Robert J. Sawyer – Die Neanderthal-Parallaxe

Das geschieht:

Auf einer parallelen Erde des 21. Jahrhunderts haben die Neandertaler* den Homo sapiens abgelöst. Ohne ihre Naturverbundenheit zu verlieren, konnten die einstigen Höhlenmenschen eine auf Wissenschaft und Hightech basierende Zivilisation entwickeln. Ponter Boddit und Adikor Huld gehören zu den führenden Physikern ihrer Welt. In der Stadt Saldak haben sie in einer ehemaligen Mine ein Labor eingerichtet. Hier arbeiten sie intensiv an der Konstruktion eines Quantencomputers.

Während eines Experiments geschieht das Unerwartete: Ein Riss im Raum-Zeit-Kontinuum tut sich auf, durch den Ponter Boddit in ein paralleles Universum geschleudert wird. Zeit und Ort blieben unverändert, doch diese Erde wird von den kahlhäutigen „Gliksins“ bevölkert. Neandertaler gibt es nicht mehr. Ponter ist in einem Neutrino-Observatorium gelandet, das in der Tiefe der Creighton-Mine nahe Sudbury in Kanada angelegt wurde. Sein Erscheinen ist eine Sensation. Robert J. Sawyer – Die Neanderthal-Parallaxe weiterlesen

Nix, Garth – Abhorsen (Das alte Königreich 3)

Mit „Abhorsen“ führt Garth Nix seine Trilogie um „Das alte Königreich“ zum Abschluss. Der Band ist eine direkte Fortsetzung von [„Lirael“ 1140 und damit nicht unabhängig von diesem lesbar.

Die junge Clayr Lirael hat ihr ganzes bisheriges Leben darunter gelitten, nicht wie die anderen ihres Volkes eine Seherin zu sein. Nur schwachen Trost hat sie in ihrer Arbeit als Bibliothekarin gefunden, bis zu dem Tag, als ihr befohlen wurde, sich auf eine Reise zu machen, die ihr ihre Bestimmung eröffnen würde.

Tatsächlich hat Lirael ihr Erbe und ihre Bestimmung gefunden. Nicht Prinz Sameth, sondern sie ist die kommende Abhorsen, die in die Fußstapfen Sabriels treten wird. Der Sohn des Königs ist dazu bestimmt, eine andere Aufgabe zu übernehmen. Welche, hat Sameth noch nicht herausgefunden.

Es bleibt auch gar keine Zeit danach zu forschen, denn die untoten Horden des Nekromanten Hedge verwüsten das Land. Er scheint im Dienst einer viel größeren Macht eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, die auch auf das benachbarte Ancelstierre hinüberzugreifen droht. Und Nick, Sameths Freund aus Ancelstierre, ist zu seiner Geisel und seinem Helfer geworden.

Nach einem kurzen Aufenthalt im Haus der Abhorsen, in dem sie sich neu ausrüsten und wieder Kraft sammeln, machen sich Lirael und Sameth auf die gefahrvolle Reise in den Norden. Hedge hat ihnen Horden von Untoten auf den Hals gehetzt, damit sie ihn nicht aufspüren, doch die beiden jungen Leute lassen sich nicht beirren und entdecken schließlich, was der Nekromant im Schilde führt.

Nicht zuletzt die „fragwürdige Hündin“ ist ihnen in dieser Zeit eine treue Gefährtin und Helferin, denn sie scheint mehr über die Gefahren und die Macht zu wissen, die Hedge aus der Erde holen lässt. Es ist ein düsteres Vermächtnis aus den Anfängen der Zeit, noch bevor die Charter entstanden ist. Nun sind alle Kräfte und Fähigkeiten der beiden jungen Menschen gefordert, um dem Treiben Einhalt zu gebieten. Sie haben nicht mehr viel Zeit, um das drohende Verhängnis aufzuhalten und Nick zu retten.

Und da dürfen sie sich auch nicht von einer bitteren Nachricht entmutigen lassen: König Touchstone und die Abhorsen Sabriel sind offensichtlich bei einem Attentat in Ancelstierre ums Leben gekommen, und damit stehen die beiden jungen Menschen ganz allein auf weiter Flur.

Im Gegensatz zu [„Sabriel“ 1109 sind die Romane „Lirael“ und „Abhorsen“ nicht unabhängig voneinander lesbar, sondern bilden eine zusammenhängende Geschichte. Nachdem in „Lirael“ die Charaktere der nächsten Generation, ihre veränderte Welt und die neuen Feinde und Gefährten eingeführt wurden, geht es jetzt in „Abhorsen“ richtig zur Sache.

Zielstrebig gehen die junge Clayr und der Prinz ihren Weg und agieren, wie sie es für richtig halten. Die Handlung ist actionreich, rasant und lässt dem Leser bis zum Schluss kaum Zeit, Atem zu holen.

Das ist allerdings auch eine Schwäche dieses Romans; stellenweise überschlagen sich die Ereignisse zu sehr und manche Schilderungen wirken so abgehackt, dass man als Leser einen Bruch oder eine Kürzung im Roman zu entdecken meint. Garth Nix scheint auch kein Freund von langsamen Ausklängen zu sein … das Buch endet ebenso abrupt wie manch ein Kapitel.

Nichtsdestotrotz bietet auch Abhorsen gute Unterhaltung mit faszinierender Magie, die vor allem in diesem Buch eine Hauptrolle spielt und mythische Dimensionen annimmt, einer spannenden actionreichen Handlung mit gruseligen Szenen und einem zufriedenstellenden Ende.

Aber auch hier lässt sich Garth Nix ein Hintertürchen offen, um vielleicht eines Tages aus der Trilogie einen Zyklus zu machen – das Potenzial und die Konflikte für weitere Geschichten aus dem „Alten Königreich“ – ob nun aus der Zukunft oder der Vergangenheit – sind da.

_Christel Scheja_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de veröffentlicht.|

Nevis, Ben – Die drei ???: Poisoned E-Mail (Engl. Ausg.)

Die altbekannte Jugendserie macht sich auf zu neuen Ufern. Schon komisch; nicht nur, dass die Gestaltung der Bücher seit Anfang 2005 ohne Konterfei und Namen des mit ihnen assoziierten Gönners Alfred Hitchcock auskommen muss, da die Lizenz ausgelaufen ist. Das eigentlich viel Bemerkenswertere ist vielmehr, dass die Serie nun zum Teil ins Englische übersetzt wird. Früher war es ja genau umgekehrt, doch seit geraumer Zeit führen ausschließlich deutschsprachige Autoren die Geschichten weiter, was am anhaltenden und ungebrochenen Beliebtheitsgrad der drei Detektive hierzulande liegt, während sie in ihrem Ursprungsland wohl schon lange wieder verschwunden sind. Der Grund für die Übertragung ins Englische liegt aber weniger darin, den dortigen Markt zurückzuerobern, sondern vielmehr soll damit den deutschen Jugendlichen ein besseres englisches Sprachgefühl vermittelt werden.

Amerikanisches Englisch, um es präzise zu formulieren. Inklusive einer „Vokabelhilfe“. Anfang April 2005 sind zwei Fälle der drei Junior-Schnüffler in angloamerikanischer Fassung bei FRANCKH-KOSMOS als Hardcover erschienen: „Das Hexen-Handy“ und „Gift per E-Mail“. Deutlich zu erkennen an der „Stars and Stripes“ Flagge auf Buchrücken und Frontcover, nebst dem Hinweis „American English“. Ob noch weitere Geschichten diesen Weg (und vielleicht in andere Sprachen) gehen werden, war bislang nicht zu ermitteln, dies ist aber zu erwarten, wenn das Konzept sich (durch entsprechende Verkaufszahlen gestützt) als erfolgreich erweist. Die beiden Fälle dürfen somit vorerst als Versuchsballons dafür angesehen werden, ob diese Idee auch bei den Lesern ankommt und gewürdigt wird.

_Zur Story_

Meg Baker ist passionierte Taucherin und insbesondere Wracks haben es ihr angetan. Erst kürzlich ist ein kleiner Kutter bei einem Unwetter in den seichten Gewässern vor Rocky Beach abgesoffen. Als sie zusammen mit einer Bekannten einen Tauchgang dorthin unternimmt und versucht, durch ein Leck ins Innere zu gelangen, hat sie eine äußerst unangenehme Begegnung mit einer Riesengruppe ziemlich giftiger Quallen. Eine renitente Spezies mit potenten Nesselkapseln – blöderweise reagiert sie auch noch allergisch auf die Viecher. Ihre Tauchpartnerin kann sie bergen und bewusstlos ans Ufer schaffen. Verständlich, dass Mrs Baker auf die schwabbeligen Tierchen fürderhin nicht gut zu sprechen ist. Das für sich genommen, kann man als unglücklichen aber halbwegs normalen Tauchunfall apostrophieren. Wo ist nun der Fall für die drei Detektive?

Erstens gehören diese Quallen nicht in das Innere eines Wracks und schon gar nicht in dieser Konzentration. Zudem hat Mrs Baker kurz nach dem Zwischenfall eine wenig erbauliche E-Mail erhalten, in deren Anhang sich ein niedlicher, aber nickeliger Virus befindet. Der Payload des elektronischen Plagegeists äußert sich als Ansammlung von virtuellen Quallen, welche sich überall im System bis Oberkante Unterlippe breit machen. Zufällige Ironie des Schicksals, Wahnvorstellung oder doch böse Absicht eines Finsterlings? Letzteres liegt nahe. Das ist auch der Grund, weshalb die angenervte Mrs Baker bei Justus, Peter und Bob in der Zentrale eine dringende Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlässt und um Hilfe bittet. Ein ehemaliger Klient der drei Fragezeichen hat ihr die Jugendschnüffler wärmstens empfohlen. Leider ist die gute Frau nicht grade mit einem dicken Geduldsfaden gesegnet, was ihr Quallen-Problem angeht.

Als Justus etwas später zurückruft, ist Mrs Baker grade im Begriff, sich einem anderen Privatdetektiv zuzuwenden – einem professionellen Erwachsenen aus dem angrenzenden Santa Monica. Der sei schon auf dem Weg. Tief in seiner detektivischen Ehre erschüttert und gekränkt, schafft er es jedoch, es so zu drehen, dass wer als erstes bei ihr erscheint, den Job bekommt. Natürlich rasseln die drei Jungs vor dem Haus der potenziellen Neu-Klientin in ihren Konkurrenten: Dick Perry. Und ebenso natürlich ist der Typ ein widerlicher Schleimbeutel. Ohne sich auf etwaiges Fairplay einzulassen, schnappt er ihnen den Auftrag mit krummen Methoden vor der Nase weg. Unnötig zu erwähnen, dass die Jungs nicht locker lassen und ihrerseits an dem Fall dranbleiben. Inoffiziell. Die Lage spitzt sich zu, als ein Schulkollege der drei im unmittelbaren Zusammenhang mit den Ermittlungen gekidnappt wird.

_Meinung_

„Gift per E-Mail“ stammt aus der Feder von Ben Nevis (Erstveröffentlichung 2002 in deutscher Sprache) und zählt auch bei den Hörspielen zu den besseren Storys. Und zu den moderneren. Die drei Fragezeichen gebieten zu diesem Zeitpunkt der Serie bereits über Computer und eigene Autos. Trotzdem sind die Fahrräder der Jungs nicht vollständig vom Tisch und die Autos von Bob und Peter werden nur dosiert eingesetzt. Nevis besinnt sich auf traditionelle Elemente, welche die Serie groß gemacht haben. Zum Beispiel ein Rätselreim oder die berühmte Telefon-Lawine kommen zum Einsatz. Jetzt ist es allerdings die E-Mail-Lawine. Man geht mit der Zeit. Realistisch daran ist, dass diese Art der Informationsbeschaffung auf Basis der stillen Post auch ein Bumerang sein kann. Dann nämlich, wenn die E-Mail-Anfrage die falschen Kreise erreicht. Merke: Auch der PC der pfiffigen Schnüffelnasen ist vor Viren nicht gefeit.

Vor allem aber der Aspekt, einen mindestens ebenbürtigen Gegner in Gestalt von Dick Perry vor sich zu haben, macht den Fall sehr interessant. Konkurrenz belebt eben das Geschäft, zudem wurde die ewig alte Leier, die Ermittlungen ohne große Rückschläge ablaufen zu lassen, auch irgendwann mal langweilig. Diesmal müssen die Junioren ein paar Kröten (respektive Quallen) schlucken und sich ganz schön strecken, bis sie beim finalen Showdown dann doch wie gewohnt (und erhofft) triumphieren dürfen. Bis dahin ist es aber ein steiniger und verschlungener Weg, der buchstäblich erst auf den letzten beiden Seiten des Buches die Wendung zum Guten erfährt. Vorher sieht es tatsächlich so aus, als müssten Justus, Peter und Bob zum allerersten Mal eine deftige Niederlage einstecken. Perry ist ihnen stets eine Nasenlänge voraus.

Der ins US-Englische übersetzte Text ist für Leser mit mittleren bis guten Kenntnissen flüssig zu lesen und gut zu verstehen. Amerikanisches Englisch unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht vom britischen. Das hierzulande in der Schule großteils vermittelte Oxford-Englisch ist dagegen vergleichsweise steif, bildet aber die Basis, über die man verfügen sollte. Das verwendete Amerikanisch ist lockerer, flotter und irgendwie lebendiger. Damit man sich nicht verheddert, sind besonders interessante und/oder ungewöhnliche Vokabeln sowie typische Redewendungen in Fettdruck mitten im Text hervorgehoben. In der Fußnote jeder Seite stehen direkt die Übersetzungen der auf der Seite hervorgehobenen Begriffe und Formulierungen. Dies sind zwischen drei und sechs pro Buchseite. Am Anfang ist dies für den Lesefluss recht störend oder sagen wir besser: ungewohnt, da der permanente Fettdruck einzelner Textelemente doch etwas irritiert.

Man gewöhnt sich aber daran und bemerkt, dass diese Lösung gegenüber einer stupiden Auflistung der betreffenden Vokabeln und Phrasen in einem Appendix durchaus Vorteile hat. Man muss nicht blättern, sondern ein kurzer Blick nach unten genügt. Sofort ist man wieder mitten im Geschehen. Bekannte Ausdrücke überspringt man nach einer Zeit automatisch und pickt sich bei Bedarf nur die wirklich Interessanten heraus. Aufschlussreich sind insbesondere Slang-Ausdrücke, Aphorismen und Metaphern, etwa die amerikanischen Äquivalente für „Leichen im Keller haben“, „Feierabend machen“ oder „Die Hosen voll haben“, um mal ein paar umgangssprachliche Beispiele zu nennen, die vielleicht nicht jedem geläufig sind, sich aber im Alltagsgebrauch als nützlich erweisen können. Manche erläuterten Begriffe kommen leider doppelt vor, wobei sich mir der Sinn dahinter nicht ganz erschließt – ich vermute ein Versehen bei der redaktionellen Bearbeitung und Auswahl.

_Fazit_

In erster Linie dürften mit einer Veröffentlichung wie dieser Schulen angepeilt sein, die ihren Englisch-Unterricht damit aufwerten können, dass – statt des normalen Stoffs des Lehrplans – bekanntermaßen beliebte Jugendliteratur in einer anderen Sprache gelesen wird. Doch auch für gestandene Fans und alle sprachinteressierten Leseratten bietet sich hier Gelegenheit, eventuell verschüttete Kenntnisse aufzufrischen bzw. -bessern. Das macht schon aufgrund der gut ausgewählten Story von „Poisoned E-Mail“ Spaß. Die Übersetzung ist modern, unkompliziert und recht leicht zu bewältigen, jedoch nicht anspruchslos geraten. Das Konzept mit dem Transfer ins Englische inklusive der Vokabelhilfe ist eine nette Idee. Es wäre wünschenswert, dass das auf mehr der Fälle der drei Fragezeichen (zumindest diejenigen aus „deutscher Produktion“) ausgedehnt wird. Bislang sind es zwei davon, verdient hätten es noch einige andere.

_Die Buchdaten auf einen Blick:_

Originaltitel: „Die drei ??? – Gift per E-Mail“
Erzählt von Ben Nevis
basierend auf den Charakteren von Robert Arthur
Erstveröffentlichung: 2005 / Franckh-Kosmos, Stuttgart
Übersetzung ins Amerikanische: Andreas Zantop
Seiten: 144 / Hardcover
ISBN: 3-440-10065-0
ISBN: 3-440-10353-6 (Deutsche Sprachfassung, 2002; aktuelle Auflage Februar 2005)

Anne Eliot Crompton – Merlins Tochter

Der wievielte Artus/Merlin/Morgaine/…-Roman ist das eigentlich? An die zehn habe ich rezensiert, gelesen weit mehr. Die Highlights waren Mary Stewarts Merlin-Zyklus und natürlich MZBs „Die Nebel von Avalon“; den Tiefpunkt markierte Susan Shwartz’ „Der Wald von Broliande“. Und alle mischten die Karten neu, besetzen Rollen um, rückten Verhältnisse in ein anderes Licht…

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Brown, Dan – Meteor

Mit seinem hochspannenden und rasanten Verschwörungsthriller [„Illuminati“ 110 gelang Dan Brown der Durchbruch, seitdem verkaufen sich seine Bücher blendend und werden gerade erst aktuell durch die Werke des neuen Papstes von den Spitzenplätzen der Bestsellerlisten verdrängt. Sein mitreißender Schreibstil ist es, der Browns Bücher zu einem besonderen Leseerlebnis macht, und auch die meist faszinierende Thematik, derer sich Brown bedient. In „Meteor“ rankt sich die gesamte Geschichte um einen Meteoriten, der mehr zu enthalten scheint, als auf den ersten Blick offenkundig wird …

_Schmutziger Wahlkampf_

In den USA herrscht Wahlkampf: Der karrierebesessene Senator Sexton tritt als Gegenkandidat gegen den amtierenden Präsidenten an, der durch seine kompromisslose Unterstützung für die NASA, die schon seit langer Zeit keine Früchte mehr getragen hat, langsam aber sicher ins Hintertreffen gerät. Genau an diesem Punkt setzt Sexton an, der die Verschwendung von Steuergeldern zu seinem heißesten Wahlkampfthema gemacht hat. Seine Tochter Rachel arbeitet im Weißen Haus für den amtierenden Präsidenten und weigert sich, auf Bitten ihres Vaters hin ihren Job aufzugeben. Das Vater-Tochter-Verhältnis ist ohnehin angespannt, da Sexton sogar den Tod seiner Frau für seine eigene Publicity genutzt hat und vehement die Affäre zu seiner Wahlkampfhelferin Gabrielle Ashe abstreitet. Mit seiner Kampagne gegen die NASA zieht er mehr und mehr die Wählerstimmen auf seine Seite, da die meisten amerikanischen Bürger kein Vertrauen mehr in die NASA haben und daher ihre Steuergelder nicht mehr in deren Händen wissen wollen. Doch Sexton hat einiges zu verbergen, denn wie finanziert er eigentlich seinen kostspieligen Wahlkampf?

Kurz nach einem Treffen mit ihrem Vater wird Rachel überraschenderweise zum Präsidenten bestellt, der sie in die Arktis fliegen lässt, um dort eine sensationelle Entdeckung für ihn zu bestätigen. Die in die Kritik geratene NASA konnte dort nämlich durch ein neuartiges Satellitensystem einen großen Meteoriten aufspüren, der bereits seit fast 300 Jahren im ewigen Eis steckt und mit einer kleinen Überraschung in seinem Inneren aufwartet. Um diese sensationelle Entdeckung für die ganze Welt zu verifizieren, hat der Präsident der USA nun einige unabhängige Wissenschaftler auf das Milne-Eisschelf geschickt. Mike Tolland, der sich mit einem Wissenschaftsmagazin im Fernsehen und seinen Filmen über die Unterwasserwelt einen Namen gemacht hat, ist einer dieser Wissenschaftler. Er ist auch derjenige, der die Fernsehdokumentation über den Meteoriten für die weitweite Publikation zusammengestellt hat. Schließlich tritt der Präsident mit der Neuigkeit über den Meteoriten, der noch eine weitere Überraschung in sich birgt, vor die Weltpresse.

Doch in der Arktis schweben Rachel und die anderen Wissenschaftler plötzlich in Lebensgefahr, weil eine Delta-Force-Einheit gewisse Informationen vertuschen will, die mit dem Meteoriten zusammenhängen. Welches Geheimnis umgibt den Meteoriten? Und wer hat die Delta-Force-Einheit in die Arktis geschickt, um den Meteoriten zu bewachen?

_Rasanter Wissenschaftsthriller mit Schwächen_

Erneut hat Dan Brown einen Pageturner vorgelegt, den man nur schwer aus der Hand legen kann. Sein Schreibstil erinnert mich stark an Michael Crichton, denn auch Brown hält sich nicht lange mit detaillierten Beschreibungen der handelnden Personen oder der Situationen auf, vielmehr konzentriert er sich auf das Wesentliche und verschwendet keine Worte. „Meteor“ ist in mehr als hundert sehr kurze Kapitel eingeteilt, sodass keine langen und langatmigen Szenen zu überwinden sind. Darüber hinaus ist Dan Browns Wortwahl einfach, sein klarer und knapper Schreibstil macht seine Romane immer wieder zu einem kurzweiligen (hier aber auch kurzlebigen) Leseerlebnis.

Dan Brown eröffnet in seinem Thriller verschiedene Handlungsstränge, die sich durch das gesamte Buch ziehen. Größtenteils bleibt der Leser bei Rachel, die sich auf der Flucht befindet, zwischendurch erzählen andere Kapitel aber auch mehr über Senator Sexton, seine Wahlhelferin Gabrielle und über Rachels Chef Pickering, die ihrerseits ebenfalls interessante Entdeckungen machen können. Wie gewohnt findet der Wechsel zwischen zwei verschiedenen Handlungsfäden immer an der spannendsten Stelle statt; Brown weiß natürlich, wie er seine Leser bei der Stange halten kann.

Doch ist der Spannungsaufbau in „Meteor“ nicht so gelungen wie in Browns kirchlichen Verschwörungsthrillern. Zwar bekommt der Leser nach und nach immer mehr Informationen über den gefundenen Meteoriten vorgeworfen und möchte dadurch immer dringender wissen, was genau eigentlich hinter dem Fund steckt, doch zeichnet sich zu schnell ab, dass mit dem Meteoriten etwas nicht stimmen kann, sodass das Überraschungsmoment schließlich ausbleibt.

Trotz des wissenschaftlichen Themas bleibt das Buch auch für Laien gut lesbar, da Fachvokabular im Zusammenhang erklärt wird und keine Fragen offen bleiben. Brown beweist hier erneut, dass er viel Recherchearbeit in seine Romane investiert, in „Meteor“ spart er nicht an Informationen zur Bestimmung nicht-irdischen Gesteins, sodass man auf diesem Gebiet durchaus noch etwas dazulernen kann.

Leider bleibt bei aller Rasanz die Figurenzeichnung auf der Strecke, da sich Brown keine Zeit nimmt, um seine Personen zu entwickeln. Stattdessen bedient er sich oftmals vieler Klischees, um seine leeren Figurhüllen mit Inhalt zu füllen. In „Meteor“ stehen außerdem zu viele Personen im Mittelpunkt des Geschehens, als dass jedem genügend Aufmerksamkeit gewidmet werden könnte. Zu viele Wissenschaftler reisen auf das Eisschelf, zu viele Figuren tauchen in der Rahmenhandlung auf. Auch über Rachel Sexton, die im Zentrum der Handlung steht, erfährt der Leser wenig Neues. Häufig wiederholt Brown sich, immer wieder spielt er auf ihr gestörtes Verhältnis zu ihrem Vater an und erwähnt mehrfach ihre Angst vor Wasser, doch tragen diese mageren Informationshäppchen kaum dazu bei, sich ein umfassendes Bild von Rachel machen zu können.

Obwohl ich Wissenschaftsthriller sehr gerne lese und die Thematik äußerst interessant finde, kann „Meteor“ meiner Meinung nach nicht die gleiche Faszination entwickeln wie „Illuminati“ oder auch „Sakrileg“. Browns inszenierte Schnitzeljagd durch Rom zur Zeit des Konklaves ist einfach unübertroffen und auch die Rätselsuche im Pariser Louvre, die schließlich in London endet, weiß deutlich mehr zu überzeugen als die Hetzjagd, die Brown in „Meteor“ veranstaltet. Zu unlogisch und unrealistisch sind hier die Wendungen, zu aussichtslos die Situationen, aus denen die guten Helden sich schlussendlich zumindest teilweise doch noch retten können. Der Autor kann kaum überraschen, da er sich lediglich der altbekannten Regeln einer solchen Verfolgungsjagd bedient, bei der nur ganz bestimmte Personen bis zum Ende überleben können.

Selbst vor logischen Fehlern bleibt dieser Roman nicht verschont, denn zwischendurch präsentiert uns Dan Brown wie gewohnt den Bösewicht, der zuvor offensichtlich zu der Gruppe der Guten gezählt wurde. Doch führt dies zu einigen Unstimmigkeiten, da der heimliche Bösewicht eine zeitlang mit den Guten zusammen gearbeitet hat und daher über ihre Pläne aufgeklärt ist, doch später muss er sich eines anderen Tricks bedienen, um seine Opfer ausfindig zu machen. Außerdem weiß ich nicht, wie Brown diese Zusammenarbeit begründen will, da dem Bösewicht kaum daran gelegen sein kann, seinen Gegnern zu helfen. Warum hat er es also doch getan?

Insgesamt schneidet „Meteor“ im Vergleich zu Browns Verschwörungsthrillern schlecht ab. Etwas bedauerlich finde ich, dass er nach seinem starken Kirchenthriller „Illuminati“ ein vergleichsweise schwaches Buch wie „Meteor“ geschrieben hat, da er zuvor bereits bewiesen hatte, dass er es besser kann. Auch fällt negativ auf, dass Dan Brown sich immer wieder des gleichen Strickmusters bedient; kennt man also einen Roman, so überraschen einen die Wendungen in Browns weiteren Werken nicht mehr. Dennoch bleibt „Meteor“ durchaus lesenswert und dürfte Fans von Wissenschaftsthrillern im Allgemeinen und Michael Crichton im Speziellen gut unterhalten. Das Buch ist kurzweilig und gut zu lesen. Mir persönlich fehlte etwas die Faszination, welche von den Geheimgesellschaften und der spannungsgeladenen Szenerie in „Illuminati“ ausging, bei „Meteor“ hat Brown leider nicht ganz so viel aus der an sich interessanten Thematik herausgeholt. Aufgrund der logischen Schwächen und der etwas vorhersehbaren Handlung kann „Meteor“ daher nicht vollkommen überzeugen.

Robert Bloch – Amok

bloch-amok-cover-kleinWer die kleine Statue der Hindu-Göttin Kali besitzt, entgeht auch in der amerikanischen Provinz nicht der Mördersekte der Thugs. Ein junger Mann will seine gemeuchelte Tante rächen, doch stets findet er seine Verdächtigen tot vor … – Thriller vom Verfasser des Kult-Reißers „Psycho“, der seine Mittelmäßigkeit hinter dem exotischen Plot gut versteckt und bis auf das nur mühsam überzeugende Ende zu unterhalten weiß.
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Koontz, Dean R. – Wächter, Der

Das Leben eines heiß gefragten Hollywood-Schauspielers ist hart. Das bezieht sich nicht alleine darauf, dass ein im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehender Mensch wie Channing Manheim Knochenarbeit verrichten muss, für die er völlig zu Recht mit Abermillionen Dollar entlohnt wird, sondern nimmt auch Bezug auf die Anfechtungen, die zu verkraften sind. Das geht manchmal ans Eingemachte, wenn nicht nur die schauspielerische Leistung zurechtgerückt wird, sondern das persönliche Schicksal bedroht wird. Dann werden auch Lichtgestalten wie Manheim zu winzigkleinen Menschen, mit allen Mitteln darum bemüht, das eigene Dasein vor Widrigkeiten zu beschützen.

Noch drängender wird diese Frage nach dem behütenden Schutz, sobald über die eigene Persönlichkeit hinaus nahe Menschen bedroht sein könnten. Manheim ist allein erziehender Vater (soweit bei der permanenten Abwesenheit von Manheim von einer Erziehung gesprochen werden kann, andererseits könnte es bei seinem Naturell durchaus sein, dass Kinder von der Nicht-Anwesenheit profitieren …), und Fric, sein zehnjähriger Sohn, lebt im Grunde alleine in einer prächtigen, großen, komfortablen Villa. Alleine mit einer ganzen Handvoll Bediensteten und … Sicherheitskräften, zu denen die zweite Hauptperson des Romans zählt, der ehemalige Polizist und jetzige Sicherheitschef Ethan Truman.

Auf diese beiden Personen – Fric und Truman – konzentriert sich Dean Koontz in seinem aktuellen Thriller. Er beleuchtet die Handlungswege von beiden parallel, schildert dabei den Arbeitsalltag von Truman, der gleich zu Beginn ein weiteres ominöses Päckchen mit einem schwer erklärbaren Inhalt erhält, und die grauen Tage von Fric, der mehr oder minder auf sich alleine gestellt ist und für den die Lektüre in der hauseigenen Bibliothek zu den aufregendsten Stunden des Tages zählt.

Beide kennen sich wenig, die Diskrepanz zwischen dem gut lebenden Fric und dem gewissenhaft agierenden Truman ist zu groß, zumal Fric eher misstrauisch und zurückhaltend anderen Menschen gegenüber agiert. Diese Vorbehalte mehren sich noch, als Fric im Einklang mit den seltsamen Päckchen mysteriöse Telefonanrufe erhält, die er aber erst einmal für sich behält. Wer sollte einem versponnenen Jungen wie ihm auch glauben.

Nicht weniger bizarr sind die Erlebnisse Trumans, der plötzlich einen tot geglaubten alten Freund wieder sieht. Schritt für Schritt enthüllt sich vor Trumans Augen eine unglaubliche zweite Daseinsebene, und damit betreten wir als Leser endlich Neuland, durchschreiten gemeinsam mit Truman eine Linie, die unsere reale Welt trennt von dem „danach“. Für Truman ist dies derart albtraumhaft und dermaßen unglaublich, dass auch er diese Informationen fürs Erste verschweigt; erst später öffnet er sich einem ehemaligen Kollegen aus dem Polizeidienst, der ihn in der Folgezeit diensteifrig unterstützt und letztlich auch an der Aufklärung des Falles beteiligt.

Dean Koontz zählt nach vielen Jahren des bedächtigen Aufbaus mittlerweile zur ersten Garde der amerikanischen Thriller-Autoren. Im Gegensatz zu den in einer, nun ja, „realistischen“ Welt handelnden Epigonen der Kollegen knüpft Koontz als alter Horror-Haudegen seine Fäden von dieser unserer Welt hinüber in eine Schattenwelt, in eine Todeswelt, in eine irreale Ebene des Lebens, die bevölkert ist von Toten oder Nicht-Toten oder unerklärlichen Existenzen. Jedenfalls vermischt er Gruselelemente sehr eifrig mit kriminalistischen Geschehnissen und bezieht gerade daraus seine wichtigen Spannungstopoi; das Unerklärliche wirkt auf den Leser bedrohlich, weniger der nicht ungewöhnliche, in seiner Entfaltung tausendmal gelesene Kriminalfall. Der ist alltäglich, seine Aufklärung dagegen nicht.

Darauf muss man sich auf den 740 Seiten einlassen können. Es ist nicht jedermanns Sache, eine solche Art von „Deus ex Machina“ in einem in der Jetztzeit spielenden Roman zu akzeptieren; wenn Truman nicht mehr weiterweiß, dann steht gewissermaßen der Engel bereit. Das mag als ein reflektierendes Element für eigene Handlungen seine Reize haben, aber als tragender Faktor bei der Lösung des Falles mutet es so manches Mal arg an den Haaren herbeigezogen an.

Trotz dieser Vorbehalte: Koontz spielt rücksichtslos seine Trumpfkarten aus, nachdem er so richtig Fahrt aufgenommen hat. Dazu benötigt er eine etwas zu lange Strecke, auf der er in ermüdender Drängelei ein ums andere Mal den Wohlstand Manheims beschreibt; irgendwann weiß auch der letzte unaufmerksame Leser, in welch praller Üppigkeit Fric lebt, wie viele Bücher hier und dort gestapelt sind, wie viele Kandelaber auf wie vielen Tischlein in den zigtausend Zimmer, Räumen und Sälen thronen … ach, das ist wirklich zu viel des Beschreibens, das ödet in diesen überbordenden Dimensionen irgendwann an.

Und hört doch glücklicherweise wieder auf, nachdem Koontz sich so richtig ausgetobt hat. Erst da, nach etwa mehr als einhundert Seiten, kann sich das Interesse des Lesers an den Figuren entfalten. Und erst da wird es spannend und interessant, und Koontz’ Karten stechen ohne Frage: Er verwöhnt mit sehr schönen Metaphern, schreibt sehr gute und unterhaltsame Dialoge und verwendet dazu gut gesetzte Spannungsmomente.

Das passt dann alles und hinterlässt letztlich doch das Gefühl, sich durch einen geschickt konstruierten, von zwei glaubwürdigen Charakteren geprägten Thriller gelesen zu haben. „Der Wächter“ liest sich immerhin so spannend, dass sich die Seiten wie von selbst umblättern …

_Karl-Georg Müller_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de veröffentlicht.|

Ben Benson – Alle haben Angst

benson-angst-cover-kleinIn einer amerikanischen Kleinstadt treibt eine jugendliche Autoknacker-Bande ihr Unwesen. Ein Polizist wird eingeschleust, doch misstrauische Ganovengenossen und unglückliche Zufälle lassen ihn auffliegen und in Lebensgefahr geraten … – Mittelmäßig spannende aber als Zeitdokument interessante Geschichte: Im US-Amerika der unmittelbaren Nachkriegszeit führt das Establishment Krieg gegen die aufmüpfige Jugend. Die eigentliche Kriminalhandlung dient als Aufhänger für moralinsaure Horrorvisionen, welche einen gravierenden Generationskonflikt höchst einseitig ‚erklären‘ und unverhohlen autoritäre ‚Hinweise‘ zur Beilegung liefern sollen.
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Dennis Lehane – Shutter Island

Lehane shutter island cover 2015 kleinAus einer abgeschiedenen Anstalt für wahnsinnige Straftäter ist eine Patientin verschwunden. Zwei US-Marshalls ermitteln vor Ort und kommen geheimen Menschenversuchen auf die Spur. Die Verantwortlichen bemühen sich daraufhin, die unerwünschten Zeugen auszuschalten … – Spannender Psycho-Thriller, in dem nichts und niemand ist, wie es und wer er scheint. Die Auflösung ist der Vorgeschichte wie so oft nicht gewachsen, was jedoch das Vergnügen an diesem gut erzählten Garn nur geringfügig schmälert.
Dennis Lehane – Shutter Island weiterlesen

Bram Stoker / Marc Gruppe – Das Amulett der Mumie (Gruselkabinett 2)

Abel Trelawny ist Mumienforscher. Sein gesamter Haushalt ist mit Fundstücken aus dem alten Ägypten vollgestellt und das ganze Haus durchweht der (recht stickige) Dunst der Geschichte. Doch eines Nachts, als er wie immer an seinen Forschungen arbeitet, findet ihn seine Tochter Margaret aus tiefen Schnittwunden an den Handgelenken blutend in seinem Arbeitszimmer vor. Der hinzugezogene Arzt versorgt zwar die Wunden, doch Trelawny will einfach nicht aus seinem unnatürlichen Schlaf erwachen.

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Herman Melville – Moby Dick

„Moby Dick“ ist ein Literaturklassiker. Und das, obwohl es bei der Erstveröffentlichung des Romans von Herman Melville 1851 nach einem Flop aussah. Als „trostloses Zeug, stumpfsinnig und öde“ und als eine „übel zusammengeschusterte Mischung aus Abenteuerroman und Tatsachenbericht“ wurde der Roman in Rezensionen gescholten. Und gilt dennoch heute als größtes Werk des Amerikaners. Melville selbst sah die damalige Kritik eher gelassen, war er sich doch von vorneherein darüber im Klaren, dass „Moby Dick“ eine literarische Gratwanderung darstellte. Und so verwundert der folgende Ausspruch von ihm wenig: „Es ist besser, auf der Suche nach Originalität zu scheitern, als mit bloßer Nachahmung Erfolg zu haben.“

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Samuels, Mark – weißen Hände und andere Geschichten des Grauens, Die (Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek 4)

Wenn es keine Kleinverlage gäbe, müsste man sie erfinden, damit man solche Bücher lesen kann – Bücher wie dieses, Werk eines 1967 geborenen Autors, der in der Verwaltung eines Londoner Unternehmens arbeitet, zwei Storysammlungen veröffentlicht hat, eine dritte vorbereitet, an einem Roman schreibt und dennoch nicht an seine Karriere als Berufsautor glaubt – „eine leider wohl realistische Einschätzung der Lage, denn von anspruchsvoller Phantastik kann heutzutage wahrscheinlich kaum jemand existieren“ (siehe das exzellente Nachwort von Thomas Wagner, S. 206).

Doch es gibt BLITZ, [BLITZ]http://www.blitz-verlag.de macht diese – phantastische! – Reihe, also können wir Mark Samuels sogar auf Deutsch lesen. Andernfalls wäre uns etwas entgangen, und wir hätten es nicht einmal gewusst. Wie viele begabte Autoren finden nicht den Weg in britische, deutsche, US- und anderswo beheimatete Verlage? Wie viele phantastische Geschichten bleiben in Schubladen liegen oder werden bestenfalls auf Websites dargeboten? Gedanken, die traurig stimmen.

Aber „Die weißen Hände und andere Geschichten des Grauens“ haben wir: neun Storys, übersetzt von Monika Angerhuber, die uns verschiedene Facetten des Unheimlichen nahe bringen. Wie zum Beispiel die Titelgeschichte: Da stößt der Ich-Erzähler, der über viktorianische Horrorautoren schreiben will, auf einen exzentrischen Literaturtheoretiker, der eifersüchtig den Nachlass der fast vergessenen Lilith Blake hütet und behauptet, ihre Geschichten würden nicht von übernatürlichen Phänomenen erzählen, sondern selbst solche sein; im Übrigen sei Lilith Blake nicht wirklich gestorben, sondern träume in ihrem Sarg; und wer ihr letztes Manuskript „Die weißen Hände und andere Erzählungen“ lese, der würde die Welt anders sehen, würde alles verstehen … Der Erzähler, zu Anfang skeptisch, entwickelt nach und nach eine Obsession für die Blake und ihr Werk …

Oder nehmen wir „Appartement 205“. Darin besucht ein seltsamer nächtlicher Gast einen Medizinstudenten. Der entdeckt, dass sein Besucher nur wenige Türen weiter wohnt; aber als er Appartement 205 öffnen lässt, um Klarheit über den merkwürdigen Mann zu erhalten, entdeckt er diesen nicht, dafür ein seltsames Gemach mit einem Stuhl und einem Spiegel. Er macht den Fehler, hineinzusehen – und erfährt Dinge über die Realität, die er sich nicht hätte träumen lassen.

Folgt „Die Sackgasse“ – eine Geschichte über einen Mann und seinen ersten Arbeitstag in den Büros der Ulymas-Organisation; doch dieser Tag verläuft weder so wie erwartet, noch geht er zu Ende wie erhofft. Man spürt, dass Samuels weiß, wovon er schreibt; und den Albtraum, in den der Protagonist gerät, kann man getrost in den Kontext des Werks des Bureau-Angestellten Dr. Franz Kafka stellen.

Wie „Die Suche nach Kruptos“ den Geschichten Jorge Luis Borges’ nachempfunden ist: Ein Student der Metaphysik reist 1940 dem vergessenen Philosophen Thomas Ariel nach, um dessen letztes Werk – „Kruptos“ – aufzuspüren. Ariel ist freilich seit sechzig Jahren irgendwo im Norden Finnlands verschwunden, aber vielleicht findet man ja noch dieses Buch, das Hauptwerk eines kühnen Theoretikers, dessen Schriften die Drucker sich zu drucken weigerten? Nun: Die Protagonisten dieser Geschichten finden immer etwas, doch nie das, was sie finden wollten … Wer „Die Bibliothek von Babel“ liebt, wird von dieser Geschichte begeistert sein; ebenso von den anderen, seien sie nun hier genannt worden oder nicht.

Zwei Vorbilder habe ich schon angesprochen, weitere kommen hinzu, Lovecraft etwa (Das ist nicht tot, was träumend liegt …) oder Ligotti, dem „Vrolyck“ und „Kolonie“ zu verdanken sind. Doch Samuels kann es sich leisten, seine Vorbilder zu nennen oder erkennen zu lassen, denn er schafft durchaus eigenständige Texte. Was hier zu lesen ist, verrät viele Einflüsse, ist aber nicht Kafka oder Ligotti, nicht Lovecraft oder Borges, sondern eben Samuels – ein Autor, der mit diesen seinen Kollegen freilich eines teilt: Er stellt den hilflosen Menschen in eine Welt voller undurchschaubarer Vorgänge, macht seine Protagonisten zu Opfern unbegreiflicher Mächte, lässt sie nur reagieren, nicht agieren. Damit antwortet er – wieder wie die genannten Schriftsteller, zu denen auch Philip K. Dick, Robert Aickman und Algernon Blackwood gehören – auf die Verwerfungen der Moderne, die nicht nur traditionelle Lebensweisen zerstört, sondern auch Sicherheiten anderer Art (zum Beispiel den Schutzkonsens der Moral); die oberflächliche Illusionen an die Stelle des tiefgründigen Denkens setzt und den Menschen von sich selbst, seiner Arbeit und seinen Mitmenschen entfremdet. „Gott“ oder „Hoffnung“ kommen in diesen Geschichten nicht vor, wohl weil sie in der heutigen Welt auch nicht mehr zu existieren scheinen; der Mensch wird zum Traum, zur Puppe, zur Hülle für Fremdes, er verliert nicht nur den Sinn seines Lebens, sondern oft auch seine Existenz. Dies beschwört Samuels mit starken Bildern und intensiver Sprache. Zitiert sei als Beispiel der Schluss von „Kolonie“:

|“Wir alle sind verloren in der weiten, endlosen Nacht, die wir selbst sind. Wir wandern, hoffnungslos und auf ewig verlassen, durch unsere eigenen geheimen Höllenkammern. So wie die Schatten von der Nacht verschluckt werden, so rufen unsere Seelen nach ihrem Ursprung. Und alles, was dann noch bleibt, ist die Wahrheit: Die Worte der toten Sprache können nicht entziffert werden, und alles ist schwarz und eisig und trostlos, ohne einen Sinn oder eine endgültige Lösung …“|

Wahrlich: Das ist kein Buch für Optimisten. Aber welcher Liebhaber dunkler Phantastik wäre schon Optimist …???

Band 1: [„Grausame Städte“ 1018
Band 2: [„Das Alptraum-Netzwerk“ 1023
Band 3: [„Spuk des Alltags“ 1142

_Peter Schünemann_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de veröffentlicht.|

Smith, Sarah – dunkle Haus am See, Das

Aus uraltem österreichischen Adel stammt er, der Baron Alexander von Reisden; verarmt zwar, aber dank erfolgreicher Börsenspekulationen wieder zu Geld gekommen und als fähiger Biochemiker in der Fachwelt hoch angesehen. Er ist jung, gut aussehend, bei seinen Freunde beliebt, der Titel öffnet ihm in der Gegenwart des Jahres 1906 gesellschaftlich alle Türen. Aber Reisden ist ein Einzelgänger, seit er vor fünf Jahren seine Gattin bei einem von ihm verschuldeten Automobilunfall verlor, einen Nervenzusammenbruch erlitt und nach einem Selbstmordversuch lange Monate in einem Sanatorium verbringen musste.

Ein Fachkongress in der US-amerikanischen Metropole Boston verwickelt Reisden in eine bizarre Affäre, die einer der prominentesten Familien der Stadt seit Jahrzehnten argen Verdruss bereitet. 18 Jahre zuvor war Island Hill, der Stammsitz der steinreichen Knights, einsam gelegen am Matatonic-See im US-Staat New Hampshire, Schauplatz eines Morddramas geworden. William, Selfmade-Millionär, Räuberbaron, Kriegsgewinnler, religiöser Fanatiker und seiner Familie ein kaltherziger, böser Patriarch, hatte seine zahlreichen Kinder im Jahre 1887 entweder überlebt oder verstoßen. Nur sein Enkel Richard leistete ihm Gesellschaft, den der alte Mann mit brutaler Gewalt zu seinem Universalerben heranzog. Dies erregte offensichtlich den Neid von Jay French, von dem es hieß, er sei das illegitime Kind eines Knight-Sohnes, der im Bürgerkrieg gefallen war. Als „Bastard“ von der Erbfolge ausgeschlossen und vom Großvater huldvoll als Privatsekretär angestellt, erschoss der gekränkte French eines Tages William Knight im Streit und entfloh – so die Familiensaga. Richard, der die Bluttat beobachtete, weigerte sich zu reden. Drei Tage später verschwand auch er spurlos.

Das Knight-Vermögen fiel an Richards Erben: Gilbert Knight, den letzten von Williams Söhnen, den dieser Jahre zuvor enterbt und aus dem Haus gejagt hatte. In den folgenden Jahren weigerte sich dieser Gilbert, seinen Neffen für tot erklären zu lassen. Sein Glauben an dessen Fortleben trägt durchaus irrationale Züge. Ein Schock soll ihn zwingen, das stets Aufgeschobene endlich nachzuholen: Alexander von Reisden sieht dem verschollenen Richard zum Verwechseln ähnlich. Er soll dessen Stelle einnehmen, um sich dann in Gilberts Anwesenheit zu demaskieren. Aber der Plan misslingt: Gilbert erkennt Reisden uneingeschränkt als Richard an – bitter vor allem für Pflegesohn Harry, der endlich offiziell das Knight-Erbe antreten und die schöne Perdita Halley ehelichen wollte. Aber auch Reisden bereut es, sich auf das seltsame Spiel eingelassen zu haben. Er tritt die Flucht nach vorn an, beschließt, sich als Amateur-Detektiv zu versuchen und endlich Richards Schicksal zu klären. Mit den Knights bezieht er Island Hall, inzwischen zum düsteren Spukhaus verfallen, um dort die vor Jahren erkaltete Spur wieder aufzunehmen. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten bei den Ermittlungen sind freilich nicht die einzigen Hindernisse, gegen die Reisden anrennt. Längst nicht alle Beteiligten des Knight-Dramas sind so ahnungslos oder gar unschuldig wie sie zu sein vorgeben, und das bringt den schwermütigen Detektiv recht bald in Teufels Küche …

„Das dunkle Haus am See“ ist ein historischer (oder besser: historisierender) Kriminalroman der besseren Sorte, d. h. überzeugend nicht nur als sauber geplotteter und schriftstellerisch umgesetzter Thriller, sondern auch harmonisch verschmolzen mit der Realität des Jahres 1906. Diesen Punkt darf man nicht unterschätzen, denn allzu oft setzen Autoren gar zu offensichtlich auf die Vergangenheit als exotische Kulisse, die ganz allein eine 08/15-Krimihandlung – meist grob verschnitten mit Elementen des Herz-Schmerz-Genres – transportieren soll. Nicht besser sind jene Schreiberlinge, die geradezu manisch historische Fakten zusammenzutragen, um darunter mit ihrer Geschichte auch das Publikum zu begraben. Sarah Smith findet indes den goldenen Mittelweg, der da heißt: Historisch wird es nur dort, wo es der Handlung dienlich ist. Das zu realisieren, ist schon Herausforderung genug.

Smith meistert sie, was sie allerdings nicht in den Stand einer schriftstellernden Heiligen erhebt, wie uns der Klappentext glauben machen möchte. Bei nüchterner Betrachtung besticht dieser Roman jedenfalls nicht unbedingt durch Originalität. Alte Familienskandale in ebensolchen Gemäuern werden immer Interesse erregen. Neu sind sie als Grundlage eines Kriminalromans aber sicher nicht. Wie so oft ist es die Variation einer bekannten Melodie, die den wahren Genuss bringt. Hier besteht sie vor allem in der wohltuenden Abwesenheit jener hysterische Gefühlsduseligkeit, die fälschlich mit der „guten, alten Zeit“ in Verbindung gebracht wird, als die Menschen angeblich Gefangene einer stets erdrückenden, weil restriktiven Gesellschaftsordnung waren und Ausbruchsversuche unweigerlich in theatralischem Geschrei und Tränen endeten. Smith macht nun deutlich, dass die Welt vor einhundert Jahren zwar durchaus eine andere war, jedoch auch von ihren weiblichen Bewohnern nicht als reine Hölle empfunden wurde. Perdita Halley widersetzt sich erfolgreich dem ihr vorbestimmten Leben als Hausfrau und Mutter; sie startet allen Hindernissen zum Trotz eine Karriere als Künstlerin, ohne dass sie dafür von ihrer Familie in Acht und Bann getan wird. In einem Anne-Perry-Roman wäre mindestens der unsensible Harry für seine Selbstsucht mit einem schmalzigen Schurkentod „bestraft“ worden.

Mit Baron Alexander von Reisden ist Smith eine interessante Figur geglückt; dies allerdings nicht wegen, sondern trotz ihrer überkomplizierten, eher von Klischees als von Tragödien geprägten Vergangenheit. Gibt Reisden nicht gerade den weltschmerzgeplagten Schwermüter, treten seine angenehmeren Wesenszüge zu Tage: Als Naturwissenschaftler nennt er die Dinge beim Namen und geht ihnen auf den Grund. Ihn zum österreichischen Adligen amerikanischer Herkunft zu machen, ist ein geschickter Zug der Verfasserin, denn es erhebt Reisden zum Wanderer zwischen den Welten: der Alten und der Neuen, aber zwischen den gesellschaftlichen Schichten. Deshalb kann er ganz selbstverständlich sein zweites Abenteuer in der französischen Hauptstadt Paris erleben.

Leider wird ihn auch besagte Perdita Halley dorthin begleiten. Nur Sherlock Holmes konnte sich als personifizierte Denkmaschine ganz auf seine kriminalistische Arbeit konzentrieren, ohne dass seine Leser, besonders aber seine Leserinnen ihm dies übel nahmen. Die Zeiten haben sich jedoch geändert: Nun ist ein Privatleben für jeden Detektiv verpflichtend. Also muss es – die historische Realität wird hier problemlos mehr oder weniger ausgeklammert – neben dem Helden eine selbstbewusste, ihr Schicksal selbst gestaltende Frau geben, die nichtsdestotrotz auf der Suche nach Mr. Right ist, den sie und der sie nach vielen gefühlswalligen Verwicklungen auch finden wird – wenigstens im Roman dürfen Wünsche endlich einmal wahr werden! So erlebt Perdita das Abenteuer Emanzipation, nur dass sie das leider nicht wirklich zur interessanten Figur reifen lässt. Zur Abrundung des richtigen Kloß-im-Hals-Ambientes wird sie zusätzlich mit Blindheit geschlagen; nützt auch nichts. Stattdessen wundert und ärgert sich der Leser (hier einmal ausdrücklich in seiner maskulinen Variante angesprochen), dass die Verfasserin so einen Wirbel um ein ziemliches Gänslein entfesselt, während sie Anna Fen, die tatsächlich frei denkt und handelt, nicht nur stiefmütterlich behandelt, sondern regelrecht verstößt – sie war wohl selbst ihrer geistigen Mutter ein bisschen zu arg vom Leben verdorben.

Solche Einwände dürfen aber als marginal bezeichnet werden. Es überwiegt die Freude an der mit sicherem Pinselstrich rekonstruierten Welt des frühen 20. Jahrhunderts, jener eigentümlichen Epoche, die ungestüm den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt feierte, ohne mit den Kehrseiten konfrontiert zu werden, und schon modern im heutigen Sinne war, aber in gewisser Weise noch mittelalterlich. In Europa gab es noch Könige, die wirklich herrschten, in den USA ersetzten sie feudale Brachial-Kapitalisten, die sogar noch mächtiger waren. Der I. Weltkrieg würde dieser Märchenwelt nachdrücklich ein Ende machen, aber hier lässt sie Sarah Smith noch einmal aufleben. Das dafür nötige Rüstzeug hat ihr ein Studium der Filmkunde und Literatur in London und Paris sowie in Harvard verschafft – nicht die angebliche Nachfahrenschaft zu einer der berühmt-berüchtigten Hexen von Salem, wie kaum ein Werbetext vergisst dümmlich einzuflechten. Heute lebt sie in Boston, Massachusetts (Aha!), ist verheiratet, hat zwei Kinder und hält zwei graue Katzen (eine Klappentext-Weisheit).

Die „Alexander von Reisden/Perdita Halley“-Trilogie umfasst die Bände:

1. The Vanished House (1992; dt. „Das dunkle Haus am See“)
2. The Knowledge of Water (1996; dt. „Lautlose Wasser“) – dtv galleria 20333
3. A Citizen of the Country (2000; dt. „Das Geheimnis von Montfort“) – dtv galleria 20539

Nach Auskunft der Verfasserin ist die Serie damit abgeschlossen – aber was heißt das schon in der Literatur-Welt … Natürlich gibt es auch eine Website: http://www.sarahsmith.com (die freilich etwas angestaubt wirkt).

Frey, Alexander Moritz – Spuk des Alltags (Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek Band 3)

Alexander Moritz Frey kannte ich bis zum Eintreffen dieses Buches noch gar nicht; dabei hat Thomas Mann seinen Roman „Solneman der Unsichtbare“ gelobt als Ausdruck des „Allerbesten, was die phantastische Literatur hervorgebracht“ hat (vgl. das Nachwort von Marco Frenschkowski, S. 233). Und Rein A. Zondergelds „Lexikon der phantastischen Literatur“ bemerkt: „F., der 1933 Deutschland verließ, gehört zu den wichtigen, heute aber weitgehend vergessenen Vertretern der großen Blüteperiode der deutschen Phantastik zwischen 1900 und 1930.“ Der Emigrant Frey, 1957 verarmt in Zürich verstorben, findet sowohl hinsichtlich seiner Sprache als auch in puncto ideologischer Haltung Gnade vor den Augen des bisweilen unerbittlichen Zondergeld – völlig zu Recht, wie dieses Buch beweist, ein kleines Juwel deutscher phantastischer Literatur.

Der Titel ist Programm. In „Spuk des Alltags“ kommt kein Grauen aus dem schwarzen Abgründen jenseits der Sterne, lauert kein böses Wesen in der Kanalisation einer Kleinstadt in Maine. Was hier geschieht, ist nicht fremd: eine alte Frau bittet einen jungen Mann, ihr nach Hause zu helfen; ein Friseur plaudert mit einem Kunden über Zeitungsnachrichten; eine Mutter nennt ihren Sohn arbeitsscheu … so banal nehmen die Katastrophen, die Schrecken und Psychodramen ihren Anfang.

Jeder Titel der elf Erzählungen besteht aus nur einem Wort, das mit „Ver-“ beginnt: „Verhexung“, „Verneinung“, „Verfolgung“ etc. – diese Texte bleiben nicht isoliert voneinander, sondern bilden ein Ganzes, eine Studie über das seltsame, vielgesichtige Wesen Mensch. Und keine Geschichte lässt kalt. Wenn sich ein Teil des Schloss-Spuks in „Vermummung“ als recht irdisch-fleischlich erweist, schmunzelt man (und auch die Rache, die hier das echte Gespenst nach 200 Jahren nimmt, ist eher komisch). Wenn in „Verwesung“ ein Elternmörder Tagebuch schreibt, während nebenan im Schlafzimmer die Leichen liegen, gibt es keinen „Knalleffekt“ (Frey setzt auf Stimmungen, nicht auf Pointen); aber man fühlt den sich steigernden Wahnsinn des hilflosen Mörders mit. Gleichermaßen erschüttern der innere Monolog des Verbrechers in „Verfolgung“ und der des ehemaligen Frontsoldaten in „Verzweiflung“ – der eine versucht, seine Tat zu rechtfertigen, der andere muss sich Schuld und (Selbst-)Verrat eingestehen. (Frey diente im selben Bataillon wie Adolf Hitler, kannte diesen persönlich, zog aber genau entgegengesetzte Schlussfolgerungen aus dem Krieg – und musste daher emigrieren, als sein „alter Kamerad“ an die Macht gelangte).

Die Geschichten fesseln jedoch nicht nur durch Thema, Aufbau und Spannungsbogen; Frey ist auch ein Meister expressionistisch gefärbter Sprache, die mit starken Bildern operiert, mit Wortneuschöpfungen, Synästhesien, mit gewohnten Wörtern in unüblichen Kontexten. Und er brilliert mit inneren Monologen; beste Beispiele: die drei zuletzt genannten Erzählungen. Doch auch wo er in der dritten Person erzählt (in „Verneinung“ oder dem schwarzsatirischen „Versammlung“ etwa), kommen die Gedanken der Hauptfiguren, ihre Ängste und Schwächen deutlich zum Ausdruck. Vor allem Ängste und Schwächen, denn fast jede Erzählung läuft auf die Zerstörung von Rationalität oder Leben (oder beidem zugleich) hinaus. Die bekannte Welt zeigt ihre unheimliche Seite, der gewohnte Alltag gebiert das Grauen, das die alltäglichen – freilich selten schuldlosen – Protagonisten nach und nach verschlingt. (Hier fühlt man sich manchmal an Kafka erinnert.)

Kurz und gut: Dieser dritte Band der Serie „Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek“ setzt das Konzept, Besonderes zu bieten, erfolgreich fort. Zu den Erzählungen treten kongenial die exquisiten Innenillustrationen von Otto Nückel (dem Original von 1920 entnommen), und das ebenso informative wie analytisch fundierte Nachwort von Marco Frenschkowski. Diese Wiederentdeckung Freys für ein heutiges Lesepublikum muss man hoch schätzen.

Band 1: [„Grausame Städte“ 1018
Band 2: [„Das Alptraum-Netzwerk“ 1023

_Peter Schünemann_
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Laymon, Richard – Vampirjäger

Sam scheint als Lehrer ein bisher ziemlich gewöhnliches und langweiliges Leben geführt zu haben. Bis zu dem Abend, an dem seine Jugendliebe Cat plötzlich, nur mit einem blauen Bademantel bekleidet, vor seiner Tür steht. Dazu muss man wissen, dass Sam natürlich immer noch unsterblich in Cat verliebt ist, auch wenn er sie zehn Jahre nicht gesehen hat. Und so bedarf es auch fast keiner Überredungskünste ihrerseits, ihn zu einem Mord anzustiften.

Cat hat es nämlich faustdick hinter den Ohren. Ihren Ehemann hat sie schon vor ein paar Jahren beseitigen lassen, doch nun macht ihr der damals angeheuerte Killer zu schaffen. Der ist nämlich ein Vampir und besucht sie alle paar Nächte, um ihr das Blut auszusaugen. Drum will Cat den Kerl, Elliot ist sein Name, loswerden und braucht dazu Sams Hilfe.

Sam schlägt sich auch ganz gut als gedungener Mörder, doch stehen er und Cat nun vor einem Problem: Denn obwohl Vampire in Filmen immer sehr praktisch und zeitsparend zu Staub zerfallen, passiert mit Elliot gar nichts. Er blutet den Teppich voll und ist ansonsten eine ziemlich durchschnittliche Leiche. So machen sich Cat und Sam also mitten in der Nacht auf, um die Leiche in einem tiefen Loch weit weg von L.A. zu verscharren …

So einfach, wie die beiden sich diese Aktion vorstellen, ist sie aber lange nicht. Denn „Elliots Fluch“, wie sie ihr schlechtes Karma schon bald nennen werden, macht sich bald bemerkbar. Die beiden sind einfach vom Pech verfolgt. Zuerst kommen sie durch einen geplatzten Reifen von der Straße ab, dann geraten sie in die Fänge eines ziemlich zwielichtigen Bikers und von da an geht es rapide abwärts für Cat und Sam …

Man sollte es gleich zu Anfang sagen: Ein Vampirroman ist Richard Laymons „Vampirjäger“ wohl kaum. Elliot der Vampir ist eine wenig eindrucksvolle Gestalt mit seinen Fängen aus Stahl und seinem lächerlichen Cape. Und so wird er dankbarerweise auch relativ schnell ins Jenseits befördert. Seine reichlich seltsame Erscheinung und die Tatsache, dass er weder zu Staub zerfällt noch übermäßig auf Sonnenlicht reagiert, lässt beim Leser darüberhinaus die Vermutung aufkommen, dass Elliot nur ein Spinner ist; ein Außenseiter, der hinter der Maske des Vampirs seine brutale Sexualität auslebt. Auch Cat und Sam sind sich nie so ganz sicher, ob sie mit Elliot nun einen wahren Blutsauger um die Ecke gebracht haben. Doch sicherheitshalber befolgen sie die ungeschriebenen Regeln für Vampirjäger genau – man kann ja nie wissen!

Aber wie gesagt, Elliot ist für den Hauptteil des Romans tot und im Kofferraum von Cats Wagen verstaut. Statt eines Vampirromans bekommt der Leser also eine Art Horror-Road-Movie (als Buch, versteht sich) mit einer starken Prise Erotik und Sex. Denn natürlich bleiben Sams Gefühle für Cat nicht lange unerwidert. Nach einigen zaghaften Annäherungsversuchen fallen die beiden, im Angesicht der Todesgefahr, förmlich übereinander her – was macht es schon, dass sie gerade einen Autounfall hinter sich haben und beide ziemlich lädiert sind?

Laymon beschreibt auf stolzen 440 Seiten gerade mal einen Tag im Leben von Cat und Sam. Zugegeben, an diesem Tag passiert außergewöhnlich viel und außergewöhnlich Seltsames. Trotzdem erklärt Laymon mit akribischer Genauigkeit, was seinen Protagonisten gerade widerfährt. Dies kann zu Ermüdungseerscheinungen beim Leser führen. Wenn man nachts um zwei ins Bad geht, ist es relativ logisch, dass man das Licht anmacht. Solche Dinge müssen nicht extra erzählt werden. Sie hemmen das Vorankommen der Handlung und verlängern das
Buch unnötig.

Laymon schreibt eindeutig für ein männliches Publikum, das garantiert den meisten Spaß an seiner erotisch aufgeladenen Atmosphäre haben wird. Sams Fixierung auf Cats Busen und das allgemeine Fehlen jeglicher Unterwäsche im Roman wird Frauen schnell langweilen. Laymon kann ganze Seiten damit zubringen zu beschreiben, wie Cats Bluse über ihre Haut rutscht und ein Stück Brust freilegt. Hochrutschende Kleider, freigelegte Schenkel und schweißnasse Haut sind ein wichtiger Bestandteil von Laymons Romanwelt.

Die andere wichtige Zutat ist Gewalt. Nachdem Cat und Sam ihre (ohnehin nur minimal vorhandene) Moral abgeschüttelt haben, haben sie kein Problem mit Mord, Gewalt, Brechstangen, Waffen und einem guten Schuss Folter. Mit zunehmendem Genuss lassen sie sich in die Halbwelt von Kleinkriminellen und Verbrechern hinab und teilen so gut aus, wie sie einstecken müssen.

Für zarte Gemüter ist Richard Laymon also nichts. Auch klassische Horrorelemente findet man nur spärlich, stattdessen setzt er auf Brutalität und Gewalt und lässt das Blut genüsslich spritzen. Cat und Sam unternehmen eine wilde Reise hinab in den Sumpf menschlicher Abgründe – wem „Kalifornia“ gefallen hat, der wird auch „Vampirjäger“ lieben!

Wer härtere Gangarten mag, der greift mit „Vampirjäger“ zum richtigen Buch. Zusammen mit Cat und Sam darf man sich als Leser genussvoll dem Blutrausch aus zweiter Hand ergeben und den Bösen ordentlich eins auf die Mütze geben. Und auch wenn es klischeehaft und kaum überraschend ist, so freut man sich doch, dass der Held wider Willen am Ende die wunderschöne und tapfere Frau gewinnt und sie beide bis ans Ende ihrer Tage glücklich leben … Oder zumindest so lange, bis der nächste Unruhestifter vorbeikommt.

Nix, Garth – Lirael (Das alte Königreich 2)

Nachdem Garth Nix den Leser bereits in [„Sabriel“ 1109 in die magische Welt des „Alten Königreiches“ entführt hat, lockt er ihn nun zum zweiten Mal auf eine Reise an neue verwunschene Orte und zu weiteren düsteren Geheimnissen, die entdeckt werden wollen.

Vierzehn Jahre sind vergangen. Sabriel und Touchstone haben das Erbe angenommen, das ihnen durch ihr Blut bestimmt worden ist.

Als Magierin Sabriel Abhorsen und König Touchstone versuchen sie das Alte Königreich, aber auch Ancelstierre jenseits der Mauer vor immer noch ruhelosen Toten zu beschützen und die Schäden zu beseitigen, die ihr damaliger Feind angerichtet hat. Kraft und Hoffnung schöpfen sie dabei auch durch ihre Kinder Ellimere und Sameth, von denen jedes eines Tages in die Fußstapfen der Eltern treten soll, um den Schutz der Reiche zu gewährleisten.

Unbemerkt von dem Königspaar ist unter den Clayr – einem seherisch begabten Volk – das Mädchen Lirael herangewachsen. Das Mädchen sieht sich wie eine Außenseiterin, denn zum einen kennt sie ihren Vater nicht, zum anderen will in ihr einfach nicht die Gabe des Sehens erwachen. Je mehr Jüngere erwählt werden, desto mehr schämt sie sich und verzweifelt. Sie möchte nicht länger als unmündiges Kind angesehen werden, weiß aber nicht, wie sie das erreichen soll.

Erst als sie nahe daran ist, sich das Leben zu nehmen, findet sie Hilfe und Trost. Andere Clayr helfen ihr dabei, nicht die Geduld zu verlieren, und verschaffen ihr eine Stelle in der großen Bibliothek, die weniger als ein Saal voller Bücher, als vielmehr eine versunkene alte Stadt voller Geheimnisse, Artefakte und Gefahren ist.

Obwohl sie ihr neues Leben zu schätzen beginnt, entwickelt sich Lirael auch hier zu einer Außenseiterin, die lieber liest, Magie lernt und verbotenerweise durch die Bibliotheksstadt streift. So bleibt es nicht aus, dass sie schließlich ein gefährliches magisches Geschöpf zum Leben erweckt und nun sehen muss, wie es gebannt wird, ehe es noch mehr Schaden anrichtet oder gar Leute umbringt. Durch diese erste Bewährungsprobe gewinnt sie an innerer Stärke, was sie selber aber noch nicht begreift. Erst als die Seher der Clayr ihr Tun entdecken und sie auf eine gefahrvolle Reise schicken, lernt Lirael ihre wahre Bestimmung kennen und lernt ebenso, sie zu akzeptieren.

Aber auch Sabriel und Touchstone bekommen neue Schwierigkeiten. Immer wieder müssen sie Gefahren im Alten Königreich beseitigen. Ihnen wird recht schnell klar, dass wieder eine dunkle Macht aufgetaucht ist, um die Lebenden zu bedrohen, und dass die ganzen Geschehnisse klug geplant wurden, um sie von der eigentlichen Gefahr abzulenken.
So ist es auch an ihren Kindern zu helfen, so gut sie können.
Sameth etwa soll in die Fußstapfen seiner Mutter treten und der nächste Abhorsen werden, um weiterhin die Toten zu binden und zu vernichten. Aber den Prinz befällt beim Wirken von Nekromantie regelrechte Angst. Kann er diese überwinden, um seinem ancelstierrischen Freund Nicholas beizustehen? Denn als dieser Sameth besuchen will, gerät er in die Klauen des Feindes …

Obwohl „Sabriel“ in sich abgeschlossen war, bot der Hintergrund doch genug Möglichkeiten, um die Geschichte fortzuspinnen und eine neue Generation von Helden zu erschaffen, denen die ersten zur Seite stehen können und umgekehrt. Garth Nix begeht aber nicht den Fehler, ein einmal erfolgreiches Konzept zu wiederholen, auch wenn es Parallelen zu geben scheint. Die Grundvoraussetzungen der Personen und ebenso ihr Einstieg in das Abenteuer sind anders, denn Sameth ist nicht unbedingt der Sohn, den seine Eltern erwarteten und begehrt wie jeder Teenager gerne auf. Lirael erkämpft sich als Außenseiterin ihren Weg und ist nicht unbedingt jemand, der sich leicht Freunde macht. Und nicht zuletzt erweist sich der Feind als jemand von einem ganz anderen Kaliber.

Wieder überzeugt der Autor mit einer spannenden Geschichte, die immer zum rechten Zeitpunkt ihre Geheimnisse preisgibt und an keiner Stelle langweilig wird, einer faszinierenden Schilderung von Magie, die wir in diesem Band noch besser kennen lernen, und einer wirklich exotisch geschilderten Bibliothek.

Einziger Wermutstropfen ist nur, dass die Auseinandersetzung mit dem Feind am Ende des Buches noch nicht ausgestanden ist.

„Lirael “ ist wie sein Vorgänger „Sabriel“ Fantasy, in die man ruhig einmal einen Blick werfen sollte, wenn man der Drachen, Elfen und Zwerge überdrüssig ist, denn die Bücher beweisen, dass das Genre auch aus wenig exotischen Hintergründen viel machen kann.

_Christel Scheja_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de veröffentlicht.|

Bunch, Chris – Dunkle Schwingen (Die Drachenkrieger 2)

Nach „Herrscher der Lüfte“ legt Chris Bunch nun mit „Dunkle Schwingen“ den zweiten Teil seines Zyklus um den Drachenmeister Hal Kailas vor. Während der erste Band den Aufstieg des jungen Mannes vom Bauernburschen, der davon träumt, ein Drachenreiter zu sein, zu einem erfolgreichen Offizier schilderte, widmet sich dieses Buch nun seinen Bewährungsproben im Krieg zwischen den Ländern Deraine und Roche und der Rache an dem Mörder seines ersten Lehrmeisters Athelny.

Hal Kailas hat es weit gebracht. Er, der einst in den Dienst der Armee gepresst worden war, ist vom einfachen Soldaten der leichten Kavallerie inzwischen zu einem Anführer der Drachenreiter aufgestiegen und von seinem König in den Adelsstand erhoben worden.

Anders als viele der von Geburt an adligen Heerführer kennt er die Gefahren des Kampfes aus erster Hand und ist deshalb umsichtiger im Einsatz seiner Kräfte und der seiner Kameraden. Deshalb soll er in der nun geplanten Offensive Sondereinsätze fliegen, um den Bodentruppen weitere Vorstöße zu ermöglichen, denn noch immer leisten die Drachengeschwader Roches erbitterten Widerstand.

Doch zunächst geht alles schief. Da Hal zunächst nicht mit seinem eigenen Drachen fliegen kann und auf einen Ersatz ausweichen muss, gerät er durch die Unerfahrenheit des neuen Tieres in die Gefangenschaft der Roche. Er trifft dort nicht nur seinen Todfeind Ky Bale Yasin wieder, der ihn zum Verrat zu überreden versucht, sondern wird auch in ein angeblich ausbruchssicheres Gefangenenlager in einer Burg verbracht.

Eine Flucht scheint zunächst aussichtslos, aber Hal bleibt geduldig, beobachtet und sucht nach Schwachstellen in der Bewachung der Roche. Mit der Hilfe einiger anderer, denen er vertrauen kann, gelingt es ihm, sein Gefängnis hinter sich zu lassen, doch er schwört zurückzukommen und die anderen Derainer dort herauszuholen – ein Plan, den er sofort in die Tat umsetzt, als er wieder bei seinem Geschwader ist.

Und auch später setzt er alles daran, um seinen Teil dazu beizutragen, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, auch wenn er weiß, dass gerade seine Pläne viele unschuldige Menschenleben auslöschen werden. Eines weiß er aber ganz sicher: Wenn er Erfolg haben will, muss er zuallererst Ky Bale Yasin ausschalten, der als eine treibende Kraft auf der Seite des Feindes gilt.

Chris Bunchs Romane um „Die Drachenreiter“ lesen sich mitnichten wie eine Kopie von Anne McCaffreys oder vergleichbaren Romanen, in denen Drachen eine Rolle spielen, denn hier sind diese Geschöpfe nur Tiere, die bis zu einem gewissen Grade dressiert werden können.

Am ehesten kann man die Bücher wohl mit Landser-Romanen vergleichen, die das Leben von Soldaten an einem Kriegsschauplatz oder während einer Kampagne schildern. Menschliche Schicksale werden nicht gefühlvoll ausgewalzt und breitgetreten, sondern nüchtern geschildert, ebenso wie Pläne, die auch das Leben Unschuldiger massiv bedrohen könnten. Die Zerrissenheit zwischen Hals Gewissen und der Notwendigkeit, grausame Entscheidungen zu treffen, wird gut herausgearbeitet.

Heldentum und Pathos sind der Hauptfigur fremd, wichtig ist Hal Kailas nur, dass er und sein Geschwader ohne allzu schwere Verluste durch die nächsten Kämpfe kommen; den Krieg zu überleben, ist alles. Die einzige Freude seines Lebens ist Lady Khiri Carstairs, bei der er so etwas wie Frieden findet.

Insgesamt dürfte der Roman wie sein Vorgänger vor allem denjenigen gefallen, die ein Faible für ausgefeilte Schlachten, ausführlich beschriebene Kämpfe und militärische Schilderungen und sich vielleicht auch schon in Konfliktsimulationen damit beschäftigt haben. Romantik und ausgefeilte Beziehungen sollte man allerdings in diesem Werk nicht erwarten.

|Originaltitel: Dragonmaster, Vol. 2, Knighthood of the Dragons
Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Thon|

_Christel Scheja_
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Armin Rößler (Hrsg.) – Überschuss

»Es bewegt sich etwas in der deutschsprachigen Science-Fiction-Landschaft…«
– Armin Rößler 2005 im Vorwort zu „Überschuss“

Aus der ersten SF-Anthologie des Wurdack-Verlags „Deus Ex Machina“ wurden gleich mehrere Geschichten sowohl für den Kurd-Laßwitz-Preis als auch den Deutschen Science-Fiction-Preis nominiert. Neben ganz neuen Autoren, die durch das ambitionierte Projekt des Wurdack-Verlags die Möglichkeit erhalten, ihre ersten Geschichten zu veröffentlichen, melden sich auch in der Szene bekannte Autoren wie Markus K. Korb, Thorsten Küper oder zuletzt in „Walfred Goreng“ sogar Profis wie Ernst Vlcek und Helmut W. Mommers zu Wort. „Überschuss“ ist eine Sammlung von 19 Geschichten deutscher und österreichischer Autoren, die laut Klappentext auch „neue Fragen auf konventionelle Antworten“ wagen.

Überschuss – Thorben Kneesch (Physiker)
Die Titelstory bietet gleich ein erschreckend denkbares Modell der menschlichen Zukunft, vor allem mit der derzeitigen Arbeitslosenpolitik der Bundesregierung im Blick. Kneesch lässt die weitere Entwicklung streiflichtartig vorüberziehen und steuert eine klassisch tragische und ausweglose Situation an, um mit einem Hammer zu enden. Sehr gelungen!

Der Irrtum – Lutz Herrmann (Dozent für Physik und Chemie)
Die Handlung ist absolut nachvollziehbar, kein abgedrehter Text, ganz normal geschrieben – und trotzdem hab ich die Geschichte erst jetzt, beim Schreiben dieser Zeilen, wirklich verstanden. Direkt nach dem Lesen bleibt das Gefühl des Nichtverstehens, aber die Ansätze werden vermittelt. Erst wenn man darüber nachdenkt, warum die Story ihren Titel trägt, kommt die Erkenntnis. Tragisch. Das Schicksal von Menschen, durch Irrtümer drastisch veränderbar.

Barrieren – Armin Rößler_ (Journalist)
Die Angst vor dem Fremden – immer wieder Grundlage von Missverständnissen und Kriegen. Oder ein oft thematisierter Gegenstand in der Science-Fiction, wenn Menschen mit überragenden Fähigkeiten ausgenutzt, aber auch gefürchtet werden. Luz ist einer von ihnen, aber er hat seine eigene Überzeugung und sucht einen Weg, seinen Leuten gegen alle Gefahren zu helfen. Fesselnd geschrieben!

Nur ein Gedanke – Birgit Erwin (Referendarin für Anglistik und Germanistik)
Ob schon mal jemand auf den Gedanken gekommen wäre, eine Fritte ins All zu schicken? Nein, warum auch. – Zu diesem Zeitpunkt ist man gewarnt, ahnt aber noch nicht das Ausmaß der Geschichte. Erwin fackelt ein ironisches Feuerwerk ab, bei dem eine Blödheit der anderen folgt und eine Verkettung merkwürdiger Zufälle schließlich zum Höhepunkt führt. Ob schon mal jemand auf die Idee gekommen wäre, eine Sternschnuppe zu bauen?

Der Spaziergang – Markus K. Korb (Herausgeber)
Wie schön Protagonist Wilson sich ausmalen kann, wie der Tod kommen würde. Und wie zynisch sich der Tod anschleicht. Wunderbar geschrieben.

Der Untergang der Titan – Bernhard Weißbecker (Physiker, Agarwissenschaftler)
Die irrigen Wege der Medien und die ungebrochene Sensationsgier der Menschen. Entscheidung zwischen einer Freudenfeier und einem Stierkampf. Wieder eine Geschichte für den Zynismus.

Nicht ganz Atlantis – Andrea Tillmanns (Physikerin)
Obwohl recht schnell einigermaßen klar ist, worum es geht, ist die Geschichte so gut erzählt, dass sie den Leser bis zum Schluss fesselt. Eine Art von Kulturschock bricht herein, eine Katastrophe führt zu einem unwürdigen Leben. Es ist eine etwas längere Geschichte, aber wert, erzählt worden zu sein.

Strafvollzug – Peter Hohmann (Sport-Anglistik-Student)
Sehr unterhaltsam und flüssig zu lesen. Leider steht die Pointe als offene Drohung im Hintergrund. Hohmann schafft es aber, eine tragische Geschichte zu erzählen.

Wider Willen – Axel Bicker (Physiker)
Wieder einmal herrscht der Feudalismus auf neu erschlossenen Planeten. Und der Sohn lehnt sich nicht auf. Aber Bicker erzählt eine alte Thematik in neuem Gewand. Sehr spannend.

Das Festtagsprogramm – Thorsten Küper (Lehrer)
Eine durch und durch hinreißende Geschichte, die vom ersten bis zum letzten Wort spannend ist. Mit jedem Satz verdichtet sich das Bild, ein Thriller, dessen Ende eine Horrorzukunft beschwört. Meisterhafte Unterhaltung.

Die Spirale – Nina Horvath (Biologie-Studentin)
Philosophische Gedankenspielerei, die aber zum Mitdenken animiert und (da es sich um existenzielle Spekulationen handelt) mehrere unergründliche Lösungen bietet, um schließlich zu einer erschreckenden Konklusion zu kommen.

Der Besucher – Uwe Herrmann (tätig in der Kunststoffbranche)
Der Außerirdische selbst ist nicht weiter ungewöhnlich. Aber sein Ursprungsplanet umso mehr. Er ist nämlich so weit von allen Galaxien entfernt, dass selbst die Naturgesetze ihn nicht erreicht haben, weil sich der Aufwand nicht lohnt. Wir erhalten eine neue Erkenntnis um die Intelligenzverteilung auf der Erde und erfahren erleichtert, dass das Säbelrasseln der Amerikaner nicht jeden einschüchtert. Zum Schmunzeln.

Albas bestes Spiel – V. Groß (studierte Erziehungswissenschaften, Sozialpsychologie, Sprachwissenschaften)
Ein Spiel entscheidet. Spannend geschrieben, enthüllt Groß nach und nach die Ursache eines Streits, und als man endlich hoffen kann, führen die Spielsucht und die Entschlossenheit der potenziellen Retter zum tragischen Ende. Die beiden letzten Absätze sind überflüssig, verdeutlichen nur die ohnehin deutliche Pointe. Trotzdem toll.

Flasken – Edgar Güttge (Übersetzer)
Ich hätte ja die letzten drei Absätze weggelassen. Insgesamt eine flotte Geschichte, die vor satirischen Elementen nur so strotzt. Der Nihilist Friedhelm Nichtsche zum Beispiel. Güttge hat wohl alles, was ihm an Humor gekommen ist, hier verbraten, zwischen Flasken, Flaschen und Flachsen. Manchmal vielleicht etwas viel, insgesamt aber flüssig und sehr unterhaltend.

Das Buch – Ilka Sehnert (Sängerin, Schauspielerin)
Sehr fragmentarisch, aber auch eindringlich. Warnend vor dem Vergessen und der Kontrolle. Eine Vision nach Orwell und Bradbury, mit einem Lichtblick.

Der Bewohner – Bernhard Schneider (Physiker)
Eine Geschichte, die auf den gleichen Grundlagen ruht wie „The 13th Floor“ und „The Matrix“. Trotzdem ist sie äußerst originell, denn die philosophischen Fragen, die bei den genannten Geschichten entschlüsselt werden, finden hier keine Lösung. Diese Geschichte ist der Knaller dieser Sammlung!

Alles wandelt sich – Antje Ippensen
Inmitten der Geschichten mit düsteren Visionen hebt sich diese hier wunderbar ab. Sie löst ein hoffnungsvolles Gefühl aus, sieht allerdings die Rettung der Erde nicht durch die alleinige Kraft der Menschen kommen, sondern durch aufopferungsvolle Hilfe von außen. Als eine Warnung vor den naturzerstörerischen Machenschaften der Menschen sieht sie die Zukunft trotzdem nicht verloren.

Allmacht – Uwe Sauerbrei (Geophysiker)
Schön schnelle Geschichte, aber das Wichtigste bleibt ungeklärt: Woher kommt die Allmacht? Wohl ein Fehler in irgendwelchen kosmischen Systemen, wird ja auch temporal bereinigt. Immerhin giert der Allmächtige nur nach Wissen, nicht nach Überlegenheit. Unterhaltsam.

Fallstudie: Terroristin Jenny S. – Heidrun Jänchen (Physikerin)
Fehlinformation der Medien (oder durch die Medien) und ständig gelockerte ethische Vorstellungen machen schnell aus einer Frau eine Terroristin, die sich in einer genmanipulierten Welt eine natürliche Schwangerschaft wünscht. Schlaglichtartig leuchtet Jänchen die Verhältnisse in dieser Welt aus und skizziert eine dramatische Entwicklung. In der Welt gibt es menschliche Ersatzteillager; sogenannte „defekte“ Menschen haben keine Rechte und keine Zukunft mehr. Es ist eine brandaktuelle Diskussion um ethische Grundsätze und Gentechnik. Schnell und eindringlich zu lesen, ein würdiger Abschluss der Anthologie.

Fazit

„Überschuss“ ist eine wunderschön zusammengestellte Sammlung von hervorragenden Geschichten, die sich zum Teil eindringlich mit aktuellen schwierigen Themen befassen oder humoristisch unterhalten – oder beides.
Eine Geschichte für Zwischendurch oder mehrere Geschichten am Stück: Nie wird die Lektüre langweilig, jede Story wartet mit einer eigenen Idee und eigenem Stil auf. Für jeden Science-Fiction-Freund zu empfehlen; man wird seine Freude haben – und auch für jeden anderen an unserer Welt Interessierten bietet die Anthologie spannende Unterhaltung. Ein starkes Stück!

broschiert, 196 Seiten
ISBN-13: 978-3938065112

Der Autor vergibt: (4/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (3 Stimmen, Durchschnitt: 1,00 von 5)

Hubert Haensel – Die längste Nacht (Perry Rhodan. Lemuria 6)

Man befindet sich wieder in der Gegenwart. Perry Rhodan und sein kleines Team kämpfen in der Bestien-Station um ihr Überleben und stoßen dabei auf ein schreckliches Geheimnis: In tausenden von Tanks wurden seit Jahrtausenden Bestien gezüchtet, doch erst bei Bedarf erweckt. Das überschüssige Material wurde in einem ewigen Zyklus wieder aufgelöst und zur erneuten Zucht verwendet. Jetzt stehen auf mehreren Planeten hunderttausende Bestien für den erneuten Krieg bereit, und die Maschinerie produziert unablässig Kampfraumschiffe.

Aufgrund der mehrdimensionalen Strahlung durch das Hyperkristallvorkommen gibt es keinen Funkkontakt zur PALENQUE, Rhodan will eine Funkzentrale in der Station finden, deren stärkere Geräte hoffentlich ausreichen, um Hilfe herbeizurufen. Derweil wird Sharita Coho, die Kommandantin des Schiffes, ungeduldig und setzt ein Team auf dem Planeten ab, um nach Rhodan zu suchen. Sie stoßen auf die gelähmte Bestie, die sich gerade aus ihrer Erstarrung befreit. In einer Hetzjagd erreicht das Team vor der Bestie das Landungsboot und startet, doch die Bestie klammert sich an den Rumpf und beginnt mit ihren strukturveränderten Gliedmaßen, sich eine Öffnung zu schaffen.

Im Akon-System versucht Levian Paronn, sich Zugang zu den akonischen Zeitumformern zu verschaffen, um sein Vorhaben doch noch auszuführen. Aber gerade sein größter Förderer und väterlicher Freund Admiral Mechtan von Taklir bringt ihn ins Grübeln über sein beabsichtigtes Zeitparadoxon. Sowieso ist es fast zu spät, denn die Bestien schlagen los.

Hubert Haensel, Exposéeautor des Minizyklus, beendet mit dem vorliegenden sechsten Band den bisher besten Spin-off-Zyklus der Perry-Rhodan-Serie. Ihm ist es in Zusammenarbeit mit Frank Borsch zu verdanken, dass bei der Konzeption neue Wege beschritten wurden, dass von dem platten Schema der Vorgängerzyklen (wo es vor allem um Action und unschlagbare Gegner ging) abgewichen wurde. Der Lemuria-Zyklus behandelt eines der beliebtesten Themen der Serie, nämlich den Exodus der ersten Menschheit. Die Lemurer bergen noch immer phantastische Geheimnisse, um sie ranken sich kosmische Rätsel und wundervolle Abenteuer. Statt rasanten Verfolgungsjagden schildert „Lemuria“ die Jagd nach der Wahrheit um das Rätsel der Sternenarchen. Allen Autoren ist es hervorragend gelungen, individuelle Romane beizusteuern, so dass ein buntes Bild und wundervolle Charakterisierungen zustande gekommen sind.

Haensel führt alle Fäden zusammen und offenbart damit einen größeren Komplex, als bisher geahnt werden konnte. Rhodan ist nur vordergründig allein aufgebrochen, um mit den Akonen Kontakt aufzunehmen. Sein eigentliches Anliegen betraf Informationen, die mit merkwürdigen Gerüchten zusammenhingen. Rückblickend ist klar, dass es sich dabei um die neuen Aktivitäten der Bestien handelte. Ein erstaunlicher Zufall also, dass Rhodan ausgerechnet jetzt auf die erste Sternenarche trifft und sich so an den Hinweisen entlanghangeln kann, bis sich ihm die Wahrheit offenbart.

Übrigens spielten die Menttia, die Hans Kneifel im zweiten Band einführte, tatsächlich eine große Rolle und sind nicht nur von Kneifel erfunden worden. Mit ihrer Unterstützung ließ Haensel die Akonen jene ultimate Waffe gegen die Bestien entwickeln, durch die Paronn erst auf den Gedanken des Zeitparadoxons gebracht wurde.

Ziegler schilderte die große Enttäuschung Paronns und seine Kurzschlussreaktion, die nach der bisherigen Charakterisierung nicht zu dem überlegten Mann passt. Haensel vertieft sich in Paronns Zwiespalt und lässt uns teilhaben an seinen Problemen; er sieht selbst ein, kurzsichtig gehandelt zu haben, ja sieht sogar seine Handlungsweise als ihm nicht geziemend. Und nicht zuletzt befreit sich der Zyklus aus einem Schwarz-Weiß-Denken, das ein oft kritisiertes Problem der Perry-Rhodan-Serie ist. Die Pro- und Antagonisten haben ihre Schattierungen, entwickelt durch die sechs unterschiedlichen Autoren; selbst die gezüchteten Bestien, die aufgrund ihrer Konditionierung durchaus einseitig beschrieben werden können, erhalten neue Facetten. Schwierigstes Objekt ist sicherlich Perry Rhodan selbst, eine seit über vierzig Jahren beschriebene Gestalt, der neue Glaubwürdigkeit zu verleihen ein großes Problem ist. Er ist der große, unnahbare Unsterbliche mit allumfassendem Durchblick. Und endlich einmal gelang es wieder, ihn in einen Menschen zu verwandeln, mit Gefühlen und Schwächen, und ihm trotzdem seine große Erfahrung zu belassen.

Fazit

Mit dem Lemuria-Zyklus ist den Autoren ein Abenteuer gelungen, das trotz des gigantischen Serienhintergrundes auch für interessierte Science-Fiction-Leser geeignet ist, denen die Perry-Rhodan-Serie bisher abging. Vor allem der phantastische Roman von Andreas Brandhorst liest sich schön auch ohne Zusammenhang. Ihm ist hier das beste Ergebnis gelungen, allein schon, wenn man bedenkt, dass er sich für dieses Werk völlig neu in die Serie einarbeiten musste. Jeder der Autoren hat einen hervorragenden Beitrag geleistet, nicht ein Roman erscheint überflüssig oder langatmig, wie das bei Vorgängern nicht ausgeschlossen werden kann. Bei dem erreichten Niveau fällt es schwer, qualitative Abstufungen zu machen. Der Roman von Leo Lukas fällt um eine Nuance zurück, was nur im Vergleich mit den anderen gesehen werden kann. Insgesamt hat mir der Zyklus hervorragend gefallen.

Der Autor vergibt: (4/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (11 Stimmen, Durchschnitt: 1,64 von 5)

Nedjma – Mandel, Die

Laut Verlag handelt es sich bei der Autorin um eine Araberin Anfang bis Mitte vierzig, die unter dem Pseudonym „Nedjma“ ihre Lebensgeschichte veröffentlicht. In Frankreich stand das Buch lange Zeit auf den Bestsellerlisten und das wohl aus einem guten Grund, denn Sex verkauft sich natürlich immer hervorragend. Nach der Lektüre des Buches kommen dem nachdenklichen Leser einige begründete Zweifel an der wahren Identität der Autorin, denn bereits das angebliche Alter stimmt nicht mit der im Buch erzählten Geschichte überein. Doch interessiert das wirklich? Wird dieser Roman spektakulärer durch ein wahres Schicksal? Oder ist er als erdachte Erzählung nicht ebenso lesenswert? Ich persönlich glaube nicht an die Wahrheit der erzählten Geschichte und habe das Buch dennoch gern gelesen …

_Badras Geschichte_

Badra ist erst siebzehn Jahre jung, als sie den wesentlich älteren Hmed heiraten muss. Wie die Tradition es haben möchte, wird vor der Hochzeit ihre Jungfräulichkeit überprüft, damit ihr zugedachter Ehemann sie in der Hochzeitsnacht entjungfern kann. Doch bereits die erste Nacht zwischen Badra und Hmed wird für die junge Frau zur Qual. Ihr Ehemann ist bereits zum dritten Mal verheiratet, da seine ersten beiden Frauen ihm keine Kinder hatten schenken können. Schon in der Hochzeitsnacht müssen Badras Schwester und Schwiegermutter hinzukommen, um sie festzuhalten, da Badra sich vor dem Geschlechtsverkehr sträubt. Jede Nacht stirbt Badra ein wenig mehr, wenn ihr Ehemann emotionslos über sie hinwegsteigt und seinen eigenen Orgasmus als einziges Ziel sieht.

Nur drei Jahre lang hält Badra es bei Hmed aus, ihre eigene und glücklich verheiratete Schwester ist es schließlich, die ihr zur Flucht nach Tanger zu ihrer Tante Selma verhilft. Ihrer Tante erzählt Badra von den Qualen ihrer Ehe, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie nicht zu Hmed zurückkehren kann. Bald lernt Badra den angesehenen Arzt Driss kennen und lieben. Er ist es schließlich, der ihr bei der Erfüllung ihrer geheimsten sexuellen Wünsche hilft. Mit ihm erlebt sie über Jahre hinweg scheinbar das sexuelle Glück in Vollendung, doch muss Badra sich schließlich eingestehen, dass sie ihrem Liebhaber hörig ist. Obwohl es sie unendlich quält, dass er neben ihr auch mit anderen Frauen und Männern schläft, kann sie sich nicht von Driss trennen.

_Klartext reden_

Bereits in einem kurzen Vorwort macht Badra deutlich, worum es ihr in diesem Buch geht, denn sie möchte ihre eigene Lebensgeschichte aufschreiben und von ihrer sexuellen Befreiung berichten. Sie ist überzeugt davon, das allerschönste Geschlecht überhaupt zu besitzen, das sie einzusetzen weiß und dies auch tut. Die Autorin nimmt kein Blatt vor den Mund, um von ihren intimsten Erlebnissen zu berichten, das zeigt schon die kurze Leseprobe aus dem Vorwort:

S. 10: |“Ich, Badra, verkünde, mir nur einer Sache sicher zu sein: Dass ich das schönste Geschlecht der Welt habe; es hat die schönste Form von allen; es ist prall, heiß, feucht, duftend und singt wie kein anderes; und es ist unübertrefflich in seinem Verlangen nach harpunengleich sich reckenden Schwänzen.“|

In abgeklärten Worten schildert Badra von ihrer gescheiterten Ehe mit Hmed und den seelischen Qualen, die sie dort erleiden musste. Als die Ehe kinderlos bleibt, muss sie zudem merkwürdige Rituale vollführen, um die Fruchtbarkeit anzulocken, doch selbstverständlich scheitern all diese Versuche. Fast bekommt der Leser den Eindruck, dass Badra eine mögliche Schwangerschaft durch bloßen Widerwillen ihrem Mann gegenüber verhindern konnte.

Wenn Badra von ihren Erlebnissen mit Hmed berichtet, sind ihre Sätze meist kurz und knapp, darüber verliert sie kein Wort zu viel, während sie ihre sexuellen Episoden mit Driss und anderen demgegenüber ausschmückt und ausführlich in allen Facetten zu beschreiben weiß. So drücken sich ihre Gefühle auch in der veränderten Sprache aus:

S. 47: |“Ihn bedienen, dann wieder abräumen. Ihm ins Ehebett folgen. Die Beine breit machen. Mich nicht bewegen. Nicht seufzen. Die Übelkeit bekämpfen. Nichts fühlen. Sterben. Auf den Kelim starren, der an der Wand hängt. Saied Ali zulächeln, der den Menschenfresser mit seinem gegabelten Schwert enthauptet. Mich zwischen den Beinen trockenreiben. Schlafen. Die Männer hassen. Ihr Ding. Ihr übel riechendes Sperma.“|

Der gesamte Roman ist leicht und verständlich geschrieben, ein ausführliches Glossar am Ende des Buches erleichtert das Verständnis des arabischen Vokabulars, das sich nicht immer aus dem Zusammenhang erschließt. Doch deckt das Glossar alle fremden Vokabeln ab, sodass keine Fragen offen bleiben.

_Nichts ist unmöglich_

Die Autorin entwickelt zwei verschiedene Handlungsstränge. Auf der einen Seite berichtet Badra von ihren Erlebnissen bei Tante Selma in Tanger und von ihrer Liebe zu Driss, eingeschoben sind aber immer wieder kursiv gedruckte Kapitel, die Geschichten aus ihrer Vergangenheit erzählen. Im Vordergrund stehen jedoch die Episoden um Driss, die den deutlich größeren Raum in diesem Buch erhalten. Über Badras Vergangenheit erfahren wir nur das Nötigste, hier offenbart sie nur die Fakten, die erforderlich sind, um ihre Handlungsweisen zu verstehen und um deutlich zu machen, dass sie aus ihrer Ehe flüchten musste.

Neben den Episoden einer gescheiterten Ehe erfährt der Leser darüber hinaus Geschichten aus Badras Kindheit und muss erkennen, dass die junge Frau schon lange vor ihrer Entjungferung mehr als neugierig war. Dort lesen wir Geschichten über ihre Cousine Noura, die oftmals mit einigen Freundinnen zu Badra zu Besuch kommt, um dort statt mit Puppen zu spielen, sich gegenseitig zu erkunden und zu befriedigen. Doch auch die Jungen wissen sich zu helfen, denn eines Tages kann Badra eine Reihe von Jungen beobachten, von denen „jeder den neben ihm Liegenden zwischen den Beinen bearbeitete“, so ihre Ausdrucksweise.

Als Badra schließlich ihre Affäre zu Driss beginnt, driftet „Die Mandel“ (welch treffender Titel!) deutlich ins Schlüpfrige ab, der Leser bekommt mehr als offenherzige Episoden zu lesen, nicht nur Badra erscheint uns sexsüchtig, sondern auch Driss, der offen bekennt, dass er auch gerne mit Männern und bisexuellen Frauen schläft. In diesem Buch gibt es nichts, was es nicht gibt. Hier befriedigen sich die Jugendlichen nicht nur untereinander, da gibt es auch Driss‘ Großmutter, die sich mit Vorliebe jungen Mädchen gewidmet hat, auch Geschichten aus der Oberschule erzählt uns Badra, wo die Mädchen des nachts zu zweit in einem Bett geschlafen haben – offiziell, um sich gegenseitig zu wärmen, doch bezeichnet Badra das Schulheim ganz deutlich als „knisterndes Freudenhaus“.

Bei derlei Beschreibungen über den arabischen Lebensstil regen sich nun spätestens leise Zweifel angesichts des Wahrheitsgehalt dieses Buches, denn schwer vorstellbar ist es doch, dass derlei freie Liebe dort wirklich praktiziert wird. Doch haben diese Zweifel auch ihren Reiz, da der Leser für sich entscheiden kann, ob er Nedjmas Lebensbeichte Glauben schenken mag oder das Buch als unterhaltsame erotische Lektüre sieht, die vielleicht noch Anregungen für das eigene Liebesleben zu bieten vermag?!

_Sexuelle Befreiung?_

Ein wichtiger Punkt ist die Frage nach der sexuellen Befreiung, auf den die Autorin besonders deutlich verweist. Badra flüchtet zu ihrer Tante Selma, um ihrem lieblosen Ehemann zu entkommen, der sie als bloßes Stück Fleisch ansieht, an dem er sich allabendlich kurz abreagieren kann. Dass auch seine Frau sexuelle Begierden hat, scheint Hmed nicht zu interessieren. Erst Driss ist es, der seiner Geliebten jeden Wunsch von den Augen ablesen kann, der sie in Sphären mitreißen kann, die sich Badra nie erträumt hätte. Sie ist abhängig von ihm und süchtig nach dem Sex mit ihm, in ihrer Beziehung zueinander dreht sich alles um das Eine und Badra erkennt schnell, dass ihr einmal Sex nicht reicht. Der Leser ist selbstverständlich immer mittendrin im Geschehen und erlebt alles hautnah mit.

Während Badra noch von ihrer sexuellen Befreiung schwärmt, merkt sie offensichtlich nicht, wie sie immer abhängiger wird von Driss. Er gibt ihr jeden Monat Geld für ihren Lebensunterhalt und kauft ihr am Ende sogar eine Wohnung. Obwohl es Badra fast das Herz zerreißt, lässt sie Driss gewähren und mit anderen Frauen und Männern schlafen. Selbst wenn die beiden zusammen ausgehen, ist es doch nicht sicher, dass Driss später Badra auswählt, die er mit nach Hause nehmen wird. Alles schluckt sie runter, auch Zeiten der Abstinenz, in denen Driss Badra nicht beachtet und nicht mit ihr schläft. Badra wird dabei immer unglücklicher und beschließt schlussendlich, sich von ihrem Geliebten zu trennen, doch ist die Hörigkeit so groß, dass sie es nicht schafft.

So wird beim Lesen doch immer offensichtlicher, dass die sexuelle Befreiung keine wirkliche Befreiung ist, da sich Badra in eine Abhängigkeit zu Driss begeben hat. Erst spät erkennt sie die Lage, in die sie geraten ist und nach Driss‘ Tod spricht Badra teils in verbitterten Worten über ihren einstigen Geliebten. Dennoch finde ich es fragwürdig, diese sexuelle Hörigkeit als eine Befreiung hinzustellen, die sie in Wahrheit nicht ist.

_Bildungslektüre mit Spaßfaktor_

Insgesamt ist das Buch angenehm zu lesen und auch eine unterhaltsame Lektüre, die eventuell manchem Leser noch etwas Neues zu berichten weiß. Am Ende ist man fast traurig, dass es nur einen Abend braucht, um dieses schmale Buch zu lesen, das einen in eine exotische und faszinierende Welt versetzt, die man höchstens aus erotischen Filmen kennt, die keine Jugendfreigabe erhalten. Diskussionswürdig ist die Frage nach der sexuellen Befreiung, die eigentlich keine ist, auch wenn die Geschichte einer Frau, die sich von religiösen und kulturellen Fesseln lösen kann, anderen Frauen in einer ähnlichen Situation vielleicht auch Mut machen kann. Das Buch wird ergänzt durch ein umfassendes Glossar, das alle auftauchenden arabischen Wörter erklären kann. Mit nur kleinen Einschränkungen bleibt das Buch insgesamt empfehlens- und auch lesenswert.

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