, der völlig herzlos und gefühlskalt beschrieben wird wie von einer Person, die sich nichts mehr gewünscht hat als diesen brutalen Tod. Mir erscheint eine solche Ausdrucksweise in der Situation völlig unangemessen, da sie selbst Maries Trauer nicht adäquat zeigen kann.

S. 85: |“Man rief die Ehefrau Marie herbei, und sie kam. Und er war tot. Nichts mehr zu machen. Wir müssen alle sterben. Aber er war doch noch so jung. […] So endete Maries dritte Liebe. Sein Kopf wurde zertrümmert. In keiner Weise gleich einem Vogel, der von der Wasseroberfläche abhebt und im Nebel verschwindet, nein, sein Kopf wurde ganz einfach von dem sechs Tonnen schweren Wagen zertrümmert, und dann war es zu Ende.“|

_Versuch eines Brückenschlages_

„Das Buch von Blanche und Marie“ wird im Nachwort ausdrücklich als Roman tituliert, dennoch stützt Enquist sich auf viele historische Quellen, die etliche Aspekte des Buches belegen können. Besonders aus Marie Curies Leben ist offensichtlich wenig hinzugedichtet, da bis auf ihre Freundschaft zu Blanche Wittman alle ihre Daten bekannt sind. Somit scheint das Buch eine Vermischung zwischen Biographie und Roman werden zu wollen, doch ist dieser Versuch misslungen. Die Geschichte um Blanche Wittman ist an vielen Stellen zu skurril, als dass sie wirklich mitreißen und unterhalten könnte, sodass ich auf diesen Part im Buch leicht hätte verzichten können. Über Marie Curie schreibt Enquist aber zu wenig, um sich deutlich von einer Biographie abzugrenzen.

Ein solcher Brückenschlag wäre durchaus möglich gewesen, wenn der Autor sich am Ende genug Raum gelassen hätte, um seine eigene Geschichte zu entwickeln, die sich endlich vom bereits Bekannten abgrenzen kann. Als das Buch etwas in Schwung kommt, Blanche von ihrer Affäre zu Charcot erzählt und Marie unter Liebeskummer leidet, da hetzt Enquist plötzlich, obwohl er sich doch vorher so viel Zeit genommen hat, um den persönlichen Hintergrund seiner Figuren zu entwickeln. Fast hat es den Eindruck, als wären ihm die Ideen ausgegangen und auch der Mut, eine eigene Geschichte über zwei so bekannte Personen zu schreiben.

_Ein Fazit_

Der vorliegende Roman ist schwierig in ein Genre einzuordnen, da er sich größtenteils auf bekannte historische Fakten stützt und zwei Biographien entwickelt, die in unabhängigen Quellen nachzulesen sind. Zu wenig eigene Ideen hat Enquist eingebaut, wobei er die Charakterisierung Blanche Wittmans leider zu stark übertrieben hat. Wittman erscheint dem Leser eher als verkrüppelter und verschrobener Torso denn als eine gefühlsvolle Frau, die versucht, die Liebe zu erklären. Auch sprachlich konnte Enquist mich nicht überzeugen, die Wahl seiner Stilmittel erscheint mir oftmals ungeschickt und unangemessen. Sein Schreibstil kam mir unausgegoren vor, zumal die Erzählung einen roten Faden deutlich vermissen ließ. Abschließend kann ich nur nochmals unterstreichen, dass ich enttäuscht war von diesem Buch und mir deutlich mehr erwartet hatte.

Dische, Irene – Ein Job

Ganz harmlos fängt sie an, die Geschichte, die Irene Dische um die Erlebnisse eines kurdischen Profikillers in New York spinnt, mit Schneeballwerfen in der kurdischen Heimat. Der kleine Junge, der damals türkische Soldaten mit Schneebällen beworfen hat, ist in der Gegenwart der gefürchtete Killer „Schwarzer Stein“. Nach der Flucht aus dem türkischen Gefängnis, in dem Alan Korkunç inhaftiert war, bringt ihn sein neuer Auftraggeber nach New York, um ihn dort einen Job erledigen zu lassen. Alan soll einem unbequemen Geschäftpartner seines Auftraggebers eine Lektion erteilen und zu diesem Zweck dessen Familie umbringen.

Alan versucht den Job mit der gleich Coolness anzugehen wie jeden anderen auch. Die Tatsache, dass er zum ersten Mal in New York ist und nicht ein Wort Englisch versteht, ist für einen Mann wie Alan schließlich kein Hindernis. Etwa eine Woche bleibt ihm für die Vorbereitungen, die er nach den ersten schweißtreibenden Erlebnissen beim Donutkauf und bei der Fortbewegung durch die Stadt angehen will. Doch irgendwie ist er hin- und hergerissen zwischen neuen Eindrücken und der Sehnsucht nach Vertrautem. Er sehnt sich nach seinen Joop-Socken und seinen teuren Anzügen, die daheim in Istanbul in seinem Schrank hängen, während er in New York nicht einmal eine Hose zum Wechseln hat. Seine Finger brauchen dringend eine Maniküre, denn mit nichtmanikürten Fingern den Abzug zu ziehen, kommt für Alan nicht in Frage, schließlich ist er Perfektionist.

Doch irgendwie geht mit Alan auch eine merkwürdige Veränderung vor sich, denn da wäre noch Mrs. Allen, die ältere Dame, die im Appartement nebenan wohnt und glücklicherweise Türkisch spricht. Alan trägt ihr nicht nur die Einkaufstaschen in die Wohnung, er isst auch mit ihr und sieht zusammen mit ihr fern. Die fremde Stadt, Mrs. Allen – irgendwie scheint Alan ein wenig aus dem Takt zu geraten. Aber er hat schließlich noch einen Job zu erledigen …

Einen Kriminalroman verspricht Irene Dische dem Leser und hält das Versprechen, während sie es gleichzeitig bricht. Sie provoziert eine gewisse Erwartungshaltung, die letztendlich eine kleine, aber geschickte Fallgrube ist, denn am Ende stößt sie den „Kriminalroman-Leser“ ein wenig vor den Kopf. Auch die Krimizutaten Profikiller und Mordauftrag können nicht darüber hinwegtäuschen, dass „Ein Job“ eine Geschichte ist, die sich eigentlich auch noch auf einer gänzlich anderen Ebene abspielt. Seltsam schwarzhumorig angehaucht, entpuppt sich die gerade einmal 155 Seiten lange Erzählung zum Ende hin als eine Art Lebensmärchen. Eine Geschichte, die ein Vater seiner Tochter erzählt.

Für den Leser ist dies allemal unterhaltsam. Der Zusammenprall zweier gänzlich unterschiedlicher Kulturen, mit allen Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, wird mit scharfem Blick und Witz geschildert. Die kurdische Problematik taucht dabei nur am Rande auf. Alan ist ein eher unpolitischer Mensch. |“Ein Kurde ist zu wenig. Zwei Kurden sind zu viel.“| So lautet Alans Einstellung. Alan, der in Istanbul stets um Coolness und korrektes, mitunter eiskaltes Auftreten bemüht war, der es verstand, Frauen mit einem gewissen Blick um den kleinen Finger zu wickeln, wirkt nach dem Ortswechsel seltsam deplatziert. Wie ein dummer Bauerntrottel stolpert er durch die Metropole. Seine Beschattungsversuche des Zielobjekts verlaufen derart unprofessionell und stümperhaft, dass man als Leser fast schon Mitleid bekommt, und so entwickelt sich eine etwas sonderbare Sympathie zwischen Leser und Hauptfigur.

Alan wirkt mitunter orientierungslos und fängt dabei, ohne dass er es selbst großartig merkt, an, sich anderen Menschen zu öffnen. Er verbringt viel Zeit mit Mrs. Allen, trinkt mit ihr Sherry und fährt mit ihr spazieren, und so entsteht daraus ein überraschend herzliches Verhältnis, das so gar nicht zu dem eiskalten Profikillerimage passen mag. Die Erzählung wird dadurch um eine weitere interessante und unterhaltsame Komponente erweitert – zumal der Leser schon recht schnell vermuten darf, dass es für den Job eines Killers nicht unbedingt förderlich ist, so eine enge persönliche Bindung zu einer älteren Dame einzugehen.

Je näher der Tag rückt, an dem Alan seinen Job auszuführen hat, desto mehr scheint er bereits aus dem Takt geraten zu sein. Auch in diesem Punkt hegt man als Leser im Laufe der Erzählung die dunkelsten Befürchtungen. Es scheint fast unausweichlich. Irgendetwas geht bestimmt schief. Man spürt es einfach. Und so baut Irene Dische einen kontinuierlichen Spannungsbogen auf, der eine ausgewogene und professionelle Gesamtkomposition erkennen lässt. Der Leser fiebert mit und sehnt den Tag des „Jobs“ richtiggehend herbei.

Zum Ende der Geschichte hin, aber führt Irene Dische den Leser noch einmal ein wenig an der Nase herum. Sie fährt ein etwas sonderbares Happy-End auf, bei dem man nicht so recht weiß, was man davon halten soll. Irgendwie absurd wirkt es, wie sie den Leser aus der Geschichte schickt.

Sprachlich wirkt die Erzählung jederzeit souverän. Irene Dische versteht mit Worten umzugehen, zaubert durch ihre Formulierungen immer wieder Witz und Charme in die Zeilen, zeichnet die Figuren sehr treffend und versteht mit wenigen Worten, die kulturellen Unterschiede spitzfindig herauszukehren. Selbst die eingestreuten kurdischen Wörter stören nicht, sondern tragen zur Atmosphäre bei, obwohl sie nicht übersetzt werden. Sie erschließen sich aus dem Zusammenhang. Einzig die Erzählperspektive wirkt hier und da verwirrend, denn es kommt vor (zwar nur an sehr wenigen Stellen der Geschichte), dass mit dem Erzählten eine Person direkt angesprochen wird, entweder der Leser oder irgendwer sonst, den der Leser nicht kennt. Diese merkwürdige Perspektive, die sich auch nicht aus dem Ende heraus so richtig erschließt, schafft wiederum eine gewisse Distanz zur Geschichte und bleibt etwas sonderbar.

Wer einen Roman mit Action erwartet, der ist schief gewickelt. Irene Dische konzentriert sich auf Alans Erlebnisse im New Yorker Alltag und schildert am Ende den Verlauf seines Auftrags. Aber Alans Zurechtfinden im Alltag, das Aufeinanderprallen zweier so unterschiedlicher Kulturen ist für sich genommen schon nervenaufreibend und teilweise rasant genug. Action ist da absolut überflüssig. Entstanden ist der Roman übrigens nach dem Drehbuch „The Assassin’s Last Killing“, das Irene Dische zusammen mit Nizamettin Ariç geschrieben hat.

Dische erzählt herrlich unterhaltsam, scharfsinnig beobachtend und manchmal urkomisch und schwarzhumorig. „Ein Job“ ist ein Krimi und ist es gleichzeitig nicht. Eine Geschichte, die mit der Erwartungshaltung des Lesers spielt und dabei absolut ausgewogen komponiert und für den Leser ein kurzweiliges Vergnügen ist.

Kui, Alexandra – Nebelfelsen, Der

Die 32-jährige Autorin Alexandra Kui(tkowski) legt nach ihrem erfolgreichen Jugendroman „Ausgedeutscht“ aus dem Jahre 1998 ihr erstes Erwachsenenbuch vor, nämlich den Kriminalroman „Nebelfelsen“, der im fiktiven Harzort Grauen spielt. Alexandra Kui lebt als Songwriterin und freie Autorin auf dem platten Land bei Hamburg.

_Grauenvolles aus dem Harz_

Schon in ihrem Urlaub in Pompeji denkt Antonia Czechy darüber nach, einfach alles aufzugeben und davonzulaufen, um ein neues Leben zu beginnen. Spontan will sie ihren überaus korrekten Freund Kai, der als Werbetexter arbeitet, vorwarnen, doch dieser reagiert nur genervt und will Antonia nicht ernst nehmen. Zurück in Hamburg, legt Antonia sich dermaßen mit ihrem Chef an, dass dieser ihr den Job kündigt. Nachdem sie ihre Arbeit als Fotografin in Hamburg los ist, reist Antonia ohne Verabschiedung und ohne Gepäck in das Harzer Städtchen Grauen, in welchem ihre beste Freundin Cleo sich das Leben genommen hat.

Genau zur Walpurgisnacht trifft Antonia in Grauen ein und läuft auf der Suche nach geeigneten Fotomotiven durch die Straßen. Dort sieht sie auch einen kleinen Mann im offensichtlich selbstgestrickten Ringelpulli, der mitten im Harz Flamencogitarre spielt. Als Antonia genug hat von dem Hexentreiben in Grauen, stellt der Gitarrenspieler sich ihr als Tom Sturm vor und bittet sie um die Fotos von der Walpurgisnacht. Bei dieser Gelegenheit lernt die junge Hamburgerin den Chefredakteur des Lokalblattes „Harzer Kurier“ kennen, der ihr eine Stelle als Fotografin bei der kleinen Zeitung anbietet.

Nach einer mit Tom Sturm durchzechten Walpurgisnacht erwacht Antonia in einer kleinen Pension bei der beleibten Kneipenwirtin Ulli, die sie am vergangenen Abend mit Bier versorgt hat. Antonia nimmt den Job beim Harzer Kurier an, da sie der Faszination der geheimnisvollen Nebelfelsen und ihrer eigenen verkorksten Vergangenheit nicht entkommen kann. Als sie oben auf den Felsen steht und in die nebelverhangene Tiefe blickt, ist sie nahe davor, sich selbst in die Tiefe zu stürzen. Der kleine Ort Grauen lebt vom Sensationstourismus rund um die Klippenspringer, die für ihren Selbstmord in den Harz reisen.

Auch Cleos Selbstmord lässt Antonia nicht los, hinzu kommt die aufkeimende Liebe zwischen ihr und Tom Sturm, der sie sich bald nicht mehr entziehen kann. Doch irgendetwas scheint Tom zu verbergen, auch die ansonsten so gutmütige Ulli möchte Antonia vor Tom warnen, doch die ist auf diesem Ohr taub und zieht bald zu ihrem neuen Freund und dessen zwei Töchtern in das „Muschelhaus“. Aber auch bei Antonia wachsen mit der Zeit Skepsis und Angst, denn mit den Nebelfelsen und Toms Familie scheint etwas nicht zu stimmen …

_Kuis Bild vom Harz_

Alexandra Kui, die selbst als Volontärin bei der Goslarschen Zeitung im Harz gearbeitet hat, zeichnet in ihrem Roman ihr persönliches Bild von der Harzer Landschaft und besonders dem erdachten Ort Grauen, der durch die Todesspringer an den Nebelfelsen zu trauriger Berühmtheit gelangt ist. Die Beschreibung der Szenerie des Harzes ist dabei sehr gelungen, der Ort Grauen wird dem Leser eindrucksvoll präsentiert und steht einem direkt vor Augen, auch die Nebelbänke an den Schläferklippen kann man sich bildlich vorstellen. Für mich hatte dieses Buch daher einen besonderen Reiz, da ich nicht nur die erwähnten Orte wie Goslar, Braunschweig und Wernigerode kenne, sondern auch die berühmten Walpurgisfeste im Harz; so konnte ich beim Lesen mein eigenes Bild vom Harz mit dem der Autorin vergleichen, was das Buch zu einem interessanten Leseereignis für den Harzer Ortskundigen macht. Ganz entgegen zu meinen sonstigen Lesevorlieben hätte ich mir in diesem Buch noch mehr Lokalkolorit gewünscht, da ich im Harz aufgewachsen bin und noch mehr über Alexandra Kuis Bild vom Harz hätte erfahren wollen.

_Personelle Schwächen_

Obwohl das Buch auf der Titelseite mit der Bezeichnung „Kriminalroman“ wirbt, stehen die Charaktere im Mittelpunkt des Buches, vor allem die 27-jährige Antonia Czechy aus Hamburg und der 52-jährige Chefredakteur Tom Sturm sind hier zu nennen. Alexandra Kui räumt den beiden in ihrem Roman viel Platz ein, lässt eine Liebesgeschichte entstehen, die allerdings von vielen Streitereien und Problemen gekennzeichnet ist. Beide Menschen erscheinen kompliziert und schwer durchschaubar, leider bleibt selbst die Vergangenheit der Ich-Erzählerin Antonia hierbei größtenteils unklar. Ihre Verhaltensweisen waren mir daher oftmals unverständlich, in vielen Situationen reagiert sie völlig unangemessen und geht an die Decke, ohne dass dem Leser klar wird, was die Gründe für diesen Ausbruch sind. Am Rande wird erwähnt, dass Antonia vor ihrer eigenen Vergangenheit davonlaufen will, vor den Erlebnissen in Kalifornien mit ihrem Exfreund Cire und vor dem Selbstmord ihrer besten Freundin, den Antonia immer noch nicht verarbeitet oder verstanden hat. Aus ihrer Vergangenheit erfahren wir einiges, dennoch werden uns zu viele Informationen vorenthalten, beispielsweise, was aus Cire geworden ist, der nebenbei häufiger erwähnt wird, aber ansonsten völlig im Dunkeln bleibt, oder auch, was hinter der Verbindung zwischen Cleo und Tom steckt, von der Antonia erfahren musste. Dennoch ist genau diese Vergangenheitsbewältigung verbunden mit einer ehrlichen Selbstkritik der Ich-Erzählerin das Thema des Buches. Schade, dass Alexandra Kui uns nicht mehr Facetten ihrer Romanfigur präsentiert hat, die ihre Eigenarten erklärbar gemacht hätten, denn so wirkt Antonia unecht und manchmal auch unreif, sie reagiert zu häufig zu übertrieben, um Sympathien für sie entwickeln zu können oder sich gar mit ihr identifizieren zu können. Dabei gefiel Antonia zunächst gut und wirkte interessant, erst später summierten sich ihre komischen Anwandlungen zu sehr und ihre Liebschaft zu ihrem Chef machte sie leider nicht sympathischer.

Auch die Figur des Tom Sturm wird einem nicht erklärbar, obwohl er neben Antonia den größten Raum im Buch erhält. Die Beziehung zwischen den beiden wird schnell zu einem Hauptthema des Romans und verdrängt die geheimnisvollen Nebelfelsen aus der Erzählung. Allerdings wirkt ihre Annäherung und plötzliche Verliebtheit zu gekünstelt, da Antonia zuvor offen ihre Abneigung Tom gegenüber zum Ausdruck gebracht hatte. Zu sehr fallen also ihre neu entwickelten Gefühle vom Himmel, ich habe sie nicht nachvollziehen können.

Viel authentischer und natürlicher wirkt dagegen die Kneipenwirtin Ulli, die sich mit mütterlicher Sorge um ihren neuen Pensionsgast Antonia kümmert, ihr neue Kleidung kauft und sie liebevoll bekocht. Auch wenn Ulli an manchen Stellen nichts über ihre frühere Beziehung zu Tom Sturm erzählen mag und sich mit geheimnisvollen Andeutungen begnügt, bleiben ihre Handlungen stets nachvollziehbar.

_Von Krimi keine Spur_

Durch die Ankündigung eines Kriminalromans mit finalem Showdown hatte ich mich auf eine falsche Fährte leiten lassen und vermutet, einen spannungsgeladenen Roman lesen zu können, doch hier wurde ich enttäuscht, denn obwohl die Nebelfelsen an vielen Stellen als mystisch und mit besonderer Anziehungskraft versehen beschrieben werden, bleiben sie schnell hinter Toms und Antonias Beziehung zurück. Der Leser muss sich mit einigen Hinweisen am Rande, bezogen auf die sogenannten Schläferklippen, begnügen, von Krimi ist allerdings keine Spur. Auch Spannung wird nur wenig aufgebaut, da die spärlichen Andeutungen in Bezug auf Tom und seine dubiose Vergangenheit nicht ausreichen, um den Leser an das Buch zu fesseln. Erst spät kommt die Handlung ins Rollen, als Antonia entscheidende Hinweise auf die Mutter von Toms jüngerer Tochter erhält, die sie aufhorchen lassen. Doch ist sofort offensichtlich, was hinter der Geschichte stecken muss und was damals passiert ist, sodass am Ende kaum Überraschungen bleiben.

Mit ihrem Showdown kann Alexandra Kui nicht überzeugen. Zu konstruiert wirkt die Auflösung der Geheimnisse um die Nebelfelsen und um Tom Sturm, hier greift Kui in die Trickkiste, um ihrem Buch etwas Spannung hinzuzufügen, doch vergallopiert sie sich dabei. Das Ende hinterlässt daher einen faden Beigeschmack beim enttäuschten Leser, ein etwas weniger sensationelles Buchende wäre realistischer und auch zufriedenstellender gewesen. Schade, dass die Autorin an dieser Stelle ein wenig über das Ziel hinausgeschossen ist.

_Viel gewollt und wenig geschafft_

Alexandra Kui wollte scheinbar zu viele verschiedene Dinge in ihr nur 300-seitiges Buch packen. So beginnt das Buch zunächst mit Antonias Beziehungs- und Jobproblemen, der Leser wird mit geheimnisvollen Andeutungen zu ihrer Vergangenheit und Cleos Selbstmord gelockt, anschließend reisen wir gemeinsam in das düstere Örtchen Grauen mit den nebelverhangenen Schläferklippen. Gerade in Grauen treffen wir auf skurrile und merkwürdige Personen, die oftmals in ihren Handlungsweisen zu übertrieben agieren, aber offensichtlich einiges zu verbergen haben. Besonders Tom Sturm muss einige Leichen im Keller begraben haben, das wird aus den zarten Andeutungen der Bewohner deutlich. An dieser Stelle entdeckt Antonia plötzlich ihre Gefühle für Tom, die zu einer turbulenten und problematischen Beziehung führen, in der auch noch zwei Töchter des Chefredakteurs auftauchen und eine Rolle spielen. Kui greift zu viele Aspekte in ihrer Erzählung auf und vergisst dabei, ihre Kriminalgeschichte weiterzuentwickeln, Spannung aufzubauen und am Ende allen aufgegriffenen Handlungsfäden ein passendes Ende zu verleihen. Es bleiben zu viele Fragen offen, sodass das Buch keine runde Sache geworden ist, auch in ein Genre ist der Roman schwierig einzuordnen, da von Kriminalgeschichte wenig zu spüren war.

Insgesamt kann das Buch als Kriminalroman nicht überzeugen, da kaum Spannung aufgebaut wird, sondern die handelnden Charaktere im Zentrum des Buches stehen. Insbesondere die beginnende Beziehung zwischen der jungen Hamburgerin Antonia Czechy und dem alternden Lokalchef Tom Sturm steht hier im Vordergrund, dennoch bleiben die Hintergründe etwas im Unklaren. Die aufkeimende Liebe fällt vom Himmel, da Ich-Erzählerin Antonia zuvor zu oft betont hatte, dass sie den kleinen Mann im Ringelpulli nicht ausstehen kann. Alexandra Kui hält sich in ihren Beschreibungen manchmal zu sehr auf, im Grunde genommen nebensächliche Dinge wie Antonias Einstieg in Toms Band werden zu sehr ausgebreitet und bremsen den Spannungsbogen deutlich aus. Auch die Nebelfelsen werden nur am Rande erwähnt und rücken schnell in den Hintergrund. Leider kann auch das Buchende nicht überzeugen, sodass der Roman für Harzer durch die bekannten Orte durchaus lesenswert ist, aber nicht dazu verlocken kann, das Buch weiterzuempfehlen oder gar ein zweites Mal zu lesen.

Gundermann, Bettina – Lysander

_Von Menschen, die verloren haben._

„Lysander“ ist der zweite Roman der Autorin Bettina Gundermann, Jahrgang 1969. Geboren wurde sie in Dortmund, den ersten Roman „Lines“ legte sie 2001 vor. Lysander heißt auch der Protagonist der Erzählung, in der Bettina Gundermann zuweilen die Atmosphäre eines Gruselmärchens verbreitet, die Rolle des bösen Wolfs übernimmt hier aber das Leben selbst.

Unterteilt wurde die 152-seitige Erzählung in zwei Kapitel. Das erste umfasst nur drei Seiten und schildert als Prolog die widrigen Umstände, unter denen der Protagonist in Form eines Antihelden das Licht der Welt erblickt. Mit „Lysander wurde im Dreck geboren“ wird der Roman begonnen, es folgen Sätze wie „Seine Mutter schwitzte, stank, japste und schrie“ oder „Sie sprach kein Wort zu ihrem Kind, sie trug es wie eine schwere Last, nicht einmal schaute sie ihr Baby an, überprüfte, ob noch Leben in ihm sei. Fast hätte sie es einfach fallen lassen auf ihrem Weg.“ Dem Säugling kommt von der ersten Minute seines Leben keine Liebe entgegen, versteckt im Wald gebärt die Mutter, will es am liebsten dort zurücklassen und zündet es schließlich an. Aber Lysander hat Glück, sollte man denken, denn er wird gerettet und zu einem kirchlichen Kinderheim gebracht.

Dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen, wird das Leben für das entstellte Kind zur Qual. Die Erzieherinnen wissen nicht mit ihm umzugehen, die anderen Kinder im Heim lachen es aus, vergraben es einmal sogar im Schnee. Lysander zieht sich in sich selbst zurück und lauscht der Melodie in seinem Kopf, die immer da ist, wenn es regnet. Als er geboren wurde, regnete es auch. Er versteckt sich tagsüber im Keller, spricht kaum, denn niemand spricht mit ihm.

Eines Tages reicht es dem gehänselten Kind und es rammt sich frustriert eine Gabel in die Stirn. Er überlebt unbeschadet, wird als Gefahr für sich und andere aber in ein Heim für psychisch gestörte Kinder überwiesen. Auch da lacht man ihn aus, außer Riccardo. Der ist „Hässlichkeit gewöhnt“ und wird zum besten und einzigen Freund Lysanders.

Die Freunde teilen ein gemeinsames Schicksal, sie haben beide im Spiel des Lebens verloren und keine Aussicht auf Besserung. Riccardo musste im Kindesalter mit ansehen, wie seiner Mutter Augen und Zunge aus dem Gesicht geschnitten wurden. Sie starb daran, der Vater wurde verrückt. Riccardo kommt zu einer neuen Familie, er entwickelt sich nach außen gut, seine neue Mutter ist stolz auf ihn, bis er auf einem Jahrmarkt das Feuer eröffnet und mehrere Menschen durch seine Hand sterben. Jetzt hat auch er niemanden mehr und muss ins Heim.

Als sie erwachsen sind, können sie das Heim verlassen. Lysander kommt ein Jahr vor seinem Freund raus. Der freute sich schon auf die Freiheit, Lysander hatte Angst vor ihr. Was will er auch damit? Andere Menschen haben Angst vor ihm. Bis Riccardo aus dem Heim entlassen wird, geht Lysander keinen Schritt vor die Tür, zeigt sich niemandem und überlebt nur durch die Vorfreude auf seinen einzigen Freund. Als der wieder da ist, geht es Lysander aber nur für kurze Zeit besser. Riccardo geht nach draußen, so oft wie es geht. Besorgt sich einen Job und viele Frauen, die seine innere Leere ausfüllen sollen. Dem Leser wird schnell klar, dass sie beide hässlich sind: Lysander von außen, Riccardo von innen.

Lysander fühlt sich schnell im Stich gelassen, ist trotz der Wohngemeinschaft mit Riccardo einsam. Der schenkt ihm schließlich ein Klavier, damit Lysander die Melodien in seinem Kopf spielen und Riccardo das Leben weiter in sich aufsaugen kann.

Bald kommt eine dritte Person ins Spiel. Kira liegt stark blutend auf der Straße, als sie Riccardo bei seinen nächtlichen Streifzügen findet und sich verliebt. In ihr sieht er etwas, das ihm helfen kann, die unsterbliche Leere seiner Seele zu füllen, die schwere Melancholie seiner selbst mit ihrer „Leichtigkeit“ zu füllen. Lysander zeigt sich ihr nicht, sorgt mit seinem berührenden Klavierspiel aber dafür, dass Kira sich in Riccardo, der das Spiel als das Seine ausgibt, unsterblich verliebt.

Sie heiraten, Lysander bleibt allen zurück. Er spielt nicht mehr auf dem Klavier, die Melodien kommen nicht mehr zu ihm, er vereinsamt abgeschnitten von der Außenwelt. Auch Riccardo geht es immer schlechter, Kiras Liebe kann ihn nicht vor Angst und düsteren Gedanken retten. Ein finsterer Schatten legt sich über beide und begleitet sie bis zum unvermeidbaren Ende.

„Lysander“ ist eine Geschichte von Menschen, die das Glück einfach nicht finden können und stattdessen in den eigenen Untergang marschieren. Es ist auch eine Geschichte, die den Leser mit ihrer schonungslosen Gestaltung überrollt. Sie überzieht den Leser mit ihrer kalten aber kurz vor dem Überschwappen stehenden Gefühlswelt. Die Sätze sind kurz und klar, beschönigen nichts und legen den Schmerz einer gefühllosen Welt offen, so dass ihn jeder sehen kann. Der allwissende Erzähler taucht nach Belieben in die Gedanken und Erinnerungen der Personen ein und gibt alles so wieder, als würde es ihn nicht berühren. Und so hat der Leser auch nach der Lektüre an diesem originellen wie auch hervorragenden Roman zu knabbern.

Szerb, Antal – Pendragon-Legende, Die

Ende 2004 erschien im |Deutschen Taschenbuchverlag| eine Neuübersetzung der „Pendragon-Legende“, die der ungarische Literaturprofessor Antal Szerb bereits im Jahre 1934 verfasste. Szerb ist in Ungarn bis heute berühmt, obwohl er bereits 1945 im Alter von nur 43 Jahren im Internierungslager Balf in West-Ungarn starb.

Im Alter von 32 Jahren lernt János Bátky auf einer Soiree bei Lady Malmsbury-Croft den Earl of Gwynedd kennen, der auch unter dem Namen Owen Pendragon bekannt ist. Die beiden unterhalten sich gut und diskutieren unter anderem über Fludds Naturphilosophie. Am Ende des Abends erhält Bátky eine Einladung nach Wales auf das Schloss Llanvygan der Pendragons, wo ihm eine ausführliche Sichtung der dortigen Bibliothek ermöglicht werden soll. Bátky freut sich zwar über das Angebot, fühlt sich allerdings viel zu träge, um wirklich nach Wales zu reisen. Dennoch wird seine Neugierde geweckt, als er erfährt, dass die Pendragon-Bibliothek weltweit berühmt ist für ihre Werke aus dem Gebiet der Mystik und des Okkultismus im 17. Jahrhundert. Kurze Zeit später erhält Bátky einen mysteriösen Anruf, der ihn vor einer Reise nach Wales warnen will, da dort sein Leben in Gefahr sei. Doch Bátky versucht, dieses Telefonat wieder zu vergessen.

Durch einen Zufall (?) lernt er bei seinen Studien zur Familiengeschichte der Pendragons im |British Museum| den lebens- und reiselustigen George Maloney aus Connemara kennen, der sogleich von seinen zahlreichen und aufregenden Auslandsaufenthalten erzählt. Bei einem gemeinsamen Abendessen stellt Maloney seinem neuen Bekannten Bátky den Neffen des Earl of Pendragon vor. Der gebildete Osborne Pendragon studiert in Oxford, möchte aber seine Ferien auf Llanvygan verbringen und hat dazu auch seinen Freund Maloney eingeladen. So beschließen Maloney und Bátky, gemeinsam nach Wales zu reisen.

Schon die Begrüßung auf dem Schloss verläuft nicht so erfreulich, wie Bátky sich das erhofft hat, und gleich in der ersten Nacht wird er von merkwürdigen Geräuschen geweckt. Als er seinen Revolver aus dem Nachtschrank holen will, muss Bátky erstaunt feststellen, dass sämtliche Patronen aus der Waffe entfernt worden sind und auch ein Päckchen fehlt, das er für Maloney mit sich geführt hat. Auf dem Gang vor seinem Zimmer trifft er auf eine mittelalterlich gekleidete Gestalt, die sich als Hausdiener vorstellt, doch bei einem Blick aus seinem Zimmerfenster kann Bátky einen schwarzen Reiter mit Fackel und Hellebarde beobachten. Kurz darauf wird ein Mordanschlag auf den Earl verübt, dem er nur mit viel Glück entkommen kann. Es scheint, als könnte der Earl drohendes Unglück spüren, denn dies war bereits der dritte Mordversuch, den er vereiteln konnte. Langsam aber sicher verdichten sich die Verdachtsmomente, bald ist ein angeblich Schuldiger gefunden, doch was steckt wirklich hinter den Mordanschlägen?

„Die Pendragon-Legende“ ist aus der Sicht des János Bátky geschrieben, der seine Lebensgeschichte erzählen möchte. In seinen ersten 32 Lebensjahren ist außer dem ersten Weltkrieg nichts Entscheidendes passiert; so entschließt sich Bátky, gleich beim Soiree der Lady Malmsbury-Croft einzusetzen und damit bei seiner ersten Begegnung mit dem Earl of Pendragon. Obwohl sofort offensichtlich wird, dass dieses Kennenlernen für den Ich-Erzähler von entscheidender Bedeutung gewesen sein muss, lässt Szerb sich in seiner Erzählung viel Zeit. Zunächst entwickelt er seine Charaktere und verleiht Bátky einige selbstkritische Züge, da er immer wieder einstreut, mit welchen Charakterzügen er an sich selbst unzufrieden ist. Die Charakterzeichnungen sind ein Punkt, der sofort positiv auffällt an diesem Buch, denn neben János Bátky lernt der Leser auch die anderen Hauptfiguren recht gut kennen. Eine besonders sympathische Figur ist dabei Maloney, der immer wieder unglaubliche Geschichten aus Connemara von sich gibt, die ihn ein wenig spleenig, aber auch nett erscheinen lassen. Aufgrund der abstrusen Geschichten bezeichnet Bátky Maloney wenig schmeichelhaft als Münchhausen, doch kommt der Leser nicht umhin, diesen Geschichten doch ein wenig Glauben zu schenken. Maloneys extravagante Hobbys tragen dazu bei, dass der Leser sich ein gutes Bild von diesem überdrehten und lebenslustigen Charakter machen kann. Szerb entwickelt Charaktere, wie es sie im wahren Leben möglicherweise eher weniger geben mag, dennoch kann man ihm dies nicht übel nehmen, da einem die Personen einfach ans Herz wachsen durch ihre menschlichen Macken und Eigenarten. Der Autor zeigt an vielen Stellen eine erstaunliche Beobachtungsgabe, da er in etlichen weiteren Situationen Eigenschaften und Merkmale seiner Charaktere anbringt. Als dritte Figur tritt Osborne Pendragon in Erscheinung, der zwar gebildet und intelligent ist, aber seine Schwierigkeiten mit Frauen zu haben scheint; auch er vermag es durch sein leicht schrulliges Verhalten, dem Leser in einigen Situationen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Besonders Lene Kretzsch weiß eine sehr amüsante Episode über Osborne zu berichten, als sie nämlich versucht, den reservierten und wohlerzogenen Osborne zu verführen, was sich als äußerst kompliziert erweist. Natürlich fehlen auch nicht die Frauenfiguren in diesem Roman; so treten die ominöse Eileen St. Claire, die bezaubernde Cynthia Pendragon und die toughe Lene Kretzsch in Erscheinung. Hier prallen drei völlig unterschiedliche Frauentypen aufeinander, die sich Antal Szerb wahrlich meisterhaft ausgedacht hat.

Szerbs Erzählweise ist gemächlich, aber unheimlich sympathisch, in vielen Sätzen verstecken sich sensibler Humor und feine Ironie, die uns nicht vor lauter Lachen vom Sofa fallen lassen, aber immer wieder zum Schmunzeln bringen. Der besondere Reiz liegt hier in den Feinheiten, die am Rande fallen und auf die man genau Acht geben sollte. „Die Pendragon-Legende“ sollte daher mit etwas erhöhter Aufmerksamkeit gelesen werden, da Szerb viel zu sagen hat und dem Leser zahlreiche Informationen mit auf den Weg gibt. So erfährt der Leser während Bátkys ausführlicher Literatursichtung vor seiner Reise nach Wales einiges aus der Familiengeschichte der Pendragons, die eng verwoben ist mit der Geschichte der Rosenkreuzer. Stein um Stein baut Szerb dadurch seine Geschichte auf. Oftmals wird die eigentliche Erzählung ein wenig unterbrochen durch diverse Einschübe, wenn beispielsweise eine neue Person auftaucht, die János Bátky zunächst vorstellen möchte, oder wenn aus der Historie der Pendragons berichtet wird. Obwohl ich derlei Einschübe sonst eher lästig finde, muss ich zugeben, dass sie hier in die Geschichte passen, zumal die eingeschobenen Szenen meist interessant oder auch amüsant sind.

Allmählich wird fast schon unmerklich Spannung aufgebaut durch kleine Hinweise auf mysteriöses Treiben im Hause Pendragon. Bátky kommt im Schloss kaum zum Schlafen, da nächtens die merkwürdigsten Dinge geschehen, darüber hinaus schwebt der Earl of Pendragon in Lebensgefahr, da er bereits drei Mordanschlägen durch schicksalhafte Mithilfe entkommen konnte. In Pendragons Labor entdeckt Bátky unglaubliche Dinge, die mit der Geschichte der Rosenkreuzer zusammenzuhängen scheinen. Doch bleibt lange unklar, worauf das Buch eigentlich hinauslaufen möchte.

Eine Einteilung in ein Genre ist bei der „Pendragon-Legende“ äußerst schwierig, da Szerb auf der einen Seite eine Geistergeschichte schreibt, auf der anderen aber auch ein Familienbild der Pendragons entwirft. Beide Handlungszweige sind eng verwoben und werden gleichberechtigt weitergeführt. Obwohl die Rosenkreuzer auftauchen und eine nicht unwesentliche Rolle spielen, darf man keinen Verschwörungsthriller im Stile eines Dan Brown erwarten, denn Szerb lässt seine „Pendragon-Legende“ in eine völlig andere Richtung gehen. Im Grunde genommen kann man das Buch als eine Gruselgeschichte mit ausführlichen Charakterzeichnungen und sympathisch erzählter Rahmengeschichte bezeichnen.

Die „Pendragon-Legende“ reißt nicht durch übergroße Spannung mit, sondern hat ihren ganz eigenen Charme, das Buch ist eine kleine literarische Perle, die man aufmerksam lesen sollte, um alle Feinheiten aufzunehmen. Antal Szerb lässt herrliche Charaktere entstehen, die allesamt irgendwo sympathisch werden, allen voran der philosophisch interessierte, schüchterne und ängstliche Ich-Erzähler Bátky, der auch den Reizen einer schönen Frau nicht widerstehen kann. Die eigentliche Gruselgeschichte passiert fast schon am Rande, obwohl sie doch eigentlich Anlass gegeben hat zu Bátkys Erzählung. Doch der besondere Reiz dieses Buches liegt in den Geschichten, die drumherum erzählt werden. Der Leser sollte sich allerdings auf Szerbs Erzählweise und die manchmal etwas schwerfällig anmutende Sprache einlassen, dann wird die „Pendragon-Legende“ für einige sehr unterhaltsame und interessante Stunden sorgen.

Hennig von Lange, Alexa – Woher ich komme

Alexa Hennig von Lange ist die wohl schillerndste unter den jungen Autorinnen Deutschlands. So jung ist die 1973 in Hannover geborene, ehemalige „Bim Bam Bino“-Moderatorin aber auch nicht mehr. Inzwischen lebt sie nach langem Aufenthalt in Berlin mit ihrem Mann und den zwei Kindern wieder in Hannover.
Literarisch ist man 1997 auf sie aufmerksam geworden, ihr Debüt „Relax“ hielt sich lange in den Bestsellerlisten und bestach durch die authentische und schonungslose Jugendsprache der Autorin. Wie es so häufig ist, wurden die folgenden Romane „Ich bin’s“ und der Tagebuchroman „Mai 3D“ zu echten Enttäuschungen und ließen am Talent des Rotschopfes zweifeln. Zurück zu alter Stärke hatte sie zum Glück mit dem Jugendbuch „Ich habe einfach Glück“ im Jahre 2001 gefunden, für das sie schließlich mit dem Jugendliteratur-Preis ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschienen „Erste Liebe“ und „Mira reicht’s“ 2004. Die Erstausgabe zu „Woher ich komme“ wurde 2003 veröffentlicht.

Die Handlung des 100 Seiten kurzen Romans ist gar keine. Die 30-jährige, namenlose Protagonistin fährt mit ihrem Vater ans Meer, wie es die Familie jeden Sommer getan hat. In der Gegenwart hält man sich aber nicht lange auf, auf den gesamten Text bezogen nur wenige Seiten. Es ist ein stiller und träger Ausflug, den Vater und Tochter hier unternehmen. Das Meer, der Ort, zu dem es die Beiden gezogen hat, ist der Ort der Erinnerungen, die wie Schatten immer wieder, meist nur kurz, an der Oberfläche erscheinen.
Jede Erinnerung ist nur wenige Sätze lang, bricht so unvermittelt, wie sie aufgetaucht ist, ab und wird von einer anderen abgelöst. Die Protagonistin geht in Gedankensprüngen ihre Kindheit durch. Diese ist auf den ersten Blick eine glückliche. Man erfährt, dass sie einen kleinen Bruder hatte, der im Sommer, immer wenn die Familie zum Urlaub ans Meer gefahren ist, Geburtstag hatte. Liebevoll, fast poetisch werden Situationen dieser Sommertage geschildert, aber es klingt auch viel Wehmut darin an. Eines Sommers wird die Familie während des geliebten Sommerurlaubs für immer auseinander gerissen. Bei einem Spaziergang im Watt wird man von der Flut überrascht. Die Protagonistin kann sich an den Strand retten und muss zusehen, wie nur ihr Vater aus dem Wasser zurückkehrt.
Es tun sich inmitten dieser tragischen Gegebenheit und Schilderungen einer oberflächlich normalen und glücklichen Kindheit aber auch noch weitere düstere Abgründe auf. So zum Beispiel die Affäre der Mutter mit dem Nachbarn.

„Woher ich komme“ ist ein ruhiges und schlichtes, so zerbrechlich wie die Erinnerungen der Protagonistin wirkendes Buch. Es ist ebenfalls eine authentische Erzählung. Die Erinnerungen wurden ausgezeichnet von der Autorin gestaltet und angeordnet. Die von der Protagonisten erinnerten Dinge liegen schon mehr als ein Jahrzehnt zurück. Durch diesen Umstand wirken sie auf den Leser oft unklar und schemenhaft, an einigen Stellen aber bemerkenswert detailliert. Es sind meist die schönen Erinnerungen, wie die tiefe Verbundenheit mit dem Bruder oder Gesten der Mutter, die sich in das Gedächtnis eingebrannt haben, die präzise und emotional berührend wiedergegeben werden.
Angesichts der letztendlich mehr als tragischen Kindheit verbergen sich viele Dinge im Kopf der Protagonistin, die sie scheinbar noch nicht für sich abschließen konnte. Durch die räumliche Nähe zu diesen Erinnerungen (das Meer) brechen sie unweigerlich und geballt hervor. So wird es für den Leser schwierig, diese in einen Kontext einzuordnen, denn sobald sich Klarheit anbahnt, wird eine Erinnerung von der anderen abgelöst. Zeitliche und räumliche Sprünge folgen dabei aufeinander, bis sich das Angedeutete gegen Ende des Romans mehr und mehr entblättert, aber immer noch viel Raum für die Fantasie des Lesers lässt.
„Woher ich komme“ ist kein Buch, das sich mit der dramaturgischen Entwicklung einer Handlung oder der von Charakteren aufhält. Die Handlung ist die Vergangenheit, und die muss sich der Leser schon selbst erarbeiten. Wer sich darauf einlässt, kann einige gute Stunden mit einem höchst interessanten und für die Autorin außerordentlich erwachsenem Buch verbringen.

|Leseprobe| aus der Taschenbuchausgabe Februar 2005, Seiten 9/10.

»Meine Mutter und ich sahen, wie sich der Priel mit Wasser füllte, und der Sand war nicht mehr da, und mein Vater war weit draußen, hörte unsere Rufe nicht, und der Himmel war blau. „Lauf so schnell du kannst!“ Meine Mutter schubst mich in die Richtung, in der sie den Strand vermutet, und das ist die richtige Richtung, und ich renne so gut es geht, im feuchten Sand, und Mama versinkt in die andere Richtung, in Richtung meines Vaters, meines Bruders. Der war klein und wusste von nichts. Ging an Papas Hand und hatte uns zugewinkt. Die Sonne stand über uns, flirrend, keine Wolken, einfach nur Himmel und sehr viel Raum. Zwischen Mama und mir, zwischen mir und meiner Familie wurde der Abstand immer größer.
Mein Vater kam allein zurück.«

Eugenides, Jeffrey – Middlesex

Gekauft – aber noch nicht gelesen? Angelesen, aber irgendwie nicht weitergekommen? Mit belletristischen Bestsellern machen wohl viele Käufer solche Erfahrungen. Angelockt von hymnischen, begeisterten oder einfach nur positiven Besprechungen wird gekauft, aber dann …

Mit „Middlesex“, dem 2003 erschienenen zweiten Roman des Amerikaners Jeffrey Eugenides, mag es sich ähnlich verhalten. Aber: Er hat diese mögliche Missachtung nicht verdient. Im Gegenteil.
Abschreckend mag am Anfang wirken, dass das Buch recht umfangreich ist. Es bietet 529 Seiten im Original, 816 in der deutschen Übersetzung von Eike Schönfeld, als Taschenbuch mit 736 Seiten im November 2004 bei |Rowohlt| erschienen. Aber das sollte doch die eifrigen Leser langer Schmöker, von denen es unter unseren Lesern durchaus einige geben soll, nicht abhalten. Zurückhaltung mag auch durch das vordergründig nicht so wahnsinnig spannende Thema gefördert werden: Der Roman erzählt die Familiengeschichte eines griechischstämmigen Hermaphroditen, dessen Kindheit und Adoleszenz, sehr knapp durchschossen von einigen Sequenzen im Berlin von heute (die sind aber nur schmückendes Beiwerk).

_Wer schreibt da?_

Jeffrey Eugenides ist hierzulande seit Erscheinen des Buches auf Deutsch im Sommer 2003 ein immer wieder gerne präsentierter Vorzeige-Amerikaner. 1960 in Detroit geboren, seit einigen Jahren in Berlin lebend und arbeitend. Griechische Herkunft, Intellektuellen-Kinnbärtchen, Halbglatze.
Warum das wichtig ist? Nun ja, die Hauptfigur des Romans („Calliope“ oder einfach „Cal“) teilt mit ihm das Geburtsjahr, den spitzen Künstlerbart, annähernd die Herkunft – aber nicht die Halbglatze.

Eugenides wurde vor rund zehn Jahren mit seinem Romandebüt „The Virgin Suicides“ (auch verfilmt, mit ordentlichem Soundtrack der geschmäcklerischen Franzosen |Air|) schon recht bekannt. Da hatte er ein Thema, das sich auch in Middlesex wiederholt: Den Beginn der bewussten Wahrnehmung eigener Sexualität, das Leben in geordneten amerikanischen Vorstadt-Verhältnissen, und die Turbulenzen darunter. Vereinfacht könnte man sagen: Der Kerl schreibt ja Jugendromane! Aber so ganz stimmt das natürlich nicht. Und mit „Middlesex“ übertrifft er meiner Meinung nach das vor zehn Jahren hoch gelobte (und von mir damals auch erfreut aufgenommene) Debüt doch erheblich. Reifer ist er geworden, tiefer, schärfer, brillanter.

_Worum es geht_

Nein, die Story in allen Verästelungen darf ruhig ein anderer nacherzählen, am besten lässt sie sich ohnehin im Buch selbst nachlesen. Da dies keine klassische Spannungs- oder Abenteuerliteratur ist, sind die Wendungen des Plots ohnehin nicht das Wichtigste.
Kurz gefasst spannt sich die Erzählung über einen Rahmen von etwa 80 Jahren, beginnend mit der Vertreibungsgeschichte der kleinasiatischen Großeltern des Helden / der Heldin. Zwei Geschwister wachsen auf in einem Dorf, leben von der Seidenraupenzucht, bis der Krieg (Atatürk) sie aus der Heimat vertreibt. Auf dem Schiff nach Amerika heiraten die Geschwister, kommen an in Amerika, genauer in Detroit. Dort beginnen sie ihr neues Leben, arbeiten für Ford, als Schmuggler, in der eigenen illegalen Kellerbar (Prohibition), für eine falsche schwarze Erweckungsgemeinschaft, im eigenen Imbiss.
Die zweite Generation (Cals Eltern) ist schon richtig amerikanisch, verlässt nach Rassenunruhen das Zentrum Detroits (wie so ziemlich alle anderen auch), kommt zu jährlich neuen Cadillacs und zu zwei Kindern. Eins davon ist das Wunschmädel Calliope, deren Kindheit und ganz besonders frühe Teenjahre ausführlich geschildert werden. Sie verliebt sich in eine junge rothaarige Kettenraucherin, einem liebevollen Sommer (samt Entjungferung Cals) folgt das jähe Erwachen: Cal ist genetisch ein Mann – und die zugehörigen Geschlechtsorgane sind auch da, nur ein wenig versteckt. Jetzt sind schon über achtzig Prozent des Plots herum, die männlichen Jahre Cals bis heute werden nur noch in kurzen Impressionen geschildert.

_Und worum geht es wirklich?_

Die eigentlichen Themen von Eugenides’ Roman sind durchaus vielschichtig. Nach meinem Verständnis geht es unter anderem um

– sexuelles Erwachen
– Immigration
– Identitätswechsel
– sich entvölkernde Städte
– Selbstfindung in Suburbia
– Nature vs. Nurture
– letzte Chancen

Und am Rande lernen interessierte Leser natürlich auch noch einiges über Hermaphroditen, die Geschichte Kleinasiens und Detroits, griechisches Essen, Kultur, und und und.

_Zur Bewertung_

In der Rückschau darf „Middlesex“ als eine der besten Neuerscheinungen des Jahres 2003 gelten – wenn nicht |die| beste.
Vieles, wenn nicht das meiste an der Story dieses breit angelegten Romans ist durchaus nicht im alltäglichen Erfahrungsfeld der allermeisten Leser zu finden – und doch fühlt zumindest dieser Rezensent sich konstant angesprochen. Die Charaktere sind fast durchgängig mehr als glaubhaft, interessant bis fesselnd. Die Sprache ist souverän, so soll Erzählen heute klingen. Die Geschichte, die Jeffrey Eugenides ausbreitet, ist bei aller Entfernung eine Geschichte, die mich schon nach wenigen Seiten wirklich interessiert und stellenweise fasziniert.
Und hatte ich mich anfangs noch hauptsächlich wegen des in guter Erinnerung gebliebenen Autors und des etwas exotischen Sujets für „Middlesex“ interessiert, so wich diese oberflächliche Neugier doch bald dem unbedingten Weiterlesen-Wollen.

„Middlesex“ unterhält, es macht nachdenklich, es öffnet neue Blickwinkel. Der |Pulitzer|-Preis dafür ist mehr als gerechtfertigt, und ich bin froh, dass der Detroit-Berliner Vorzeige-Autor noch jung genug ist, weitere Bücher zu schreiben. Wenn er in dieser Form weitermacht, dann kommt da alle paar Jahre mal wieder ein wirkliches literarisches Ereignis. Von denen gibt es nicht genug, also sage ich schon im Voraus einmal: Danke.

Und damit zur abschließenden Empfehlung (in vier Worten):

Nicht bloß kaufen – |LESEN!|

Bausch, Richard – Kannibalen, Die

Der Titel des Buches lässt sehr viel Raum zur Interpretation. „Die Kannibalen“, da vermutet man schnell eine Horror-Geschichte über kompromisslose Menschenfresser oder aber eine Dokumentation über so manches menschenunwürdige Leben in der afrikanischen Zivilisation oder die Brutalität, mit der sich die Menschen gegenseitig zerfressen und zerstören. All dies trägt ein wenig Wahrheit in sich, denn der preisgekrönte Autor Richard Bausch spielt mit dem Titel und nimmt ihn symbolisch dafür, wie die Menschen sich kannibalenähnlich mehr und mehr selbst auffressen, ohne dabei die echten Werte im Leben zu erkennen. Sicherlich eine gewagte Annahme, die Bausch aber mit seiner Geschichte immer wieder zu bestätigen weiß.

Die Story handelt von der jungen Lily, der Tochter zweier angesehener Schauspieler, die in ihrer Umgebung nie so richtig akzeptiert wird, weil sie eben anders ist als ein durchschnittlicher Teenager. Sie widersetzt sich der gängigen Mode und lebt nach ihrer eigenen Weltvorstellung, die vor allem durch das Lesen von Büchern geprägt wird. Eines Tages bekommt sie ein Buch über berühmte Forscher geschenkt, durch das sie auf eine Frau namens Mary Kingsley aufmerksam wird, die seinerzeit allein zu einem Kannibalenstamm nach Westafrika aufgebrach, nachdem sie sich jahrelang aufopferungsvoll um ihre Familie gekümmert hatte. Lily erkennt mehr und mehr Parallelen zu ihrem eigenen Leben und ist zunehmend von der Erscheinung der Forscherin angetan.

Mit der Zeit grenzt Lily sich immer weiter von ihrer Umgebung ab und startet, geprägt durch die Trennung ihrer Eltern, ein Leben in Einsamkeit. Sie hat die Hoffnung an die wahre Liebe aufgegeben und auch ihre überstürzte Hochzeit mit ihrem neuen Freund Tyler erfüllt sie nicht vollends. Als sie dann auch noch erfährt, dass sie mit Tyler keine Kinder haben kann, weil dieser zeugungsunfähig ist, bricht für sie eine Welt zusammen. Die einzige Chance, den Kinderwunsch erfüllt zu bekommen, besteht darin, einen anderen Mann mit einzubeziehen, was für Lily undenkbar ist.

Über all die Jahre hat sie sich die Begeisterung für das Leben von Mary Kingsley erhalten, und als sie im weiteren Verlauf der Handlung immer wieder in bedrücktende, ausweglose Situationen gerät, beginnt sie der längst verstorbenen Forscherin Briefe zu schreiben, in der Hoffnung, sich bei ihr verstanden zu fühlen, jedoch wohl wissend, dass sie nie eine Antwort erhalten wird.

Richard Bausch beschreibt sehr eindrucksvoll die Beziehung zweier Frauen, die sich nie kennen gelernt haben, deren Schicksal und deren Leidenschaft für ihren aufopferungsvollen Kampf um Liebe und Geborgenheit sie aber dennoch verbindet. Die philosophische Betrachtungsweise des Autors gibt dabei reichlich Denkanstöße über das eigene Leben, und nicht selten steht die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Daseins im Vordergrund. Leider braucht Bausch eine ganze Weile, um die Verbindungen deutlich zu machen, grob gesagt sogar an die 400 Seiten, was es natürlich erst einmal recht anstrengend macht, der Geschichte von Lily zu folgen. Doch mit der Verknüpfung der Parallelen zwischen dem Leben dieser beider Frauen steigt auch der Anspruch, und gleichzeitig entwickelt sich dieser Roman zu einem fesselnden, unvergleichlichen Dokument menschlicher Schicksale. Einhundert Jahre liegen zwischen den Leben beider Frauen, und dennoch haben sie so viel gemeinsam; das ist einerseits erschreckend, andererseits aber auch phänomenal bewegend.

Dennoch, es dauert eben eine Weile, bis man Bauschs Geschichte folgen kann, und das ist leider auch das große Manko dieses Buches. Manche haben nämlich unter Umständen auf der fast 900 Seiten langen Reise aufgegeben; diejenigen jedoch, die bis zum Ende durchhalten, werden schon bald wissen, wovon ich rede, wenn ich sage, dass „Die Kannibalen“ auch über die Zeit des Lesens hinaus beschäftigt und Fragen aufwirft, die man erst nach längerer Denkphase beantworten kann.

Den Lesern kann ich also nur empfehlen, sich tatsächlich die Zeit zu nehmen und die beiden Charaktere Lily und Mary näher kennen zulernen. Ich behaupte nämlich ruhigen Gewissens, dass es sich im Endeffekt definitiv lohnen wird, tiefer in dieser Geschichte zu versinken.

Fischer, Marc – Jäger

Ein Mann steht auf den Bahamas einige Meter vom Ufer entfernt im Wasser und schneidet sich mit einem Messer zwei Wunden in die Oberschenkel. Er lässt das Messer fallen, breitet die Arme aus und wartet. Er wartet auf die Haie, die in der Bucht zu der Zeit unterwegs sind. Er wartet darauf, dass sie die Witterung aufnehmen und zu ihm kommen. Er wartet auf den Tod.

Mit dieser düsteren Szene beginnt „Jäger“, nach „Eine Art Idol“ der zweite Roman des deutschen Autors Marc Fischer. Eine Szene, die ihre Schatten vorauswirft bzw. vielmehr zurück, denn auf den folgenden 249 Seiten erfährt der Leser weniger, wie es weitergeht, sondern eher, wie es dazu kommen konnte, dass der Protagonist mit dem Messer in der Hand und dem Tod vor Augen ins Meer steigt.

Und das ist eine lange Geschichte. Sie handelt von Gursky. Gursky ist der Mann mit dem Messer, aber bevor er auf den Bahamas seinem Leben ein Ende setzen wollte, war er Moderator bei einem Musiksender. Starmoderator zudem. Gursky war einer der Moderatoren, die umso erfolgreicher wurden, je mehr sie ihre prominenten und semiprominenten Gäste beschimpften. Polemik als Erfolgsrezept. Respektlosigkeit als Quotengarant. Gursky wurde dadurch zum Star.
Als er diesen Job kündigt, scheint sein Leben wieder in geordnetere Bahnen einzuschwenken. Gursky scheint ernsthafter zu werden, endlich bereit dazu, Verantwortung zu übernehmen und erwachsen zu werden. Er will seine Freundin Nathalie heiraten. Das erste Kind ist bereits unterwegs. Im Angesicht der zukünftigen Vaterrolle will Gursky seine wilden Jahre würdig beschließen und macht sich ganz allein nach Kuba auf. Seine Mission: Er will einen Hai fangen – aus ganz persönlichen Gründen.

Auf Kuba angekommen, trifft Gursky rein zufällig seinen alten Widersacher von Schweitzer. Was in der Heimat nie geklappt hat – trotz stetiger Bemühungen der Freunde – klappt nun in der Ferne. Der Schriftsteller und der Moderator kommen ins Gespräch und schließen sogar Freundschaft. Schon bald ist von Schweitzer fasziniert und mitgerissen von Gurskys Jagdziel.
Doch die Jagd, die als harmloses (obgleich illegales) Touristenabenteuer beginnt, droht schon bald zu eskalieren. Von Schweitzer und Gursky entwickeln eine Art Besessenheit und legen einen Schwur ab, dem zufolge sie erst dann die Heimreise antreten wollen, wenn sie „ihren“ Hai gefangen haben …

Im ersten Moment weckt Fischers Roman Erinnerungen an Alex Garlands „The Beach“. Auch „The Beach“ setzt eine zunehmend düstere, eskalierende Handlung in den harten Kontrast einer paradiesischen Umgebung. Der Himmel, der sich als Hölle entpuppt, weil Menschen eine Grenze überschreiten, die sie besser nicht überschritten hätten. Fernab der vertrauten Welt tun sich die Abgründe der menschlichen Seele auf, die Nebenwirkungen der modernen Gesellschaft, die im gleißenden Sonnenschein der paradiesischen Szenerie umso düsterer und beklemmender wirken.

Bei Alex Garland ist diese Mischung wunderbar aufgegangen und da „Jäger“, egal ob absichtlich oder nicht, gewisse Assoziationen hervorruft, kommt man nicht umhin, die Parallelen zu bemerken. Doch „Jäger“ ist kein zweites „The Beach“ und Marc Fischer nicht die deutsche Ausgabe von Alex Garland. Auch wenn gewisse Gemeinsamkeiten durchaus augenfällig sind, unterscheiden sich beide fundamental – weniger in der Qualität, denn auch Fischer hat seine Vorzüge, dafür mehr in Handlung und Intention.

Fischer schickt Gursky auf einen Selbstfindungstrip in Richtung Erwachsenwerden. Der Hai bzw. die Jagd nach selbigem soll Gurskys wilde Jahre zu einem würdigen Abschluss bringen, wobei es ihm weniger um sein zurückliegendes als um sein zukünftiges Leben geht. Gursky will seinem Kind später eine Geschichte erzählen können. Nicht irgendeine, sondern die Geschichte, wie er einen Hai fing. Darin mag man sehen was man will: Männlichkeitswahn, übersteigertes Geltungsbedürfnis oder Angst vor kleinbürgerlichem Spießertum, vielleicht will Gursky einfach nur einmal in seinem Leben wirklich etwas riskieren und Mut beweisen, um nicht als das gleiche Weichei zu enden, als das er seinen Vater früher gesehen hat.

Doch ebenso geht es ihm darum, seine von Kindesbeinen an gepflegte Haifaszination einmal auszuleben. Haie haben für Gursky eine besondere Bedeutung. Sie faszinieren und erschrecken ihn zugleich, durch ihre Schnelligkeit, ihre Eleganz und ihren Instinkt. Vielleicht ist es gar nicht so sehr der Hai, sondern mehr das Ideal, hinter dem Gursky her jagt. Besonders von Schweitzer, der erst nach dem ersten gemeinsamen, erfolglosen Jagdtag auf dem Meer so richtig von dieser Faszination gepackt wird, scheint es gerade auch darum zu gehen.

Von Schweitzer befindet sich quasi zu Therapiezwecken auf Kuba. Betrogen von der Freundin, hat er einfach das Weite gesucht, ist dabei auf Kuba gelandet und weiß dort nicht so recht etwas mit sich anzufangen, außer Drogen und Alkohol in den Bars von Havanna zu konsumieren. Nach den ersten gemeinsamen Tagen auf Kuba scheint zwischen beiden ein Austausch stattzufinden. Von Schweitzer übernimmt von Gursky den Jagdeifer, den er obendrein noch steigert, Gursky erkennt die „Vorzüge“ bestimmter bewusstseinserweiternder Substanzen. Achtet Gursky beim ersten Ausflug noch besorgt darauf, dass von Schweitzer nüchtern das Boot betritt, erkennt er nach einiger Zeit die scheinbaren Vorteile von durch Koks geschärften Sinnen bei der Jagd. Damit überschreiten beide in gewisser Weise eine Grenze, die sie durch ihren Schwur besiegeln.

Die Atmosphäre der ganzen Geschichte, die düstere Vorahnung, dass etwas Schlimmes passieren wird, macht letztendlich den besonderen Reiz und die Spannung des Buches aus. Zeigt „The Beach“ die Abgründe der menschlichen Seele, die sich in einer Kommune fernab der Zivilisation in einem scheinbaren Paradies offenbaren, so befasst sich auch Fischer letztendlich mit dem Thema Seele, wenngleich anders als Garland.

Dabei wirken die Figuren auf den ersten Blick gar nicht so, als ob sie auf tief greifendere Betrachtungen ausgelegt wären. Sowohl Gursky als auch von Schweitzer entstammen einer gewissen elitären, sozialen Oberschicht. Von Schweitzer wurde dort schon hineingeboren, während Gursky erst durch seine Karriere als respektloser Moderator in diesen Kreis vordringt. Menschen am Puls der Medienlandschaft, die in ihrer Art und ihrem Verhalten viele gängige Klischees zu bestätigen scheinen, die wir aus der Boulevardpresse zur Genüge kennen: Groupies, Drogen, Partys – im ersten Moment ist man versucht, Fischer vorzuwerfen, er würde seine Protagonisten mit allzu vielen breitgetretenen Klischees ausstaffieren.

Doch was bei anderen Romanen leicht zum Kritikpunkt werden kann, wird von Fischer überzeugend ausgearbeitet. Er beschränkt sich nicht auf die Klischees, er zeigt die Menschen, die dahinter stecken. Auch wenn seine Figuren zunächst etwas eindimensional wirken, wie Abziehbilder der modernen Gesellschaft, schafft er es im Laufe der Zeit, den Menschen dahinter zu entblättern. Klischees ja, aber bitte mit Tiefgang. So liefert Fischers Ausgestaltung der Figuren auch schon mal Gedanken, die die moderne Welt in Frage stellen.

Fischers Stil entpuppt sich als sehr locker und flüssig lesbar. Er schreibt sehr direkt und ohne Umschweife, beschreibt nicht lang und breit, sondern versteht es, mit wenigen Worten und trotz seines etwas kühlen, nüchternen Stils eine dichte Atmosphäre aufzubauen – genau passend für seine Protagonisten und ihr Hai-Abenteuer. Gurskys und von Schweitzers Jagd strebt unaufhaltsam ihrem unweigerlich unheilvollen Höhepunkt entgegen. Fischer gelingt ein dichter, stetig aufstrebender Spannungsbogen, der erst am Ende wieder gelockert wird.

Das ganze Bild seiner Figuren offenbart sich erst zum Ende hin und bleibt auch dann noch ansatzweise in der Schwebe. Letztlich lässt Fischer den Leser mit seinen Gedanken allein. So klingt der Roman zwar nach, lässt aber auch ein klein wenig das unbefriedigende Gefühl unbeantworteter Fragen zurück. Nichtsdestotrotz ein lesenswertes Buch, und Fischers zukünftige Publikationen im Auge zu behalten, könnte sich durchaus lohnen. „Jäger“ macht zumindest Hoffnung darauf, dass man von Marc Fischer noch einige interessante Werke erwarten darf.

Elrod, P. N. – endlose Tod, Der (Jonathan Barrett 2)

Autorin P. N. Elrod hat sich auf Vampire spezialisiert. In ihrer umfangreichen Serie um [Jack Fleming 432 begleitet sie den vampirischen Detektiv bei der Aufklärung seiner Fälle. In den Romanen um den amerikanischen Vampir Jonathan Barrett dagegen zeichnet sie ein faszinierendes Sittenbild frühester US-amerikanischer Geschichte, in das sie die Abenteuer ihres Protagonisten einbettet.

[„Der rote Tod“, 821 der erste Roman der mehrteiligen Serie, war ein furioser Auftakt. Jonathan Barrett, den naiven jungen Helden, verschlägt es zum Studium nach England und geradewegs in die Arme der unwiderstehlichen Nora Jones. Deren Affäre findet zwar ein Ende, als Jonathan nach seinen Studien nach Long Island zurückkehren muss, doch hinterlässt Nora bei ihm einen bleibenden Eindruck: Als er nämlich bei einem Scharmützel (die Handlung spielt während des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs) tödlich verwundet wird, erhebt er sich eine Nacht später wieder aus seinem Grab, um zu seiner Familie zurückzukehren. Sein Vater und seine Schwester sind außer sich vor Freude und akzeptieren ohne Murren Jonathans neue Lebensgewohnheiten. So hat er keinen Herzschlag mehr, verschläft den Tag in seinem Zimmer bei zugezogenen Gardinen und erleichtert in der Nacht die familieneigenen Pferde um ihr Blut.

„Der endlose Tod“ knüpft nahtlos an die Ereignisse aus „Der rote Tod“ an und verfolgt zunächst weiter, wie sich Jonathan mit seinem neuen vampirischen Zustand arrangiert. Zusammen mit Vater und Schwester stellt er einige Versuche an, um herauszufinden, welche Kräfte er besitzt (so kann er beispielsweise andere per Hypnose beeinflussen oder sich in Luft auflösen). Doch außer der Tatsache, dass Jonathan am Tagesgeschehen offensichtlich keinen Anteil mehr nimmt und erst nach Sonnenuntergang aus seinem Zimmer kommt, stört nichts das gepflegte Zusammenleben im Haushalt Barrett. Zwar tobt draußen immer noch der Unabhängigskeitskrieg, allerdings scheint dieser eher unangenehm störend als wirklich gefährlich zu sein. Denn auf wundersame Weise schafft es immer nur Jonathan, vor die Flinte (Stichwaffe, stumpfen Gegenstand – man füge eine Waffe seiner Wahl ein) eines Soldaten oder Söldners zu laufen. So wird er niedergeschossen, niedergestochen, niedergeschlagen und entführt.

Außer auf Jonathans anhaltendes Unwohlsein aufgrund von lebensbedrohlichen Verletzungen, konzentriert sich die Handlung auf seine Schwester Elisabeth. Zwei neue Gäste haben sich nämlich im Hause niedergelassen und zwischen Elisabeth und Lord James Norwood entwickeln sich ziemlich schnell zarte Bande, die in einer Hochzeit enden. So besteht „Der endlose Tod“ über weite Strecken aus Teegesellschaften, zivilisierten Unterhaltungen und dem Nähen von Hochzeitskleidern. Doch wäre es glücklicherweise zu einfach, die eheliche Idylle unberührt zu lassen, und so muss Jonathan auf den letzten Seiten des Romans die Ehre seiner Schwester retten.

„Der endlose Tod“ kann mit seinem Vorgänger nicht mithalten. Die meisten Figuren sind bekannt (tatsächlich werden nur Norwood und seine Schwester neu eingeführt) und das Gleiche gilt für das Setting in Long Island. Jonathan bewegt sich ständig von seinem Haus zu einer Kneipe oder durch finstre Wälder zum Haus der Geliebten seines Vaters. Viel Neues wird der Leser also nicht erfahren. Auch zu Jonathans vampirischem Zustand wird kaum etwas hinzugefügt. Mittlerweile hat Jonathan zwar seine Kräfte und Möglichkeiten ausgiebig getestet, doch nutzt er sie kaum.

Und genau hier liegt der erzählerische Knackpunkt des Romans. Elrod benutzt in ihrem Roman nicht einmal das Wort „Vampir“. Jonathan weiß also nicht, was er ist (was durchaus seine Spannungsmomente hat). Doch auch er sollte festgestellt haben, dass er nicht so leicht zu töten ist. Dass er bereits tot und begraben war, weder einen Herzschlag noch eine nennenswerte Atmung hat, sollte Jonathan eigentlich ausreichend Indizien liefern. Elrod wirft ihren Protagonisten ständig in Situationen, die für einen normalen Menschen gefährlich, wenn nicht gar tödlich wären. Für einen Vampir jedoch sind sie bloße Unterhaltung. Und so mag beim Leser nicht wirkliche Empathie aufkommen, wenn Jonathan mal wieder angeschossen wurde. Weiß er doch (im Gegensatz zu Jonathan selbst), dass eine Schusswunde ihm nichts anhaben kann. Und so freuen sich Jonathan und sein Vater jedes Mal über die wundersame Genesung, der Leser aber rollt nur die Augen.

„Der endlose Tod“ bietet also gegenüber seinem Vorgänger kaum etwas Neues. Die Handlung wird weitergeführt, doch plätschert sie diesmal etwas zu bedächtig dahin, um so zu fesseln wie der erste Band. Stattdessen liefert Elrod Charakterstudien ihrer handelnden Figuren und lädt den Leser ein, an der Familiengeschichte der Barretts teilzuhaben. Leider scheint die Tatsache, dass es sich beim Sohn der Familie um einen Vampir handelt, hier nur eine Nebenrolle zu spielen.

Wenn Vampirfans also gegenüber „Der rote Tod“ nichts Neues erfahren werden, so ist „Der endlose Tod“ doch ein überzeugender historischer Roman. Gerade durch ihre durchdachten und überzeugenden Charaktere schafft es P. N. Elrod, dem Amerika des ausgehenden 18. Jahrhunderts Leben einzuhauchen. Ihr Unabhängigkeitskrieg ist eine ziemlich unehrenhafte Sache, die von Schurken und Söldnern ausgetragen wird, wobei die Bewohner der Gegend in jedem Fall die Verlierer sind, weil sie ständig zwischen die Fronten geraten. Jede Seite versucht, die Einwohner mit unlauteren Mitteln um Nahrung und Vieh zu erleichtern – eine Tatsache, die Jonathan im ersten Band das Leben kostete.

„Der endlose Tod“ schafft es also leider nicht, den Grad der Spannung zu erzeugen, der noch dem „roten Tod“ eigen war. Doch ist das Buch trotzdem unterhaltsam, wenn man es als Historienroman liest. Dann überzeugen vor allem die sympathischen und glaubhaften Charaktere und deren Interaktion miteinander. Dass P. N. Elrod in diesem Band so vorsichtig mit ihrem vampirischen Protagonisten umgeht, heißt zum Glück aber bei weitem nicht, dass sie dessen Potenzial schon erschöpft hätte. Jonathan ist immer noch auf der Suche nach Nora Jones, von der er hofft, dass sie ihn offiziell in seinen vampirischen Zustand einweihen kann. Er weiß mittlerweile, dass sie sich vermutlich in Italien aufhält, doch ist die internationale Post im 18. Jahrhundert noch nicht wirklich flott, und so erhält er in „Der endlose Tod“ noch kein erhellendes Lebenszeichen von ihr. Doch vielleicht im dritten Teil?

Patterson, James – Tagebuch für Nikolas

Gleich zu Beginn von „Tagebuch für Nikolas“ lernt man Katie Wilkinson kennen, die einsam in ihrer Badewanne sitzt, umgeben von ihrer Katze Guinevere und ihrem Labrador Merlin, die sie aber nicht über ihre Trennung hinwegtrösten können. Sie muss an das Tagebuch denken, das ihr einstiger Freund Matt ihr überlassen hat, ein Tagebuch seiner Frau Suzanne an ihr gemeinsames Kind Nikolas. Doch wie kann das sein? Wie konnte Katie nur so glücklich sein mit Matt und auf eine gemeinsame Hochzeit hoffen, wenn er doch eine Frau und ein Kind hat, obwohl er ihr immer versichert hat, dass er nicht verheiratet ist?

Das Tagebuch wird es erklären.

Suzanne widmet ihrem Sohn Nikolas ein Tagebuch, in welchem sie ihm von ihrer Vergangenheit und ihrer Liebe zu Matt erzählt. Suzanne war einst eine erfolgreiche Ärztin am |Massachusetts General Hospital|, als sie bereits im Alter von 35 Jahren einen Herzanfall erleidet und am Herzen operiert werden muss. Nur vier Wochen nach dem Herzanfall verlässt ihr Lebensgefährte Michael sie, und Suzanne beschließt ihr Leben umzukrempeln, ihren stressigen Job aufzugeben und zieht nach Martha’s Vineyard, wo sie während ihrer Kindheit sämtliche Sommerferien mit ihren Großeltern verbracht hatte.

Dort übernimmt Suzanne eine kleine Arztpraxis und genießt das Leben in Strandnähe, sie trifft einen ehemaligen Freund wieder und freundet sich immer mehr mit dem Mann an, der ihr Haus renovieren soll. Spaßeshalber wird er immer nur Picasso genannt, doch eigentlich heißt er Matt und wird einmal der Vater ihres Sohnes Nicholas sein. Suzanne und Matt verlieben sich ineinander, sind glücklich und heiraten schließlich. Irgendwann kommt dann auch Nikolas auf die Welt und macht ihr Glück perfekt.

Wirklich perfekt? Oder was wird passieren, das Matt dazu bringt, eine Beziehung zu Katie zu beginnen? Welche Erklärungen beinhaltet das Tagebuch?

Zugegebenermaßen habe ich eine kleine Schwäche für schnulzige Liebesromane und auch Liebesfilme, was dazu geführt hat, dass ich Nicholas Sparks’ sämtliche Bücher mit Tränen in den Augen verschlungen habe und immer sehnsüchtig auf neue Werke warte, damit ich mich wieder in wunderschöne Fantasiewelten begeben kann. Doch kann James Patterson Sparks das Wasser reichen, wo er doch sonst in ganz anderen Genres schreibt?

Schon der Inhalt des Buches klingt stark nach einer triefenden Schnulze, die bereits nach zwanzig Seiten auf das unweigerliche Happyend hinarbeitet. Zwischendurch werden gekonnt einige tragische Schicksale wie die Trennung von Matt und Katie oder auch Suzannes Herzanfall eingestreut, um dem Buch etwas mehr an Realitätssinn zu verleihen, doch konnte mich dies alles nicht überzeugen. Hätte mich jemand nach den ersten paar Kapiteln gefragt, wie ich mir das Ende des Buches ausmale, so hätte ich ihm genau das Ende vorhergesagt, wie Patterson es in seinem Buch niederschreibt, es gibt für meine Begriffe in dieser Erzählung leider keine Überraschungen, sodass Sparks-Kenner spitzfindig nach wenigen Seiten das Buch durchschaut haben dürften.

Die Geschichte um Katie wird aus der Sicht eines außen stehenden Erzählers geschrieben, das Tagebuch liest sich logischerweise in Ich-Form aus Sicht von Suzanne. Anfangs fand ich den Sprung vom Erzähler zur Ich-Form etwas verwirrend, aber die Sprünge werden durch ein neues Kapitel und die Freiseiten entsprechend deutlich gekennzeichnet. Verwirrender dagegen fand ich das Auftauchen eines zweiten Matt. Bereits im ersten Kapitel um Katie erfährt der Leser, dass sie von ihrem geliebten Matt verlassen worden ist, der ihr aber Suzannes Tagebuch überlassen hat. Im Tagebuch taucht dann auch recht schnell ein Matt auf, doch plötzlich eröffnet Suzanne dem Leser, dass sie sich in den Maler „Picasso“ verliebt hat und er der Vater von Nikolas ist. Erst später wurde dann klar, dass auch Picasso Matt heißt. Der andere Matt spielt aber später gar keine Rolle mehr, warum also tauchte er überhaupt auf und warum musste er auch noch den gleichen Namen erhalten? Das stiftet unnötig Verwirrung, zumal man beim Lesen eines Liebesromans ja nicht immer ein großes Maß an Aufmerksamkeit mitbringt.

Das Tagebuch ist immer wieder unterbrochen durch Anreden an den geliebten Nikolas beziehungsweise an den starken Ritter Nikolas oder auch den kleinen Prinzen. Allein diese Anredeformen an Nikolas wirken schon ein wenig übertrieben, aber noch kitschiger wird schließlich das allumfassende Glück, das Matt und Suzanne zusammen erleben. Dazu eine kleine (willkürlich herausgegriffene) Leseprobe:

|“Ich musste daran denken, was Matt in der Nacht, als er mir den Heiratsantrag machte, zu mir gesagt hatte: „Ist es nicht ein unermessliches Glück, dass es dich noch gibt und dass wir zusammen glücklich sein können?“ Ja, es war ein unglaubliches Glück, und dieser Gedanke ließ mich schauern, als ich dort am Abend unserer Hochzeit neben Matt stand.“|

In diesem Stil ist nahezu das gesamte Tagebuch geschrieben, Redewendungen wie „unermessliches Glück“ oder „Ich liebe dich“ zählen hier sicherlich zu den am häufigsten verwendeten Floskeln überhaupt. Das Tagebuch ist schwärmerisch, überschwenglich, verträumt und steckt voller Glücksmomente, die im Rahmen des kurzen Buches dennoch etwas zu häufig hervorgehoben werden. Gut, ein Liebesroman sollte triefen und das Wunder der Liebe lobpreisen, aber muss es gleich so übertrieben werden? Muss auf jeder Seite explizit erwähnt werden, wie sehr Matt und Suzanne sich geliebt haben und dass ihr Sohn das perfekteste Wesen auf der Welt ist, das bereits im Alter von weniger als einem Jahr sprechen und laufen kann? Ich erhebe nicht den Anspruch von Realitätsnähe bei einer Liebesschnulze, aber ich hatte auch gerade beim Lesen anderer Rezensionen über dieses Buch den Eindruck, dass „Tagebuch für Nikolas“ für mehr gehalten wird als eine verkitschte Liebesgeschichte, die von vorne bis hinten absehbar ist, und das kann ich nicht nachvollziehen. Ich bemerke weder große literarische Leistungen von Seiten Pattersons noch eine besonders kreative und innovative Liebesgeschichte oder eine Story, die mich am Ende überraschen kann. Wo ist dieses Buch also mehr als eine ganz normale Schnulze?

Als verträumter Liebesroman mag „Tagebuch für Nikolas“ sehr unterhaltsam und nett sein, ich kann aber nicht behaupten, dass mich das Buch schwer beeindruckt hätte. Es ist nicht immer alles „Friede, Freude, Eierkuchen“, aber auch die erwähnten tragischen Schicksale werden so überdramatisiert, dass sie für mich einem Rosamunde-Pilcher-Roman entnommen sein könnten. Solche tragischen Ereignisse machen einen Liebesroman für meine Begriffe nicht zu einem großen literarischen Werk, sondern sie gehören irgendwo zu solchen Schnulzen dazu, denn in den meisten Kitschromanen steht das große Glück erst am Ende einiger Schicksalsschlägen, oder nicht?

Mir persönlich sind nicht einmal die Charaktere besonders ans Herz gewachsen, da sie einfach zu unmenschlich gut waren. Matt scheint der absolute Traummann zu sein, der seiner Traumfrau jeden Wunsch von den Augen ablesen kann und einfach nur perfekt ist, doch gibt es so jemanden wirklich? Ich konnte auch Katies Trauer und ihre Wut nicht mitfühlen, da die Geschichte meiner Meinung nach für solche Gefühle recht abgedroschen ist. Die Personen werden uns durch die Erzählung der Geschichte schon näher gebracht, aber sie werden zu einseitig dargestellt und ihre Fehler gar nicht erwähnt, sodass sie künstlich wirken und daher auch von mir kein Mitleid erhalten konnten.

Das Buch unterhält gut, entlockt uns zwischendurch eventuell die eine oder andere Träne, berührt vielleicht ein wenig, entführt seine Leser für zwei bis drei Stunden in romantische Welten, ist dann aber sicherlich wieder schnell vergessen. Um es kurz zu sagen: ein typischer und kitschiger Liebesroman, der nicht mit Überraschungen aufwarten kann und auch nicht weniger schnulzig ist als beliebige andere Liebesromane zuvor.

_James Patterson auf |Buchwurm.info|:_

[„Das Pandora-Projekt“ 3905 (Maximum Ride 1)
[„Der Zerberus-Faktor“ 4026 (Maximum Ride 2)
[„Das Ikarus-Gen“ 2389
[„Honeymoon“ 3919
[„Ave Maria“ 2398
[„Wer hat Angst vorm Schattenmann“ 1683
[„Mauer des Schweigens“ 1394
[„Stunde der Rache“ 1392
[„Wenn er fällt, dann stirbt er“ 1391
[„Wer sich umdreht oder lacht“ 1390
[„Die Rache des Kreuzfahrers“ 1149
[„Vor aller Augen“ 1087
[„Tagebuch für Nikolas“ 854
[„Sonne, Mord und Sterne“ 537
[„Rosenrot Mausetot“ 429
[„Die Wiege des Bösen“ 47
[„Der 1. Mord“ 1361
[„Die 2. Chance“ 1362
[„Der 3. Grad“ 1370
[„4th of July“ 1565
[„Die 5. Plage“ 3915

Uther, Hans-Jörg (Herausgeber) – Märchenschatz

„Märchenschatz“ ist eine von mehreren Sammlungen, die Hans-Jörg Uther herausgegeben hat. Hier geben sich Märchen aus so ziemlich allen Teilen des deutschsprachigen Raumes ein Stelldichein, darunter allseits bekannte wie „Dornröschen“, „Aschenputtel“ oder „Die Sterntaler“, aber auch andere wie „Die Geschichte von der Metzelsuppe“, „Bruder Lustig“ oder „Der Bärenhäuter“, wobei manches Märchen, dessen Titel dem Leser unbekannt schien, sich beim Lesen unter Umständen als alter Bekannter entpuppt, der hier nur im Kleid einer lokalen, leicht variierten Version auftaucht. Zu dieser Gruppe der weiträumig und dabei leicht unterschiedlich erzählten Geschichten gehören unter anderen „Der Deserteur mit dem Feuerzeug“ (bei Grimms: „Das blaue Licht“), „Vom Vogel Fenus“ („Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“) und „Das Märchen vom Knüppel aus dem Sacke“ („Tischlein, deck dich“). Manch einem, der Preußlers „Krabat“ gelesen hat, mag der „Zauberwettkampf“ bekannt vor kommen. Am meisten überrascht hat mich aber das Märchen „Der arme Schuster“, das in abgewandelter Form eine Geschichte aus 1001 Nacht erzählt! Wie diese Geschichte aus dem Orient ins Donauland kam oder umgekehrt, wäre eine interessante Frage.

Die Unterschiede zu den allseits bekannten Versionen, die meist von den Gebrüdern Grimm aufgeschrieben wurden, reichen von kaum spürbar, wie bei „Hans Wohlgemut“ („Hans im Glück“), über deutlich, wie bei „Die Geiß mit ihren zehn Zicklein und der Bär“ („Der Wolf und die sieben Geißlein“), bis gravierend bei „Das kleine Rotkäppchen“.

In den meisten Fällen betreffen diese Unterschiede lediglich die Ausführung, ohne die zugrunde liegende Aussage zu verändern. Aber nicht immer: Das Märchen vom Rotkäppchen zum Beispiel endet hier ganz aprupt an der Stelle, an der das Rotkäppchen gefressen wird! Kein Happyend!

Nun sind Märchen nicht einfach nette Geschichten, die man sich eben erzählt. Märchen erfüllen einen bestimmten Zweck. Der eine ist der psychologische. Oft wurde den Märchen vorgeworfen, sie seien so grausam, und es wurde fleißig daran gebastelt, sie zu entschärfen. Heute sind Psychologen der Meinung, dass Märchen grausam sein sollen! Märchen helfen dabei, mit Ängsten fertig zu werden. Kinder empfinden es als ermutigend, wenn Hänsel und Gretel die böse Hexe besiegen, und das auch noch ganz allein.

Der andere ist der pädagogische. Märchen lehren, dass der Gute immer gewinnt, der Böse immer verliert, dass es sich also nicht lohnt, böse zu sein. Genau dieser Punkt ist aber bei der hier erzählten Rotkäppchenversion ausgehebelt! Kein Jäger kommt, um das – zugegebenermaßen ungehorsame und leichtsinnige – Rotkäppchen zu befreien. Der Grundtenor lautet eher: Geschieht ihr recht! Die unschuldige Großmutter bleibt dabei völlig unbeachtet. Dadurch erhält die Geschichte einen Touch von Struwwelpeter-Pädagogik, die inzwischen allerdings stark umstritten ist. Rotkäppchen hat keine Gelegenheit mehr, aus ihrem Fehler zu lernen. Und der Wolf, der doch noch viel böser ist als Rotkäppchen, kommt ohne Strafe davon.

Außer den klassischen Volksmärchen finden sich aber auch Tiergeschichten und Schwänke, so zum Beispiel „Der Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel“ und „Die sieben Schwaben“. Allen Geschichten gemeinsam ist, dass sie in der typischen Märchensprache belassen wurden, die zum Flair eines Märchens einfach dazugehört. Das wirkt sich gerade bei den beiden vorgenannten äußerst positiv aus, da die wörtliche Rede teilweise sogar die entsprechende Mundart verwendet.

Natürlich lesen sich manche Passagen dadurch etwas umständlich. Das Buch in einem Rutsch durchzulesen, ist anstrengend. Kleine Kinder werden gelegentlich eine Erklärung brauchen, ältere Kinder, die selber lesen, möglicherweise auch, sofern sie nicht aus ihrer Vorlesezeit bereits Märchenerfahrung haben. Aber das gibt sich rasch.

Illustriert ist der Band mit einfachen Bleistiftzeichnungen, die aus dem 19. Jahrhundert stammen und sich vor allem durch Schlichtheit und einem Blick fürs Detail auszeichnen. Sie wurden von Otto Ubbelohde, einem hessischen Zeichner, für eine Ausgabe der Grimmschen Hausmärchen gefertigt und geben nicht nur Szenen aus den jeweiligen Märchen wieder, sondern auch Ausschnitte aus der damaligen Zeit, zum Beispiel in Kleidung und Einrichtung, und runden damit die Gesamterscheinung hervorragend ab.

Insgesamt eine interessante und schön gestaltete Ausgabe abseits der verwässerten und teilweise lieblos hingeklatschten Billigsammlungen, allerdings halte ich es für empfehlenswert, dass im Falle kindlicher Leser die Eltern mit den Kindern über das Gelesene sprechen. Aus eigener Erinnerung weiß ich, dass Kinder vieles gar nicht so deutlich und scharf empfinden wie wir Erwachsenen. Es sind aber auch nicht alle Märchen gleich einfach zu verstehen. Gerade im Falle von „Rotkäppchen“ oder auch der „Mär vom Marchandelbaum“ und der „Eiche am Elbufer“ wäre ein Erfragen des Gelesenen hilfreich, um zu sehen, wie die Kinder mit der Geschichte klargekommen sind.

Hans-Jörg Uther ist Professor für Literaturwissenschaft an der Uni Essen und außerdem in der Erzählforschung tätig. In der Liste der von ihm veröffentlichten Sammlungen finden sich auch „Sagenschatz“, „Märchen vom Glück“, [„Die schönsten Märchen und Geschichten zur Weihnachtszeit“ 775 und „Das große Buch der Fabeln“. Außerdem ist er Mitherausgeber der Zeitschrift |Fabula|.

Dave J. Pelzer – Sie nannten mich »Es«

Manche Bücher erzählen eine grausame Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht, die uns beim Lesen einen kalten Schauer über den Rücken laufen lassen. Zuletzt hatte „Mia“ von Liza Marklund bei mir diese Wirkung hervorgerufen, doch nun habe ich „Sie nannten mich Es“ gelesen und fand es mindestens ebenso schockierend …

Stationen einer Kindheit

Das kurze und dünne Buch ist in sieben verschiedene Kapitel eingeteilt, die wichtige Stationen in Dave Pelzers Leben darstellen. Gleich zu Beginn erlebt der Leser Daves Rettung mit. Endlich haben die Schulkrankenschwester und der Schuldirektor genug gesehen von Daves blauen Flecken und Verletzungen, die selbstverständlich nicht von Unfällen stammen. Die beiden verständigen die Polizei und lassen Dave aus der Schule abholen. Zunächst muss er eine Aussage über seine Erlebnisse machen, anschließend ist er jedoch frei – frei von seiner gewalttätigen Mutter, die ihn permanent gequält hat.

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Chevalier, Tracy – dunkelste Blau, Das

Amis haben für gewöhnlich ein ziemlich seltsames Bild von uns Europäern und wehe sie ziehen dauerhaft hierher, dann kann es eigentlich nur Komplikationen und Verwicklungen geben. Sogar solche, die bis ins 16 Jh. zurückreichen. So ergeht es Tracy Chevaliers Protagonistin, als sie mit ihrem Mann berufsbedingt nach Frankreich übersiedelt. Dem Text auf dem Buchrücken nach bietet es sich an, die Geschichte spontan als einen der derzeit höchst beliebten klerikalen Thriller einzustufen. Ein Irrtum. So viel zur Erwartungshaltung. Ob und inwieweit der Eindruck des Teasers beabsichtigt ist, um auf der Welle mitzuschwimmen, soll einmal dahingestellt sein. Doch worum handelt es sich bei dem Roman „Das dunkelste Blau“ nun eigentlich wirklich?

_Die Autorin_
Tracy Chevalier ist gebürtige Amerikanerin des Jahrgangs 1962, wuchs in Washington D.C. auf und lebt heute in London. Vor ihrem Creative-Writing-Studium an der East Anglia University, das sie 1994 abschloss, arbeitete die Quereinsteigerin als Lektorin für Nachschlagewerke. Weitere von ihr erschienene Romane: „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ (List, TB 06/2001), „Wenn Engel fallen“ (List, TB 10/2003) und „Der Kuss des Einhorns“ (List, HC 02/2004). [Quellen: Verlagsinfo und amazon.de]

_Zur Story_
Ella Turner und ihren Mann Rick zieht es nach Frankreich. Er ist ein gefragter Architekt und arbeitet an einem Projekt in Toulouse, das sicher mehrere Jahre in Anspruch nehmen wird. Somit ist der Umzug nach Frankreich in ein verschlafenes Nest in den französischen Chevennen ein recht dauerhaftes Unterfangen. Ausgesucht hat das neue, abseitige Domizil jedoch Ella, deren Familie vor Generationen aus Frankreich nach Amerika übersiedelte und ihren Namen von Tournier in Turner änderte. Seit ihrer Ankunft in Land des Weichkäses und ihrer Ahnen wird sie von immer wieder dem gleichen Albtraum heimgesucht, in welchem die Farbe Blau eine immens wichtige und traurige Rolle spielt. Zugleich üben die beiden, Nachwuchs zu bekommen, doch gerade der Sex macht die Albträume nur noch schlimmer und intensiver. Ihrem Mann offenbart sie sich jedoch nicht.

Da sie als Hebamme im Gastland nicht praktizieren darf, weil ihr dafür die Zulassung fehlt, und Rick sehr mit seinem Job beschäftigt ist, sucht sie sich Ablenkung. Sie fühlt sich als Fremdkörper im Dorf – man schneidet sie gepflegt in der Nachbarschaft, obwohl sie sich redlich Mühe gibt, ihr verschüttetes Französisch stetig aufzubessern und sich anzupassen. Sie fühlt sich hier auch irgendwie „zuhause“. Es hilft nichts. Kurzum, sie hat niemanden, mit dem sie sich austauschen könnte. Keine Freunde, keine Verwandten. Lediglich ein Cousin in der relativ nahen Schweiz, den sie bislang noch nicht persönlich kennen gelernt hat. Getrieben von innerer Unruhe – vorerst als selbst auferlegte Beschäftigungstherapie – fängt sie enthusiastisch an, ihre Familiengeschichte zu recherchieren und herauszufinden, warum sie im Traum in blitzsauberem Französisch Bibelzitate von sich geben kann.

Ella spürt, dass die Geschichte ihrer Ahnen mit dem stets wiederkehrenden Traum in direktem Zusammenhang steht. Ihre Intuition gibt ihr Recht, doch stellen sich Erfolge beim Wühlen nach alten Dokumenten nur schleppend ein. Dafür findet sie im hiesigen Bibliothekaren Jean-Paul einen zunächst widerwilligen und abweisenden Mitstreiter, der ihr dann aber immer tatkräftiger unter die Arme (und später auch unter den Rock) greift. Das Auffinden einer alten Familienbibel aus dem Besitz der Tourniers bringt sie endgültig auf die Spur eines schrecklichen Verbrechens, das Jahrhunderte zurückliegt. Genauer gesagt aus der Zeit, als die Protestanten Frankreichs – die Hugenotten – unter dem immer mehr um sich greifenden Katholizismus zu leiden hatten und vertrieben wurden. Mitten in dieser Welt des (Aber-)Glaubens spielte sich eine Tragödie in der Familie ab, die Ella in der Jetztzeit so viel Kopfzerbrechen bereitet …

_Meinung_
Schon zu Beginn des Romans erhält der Leser einen Einblick in die Vergangenheit. Genauer gesagt in die Familiengeschichte derer von Tournier, von denen Ella abstammt. Zunächst kann man sich auf die recht wirren und in schneller Zeitrafferfolge präsentierten Fetzen aus der Familienhistorie allerdings keinen klaren Reim machen. Das legt den Grundstein für später immer deutlicher zu Tage tretende Analogien und Parallelen zwischen Ella und ihrem Pendant aus dem 16. Jahrhundert: Isabelle de Moulin. Anfänglich sind diese Flashbacks noch sauber durch Kapitel von der Geschichte in der Gegenwart getrennt, später überschneiden sich die Stränge in schnellerer Abfolge und mogeln sich gegen Ende sogar absatzweise in den Plot. Als weitere Unterscheidung erzählt Chevalier Ellas Geschichte in der Ich-Form, Isabelles Part hingegen beobachtend in der dritten Person.

Man hat den Eindruck, dass besonders Isabelle rudimentäre übersinnliche Fähigkeiten besitzt – zumindest was ihre Connection zu Ella angeht, stimmt das auch irgendwo. Chevalier deutet vermeintlich vorhandene Hexenkünste in diesem Zusammenhang allenfalls nur an. Zum Teil auch recht deutlich, wie beim Bild des immer wieder auftauchenden Wolfes, den Isabelle ganz selbstverständlich als Reinkarnation und Sinnbild ihrer toten Mutter versteht, die helfend in ihr Leben eingreifen will. Leider werden einige dieser vielversprechenden Ansätze in letzter Konsequenz nicht genügend genutzt, um dem Plot mehr Substanz zu verleihen. Solche Festlegungen, ob hier nun tatsächlich paranormale Mächte am Werk sind, oder doch alles nur Aberglaube ist, bleiben dem Leser überlassen. Der kleine Schuss Mystery verpufft ziemlich wirkungslos.

Die wichtige (wie ich finde) Frage, warum die beiden Frauen auf irgendeine Weise miteinander verbunden sind, bleibt auch am Ende der Geschichte nur vage angedeutet. Wie so vieles. Das gilt auch und speziell für die Personenzeichnung. Die Figuren sind bis auf Ella sehr zweidimensional beschrieben und vegetieren als gesichtslos und vorhersehbar agierende Schablonen vor sich hin. Selten lässt sich Chevalier mal zu detaillierteren Beschreibungen ihrer Charaktere und deren Motive hinreißen. Überraschungen in deren Handeln braucht man demzufolge auch nicht zu erwarten, auch von der Protagonistin nicht. Vollkommen linear entwickelt sich die Geschichte genau in die Richtung fort, wie man es sich beim Lesen gedacht hat. Mit Ausnahme der vielen „toten Links“, d. h. Nebenhandlungen, die aus unerfindlichen Gründen einfach nicht weiterverfolgt werden und frei schwebend irgendwo in der Luft enden.

Man ist versucht, „Das dunkelste Blau“ ziemlich schnell als „Frauenroman“ abzustempeln, und tatsächlich bedient der Roman einige der beliebten Klischees, die diesem häufig zu Unrecht negativ konnotierten Begriff andichtet werden. Eine Dreiecksbeziehung gefällig? Geht klar! Die alte In-der-Fremde-doch-noch-ne-beste-Freundin-gefunden-Leier? Biddeschön, kommt sofort! Sex? Verkauft sich immer gut und ist im Doppelpack auch billiger. Okay, wollen wir mal nicht so ungerecht sein und einräumen, dass sich der Schnulzfaktor in erträglichem Rahmen bewegt. Natürlich landet die von ihrem Mann unverstandene und vernachlässigte (Die Klischees bitte nacheinander eintreten – Danke!) Ella mit dem Nebenbuhler – nebst einem ganzen Sack voller Gewissensbisse – in der Kiste. Beinahe zufällig. Vollkommen ungewollt und unerwartet. Hust. Die Beschreibungen der horizontalen Vergnüglichkeiten fallen harmlos aus, da gibt’s Deftigeres – erotisch sind sie aber auch nicht.

Den Leser dürstet es natürlich, das Kuddelmuddel am Ende aufgelöst zu wissen. Wer mit wem und wie und warum überhaupt. Nach den ganzen Sackgassen in der Handlung wähnt man sich im Recht, die Auflösung des Rätsels zu erfahren. Das gelingt Chevalier aber nur zum Teil, die Geschichte und der damit verbundene tragische Mordfall in der Familie Tournier während der Hugenotten-Vertreibung im Jahre Fuffzehnhundertpiependeckel bleibt ungesühnt. Die Schuldigen werden nicht bestraft, de facto erfährt man eigentlich gar nichts weiter. All die kleinen eingearbeiteten Hinweise sind für die Katz bzw. für den Wolf. Den Reißwolf. Dass das letzte Drittel ganz besonders mit der heißen Nadel geklöppelt wurde, bemerkt man an einigen Inkonsistenzen, stellvertretend etwa das plötzliche Auftauchen der Figur Lucien, den Chevalier schlichtweg vergessen hat, zuvor in irgendeiner Form vorzustellen.

Die mühselig aufgebaute und konstruierte Handlung in der Vergangenheit ist historisch ganz gut recherchiert, doch vergeudet Chevalier hier um des lauen Finales in der Gegenwart Willen jede Menge Potenzial, mehr in die Tiefe zu gehen. Die böse Schwiegermutter, der patriarchische Ehemann (Volle Deckung – schon wieder tief fliegende Klischees!), ja, selbst Isabelle, der man so arg und übel mitgespielt hat – immerhin eine wichtige Schlüsselfigur – verschwinden in bester Cliffhanger-Manier schlussendlich im Vakuum der Story. Absolut unbefriedigend. Stattdessen gibt’s ein versöhnliches (aber wenig überraschendes) Schlag-auf-Schlag-Ende für Ellas Albträume, den Beziehungsstress und die Akklimatisierungsprobleme in der neuen Heimat. Und verständnisvolle Verwandte hat sie auf einmal auch gefunden, zusätzlich zur neuen besten Freundin – versteht sich.

_Fazit_
Würde man die ganzen Platitüden streichen, die in losen Enden münden, wär’s eine schöne und übersinnlich angehauchte Novelle geworden. Alternativ dazu wäre eine detailliertere Ausarbeitung der vorhandenen guten Ansätze dazu angetan gewesen, aus dem Roman viel mehr heraus zu kitzeln. So jedoch überwiegt das recht uninteressante Füllwerk, um als recht plattes Transportmedium für die sich anbahnende Romanze zu dienen. Wischiwaschi. Wer aufgrund des Covertextes mit einem sakralen Thriller vom Schlage eines Eco oder Brown rechnet, sei gewarnt.

„Das dunkelste Blau“ ist eine – im wahrsten Sinne des Wortes – triviale Criminal-Love-Story mit einem kleinen Touch von Mystery, den Tracy Chevalier aber leider nur oberflächlich streift. Dank der unscharfen Figurenzeichnung und der vorhersehbaren Handlung sicherlich keine schwere Kost und zwischen Suppe und Kartoffeln schnell durchgelesen. Empfehlenswert höchstens als seichte Bettlektüre für schlaflose Genre-Liebhaber. Wer Gehaltvolleres mag, macht einen Bogen um diese künstlich aufgepumpte und dadurch recht unausgegoren wirkende Kurzgeschichte.

_Die Buchdaten auf einen Blick:_
Originaltitel: „The Virgin Blue“
Penguin, London 1996
Deutsche Erstveröffentlichung: dtv München 1999
Übersetzung: Agnes C. Müller
ISBN: 3-423-20702-7 (2. ungekürzte TB Neuauflage 05/2004)

Ildikó von Kürthy – Freizeichen

Einen Namen im Frauenbuchgenre hat sich die Stern-Journalistin Ildiko von Kürthy durch ihr Erstlingswerk „Mondscheintarif“ gemacht, welches bereits wenig schmeichelhaft verfilmt wurde. Mit „Freizeichen“ hat sie ihren dritten Roman veröffentlicht, der ebenfalls im |Wunderlich|-Verlag erschienen ist und nun als Taschenbuch bei |rororo| vorliegt.

Der Leser befindet sich gleich zu Beginn mitten in einem Gedankenmonolog der Hauptperson Annabel wieder, die sogleich berichtet, dass sie nun endlich vor dem Problem steht, sich zwischen zwei Männern entscheiden zu müssen. Eigentlich ist sie bereits seit viereinhalb Jahren mit Ben zusammen, doch im Alltag ist die Leidenschaft flöten gegangen und Annabel fragt sich nun, ob diese Beziehung so noch Sinn ergibt. Kurzentschlossen – eine Fettanalysewaage und Max Frisch haben ihren Teil dazu beigetragen – fährt sie für ein paar Tage zu ihrer reichen Tante nach Mallorca, um dort über ihre Beziehung und ihre Frisur nachzudenken. Auf Mallorca angekommen, muss sie feststellen, dass ihr Koffer nicht mitgeflogen ist und ihre überschüssigen dreieinhalb Kilo sich vielleicht doch nicht so günstig verteilen, wie ihre Freundin Mona ihr das immer wieder versichert.

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Nicholas Sparks – Du bist nie allein

Spätestens durch seinen Roman „Weit wie das Meer“, der unter dem Titel „Message in a bottle“ mit Kevin Costner verfilmt worden ist, hat Nicholas Sparks sich einen Namen gemacht durch seine unvergleichlichen Liebesromane. Seine Bücher zeichnen sich durch blumige Sprache und eine meist tragische Liebesgeschichte aus, doch in seinem neuen Buch „Du bist nie allein“ (auf Englisch: „The Guardian“) wagt Sparks einen Spagat zwischen zwei Genres. Seine Intention war dabei die Verbindung einer großen Liebe mit der Gefahr, wobei der Schwerpunkt allerdings für Sparks auf der Liebesbeziehung liegen sollte.

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Uther, Hans-Jörg (Hrsg.) – schönsten Märchen und Geschichten zur Weihnachtszeit, Die

Märchen und Geschichten gehören zur Advents- und Weihnachtszeit wie Lebkuchen oder Kerzenlicht. Diese besondere Sammlung trägt dieser Stimmung Rechnung, wenn auch auf ungewöhnliche Art. Literarische Werke von Theodor Storm, E.T.A. Hoffmann, Oscar Wilde und Theodor Fontane geben sich ein Stelldichein mit Volksmärchen aus Irland, Norwegen, dem Odenwald und der Lüneburger Heide. Alle haben mehr oder weniger mit Weihnachten zu tun, und sei es auch nur ganz am Rande.

Die ersten drei Geschichten über Frau Holle, Nikolaus und Christkind gehören zusammen und erzählen in ganz eigener Weise, wie das Christkind nach Europa kam. Die Mischung aus heidnischen Überlieferungen und christlichem Gedankengut ist für manchen vielleicht überraschend und gewöhnungsbedürftig, gleichzeitig aber auch Darstellung eines Übergangs. Gerade zu einer Zeit, als viele Menschen nicht lesen und schreiben konnten, wurde noch viel in Bildern und Symbolen gedacht, insofern spiegelt sich hier die Christianisierung einer Volksseele, die uns so nicht mehr bewusst ist, weil wir inzwischen schon so lange in einer christlichen Umgebung aufwachsen.
Außer diesen dreien ist lediglich „Das Tannenbäumchen“ ein echtes Weihnachtsmärchen. Die übrigen Volksmärchen haben ihren Bezug zu Weihnachten nur im Zeitpunkt der Handlung, die sich selbst nicht unbedingt um Weihnachten dreht.
Die literarischen Texte dagegen rücken Weihnachten als Fest wesentlich stärker in den Mittelpunkt. Die meisten sind gar nicht als Weihnachtsgeschichten geschrieben, da sie aber großteils für diesen Band onehin zu lang wären, wurden die entsprechenden Abschnitte als Auszüge aufgenommen oder der Text wurde ggf. gekürzt. So entstanden Momentaufnahmen in den unterschiedlichsten Stimmungen, von ausgelassener Fröhlichkeit in „Weihnachtsabend“ aus Wilhelm Raabes „Die Chronik der Sperlinggasse“ über Melancholie in „Da stand das Kind am Wege“ aus Storms „Immensee“ bis hin zu Verzweiflung in Tiecks „Weihnacht-Abend“.

Insgesamt fand ich die Auswahl der Texte recht gelungen, mit zwei kleinen Ausnahmen. „Die verwünschte Burg“, ein irisches Elfenmärchen, spielt zwar an Weihnachten, es fehlt ihr aber im Hinblick darauf jegliches Flair, irgendwie passt sie nicht in den Kontext des Buches. Außerdem wirkt sie gegen Ende abgehackt und hinterlässt das Gefühl, dass das doch nicht alles gewesen sein kann. Ich vermisste einen Kern in der Geschichte. „Der Wolf angelt“ erwähnt das Wort Weihnachten überhaupt nicht, und obwohl die Geschichte an sich nicht wirklich schlecht war, fragte ich mich, warum sie in diese Sammlung aufgenommen wurde. Auch hier fehlt der Bezug zum eigentlichen Thema des Buches.
Oscar Wildes „Der glückliche Prinz“ spielt ebenfalls nicht ausdrücklich an Weihnachten, was in diesem Fall aber überhaupt nicht stört, da die Aussage der Geschichte zu Weihnachten passt.
Entgegen der gängigen Kurzbeschreibung nicht enthalten sind „Die Schneekönigin“ und „Väterchen Frost“, was ich vor allem angesichts der erwähnten beiden „Fehlgriffe“ äußerst bedauerlich finde.

Positiv aufgefallen ist mir, dass die Texte sprachlich nicht überarbeitet wurden, bzw. dass Uther sie nicht in modernes Deutsch übertragen hat. In vielen modernen Ausgaben haben die Märchen dadurch einen Großteil ihres Zaubers verloren.
Dasselbe gilt für die zwölf Illustrationen, die dezent in Schwarzweiß gehalten sind und teilweise aus alten Quellen wie dem Augsburger Bilderbogen stammen. Auch das Bild des Schutzumschlags ist schön gemacht, ganz unaufdringlich und nicht so schreiend grell, wie es heute auch bei Weihnachtssachen bereits oft der Fall ist.
Außerdem hat das Buch ein Quellenverzeichnis, was für mich vor allem im Hinblick auf die Textausschnitte und gekürzten Texte interessant war. Wer Interesse an den vollständigen Texten hat, weiß also, wo er suchen muss.

Alles in allem ein hübsches Bändchen für ein paar ruhige Minuten vor dem brennenden Kamin oder beim Schein von Adventskerzen. Wer etwas sucht, um in der Hektik des Vorweihnachtsgetriebes seine eigentliche Weihnachtsstimmung wiederzufinden, liegt hier bestimmt nicht falsch. Zum Vorlesen für Kinder ist das Buch allerdings nur bedingt geeignet. Die literarischen Texte sind naturgemäß sprachlich und inhaltlich ein paar Stufen zu hoch, aber auch die Volksmärchen sind nicht alle uneingeschränkt kindergeeignet. Am ehesten lassen sich die Märchen um Frau Holle und das vom Tannenbäumchen vorlesen, die stammen aber auch aus einem Kinderbuch mit Weihnachtsmärchen. Der damaligen Zeit entsprechend klingen sie stellenweise etwas kitschig, Kinder wird das aber wohl nicht stören.

Hans-Jörg Uther ist Professor für Literaturwissenschaft an der Uni Essen und außerdem in der Erzählforschung tätig. Er hat eine ganze Liste von Märchensammlungen veröffentlicht, darunter „Sagenschatz“, „Märchenschatz“, „Märchen vom Glück“ und „Das große Buch der Fabeln“. Außerdem ist er Mitherausgeber der Zeitschrift Fabula.

http://gutenberg.spiegel.de/raabe/sperling/sperling.htm
http://gutenberg.spiegel.de/storm/immensee/immensee.htm
http://gutenberg.spiegel.de/fontane/ellernkl/ellernkl.htm
http://gutenberg.spiegel.de/etahoff/floh/floh01b.htm
http://gutenberg.spiegel.de/arndt/msarndt/avenstak.htm