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Arthur, Robert / Hitchcock, Alfred – Die drei ??? und der Super-Papagei

Der Super-Papagei hat in Deutschland einen Sonderstatus innerhalb der Serie, denn mit ihm begann der Siegeszug. Das bedarf einer kurzen Erklärung. Einem breiteren Publikum bekannt wurden die Fragezeichen erst 1979 über die Hörspiele aus den EUROPA-Studios, die ersten Bücher erschienen bereits Anfang der Siebziger und fristeten bis dahin ein ziemliches Schattendasein. Bei EUROPA wurde der eigentlich erste Roman „… und das Gespensterschloss“ von 1964 zurückgestellt und dafür „… und der Super-Papagei“ (aus dem gleichen Jahr) stattdessen als Pilot vertont. Das Gespensterschloss rutschte auf Platz 11 und fürderhin galt der Papagei – nach dem durchschlagenden Erfolg der Hörspielserie – auch bei den Büchern als Auftaktgeschichte. Zumindest in Deutschland. Wenngleich es chronologisch falsch ist, hält sich diese Annahme bei manchen bis heute. Ebenso wie die Autorenschaft von Hitchcock, tatsächlich wurde die Serie von Robert Arthur ins Leben gerufen, der sich auch noch für den Super-Papagei verantwortlich zeigt.

Alfred Hitchcock hat eigentlich nichts weiter mit den „Three Investigators“ (so der amerikanische Originaltitel der Reihe) zu tun. Er stiftete unter Lizenz lediglich seinen zugkräftigen Namen und tritt als Moderator in den alten Geschichten auf, später ließ aber auch das nach. Die drei Fragezeichen sind ein flügger Selbstläufer geworden, man brauchte das markttechnische Tuning nicht mehr. Jene Lizenz ist nun Anfang des Jahres 2005 pünktlich zum 25. Jubiläum der Serie in Deutschland sowieso endgültig ausgelaufen. Fürderhin werden Printausgaben und Hörspiele ohne sein Konterfei und Namen im Titel erscheinen. Das Nostalgikerherz blutet ein wenig, doch im Grunde genommen ist dies kein wirklicher Verlust oder gar Rückschlag. Man hatte sich als Fan nur daran gewöhnt, Altmeister Hitchcock mit der Serie in Verbindung zu bringen. Nicht mehr, nicht weniger.

Doch wer sind die drei Detektive? Die amerikanischen Schuljungs Justus, Peter und Bob lösen ihre kniffligen und mysteriösen Fälle zumeist von ihrer Zentrale – einem alten, versteckten Campingwagen – auf dem Schrottplatz von Justus‘ Onkel Titus aus. Auch und gerade solche, welche der Polizei manchmal zu banal erscheinen. Hier und da stößt die Jugenddetektei auch durch puren Zufall auf Rätsel und Abenteuer, falls sie nicht von ihrem Impressario Hitchcock oder einem anderen potenziellen Klienten an sie herangetragen werden. „Wir übernehmen jeden Fall“ ist das Credo der drei Schnüffelnasen, das neben dem ???-Logo auf der berühmten Visitenkarte der drei prangt. Die Fragezeichen – ein verschiedenfarbiges für jeden – stehen nicht etwa für Selbstzweifel, sondern für ungelöste Geheimnisse und Rätsel aller Art. Diesen Umstand müssen sie, als Running Gag, mindestens einmal pro Fall den oft skeptischen Erwachsenen erklären.

Sollte die Visitenkarte nicht den gewünschten Effekt bringen, das Gegenüber zu überzeugen, dass die Drei es faustdick hinter den Löffeln haben, verfügen sie noch über einen Ausweis der Polizeidirektion von Rocky Beach, der sie zu „offiziellen, ehrenamtlichen Junior-Mitarbeitern“ erhebt. Diesen haben sie aufgrund ihrer zurückliegenden, oft erfolgreichen, Zusammenarbeit mit den Cops von der Behörde erhalten. Den Ausweis drücken sie gerne jedem in die Hand, der ihre Fähigkeiten wegen ihres Alters in Zweifel zieht. Nicht selten münden die Ermittlungen der Jungs nämlich darin, dass der ihnen wohlgesonnene Hauptkommissar Reynolds tätig werden muss, weil sich ein anfangs harmlos anmutender Fall dann doch als „richtiges“ Verbrechen erweist. Morde sind aber nie aufzuklären, man beschränkt sich darauf, die Jugendserie „sauber“ zu halten und auf weniger kapitale Verbrechen, z. B. Diebstahl, Fälschung, Entführung, Betrug etc. als maximum crime zu setzen.

_Zur Story_
Mr. Malcolm Fentriss ist sein Papagei Lucullus abhanden gekommen, den er erst kürzlich von einem mexikanischen Hausierer erstanden hat. Da sich die Polizei wenig kooperativ zeigt und davon ausgeht, dass sein gefiederter Hausgenosse ganz einfach entflogen ist, wendet sich Mr. Fentriss an seinen Freund Alfred Hitchcock, ob dieser nicht eine gute Detektei empfehlen könne. Kann er. Natürlich schickt Hitchcock die drei Fragezeichen auf die Fährte des ausgesprochen sprachbegabten Flatterviehs. Doch zunächst müssen Just und Peter das Haus des neuen Klienten besuchen, um näheres zu erfahren. Ein Hilferuf daraus alarmiert die Jungs, als sie sich dem Gebäude nähern. Ein unfreundlicher, dicker Mann in Fentriss‘ Haus, der sich als der Eigentümer ausgibt, behauptet, das wäre der wiedergekehrte Papagei gewesen. Es gäbe keinen Fall zu lösen. Vielen Dank und Tschüss!

Natürlich war das nicht Mr. Fentriss, den finden Justus und Peter kurz darauf gefesselt in seinem Haus, nachdem sie misstrauisch geworden waren und noch einmal zurückkehrten. Der Befreite erzählt ihnen die ganze Geschichte und auch, dass der Papagei keinesfalls ausgebüxt sein kann. Einleuchtend, denn kein Papagei würde gleich seinen Käfig mitnehmen. Doch vor allem was „Lucky“ so auszeichnete, klingt für Justus hochinteressant. Er hat einen sehr höchst rätselhaften Spruch auf der Pfanne. Damit ist Lucullus nicht der Einzige. Mrs. Waggoner – eine Nachbarin von Mr. Fentriss – hat vom gleichen Hausierer einen gelbköpfigen Papagei gekauft. „Schneewittchen“ gibt auch seltsam Verdrehtes zum Besten – und ebenso wie schon Lucullus ist Schneewitchen gestohlen worden, wie Justus und Peter wenig später durch Zufall erfahren. Und wieder wurden der dicke Mann und sein markantes Auto in der Nähe des Tatorts gesehen.

Als wären zwei solcher schrägen und geheimnisvollen Vögel nicht schon genug, stellt sich heraus, dass es insgesamt sieben davon gibt, hinter denen nicht nur der undurchsichtige Mr. Claudius (so heißt der Dicke), sondern auch der spätere Erzrivale der Satzzeichen – Victor Hugenay – her sind wie der Teufel hinter armen Seelen. Vor allem Monsieur Hugenay, der Gentleman-Kunstdieb aus Frankreich, ist eine verdammt harte und clevere Nuss. Doch wie passt er ins Bild? Skinny Norris, der Dauergegenspieler der drei Detektive, schmeißt ihnen auch noch Steine in den Weg, was die wilde Jagd nach dem Federviechern zum Kippen zu bringen droht. Wem wird es zuerst gelingen die Papageien zu finden und die Rätselsprüche von Lucullus, Schneewittchen, Robin Hood, Blackbeard, Käpt’n Kidd, Sherlock Holmes und Al Capone zu knacken? Besonders der unscheinbare Blackbeard scheint der unverzichtbare Schlüssel zum kniffligen Fall zu werden. Obwohl er optisch nicht viel hermacht, ist er nämlich: der Super-Papagei.

_Meinung_
Die Entscheidung, den Roman „… und der Super-Papagei“ als Auftakt zur Hörspielserie zu verwenden, war eine sehr gute von EUROPA. Und eine mit Spätfolgen. Man hatte sich eine Vorlage herausgepickt, die voller Stammfiguren steckt, mit welchen die drei Detektive auch später immer wieder zu tun bekommen werden. Der verhasste Erzrivale Skinny Norris, Superschurke Hugenay (gesprochen: „Üschänee“) oder Chauffeur Norton, der den (gelegentlich zur Verfügung gestellten) Rolls Royce der drei Fragezeichen lenkt. Alles ziemlich feste Größen im späteren Verlauf der Reihe. Nicht zu vergessen Blackbeard – genannt „Blacky“ -, der ab dieser Story dauerhaft in Justus‘, Peters und Bobs Zentrale einzieht. Als ihr gefiedertes Maskottchen. Kein Wunder also, dass auch der Buchtitel fälschlicherweise gemeinhin als „Teil 1“ gilt.

Besonders attraktiv für Jugendliche ist sicher das Konzept, dass drei Schuljungs in der Erwachsenenwelt bestehen und diese von ihren detektivischen Fähigkeiten überzeugen können. Wer hätte sich als Kind bzw. Teenie nicht gewünscht, wenigstens etwas mehr Gehör zu finden? Oder auch geheimnisvolle Rätsel zu lösen vermocht? Die drei Fragezeichen bestehen solche Abenteuer und dabei symbolisieren sie, dass frisches Denken und gute Bildung im Verbund mit Teamwork zum Erfolg führen. Teamwork ist ein gutes Stichwort. Fallen viele der Fälle in „the one and only Justus-Superstar“-Manier aus, dienen Peter und Bob endlich mal wieder nicht nur als reine Statisten, sondern liefern der Leserschaft äußerst wichtige Informationen, die selbst das unumstrittene Mastermind der Fragezeichen nicht kennt. Bei der Lösung des Falles ist zudem diesmal eine große Portion Glück mit im Spiel und nicht nur fleißige Detektivarbeit.

Der Superpapagei ist auch wieder eine Geschichte, bei der man eine Menge nebenher lernen kann. Nicht nur den Gebrauch des eigenen Verstandes, um des Rätsels Lösung auf eigene Faust zu knacken, wie es bei jedem Fall der drei Detektive stets gedacht und erwünscht ist. Gemeint sind vielmehr die Papageien (wie man ihren Namen bereits ersehen kann), die dem Autor als Transportmittel dazu dienen, durch ihre verbogenen Zitate auch andere berühmte Gestalten der Literatur und aus realen Geschichte dem Leser etwas näher zu bringen. Diesen vielleicht sogar neugierig zu machen, über die einzelnen Figuren, welche die Papageien verkörpern, selbst etwas mehr zu lesen. Ein geschickter Schachzug, ein paar pädagogisch und didaktisch wertvolle Informationen in Punkto Allgemeinwissen derart einzuflechten.

Besonders angetan hat es Robert Arthur offensichtlich Robert Louis Stevenson und seine „Schatzinsel“. Leider ist Übersetzerin Leonore Puschert das wohl nicht ganz aufgegangen, als sie „Long John Silver“ (ein feststehender Eigenname) mit „dem langen John Silver“ übersetzte. Dies ist aber die einzige Übersetzungsmacke, die auffällig wurde und soweit ich weiß, ist sie in späteren Auflagen ausgebügelt worden. Sieht man von der Änderung des Titels an sich mal ab, denn eigentlich müsste das Buch „… und der stammelnde Papagei“ heißen. Okay, „Super-Papagei“ klingt zweifellos interessanter und ist so falsch nun nicht. Der Schreibstil ist locker, mutet aber in seiner Wortwahl ein wenig antiquiert an. Das tut der Geschichte aber keinen Abbruch, im Gegenteil. Irgendwie gehört diese Schreibweise zu den drei Fragezeichen.

Geübte Leseratten rauschen in knapp zweieinhalb bis drei Stunden durch die fast 200 Seiten. Somit ist das Buch eines der längeren der Serie. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass die Figuren schärfer konturiert sind als bei manch anderem Vertreter der Reihe. Fehlen darf selbstverständlich nicht, dass „Alfred Hitchcock“ mit seinen gelegentlichen, augenzwinkernden Zwischenkommentaren, die vielleicht nicht ganz so akribisch mitdenkenden Leser immer wieder in die richtige Bahn lenkt und Denkanstöße liefert. Aber auch das hilft nicht, den Fall selbst klären zu können, geschweige denn das verzwickte Rätsel zu lösen. Arthur gibt als „Hitchcock“ zwar subtile Hinweise, der Showdown gerät dann doch sehr unerwartet und spannend bis zur letzten Seite. Außerdem dürfen die Protagonisten am Ende noch beweisen, dass sie das Herz auf den rechten Fleck haben. Warum? Das sei hier aufgrund des Spannungserhalts nicht verraten.

_Fazit_
Es wäre ganz bestimmt ein würdiges Buch zur Vorstellung der Serie gewesen, keine Frage. Es verkörpert wie kaum ein zweites das Flair und die Tugenden, welche Leser – ob jung oder alt – seit Jahrzehnten so sehr schätzen. Es ist alles da, was eine gute Abenteuergeschichte ausmacht: Ein „richtiges“ Verbrechen, ein exzellent durchdachtes und logisch aufgebautes Rätsel, eine Portion Mystery und zu guter Letzt ein Friedhof im Nebel mit abschließendem Happy-End. Lesefaulen sei an dieser Stelle das Hörspiel in der 2004er-Neuauflage ans Herz gelegt, welches schon ziemlich nah an die Vorlage herankommt. Im Gegensatz zur „alten“ Version von 1979 jedenfalls, auch wenn einige wichtige Nebenhandlungen auch hier fehlen bzw. stark angepasst wurden. Alles in allem ist dieser Fall ganz besonders für Neueinsteiger dringend zu empfehlen, auch wenn das „Gespensterschloss“ der allererste Fall der drei Fragezeichen ist.

_Die Buchdaten auf einen Blick:_
Originaltitel: „Alfred Hitchcock and the Three Investigators in the Mystery of the Stuttering Parrot“
Erzählt von Robert Arthur
Erstveröffentlichung: 1964 / Random House, NY
Deutsche Ausgabe: 1972 / Franckh-Kosmos, Stuttgart
Zugrunde liegende Ausgabe: Taschenbuchausgabe 1978 / dtv
Übersetzung: Leonore Puschert
Seiten: 186
Von verschiedenen Verlagen in unterschiedlichen Bindungen erhältlich
ISBN: 3-423-07316-0 (TB / dtv)

Jostein Gaarder – Maya oder Das Wunder des Lebens

S. 313: „Joker erwacht in einer organischen Festplatte auf dem Kopfkissen. Er spürt, dass er anfängt, sich aus einem heißen Strom halbfertiger Trugbilder an den Strand eines neuen Tages zu kämpfen. Welche Zellkraft steckt die Elfengehirne in Brand? Welche Turbinen treiben das Feuerwerk des Bewusstseins an? Welche atomare Kraft bindet die Gehirnzellen der Seele aneinander?“

Philosophie oder nur leeres Wortgeplänkel, das ist hier die Frage! Handelt es sich hierbei um hochwichtige Verse oder einfach nur inhaltslose Worthülsen, die keine Bedeutung mit sich tragen, aber wichtig klingen sollen? Ich denke, beide Deutungen sind möglich, wobei ich eindeutig zur zweiten tendiere, da Gaarder mich mit seinen philosophischen Ausführungen leider nicht überzeugen kann. Mit dem Erfolg von „Sofies Welt“ gelangte der norwegische Autor zu Weltruhm, auch seine nachfolgenden Romane wie „Das Kartengeheimnis“ oder „Der Geschichtenerzähler“ verkauften sich blendend, doch in „Maya oder Das Wunder des Lebens“ verlangt Gaarder seinen Lesern mehr Geduld und Ausdauer ab denn je.

Eine Geschichte in der Geschichte

Zunächst begegnet uns der Schriftsteller John Spooke, der von seinem Zusammentreffen mit dem Evolutionsbiologen Frank Andersen auf der kleinen Fidschiinsel Taveuni berichtet. Doch schon bald wechselt die Erzählerperspektive und der Großteil des Buches ist in Form eines Briefes von Frank an seine Frau Vera geschrieben, in welchem Frank seine Erlebnisse auf der Fidschiinsel zusammenfasst und von Ana und José erzählt.

Bei Ana und José handelt es sich um ein spanisches Paar, welches Frank auf Taveuni kennenlernt, die beiden unterhalten sich untereinander stets auf Spanisch und geben dabei merkwürdige philosophische Sätze von sich. Frank, der selbst Spanisch sprechen kann, lauscht ihnen heimlich und versucht, den beiden gegenüber zu vertuschen, dass er ihren Diskussionen folgen kann. Zudem hat Frank sofort das Gefühl, dass er Ana bereits irgendwo gesehen hat, doch kann er sie bzw. ihr Gesicht nicht einordnen. Komischerweise befällt John Spooke genau das gleiche Gefühl, doch findet er bald im Internet heraus, dass Ana der Maya auf Goyas Gemälde „La Maya Desnuda“ („Die nackte Maya“) nicht nur verblüffend ähnlich sieht, sondern diese Maya sein muss. Doch wie kommt Anas Gesicht auf ein 200 Jahre altes Gemälde? Erst spät werden dem Leser mögliche Antworten auf diese seltsame Frage präsentiert.

Frank und Vera leben seit dem Unfalltod ihrer kleinen Tochter getrennt voneinander, da dieses Unglück ihre Beziehung zueinander zu sehr überschattet hat. Doch in seinem Brief richtet Frank von Beginn an eine Bitte an Vera und verlangt von ihr, bis zum Ende des Schriftstückes durchzuhalten und alles zu lesen, was er für sie aufgeschrieben hat. Dabei berichtet er von philosophischen Diskussionen auf der kleinen Insel Taveuni und auch von ausführlichen Gesprächen mit dem Gecko Gordon, der Frank vom Trinken abhalten will.

Es wird deutlich, dass Ana und José eine Schlüsselposition einnehmen und insbesondere Goyas Werk in diesem Zusammenhang zu sehen ist, auch wird Frank am Ende in den Besitz des berühmten Manifestes gelangen, welches er mit Vera teilen möchte.

Philosophisches Verwirrspiel

Erneut hat Jostein Gaarder einen sehr philosophischen Roman vorgelegt, der dem Leser viel Konzentration, Geduld und Ausdauer abverlangt. Bereits die wechselnde Erzählerperspektive von John Spooke zu Frank Andersen und später wieder zurück zu John verwirrt, da nicht sofort klar wird, wer überhaupt der Erzähler ist. Auch streut Gaarder viele Andeutungen von bereits stattgefundenen Ereignissen ein, über die Frank später berichten will, sodass man schnell den Überblick zu verlieren droht und kaum noch behalten kann, auf welche Punkte der Autor nochmals zurückkommen möchte.

Jostein Gaarder versucht kläglich, eine gewisse Erwartungshaltung beim Leser aufzubauen, indem er schon früh andeutet, dass Frank in seinem Brief eine wichtige Bitte an Vera formulieren wird, doch am Ende erweist sich dieses Anliegen als trivial und nichtssagend, sodass man sich als Leser ziemlich verschaukelt fühlt, weil man doch mehr von diesem Buch erwartet bzw. sich erhofft hat. Gaarders Intention erschließt sich selbst dem aufmerksamen Leser nicht leicht. In langen philosophischen Abhandlungen schwärmen die verschiedenen Protagonisten des Buches vom Wunder des Lebens, preisen die Vorzüge der Evolution und beschreiben in furchtbar schwülstigen Worten die Natur der Fidschiinseln.

Sprachliche Hürden

Insbesondere sprachlich ist das Buch eine echte Herausforderung. So verliert Gaarder sich oftmals in langatmigen und detaillierten Naturbeschreibungen, die sich über etliche Seiten hinziehen und auch seine philosophischen Wortergüsse verlangen dem Leser viel ab. Gaarders Worte sind schwülstig und teilweise recht kompliziert, seine Ausdrucksweise mutet deutlich selbstverliebt an und die komplizierten Satzkonstrukte tragen auch nicht gerade zum Verständnis des Buches bei. Selten erlebe ich Romane, in denen mir unbekannte Worte auftauchen, doch Gaarder schafft es häufig, dem Leser Ausdrücke zu präsentieren, die nicht dem alltäglichen Wortschatz angehören. Aus dem Zusammenhang erschließen sich die meisten Bedeutungen, doch fand ich diese wertschwangere und überladene Sprache sehr lästig, auch wenn sie wohl zum beabsichtigten Inhalt des Buches passt. Ich bin sicherlich einiges an Kitsch gewöhnt, doch überschreitet Gaarder dieses Mal selbst bei mir die Grenze des Erträglichen. Die ellenlangen Darstellungen von Flora und Fauna auf Taveuni trieften vor Schmalz und waren in schier unerträgliche Wortungetüme gekleidet.

Doch was ist eigentlich Maya? Gaarder schreibt darüber Folgendes (S. 172/173): „Aber Laura ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie behauptete, jegliche Vielfalt sei nur ein Trug. Wenn wir jeden Tag die Welt als vielfältig erleben, dann beruhe das auf Blendwerk, auf dem, was in Indien viele Jahrtausende hindurch maya genannt worden sei. Denn nicht die äußerliche, sichtbare oder materielle Welt sei die wirkliche. Sie sei nur eine traumähnliche Illusion, zwar real genug für die, die darin gefangen seien, doch für weise Menschen sei nur brahman oder die Weltseele wirklich. Die Seele des Menschen sei identisch mit brahman, fügte sie hinzu, und erst, wenn wir das einsähen, könnten wir uns von der Illusion der äußeren Wirklichkeit befreien. Dann werde die Seele zu brahman, was sie ohne ihr eigenes Wissen ja schon die ganze Zeit gewesen sei.“

Da über die Hälfte des Buches in Form eines Briefes an Vera geschrieben ist, sind die Dialoge meist in indirekter Rede aufgeführt, was häufig zu langen Absätzen führt, durch die der Leser sich hindurch kämpfen muss. An dieser Stelle frage ich mich darüber hinaus, welche Frau einen solchen langen und schwülstigen Worterguss ihres Ehemannes lesen wird, von dem sie ohnehin getrennt lebt?!

Identifikation fehlgeschlagen

Die Figuren in diesem Roman bleiben leere Gestalten, die einzig dazu dienen, ihre Meinung über das Wunder des Lebens preiszugeben. Keine Person wird uns derart präsentiert, dass man sich ein gutes Bild von ihr machen könnte, die Figuren rücken völlig in den Hintergrund, Gaarder geht es einzig und allein um sein Manifest. Die wenigen Eigenschaften, die wir von den handelnden Charakteren erfahren, erlauben weder eine Identifikation noch führen sie dazu, dass jemand uns ans Herz wächst. Ganz im Gegenteil, die Figuren wirken unrealistisch und meist unsympathisch, besonders Ana scheint eher eine sagenumwobene Kunstfigur zu sein als ein Mensch aus Fleisch und Blut, und auch Frank kann nicht punkten. Spätestens, wenn er sich mit einem Gecko unterhält, der eines Abends auf seiner geliebten Ginflasche sitzt, beginnt man als Leser ernsthaft, sich Gedanken um den Gesundheitszustand des Erzählers zu machen. Wo dieses skurrile Zusammentreffen zwischen Mensch und Gecko anfangs noch zum Schmunzeln verleitet, so wird es doch auf Dauer immer lästiger, wenn sich selbst der Gecko an den philosophischen Abhandlungen beteiligt und seinen Standpunkt zum Besten gibt.

Was am Ende übrig bleibt

Im Gegensatz zu „Sofies Welt“, in der die schmückende Rahmengeschichte und die philosophischen Abhandlungen strikt voneinander getrennt sind (und es dem entnervten Leser schlussendlich ermöglichen, einen der beiden Handlungsstränge komplett zu überspringen), sind beide Elemente in diesem Buch eng miteinander verwoben. Zwar erzählt Frank von seinen Erlebnissen auf der kleinen exotischen Insel, doch taucht dort immer wieder das spanische Pärchen auf, das mit wichtigen Thesen nur so um sich wirft. Auch treffen sich eines Abends die Inselbesucher zu einer Diskussion um das Wunder des Lebens, die Entstehungsgeschichte, Illusionen und das Bewusstsein der Menschheit. Jede Figur steht für eine eigene Sichtweise und stellt diese lang und breit dar. Leider fehlt auch hier der rote Faden, der dem Leser zeigen könnte, wohin sich die Erzählung entwickeln wird und worauf der Autor hinausmöchte.

Am Ende bemerkt der Leser, dass Gaarder ihn an der Nase herumgeführt hat, denn Franks Brief stammt nicht aus seiner eigenen Feder, sondern aus der des Schriftstellers, der sich von Frank und dem Besuch auf Taveuni zu einem neuen Roman inspirieren ließ. Erst im Nachwort treffen beide Männer wieder zusammen und an manchen Stellen wird klar, wo im Brief Franks Realität aufhört und Johns Fiktion beginnt. Die genauen Grenzen zwischen Erdachtem und wahrem Geschehen bleiben jedoch verwaschen, es wird nicht immer deutlich, wo Johns Phantasie einsetzt und neue Dinge hinzuerfindet. Manch einer mag dies für eine besondere literarische Raffinesse halten, allerdings ist man am Ende des Buches so ausgelaugt und genervt von den Dingen, die man lesen musste, dass dies gleichgültig am Leser vorbeizieht.

Schon in „Sofies Welt“ versuchte Jostein Gaarder, die Geschichte der Philosophie in Romanform zu verpacken, sodass auch Leser ohne Vorwissen, wie zum Beispiel Kinder und Jugendliche, einen Einblick in diese Wissenschaft erhalten können. Auch „Maya oder Das Wunder des Lebens“ ist als Jugendbuch ausgewiesen, das ab 12 Jahren lesbar sein soll, doch halte ich diese Angabe der Zielgruppe für völlig verfehlt, da der Autor durch die wechselnde Erzählperspektive, die weitschweifenden Beschreibungen und die teils spezielle und komplizierte Wortwahl seine jugendlichen Leser überfordern dürfte. Während „Sofies Welt“ bei den Anfängen der Philosophie einsetzt und relativ einfach Grundzüge dieser Wissenschaft erklären soll, ist „Maya“ doch eher als eine Art Anwendung der Philosophie zu sehen, die speziell auf Fragen der Evolution und den Wert des Lebens eingeht. Diese Übertragung auf schwierigere Fragestellungen dürfte Lesern ohne Vorkenntnisse sehr schwer fallen, zumal Gaarder durch die Vermischung von Realität und Fiktion eine weitere Hürde schafft.

Gaarder scheint hochwichtige Botschaften in Romanform weitertragen zu wollen, doch scheitert er bei diesem Versuch. Sein Brückenschlag zwischen Roman und Sachbuch ist beim vorliegenden Werk völlig misslungen, da der Autor weder durch eine interessante Geschichte zu unterhalten weiß, noch philosophisches Fachwissen vermitteln kann. Lediglich viele hohle Phrasen werden ohne roten Faden aneinander gereiht, sodass der Leser Gaarders Gedankengängen nicht folgen kann. Für mich war dieses Buch der wohl letzte und abschreckendste Versuch, mit Jostein Gaarder und seinen Büchern warm zu werden.

Taschenbuch: 432 Seiten
www.dtv.de

William Nicholson – Der Windsänger

Dieses Buch ist das erste von William Nicholson, doch kennt ihn vermutlich jeder… zumindest jeder Kinogänger. Nein? Nun: „Nell“? „Shadowland“? „Gladiator“? Zu diesen Filmen hat der Engländer die Drehbücher (mit-)geschrieben; ein Profi im Mediengeschäft also. Und man merkt auch seiner ersten Buchveröffentlichung an, dass er’s kann: diesem exzellent geschriebenen Fantasy-Roman „für Kinder“, den auch Erwachsene verschlingen werden. Ich habe knapp fünf Stunden gebraucht, um das Buch zu lesen, und fand hinterher nur schade, dass es schon zu Ende war.

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Szerb, Antal – Pendragon-Legende, Die

Ende 2004 erschien im |Deutschen Taschenbuchverlag| eine Neuübersetzung der „Pendragon-Legende“, die der ungarische Literaturprofessor Antal Szerb bereits im Jahre 1934 verfasste. Szerb ist in Ungarn bis heute berühmt, obwohl er bereits 1945 im Alter von nur 43 Jahren im Internierungslager Balf in West-Ungarn starb.

Im Alter von 32 Jahren lernt János Bátky auf einer Soiree bei Lady Malmsbury-Croft den Earl of Gwynedd kennen, der auch unter dem Namen Owen Pendragon bekannt ist. Die beiden unterhalten sich gut und diskutieren unter anderem über Fludds Naturphilosophie. Am Ende des Abends erhält Bátky eine Einladung nach Wales auf das Schloss Llanvygan der Pendragons, wo ihm eine ausführliche Sichtung der dortigen Bibliothek ermöglicht werden soll. Bátky freut sich zwar über das Angebot, fühlt sich allerdings viel zu träge, um wirklich nach Wales zu reisen. Dennoch wird seine Neugierde geweckt, als er erfährt, dass die Pendragon-Bibliothek weltweit berühmt ist für ihre Werke aus dem Gebiet der Mystik und des Okkultismus im 17. Jahrhundert. Kurze Zeit später erhält Bátky einen mysteriösen Anruf, der ihn vor einer Reise nach Wales warnen will, da dort sein Leben in Gefahr sei. Doch Bátky versucht, dieses Telefonat wieder zu vergessen.

Durch einen Zufall (?) lernt er bei seinen Studien zur Familiengeschichte der Pendragons im |British Museum| den lebens- und reiselustigen George Maloney aus Connemara kennen, der sogleich von seinen zahlreichen und aufregenden Auslandsaufenthalten erzählt. Bei einem gemeinsamen Abendessen stellt Maloney seinem neuen Bekannten Bátky den Neffen des Earl of Pendragon vor. Der gebildete Osborne Pendragon studiert in Oxford, möchte aber seine Ferien auf Llanvygan verbringen und hat dazu auch seinen Freund Maloney eingeladen. So beschließen Maloney und Bátky, gemeinsam nach Wales zu reisen.

Schon die Begrüßung auf dem Schloss verläuft nicht so erfreulich, wie Bátky sich das erhofft hat, und gleich in der ersten Nacht wird er von merkwürdigen Geräuschen geweckt. Als er seinen Revolver aus dem Nachtschrank holen will, muss Bátky erstaunt feststellen, dass sämtliche Patronen aus der Waffe entfernt worden sind und auch ein Päckchen fehlt, das er für Maloney mit sich geführt hat. Auf dem Gang vor seinem Zimmer trifft er auf eine mittelalterlich gekleidete Gestalt, die sich als Hausdiener vorstellt, doch bei einem Blick aus seinem Zimmerfenster kann Bátky einen schwarzen Reiter mit Fackel und Hellebarde beobachten. Kurz darauf wird ein Mordanschlag auf den Earl verübt, dem er nur mit viel Glück entkommen kann. Es scheint, als könnte der Earl drohendes Unglück spüren, denn dies war bereits der dritte Mordversuch, den er vereiteln konnte. Langsam aber sicher verdichten sich die Verdachtsmomente, bald ist ein angeblich Schuldiger gefunden, doch was steckt wirklich hinter den Mordanschlägen?

„Die Pendragon-Legende“ ist aus der Sicht des János Bátky geschrieben, der seine Lebensgeschichte erzählen möchte. In seinen ersten 32 Lebensjahren ist außer dem ersten Weltkrieg nichts Entscheidendes passiert; so entschließt sich Bátky, gleich beim Soiree der Lady Malmsbury-Croft einzusetzen und damit bei seiner ersten Begegnung mit dem Earl of Pendragon. Obwohl sofort offensichtlich wird, dass dieses Kennenlernen für den Ich-Erzähler von entscheidender Bedeutung gewesen sein muss, lässt Szerb sich in seiner Erzählung viel Zeit. Zunächst entwickelt er seine Charaktere und verleiht Bátky einige selbstkritische Züge, da er immer wieder einstreut, mit welchen Charakterzügen er an sich selbst unzufrieden ist. Die Charakterzeichnungen sind ein Punkt, der sofort positiv auffällt an diesem Buch, denn neben János Bátky lernt der Leser auch die anderen Hauptfiguren recht gut kennen. Eine besonders sympathische Figur ist dabei Maloney, der immer wieder unglaubliche Geschichten aus Connemara von sich gibt, die ihn ein wenig spleenig, aber auch nett erscheinen lassen. Aufgrund der abstrusen Geschichten bezeichnet Bátky Maloney wenig schmeichelhaft als Münchhausen, doch kommt der Leser nicht umhin, diesen Geschichten doch ein wenig Glauben zu schenken. Maloneys extravagante Hobbys tragen dazu bei, dass der Leser sich ein gutes Bild von diesem überdrehten und lebenslustigen Charakter machen kann. Szerb entwickelt Charaktere, wie es sie im wahren Leben möglicherweise eher weniger geben mag, dennoch kann man ihm dies nicht übel nehmen, da einem die Personen einfach ans Herz wachsen durch ihre menschlichen Macken und Eigenarten. Der Autor zeigt an vielen Stellen eine erstaunliche Beobachtungsgabe, da er in etlichen weiteren Situationen Eigenschaften und Merkmale seiner Charaktere anbringt. Als dritte Figur tritt Osborne Pendragon in Erscheinung, der zwar gebildet und intelligent ist, aber seine Schwierigkeiten mit Frauen zu haben scheint; auch er vermag es durch sein leicht schrulliges Verhalten, dem Leser in einigen Situationen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Besonders Lene Kretzsch weiß eine sehr amüsante Episode über Osborne zu berichten, als sie nämlich versucht, den reservierten und wohlerzogenen Osborne zu verführen, was sich als äußerst kompliziert erweist. Natürlich fehlen auch nicht die Frauenfiguren in diesem Roman; so treten die ominöse Eileen St. Claire, die bezaubernde Cynthia Pendragon und die toughe Lene Kretzsch in Erscheinung. Hier prallen drei völlig unterschiedliche Frauentypen aufeinander, die sich Antal Szerb wahrlich meisterhaft ausgedacht hat.

Szerbs Erzählweise ist gemächlich, aber unheimlich sympathisch, in vielen Sätzen verstecken sich sensibler Humor und feine Ironie, die uns nicht vor lauter Lachen vom Sofa fallen lassen, aber immer wieder zum Schmunzeln bringen. Der besondere Reiz liegt hier in den Feinheiten, die am Rande fallen und auf die man genau Acht geben sollte. „Die Pendragon-Legende“ sollte daher mit etwas erhöhter Aufmerksamkeit gelesen werden, da Szerb viel zu sagen hat und dem Leser zahlreiche Informationen mit auf den Weg gibt. So erfährt der Leser während Bátkys ausführlicher Literatursichtung vor seiner Reise nach Wales einiges aus der Familiengeschichte der Pendragons, die eng verwoben ist mit der Geschichte der Rosenkreuzer. Stein um Stein baut Szerb dadurch seine Geschichte auf. Oftmals wird die eigentliche Erzählung ein wenig unterbrochen durch diverse Einschübe, wenn beispielsweise eine neue Person auftaucht, die János Bátky zunächst vorstellen möchte, oder wenn aus der Historie der Pendragons berichtet wird. Obwohl ich derlei Einschübe sonst eher lästig finde, muss ich zugeben, dass sie hier in die Geschichte passen, zumal die eingeschobenen Szenen meist interessant oder auch amüsant sind.

Allmählich wird fast schon unmerklich Spannung aufgebaut durch kleine Hinweise auf mysteriöses Treiben im Hause Pendragon. Bátky kommt im Schloss kaum zum Schlafen, da nächtens die merkwürdigsten Dinge geschehen, darüber hinaus schwebt der Earl of Pendragon in Lebensgefahr, da er bereits drei Mordanschlägen durch schicksalhafte Mithilfe entkommen konnte. In Pendragons Labor entdeckt Bátky unglaubliche Dinge, die mit der Geschichte der Rosenkreuzer zusammenzuhängen scheinen. Doch bleibt lange unklar, worauf das Buch eigentlich hinauslaufen möchte.

Eine Einteilung in ein Genre ist bei der „Pendragon-Legende“ äußerst schwierig, da Szerb auf der einen Seite eine Geistergeschichte schreibt, auf der anderen aber auch ein Familienbild der Pendragons entwirft. Beide Handlungszweige sind eng verwoben und werden gleichberechtigt weitergeführt. Obwohl die Rosenkreuzer auftauchen und eine nicht unwesentliche Rolle spielen, darf man keinen Verschwörungsthriller im Stile eines Dan Brown erwarten, denn Szerb lässt seine „Pendragon-Legende“ in eine völlig andere Richtung gehen. Im Grunde genommen kann man das Buch als eine Gruselgeschichte mit ausführlichen Charakterzeichnungen und sympathisch erzählter Rahmengeschichte bezeichnen.

Die „Pendragon-Legende“ reißt nicht durch übergroße Spannung mit, sondern hat ihren ganz eigenen Charme, das Buch ist eine kleine literarische Perle, die man aufmerksam lesen sollte, um alle Feinheiten aufzunehmen. Antal Szerb lässt herrliche Charaktere entstehen, die allesamt irgendwo sympathisch werden, allen voran der philosophisch interessierte, schüchterne und ängstliche Ich-Erzähler Bátky, der auch den Reizen einer schönen Frau nicht widerstehen kann. Die eigentliche Gruselgeschichte passiert fast schon am Rande, obwohl sie doch eigentlich Anlass gegeben hat zu Bátkys Erzählung. Doch der besondere Reiz dieses Buches liegt in den Geschichten, die drumherum erzählt werden. Der Leser sollte sich allerdings auf Szerbs Erzählweise und die manchmal etwas schwerfällig anmutende Sprache einlassen, dann wird die „Pendragon-Legende“ für einige sehr unterhaltsame und interessante Stunden sorgen.

Lucy Wadham – Verschwunden

Auf einer Mittelmeerinsel wird einer englischen Besucherin der Sohn entführt. Die Polizei in Gestalt eines verbitterten Kommissars sieht in einem örtlichen Gangsterboss als Schuldigen, sodass die Ermittlungen bald in eine Privatfehde ausarten. In ihrer Not wendet sich die Mutter direkt an den Gangster, der die Chance wittert, mit ihrer Hilfe seinen Widersacher zu vernichten. Die Frau versucht sie ihr eigenes, gefährliches Spiel, bis sich drei zu allem entschlossene Kontrahenten gegenüberstehen … – Bemerkenswerter Thriller mit Kammerspiel-Charakter; drei Hauptfiguren spielen sich den Ball zu, den sie niemals den Boden berühren lassen. Elegant, mit ständigen Hakenschlägen und fabelhaften Figurenzeichnungen läuft die Geschichte auf das wahrhaft krönende Finale zu: eine echte Entdeckung, diese Lucy Wadham! Lucy Wadham – Verschwunden weiterlesen

Nicholas Christopher – Franklin Flyer

Der junge US-Amerikaner Franklin Flyer, ein Abenteuer und Erfinder, wird in den 1930er Jahren in eine Nazi-Verschwörung verwickelt. Später steigt er zu einem der reichsten Männer des Landes auf, während er gleichzeitig als Geheimagent im Dienst der Regierung die Welt bereist und dabei haarsträubende Abenteuer erlebt … – Ein ‚literarischer‘ Abenteuerroman. Was das sein soll, muss der Leser selbst entscheiden. Objektiv beurteilt ist „Franklin Flyer“ ein fabelhaft geschriebenes, sehr unterhaltsames, mit einprägsamen Figuren besetztes Stück ‚Edel-Pulp‘. Überflüssig wirken diverse übernatürliche Elemente, weil sie gar zu deutlich als intellektuelle Spielerei ohne echten Handlungsbezug erkennbar sind. Nicholas Christopher – Franklin Flyer weiterlesen

Herbie Brennan – Das Elfenportal (Faerie Wars 1)

Henry glaubt nicht an Elfen. Er ist schließlich schon vierzehn! Früher, vor unendlich langer Zeit, als er noch ein Kind war – damals glaubte er die Geschichten über kleine, geflügelte Wesen, die guten Menschen drei Wünsche gewährten. Heute glaubt er nicht mehr an sie. Doch was, wenn ihm ein Elf begegnet?

Der Autor

Herbie Brennan hat zahlreiche Bücher für Kinder und Erwachsene geschrieben, die in mehr als fünfzig Ländern und in einer Gesamtauflage von über 7,5 Millionen Exemplaren erschienen sind. Nebenbei entwickelt er Spiele und Software und arbeitet fürs Radio. Er lebt in County Carlow in Irland.

Der Inhalt

Der Purpurkaiser herrscht gerecht über das Volk der Elfen. Die Lichtelfen sind zufriedene Untertanen, doch die Nachtelfen scheinen Übles zu planen. Das allein bereitet dem Kaiser schon genug Kopfschmerzen, doch zu allem Überfluss ist sein Sohn Pyrgus, der Kronprinz, verschwunden.

Pyrgus ist ein Tiernarr. Er kann es nicht ausstehen, wenn Tiere gequält werden. So entwendete er den Phönix aus dem Haus Lord Hairstreaks, wobei er unglücklicherweise ertappt wurde. Auf seiner Flucht gelangt er in die Leimfabrik Chalkhill & Brimstone, wo er das nächste erschütternde Erlebnis hat: Die Zauber-Klebe-Formel besteht in einem lebenden Kätzchen, das täglich dem Leim geopfert werden muss! Hier ist also wieder eine Rettungsaktion gefragt – doch diesmal wird Pyrgus prompt von den Wächtern der Fabrik festgenommen, fast zu Tode geprügelt und dem Geschäftsführer – Brimstone – vorgeführt, der gerade einen teuflischen Pakt mit Beleth, dem Fürsten der Dämonen, abgeschlossen hat. Zufälligerweise ist es Pyrgus, den der Dämon als Opfer verlangt, und so kommt Brimstone die Gefangennahme sehr gelegen.

Kurz vor dem Opfergang kommt es zu einem Zwischenfall, der Pyrgus aus dem Dämonenkreis befreit. Bevor Brimstone eingreifen kann, erscheint die Palastwache des Purpurkaisers und eskortiert Pyrgus zum Palast.

Politische Verwicklungen zwischen Licht- und Nachtelfen verlangen höchste Sicherheit für den Kronprinzen, und so soll Pyrgus durch das Elfenportal, das sich im Besitz der Kaiserfamilie befindet, in die Gegenwelt transportiert werden, um dort das Ende der Streitigkeiten zu erwarten. Eine einsame Insel in der Karibik ist das Ziel, doch als man nach gelungenem Transfer überprüfen möchte, ob es dem Prinzen gut geht, ist er nicht auffindbar. Offensichtlich wurde er durch Sabotage an einen anderen Ort befördert …

In der Gegenwelt: Henrys Eltern liegen im Streit. Die Mutter hat eine Affäre mit der Sekretärin ihres Mannes (!), und der soll darum aus dem Familienleben treten. Ob all dieser Ungerechtigkeiten bleibt dem vierzehnjährigen Jungen nur die zeitweilige Flucht. Er geht zu Mr. Fogarty, um dem alten Mann beim Aufräumen seines Hauses oder Gartens zu helfen. Kaum steht er vor dem bruchfälligen Schuppen, als Fogartys Kater einen Schmetterling einfängt. Henry, der sehr tierlieb ist, verbietet dem Kater seine Beute und fördert – keinen Schmetterling zu Tage, sondern ein geflügeltes kleines Menschlein, offenbar ein Elf! Henry glaubt nicht an Elfen, aber er weiß, dass Mr. Fogarty an sie wie auch an Außerirdische und dergleichen glaubt. Also bringt er seinen Fund in die Küche, und mit Hilfe des alten Mannes bringen sie ein Verstärkergerät zustande, das die Stimme des kleinen Wesens hörbar macht.

Henrys Weltanschauung ist über den Haufen geworfen. Es ist tatsächlich ein Elf, und zwar Pyrgus, der Sohn vom Purpurkaiser des Elfenreichs! Ärgerlich für Pyrgus ist, dass der Filter des Portals versagt haben muss und er nun in der lächerlichen Gestalt eines kleinen fliegenden Würmchens in der Gegenwelt ist. Auf jeden Fall ist allen klar, dass Pyrgus so schnell wie möglich in seine Welt zurückkehren muss. Dort steht mittlerweile eine große Konfrontation zwischen Nacht- und Lichtelfen bevor, und auch die Dämonen scheinen einen Plan zu haben …

Kritik

„Das Elfenportal“ mutet erstmal wie ein Jugendroman an – Vierzehnjährige, die in Abenteuer verstrickt werden und das Schicksal der Welt in den Händen halten. Doch Brennan verstrickt in dieser Geschichte Abenteuer gekonnt mit Fantasy, Ironie und Humor, zeigt auf diese Art nicht nur Ausschnitte aus dem – unheimlich vertrauten – Elfenreich, sondern auch Aspekte unserer Gesellschaft, des Familienlebens und des Klischees, dass scheinbar immer die Ehemänner Affären mit ihren Sekretärinnen haben, wenn eine Ehe zu Bruch geht.

Interessant ist auch die Verknüpfung der Elfengeschichte – klein, geflügelt, drei Wünsche – mit dem Außerirdischen-Mythos – dürre, graue, großköpfige Wesen mit riesigen Augen, die Unmengen Amerikaner entführen. Nach diesem Buch wissen wir, woher diese Außerirdischen kommen und was es mit unseren kleinen, niedlichen Elfchen auf sich hat. Und wir haben einen spannenden Einblick in das Leben der echten Elfen bekommen, das sich von dem unsrigen gar nicht so sehr zu unterscheiden scheint. Natürlich gibt es im Elfenreich andere Technik – dort als Magie bezeichnet – und andere Mythen, aber die Wesen scheinen zu fühlen wie Menschen, unabhängig davon, dass sie sich Elfen nennen.

Es hat auf jeden Fall nichts mit den Elben aus Tolkiens „Herrn der Ringe“ zu tun und steht also Abseits der Diskussion, ob die weit verbreiteten Fantasy-Elfen mit Tolkiens Elben identisch sind. Hier handelt es sich tatsächlich um diese kleinen, geflügelten Geschöpfe unserer Märchen, die – wie wir nun wissen – eigentlich gar nicht so klein und schon gar nicht geflügelt sind.

Der Konflikt zwischen Lichtelfen und Nachtelfen sowie den Dämonen ist facettenreich geschildert, und ein Lösungsansatz führt genauso in die Irre wie der nächste. Jede Partei ist überzeugt, die anderen zu durchschauen und hintergehen zu können oder ihnen überlegen zu sein, bis es im Finale zu einer überraschenden Wendung kommt, bei der auch der mysteriöse Mr. Fogarty eine Rolle spielt. Die Geheimnisse, die dieser Mann mit sich herumträgt, tragen allerdings nur noch zu Henrys Verwirrung bei. Ist ihm irgendwann aber auch egal, denn er trifft ja auf Holly Blue, die Schwester von Pyrgus.

Wo wir grad bei den Geschwistern sind: Comma, der Dritte im Bunde, steht nach Pyrgus in der Thronfolge. Und hier sieht man wieder einen Aspekt, der – da nicht eindeutig erwähnt – eventuell aus diesem Buch mehr macht als nur ein Jugendbuch. Mit Ironie wird deutlich, dass Comma zwar auch hintergangen wird, aber als einer der wenigen vom Verschwinden Pyrgus‘ profitiert hätte.

Fazit

Ein schnelllesiges Buch, wenn ich diesen Ausdruck mal kreieren darf. Und wirklich kurzweilig. Wie Mr. Colfer auf dem Umschlag bemerkt, ist dieser Plot durchaus der einen oder anderen Erweiterung fähig. Ein schönes Lesevergnügen, bei dem man nicht selten zum Schmunzeln, aber auch zum Nachdenken angeregt wird. Empfehlenswert – mal wieder für jedermann!

Ein wenig Kritik am Einband: Es prangt das Symbol „dtv premium“ darauf. Aber bezieht sich das nur auf den Inhalt und nicht auf die Verarbeitung? Die Verklebung der Seiten lässt – zumindest bei meiner Ausgabe – doch sehr zu wünschen übrig.

Edward Gibbon – Verfall und Untergang des Römischen Imperiums (erstmals vollständig übersetzt in 6 Bänden)

Die vorliegende Ausgabe enthält in fünf Bänden die Kapitel I-XXXVIII bis zum Ende des Römischen Reiches im Westen einschließlich der ›Allgemeinen Betrachtungen über den Untergang des Reiches im Westen‹ sowie sämtlicher Fußnoten, Nachweise und Anmerkungen des Autors. Damit liegt dieser Teil von Gibbons Werk zum erstenmal seit 1837 ungekürzt und in einer neuen, zeitgemäßen Übersetzung vor.
Der sechste Band der dtv-Ausgabe enthält ausführliche Informationen zu Leben und Werk des Autors und zur Rezeptionsgeschichte sowie Bibliografie und Register.

Die Ausgabe entspricht den Bänden 1-3 des Gesamtwerks, die zuerst zwischen 1776 und 1781 in London veröffentlicht wurden. Gibbon betrachtete das Werk hiermit zunächst als abgeschlossen und wollte eine Fortsetzung von der Reaktion der Öffentlichkeit abhängig machen. (Verlagsinfo)
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Peter James / Nick Thorpe – Halley, Hünen, Hinkelsteine. Die großen Rätsel der Menschheit

Inhalt:

Ein sechsteiliger Schlag gegen (allzu) lieb gewonnene Rätsel der (Erd-) Geschichte, unterteilt in diverse Unterkapitel, die sich auf bestimmte Favoriten (= Dauerbrenner der Boulevard-Medien in der sommerlichen Saure-Gurken-Zeit) konzentrieren. Sie dienen als repräsentative Beispiele für die jeweiligen Gesamtphänomene, die da wären:

„Versunkene Kontinente und Katastrophen“: Hier lesen wir u. a. über Atlantis, das ‚historische‘ Vermächtnis des Griechen Plato, der sich auf Wolke Nr. Sieben vermutlich totlacht über die monströse Lawine haltloser Spekulationen, die den ‚verlorenen‘ Kontinent der Urzeit völlig ‚logisch‘ an praktisch jedem Ort unseres Globus‘ orten. Dabei ist nie (und für die Atlantis-Jünger glücklicherweise) ein handfester, wirklich glaubhafter Hinweis auf seine Existenz aufgetaucht wäre. James und Thorpe legen sachlich und plausibel dar, wieso dies so ist – so sein muss.

Weiterhin scheuen sie sich nicht, den Kopf in den Rachen gewisser ‚Forscher‘ zu legen, welche die Bibel in den Rang eines Geschichtsbuchs erheben. Die damit verbundenen Schwierigkeiten und haarsträubenden Verbiegungen historischer Tatsachen belegen sie am Beispiel der Suche nach Sodom und Gomorrha. Auch Noahs Arche wurde inzwischen mehrfach erspäht … Wer’s lieber ein wenig sachlicher mag, wird durch die Vorstellung der Polverschiebungstheorie eines Schlechteren belehrt.

„Himmelsbeobachtungen“: Nachdem sich in den vergangenen Jahren immer deutlicher herausstellt, dass die Menschen der Vorzeit keine grunzenden, in Höhlen hausenden Wilde waren, sondern sich bereits die Köpfe über erstaunlich transzendente Themen zerbrachen, sammeln sich die Anhänger jener Theorie, nach der es überall auf dieser Erde ‚Priestergelehrte‘ prähistorischer, hoch zivilisierter, leider fundlos verschwundener Kulturen gab, die ihre Schäfchen schwere Steine zu komplizierten Mustern wuchten ließen, um auf diese Weise den Sternen- und Planetenhimmel abzubilden. Diese Steinzeit und Bibel Astronomie ist geradezu ein Steckenpferd für ‚Historiker‘ geworden, die an eine Vergangenheit glauben möchten, in der die Magie der Natur noch stark war in der Welt.

„Architektonische Wunderwerke“: Hier treffen wir u. a. krypto-historische Dauerbrenner wie Stonehenge, die ägyptischen Pyramiden oder die Steinfiguren der Osterinseln – und jene selbst ernannten Bilderstürmer, die frischen Wind in die etablierte und damit zwangsläufig verkrustete und langweilige Wissenschaft – wozu studieren, wenn man auch spinnen & Fakten klittern kann? – bringen möchten, indem sie beispielsweise „Götter aus dem All“ den Urzeit-Menschen hilfreich zur Hand gehen und prähistorische „Computer aus Stein“ errichten lassen.

„Erdmuster“: Aber ganz ohne eigene seltsame Kraft waren unsere Vorfahren auch nicht. Ohne böse Zivilisation (oder Wissenschaft) hatten sie noch Mutter Naturs Ohr. Ihre prähistorischen Sternwarten, Raumschiffhäfen und Kultstätten (Glastonbury, Somerset, Nazca) vernetzten sie durch „Erdmuster“ (Ley Linien), durch die nicht selten eine Art ätherische Erdstrahlung floss – gleichzeitig eine Art Telefonleitung, über die Geistwesen und/oder Außerirdische den weiter oben genannten Priestergelehrten ihre Anweisungen durchgaben. („Heute nur fünf Jungfrauen opfern.“)

„Original oder Fälschung“ erzählt vom Hang des Menschen, der Wahrheit manchmal etwas nachzuhelfen bzw. sie in eine Gestalt zu zwingen, die der erwünschten Realität (König Artus‘ Grab – endlich gefunden!) oder wenigstens dem eigenen Ruhm zu Gute kommt (Heinrich Schliemann und ‚sein‘ Troja Schatz). Dieses Kapitel verdeutlicht aber auch, dass die Vergangenheit echte Überraschungen birgt (Ötzi, die Mumie, die aus der Steinzeit kam, oder die Schriftrollen vom Toten Meer), die als solche zunächst nicht erkannt werden oder die als ‚unmöglich‘ abgelehnt werden: Die etablierte Forschung kann irren, aber im Gegensatz zur „Voodoo Science“ verfügt sie über Mechanismen der Korrektur, auch wenn‘s manchmal ein wenig dauert.

„Übersinnliches und Archäologie“: Hier wird es endgültig wundersam und wunderlich. Tutanchamuns Fluch kennt sicherlich jede/r, den Fall Omm Seti weniger. Faszinierend auch die Story des „Bundes von Avalon“, der einen Geschichtsforscher quasi exklusiv aus dem Jenseits beriet.

Wie es sich gehört, stehen am Ende unseres Werkes eine Bibliografie (die notgedrungen mit den Jahren an Wert verliert) sowie ein Namens und Sachregister – immer ein Qualitätsmerkmal für ein Sachbuch, mit dem man arbeiten kann. Da ist es fast schon selbstverständlich, dass „Halley, Hünen, Hinkelsteine“ das im Text Gesagte durch zahlreiche Grafiken und (schwarz weiße) Fotos verdeutlicht.

Der Mensch will (Unsinn) glauben

Die einen mögen sie Spielverderber und/oder Knechte der weltumspannenden Verschwörung skrupelloser Politiker, Großkonzerne & Wissenschaftler schimpfen, die uns Bürger dumm und ahnungslos und dadurch leicht regierbar halten sollen, die anderen begrüßen sie als Stimme der Vernunft. Auf jeden Fall gleiten Peter James und Nick Thorpe aufrecht über das Glatteis, auf das sie sich freiwillig begeben haben. In der (guten, alten) gar nicht so lange verstrichenen Zeit nannte man das „Aufklärung“: die sachliche Beschäftigung mit strittigen Fragen der Natur- und Geisteswissenschaft, das Abwägen von Für- und Wider-Argumenten, die Formulierung einer (vorläufigen) Schlussfolgerung auf der Basis der gesammelten und ausgewerteten Fakten.

Dass solche Aufklärung alles andere als langweilig oder gar überholt ist, beweist unser Autorenduo eindrucksvoll. (Vor und frühgeschichtliche) Rätsel verlieren keineswegs ihre Faszination, nur weil keine Besucher aus dem All, Geister oder sonstige esoterische Lichtgestalten hinter ihnen stecken. James und Thorpe beeindrucken durch eine gar nicht selbstverständliche Gabe: Sie können komplexe, oft recht schwer verständliche Themenkomplexe allgemeinverständlich präsentieren.

So reagieren sie auf den oft und mit Recht der Wissenschaft gemachten Vorwurf, bei der Vermittlung des Entdeckten zu knausern bzw. sich in einen Nebel hochgeistiger Formulierungen zu hüllen, der vor allem den Kollegen Wissen und Seriosität suggerieren soll. Gute Sachbücher vermitteln erfolgreich zwischen dem Forscher-Olymp und den akademischen Bergtälern, in denen durchaus interessierte Laien hausen – und sie leuchten in die düsteren Höhlen, welche die Scharlatane beherbergen.

Manchmal verloren auf einem Meer der Dummheit

Dabei trennen James und Thorpe Fakten und Spekulationen voneinander. Ganz so streng geht es trotzdem nicht zu. Zwar behaupten die Autoren u. a., sie wollen in Sachen Rätsel einen Schlussstrich im Jahre 1492 ziehen – Columbus segelt nach Amerika und läutet dadurch quasi die Neuzeit ein -, halten sich aber nicht durchweg daran. Andererseits gehört die Diskussion um das berühmte „Marsgesicht“ durchaus zum Thema, denn gibt es ein besseres Beispiel für die Kapriolen der Selbsttäuschung, die dem menschlichen Geist manchmal unterlaufen?

Die Fülle des vorgestellten Materials bedingt manche Vereinfachung oder Verkürzung – davor warnen die Autoren einleitend selbst -, die hier und da Fehlinterpretationen durch den Leser begünstigt. Troja und seine Geschichte ist ein komplexes Thema, das gerade in den letzten Jahren auf der Basis neuer bzw. neu bewerteter Funde in der wissenschaftlichen Diskussion steht. Diese Autoren legen das Schwergewicht ein wenig zu stark auf den ‚Kriminalfall‘ Schliemann und den mysteriösen, womöglich frisierten Schatz des Priamos.

Den eigenen Prinzipien eindeutig untreu werden James und Thorpe, wenn sie ihrer Begeisterung für Kometen & Meteoriten als Katalysatoren aller möglichen (und unmöglichen) irdischen Umwälzungen ein wenig zu blauäugig nachgehen. Das ist aber der einzige gravierende Vorwurf, den man den Verfassern machen kann, deren Ausführungen man ansonsten mit Vergnügen und Gewinn folgt.

Autoren

Peter James studierte in Birmingham und London Alte Geschichte und Archäologie. Dabei spezialisierte er sich auf den Nahen Osten und den Mittelmeerraum und hier wiederum auf die Bereiche Technik- und Wissenschaftsgeschichte.

Nick Thorpe studierte Archäologie sowie Vor- und Frühgeschichte in Reading und London. Er lehrt am King Alfred’s College in Winchester. Darüber hinaus leitete er mehrere Forschungsprojekte in Großbritannien und Dänemark und verfasste Aufsätze und Bücher über Landwirtschaft, Handwerk, frühgeschichtliche Gesellschaftsformen und Astronomie.

Taschenbuch: 492 Seiten
Originaltitel: Ancient Mysteries (New York : Ballantine Books, a division of Random House, Inc. 1999)
Übersetzung: Annette von Heinz u. Susanne Hornfeck
http://www.dtv.de

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (13 Stimmen, Durchschnitt: 1,62 von 5)

Conway, D. J. – Zauberwelt der Kelten, Die

Der Name „Kelten“ ist der Oberbegriff für die vor allem in Westeuropa ansässigen gallischen, britannischen und galatischen Stämme, die ihre geschichtliche Blütezeit vom 6. Jhd. v.Chr. bis ins 1. Jhd. n.Chr. erlebten, bevor sie endgültig romanisiert wurden (natürlich bis auf das berühmte gallische Dorf…). Die Faszination ihrer Kultur aber strahlt bis in die heutige Zeit und ist ein fester Bestandteil des europäischen Erbes. Die mittelalterlichen Geschichten um König Artus, die auf keltische Quellen zurückgehen, erfreuen sich bei modernen Romanschriftstellern von Bradley bis Lawhead großer Beliebtheit; besonders in Frankreich versuchen Wissenschaftler und Publizisten wie Jean Markale sich auf keltische Wurzeln zu besinnen; in der esoterischen Szenerie spielen der irische Elfen- und Feenglaube eine wichtige Rolle. Mit dem Buchtitel „Wiederkehr der Kelten“ war es auf den Punkt gebracht – die Kelten sind in.

Das lockt natürlich einige Autoren an, die versuchen auf dieser Welle mitzuschwimmen. Leider gehört auch das vorliegende Buch dazu. Denn mit „keltischer Magie“, wie es der englische Originaltitel verspricht, hat das Ganze nur wenig zu tun. Natürlich ist über die magischen Techniken der Kelten nicht viel überliefert und es war von vornherein klar, dass es sich um eine Neuinterpretation handeln würde. Wäre ja auch keine Problem gewesen, denn schließlich ist es legitim, an alte Symbole in moderner Form anzuknüpfen. Doch die Autorin hat kein Buch über keltische Magie, sondern eins über Wicca geschrieben, das ein wenig „keltisch“ aufpoliert wurde. Wicca lebt aber aus einem anderen Geist, benutzt synkretistisch alle möglichen Symboliken und geht von einer Urreligion der Großen Göttin und ihres Gehörnten Jägers aus. Insofern ist dieses Buch eher für Leser interessant, die etwas mit Wicca anfangen können.

Dieser Eindruck wird in der deutschen Ausgabe noch dadurch verstärkt, dass die im englischen Original befindlichen Kapitel über Kultur und Sagen der Kelten einfach herausgekürzt wurden. Was sich der Verlag dabei gedacht hat, ist mir schleierhaft. Übriggeblieben ist davon nur das – mit Wicca-Ideologie überfrachtete – kurze Lexikon keltischer Gottheiten. Die Wirkung dieser Ideologie kann man wunderbar beobachten, wenn Conway alle möglichen weiblichen Gottheiten/Wesenheiten in den einen Große-Göttin-Topf wirft – frei nach dem Motto: „Alles derselbe Brei“. Für die Kelten stellte sich das aber aller Wahrscheinlichkeit nach anders dar. Ein bisschen mehr Respekt der alten Tradition gegenüber wäre da wohl angebracht, und zwar nicht nur verbaler, sondern auch methodischer Art!

Natürlich dürfen bei den praktischen Anweisungen für Kesselmagie die Zauber für Geld und Liebe nicht fehlen. Für den etwas spiritueller orientierten „Wicca-Kelten“ hält sie allerlei New-Age-Mummenschanz und Allgemeinplätze parat: „Die keltische Magie arbeitet ganz bewusst mit mit den Kräften planetarer und natürlicher Energien. Es ist eine Magie, die sich in Harmonie mit unserem Planeten, ja mit unserem eigentlichen Selbst befindet.“ oder das beliebte Sprüchlein: „Tun Sie, was Sie wollen, wenn Sie keinem Wesen dabei schaden.“. Mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit ist in dem Buch die ganze Zeit von keltischer Magie die Rede: keltische Magie ist dieses…, keltische Magie ist jenes… Dabei wird hier mit dem Gestus der Gewissheit über eine Sache gesprochen, von der wir nur sehr wenig wissen.

Über ein Drittel des Buches machen verschiedene Zuordnungen von Pflanzen und Duftstoffen zu bestimmten Begriffen, Ritualen und Wesenheiten aus. Außerdem finden sich Ritualbeschreibungen, Anrufungen und verschiedene Formen der Magie, die aber alle zum Bereich der Naturmagie zählen. Fast immer beinhalten sie typische Wiccamotive. Conway beschreibt auch ihre Vorstellung von einem Orakel mit dem irischen Ogham-Alphabet. Was man Conway zugute halten kann, ist ihre manchmal sehr pragmatische Herangehensweise an die Rituale und Ritualgegenstände. Anstatt kaum realisierbare Anforderungen an den potienziellen Magier zu stellen, gibt sie Hinweise, die in der heutigen Zeit auch umsetzbar sind (z.B. für den Bau eines Altars).

Wer also praktische Anregungen für seine magische Arbeit sucht, könnte hier vereinzelt fündig werden. Da das Buch eher schlecht und teils ziemlich naiv geschrieben ist, sollte derjenige, der sich für Wicca zu interessieren beginnt, erstmal zu Starhawk oder Vivianne Crowley greifen. Keltenfans allerdings können getrost einen großen Bogen um dieses Buch machen.

Hornung, Erik – geheime Wissen der Ägypter und sein Einfluß auf das Abendland, Das

Mit diesem Buch liegt eine weitere faszinierende religions- und kulturwissenschaftliche Studie aus dem dtv-Verlag vor, die gleichzeitig akademischen wie an einem weiteren Publikum orientierten Ansprüchen gerecht wird. Der neben Jan Assmann wohl bekannteste deutsche Ägyptologe Erik Hornung (u.a. „Der Eine und die Vielen. Ägyptische Göttervorstellungen“) wendet sich hier sozusagen der europäischen Seite Ägyptens zu – also der Frage, welches Bild von Ägypten sich die Abendländer über die Jahrhunderte hinweg vom Land der Pharaonen und Pyramiden machten. Es geht ihm dabei nicht in erster Linie um die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft zur ägyptischen Kultur, sondern um das esoterische Bild von Ägypten: Hornung nennt es Ägyptosophie. Es ist die Vorstellung von Ägypten als dem Ursprungsland der Einweihungen, des Geheimwissens und des Gottes Thoth, der im alten Griechenland zum Gott der Magie wurde und unter dem Namen Hermes Trismegestos eine Rolle in der europäischen Geistesgeschichte spielte.

Beim Lesen wird einem schlagartig bewusst, wie sehr ägyptische Überlieferungen und Legenden auf Europa gewirkt haben. Auch wenn natürlich die anderen alten Hochkulturen wie z.B. Babylonien oder China hier genauso rezipiert wurden, hat keine von ihnen die Popularität Ägyptens erreicht – außer vielleicht Indien, das interessanterweise schon bei den Griechen in einem Atemzug mit Ägypten genannt wurde, wenn es um den Ursprung göttlicher Weisheit ging. Ägypten ist demzufolge nicht nur ein exotisches, weit entferntes Land, sondern ein Symbol, das durch eine lange Tradition in Europa heimisch geworden ist.

Für einen renommierten modernen Wissenschaftler wie Hornung ist es ungewöhnlich, dass er dieses esoterische Ägyptenbild nicht etwa verdammt und als bestenfalls kulturgeschichtlich interessante Kuriosität belächelt. Nein – mit Erstaunen liest man Sätze wie den folgenden: „Trotzdem sollte es viel mehr Brücken und weniger Berührungsängste zwischen den Fachwissenschaften und der Esoterik geben, das wäre für beide Seiten fruchtbar.“ (S. 10) Weiterhin wendet sich Hornung deutlich gegen den Elfenbeinturm einer abgeschlossenen Fachwissenschaft. Er sieht es als ein beflügelndes Ziel für den Ägyptologen, an der Verwirklichung einer neuen geistigen Renaissance mitzuschaffen – ein Traum, wie er zugibt, aber kein unmöglicher. Er fordert von der Ägyptologie, dass sie den Kontakt mit der Öffentlichkeit suchen sollte, da Ägypten schließlich anregend auf Kunst, Musik und Alltagskultur gewirkt habe. Der hermetischen Weltsicht, also den sich u.a. auf Ägypten berufenden Weisheitssystemen, spricht er einen wichtigen Beitrag für die Sinngebung in unserer modernen Welt zu.

Den Leser erwartet also ein Buch, das weitgehend vorurteilsfrei mit seinem Thema umgeht. In dieser Hinsicht dürfte es bislang einmalig sein. Hornung kritisiert nur dort, wo sich das esoterische Bild zu sehr von den rekonstruierbaren Fakten entfernt. Ansonsten versucht er in allererster Linie zu verstehen und nachzufühlen. Für den Leser wird das Buch dadurch umso spannender.

Das Werk ist chronologisch aufgebaut, und so beginnt Hornung mit den altägyptischen Wurzeln für das esoterische Ägyptenbild. Dabei erfahren der schon erwähnte Gott Thot und der Mythos vom Weg der Sonnenbarke eine besondere Beachtung, welche ein bestimmendes Element in den Vorstellungen der Ägypter über das Jenseits darstellten. Initiationen in ein geheimes Wissen hat es nach allen bislang gewonnenen Erkenntnissen dort nicht gegeben. Ganz im Gegenteil – der Kult in Ägypten war ein Staatskult und von öffentlichen kollektiven Ritualen geprägt, die auf eine Regeneration der Menschen, auf eine Rückkehr in die Zeit der Mythen und der Schöpfung abzielten. So wurden z.B. der Mythos von Tod und Auferstehung des Gottes Osiris oder das Wiederfinden des Horuskinds durch die Gottesmutter Isis in riesigen Prozessionen dargestellt. Das war kein Theater, sondern wurde als ganz unmittelbare Wirklichkeit empfunden. Eine Einweihung in Mysterien (wie in dem Mysterienkult, der sich auf Isis bezog) hat es erst in griechischer Zeit, während des Hellenismus, gegeben. Die Vorstellung, dass die Menschen aus einem harmonischen paradiesischen Ursprungszustand in den unvollkommenen Zustand der Welt abfielen, gab es allerdings schon im alten Ägypten. Das „Buch von der Himmelskuh“ um 1350 v.Chr. spricht von einem Zusammenleben der Menschen mit den Göttern, das durch eine Empörung der Menschen gegen den Sonnengott beendet wurde. Die Menschen verfielen damit dem Alterungsprozess und dem Tod. In Ägypten liegt also eine der Wurzeln für die späteren gnostischen Vorstellungen.

Im hellenistischen Griechenland brachte man ägyptischer Priesterweisheit sehr viel Ehrfurcht entgegen. Von berühmten Gelehrten wie beispielsweise Pythagoras behauptete man, dass sie bei diesen Priestern in die Lehre gegangen wären. Obwohl die Astrologie nachweislich aus Babylonien stammt, wurde auch ihr ein ägyptischer Ursprung zugewiesen. In Griechenland liegt der Beginn alchemistischer Lehren, in deren Mittelpunkt allerdings der um 300 n. Chr. wirkende Ägypter Zosimos steht.

Hornung beschäftigt sich im folgenden eingehend mit der Gnosis und dem Corpus Hermeticum, einer Schrift, die sich als direkte Offenbarung des Gottes Hermes darstellte. In diesem Zusammenhang taucht auch der Name Imhotep auf, der im populären Bewusstsein heute durch einige Filme mit dem Bild der rachelüsternen lebenden Mumie verbunden wird, in Ägypten und Griechenland aber als Sinnbild des Weisen galt und mit dem griechischen Heilgott Asklepios identifiziert wurde.

Es folgen Kapitel über den Eingang ägyptischer Motive in das Christentum (Jesus wird in koptischen Überlieferungen beispielsweise als Magier betrachtet, der von einem Ägypter diese Kunst erlernt hat), über die Hieroglyphenmystik in der Renaissance und über die ersten Versuche frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit, Ägypten zu deuten. Danach lenkt Hornung den Blick auf die geheimen Bruderschaften, die vom 17. bis ins 20. Jahrhundert hinein entstanden und sich dabei auch von ägyptischer Symbolik bzw. deren Abwandlungen inspirieren ließen. Geradezu als Erben ägyptischer Weisheit traten die ersten Theosophen auf. Helena Blavatsky, Begründerin der Theosophie, sah in den Pyramiden Einweihungsstätten.

Auch für Rudolf Steiner und die Anthroposophie wurde Ägypten wichtig. Steiner schrieb mehrere Mysteriendramen, von denen „Der Seele Erwachen“ Einweihungszenen in einem ägyptischen Tempel vorführt. In Vorträgen lehrte Steiner, dass sich die Ägypter der Mumifizierung bedienten, um die Verstorbenen daran zu hindern, aus der geistigen Welt wieder auf die Erde hinabzusteigen. Bei ihm findet sich auch ein Anklang an den modernen „Fluch der Pharaonen“, da er den Mumien eine Art „Giftatmosphäre“ und magische Drohung zuschrieb, die ihnen eingepflanzt wurde und auch heute noch tödlich wirken könne. Der modische „Mumienkult“ wird ebenfalls in einem eigenen Kapitel beschrieben. Hornung gibt eine Überschau ägyptischer Motive in der modernen Esoterik (z.B. das Tarot, Aleister Crowley, Reinkarnationsvorstellungen) und wirft einen Blick auf die afrozentrische Bewegung, die uralte ägyptische Kultur als Vorläufer einer schwarzafrikanischen Identität instrumentalisieren will.

Das Buch endet mit der Frage, inwieweit Ägypten uns Europäern mit seiner andersartigen Jenseitsvorstellung, seiner auf der Göttin Maat beruhenden pragmatischen Ethik und einem ganzheitlichen Denken, das in der Naturwissenschaft heute ja wieder auftaucht, eine Alternative vor Augen stellen und Impulse für eine neue Kultur geben kann. Man kann nur hoffen, dass Hornungs offener Ansatz in diesem Buch Nachahmer bei seinen Fachkollegen finden wird.

Stoker, Bram – Dracula

Seit dem ersten Erscheinen des Romans 1897 hat „Dracula“ mittlerweile über 100 Jahre Zeit gehabt, um sich einen festen Platz in der heutigen Popkultur zu sichern, was dazu führte, dass Dracula und Vampir synonyme Wörter geworden sind. Zwar gab es bereits vor Stokers Roman Vampirgeschichten und -romane, doch hat keiner je wieder solch umfassende und weitreichende Nachwirkungen gehabt: Unzählige Verfilmungen haben sich Draculas angenommen und ebenso ungezählte nachfolgende Erzählungen und Romane haben versucht, dem Dracula-Stoff neues Leben einzuhauchen. So hat beispielsweise Freda Warrington mit „Dracula kehrt zurück“ eine moderne Fortsetzung geschrieben, die die Reise der Freunde um das Ehepaar Harker nach Transilvanien beschreibt, die am Ende von Stokers Roman erwähnt wird.

Doch worum geht es nun in „Dracula“? Der junge Anwaltsgehilfe Jonathan Harker wird nach Transilvanien geschickt, um dort mit dem Grafen Dracula den Ankauf eines Grundstücks in London abzuschließen. Einmal in dem baufälligen und mit sehr viel gotischer Atmosphäre ausgestattenen Schloss Draculas angekommen, wird Harker mit der Zeit immer misstrauischer gegenüber dem geheimnisvollen und exzentrischen Grafen. Nie sieht er ihn essend, nie sieht er ihn tagsüber und eines Nachts entdeckt er gar, wie Dracula auf allen Vieren die Hauswand hinunterklettert. Bald bestätigen sich Harkers Ängste, denn Dracula reist nach London ab, während er Harker als Gefangenen in seinem Schloss zurücklässt – bewacht von dessen drei Vampirbräuten.

Währenddessen ist Harkers Verlobte Mina zu Besuch bei ihrer reichen Freundin Lucy in der Hafenstadt Whitby. Lucy beginnt, nachts ihre alte Gewohnheit des Schlafwandelns wieder aufzunehmen und Mina ist ständig beschäftigt, sie wieder „einzufangen“. Eines Nachts jedoch entwischt Lucy in diesem Zustand nach draußen und wird von Dracula angegriffen, der zuvor mit dem Schiff in Whitby eingefallen ist. Lucys sich daraufhin rapide verschlechternder gesundheitlicher Zustand ruft eine ganze Schar von Männern auf den Plan (angeführt von ihrem Verlobten Holmwood), die versuchen, die Ursache ihrer Schwäche herauszufinden. Doch auch der eilig herbeigerufene Holländer van Helsing kann Lucys Leben nicht mehr retten. Den Männern bleibt nur, Lucy postmortem zu pfählen und zu köpfen, um zu verhindern, dass sie als Vampir umgeht. Kaum hat die heldenhafte Männerschar Lucy den ewigen Frieden geschenkt, schnappt sich Dracula Mina. Um wenigstens ihr Leben zu retten, müssen die Männer den Grafen bis nach Transilvanien verfolgen, um ihn endgültig unschädlich machen zu können.

Der irische Autor Bram Stoker (eigentlich eher ein Theatermann, da er Agent des damals berühmtesten Shakespeare-Darstellers Henry Irving war) soll sehr pikiert darüber gewesen sein, dass sein „Dracula“ in der Erstausgabe in gelbem Einband erschien – der Farbe, die damals pornographische Literatur kennzeichnete. Tatsächlich lassen sich in „Dracula“ ohne große Mühe vielerlei kaum verhüllte sexuelle Anspielungen finden, denn die wirkliche Gefahr, die von dem Vampir ausgeht ist nicht etwa, dass er seinen Opfern den (Un)Tod bringt. Stattdessen verwandelt er die Frauen, die er anfällt (und als Nahrungsquelle wählt er nur Frauen) von sittsamen und angepassten Frauenzimmern in wolllüstige und laszive Femmes Fatales – eine Tatsache, die im viktorianischen Zeitalter natürlich nicht ungeahndet bleiben darf. Im Schlagabtausch mit van Helsing kämpft Dracula um die Vorherrschaft über die von ihm gebissenen Frauen – und muss in beiden Fällen als Verlierer hervorgehen, damit die westliche, englische Moral am Ende des Romans wieder hergestellt ist.

Nicht unerwähnt darf bleiben, dass „Dracula“ darum wirbt, als authentisches Dokument betrachtet zu werden. Der Roman setzt sich komplett aus Tagebucheintragungen der handelnden Personen, Briefen, Notizen und Zeitungsartikeln zusammen. Somit wird die Geschichte von multiplen Erzählern vorgetragen, der einzige, der vollkommen stumm bleibt, ist der Titelheld selbst. Dracula erscheint immer nur gefiltert durch die Sichtweise eines der Protagonisten. Dabei schildert ihn Harker im ersten, in Transilvanien spielenden, Teil des Romans am eindrucksvollsten. Dracula agiert hier vor unterschiedlichen gotischen Kulissen – düsteren Wäldern, dem monströsen Schloss, den heulenden Wölfen und immer wieder in Beziehung zum Mond. Stokers Landschaftsbeschreibungen setzen die Stimmung für das gesamte Buch und das, obwohl er Transilvanien nie gesehen hat. In den Jahren, die er an „Dracula“ gearbeitet hat, verfiel er von seinem ursprünglichen Schauplatz, der Steiermark, auf Transilvanien als Heimat des Vampirs, als er alte Dokumente über Vlad Dracula fand. Bis dahin sollte sein Roman einfach „The Un-Dead“ heißen, doch Dracula war schon als historische Persönlichkeit so eindrucksvoll, dass sie leicht als Titelheld herhalten konnte. Vergleicht man Stokers Beschreibung Draculas mit den Gemälden, die von Vlad Dracula bekannt sind, so wird man eine frappierende Ähnlichkeit ohne weiteres feststellen können.

Wirklich fürchten wird sich ein heutiger Leser bei der Lektüre wohl nicht mehr. Zu bekannt ist dafür die Mähr vom Vampir und wie man ihn besiegen kann, sodass man van Helsing und seinen Mannen unter Umständen zurufen möchte: „Seht doch hin! Ein Vampir!“ Trotzdem lohnt es sich auch heute noch, den Roman zur Hand zu nehmen, denn selten hat man einen so eindrücklichen Bösewicht wie hier gesehen – und das, obwohl Dracula selbst hauptsächlich durch Abwesenheit glänzt. Doch sein Schatten hängt unmissverständlich über der gesamten Erzählung, wie es der Titel ja auch verspricht. Wer also auch nur das geringste Interesse an Horror hat, der sollte „Dracula“ zur Hand nehmen. Ohne ihn ist die gesamte folgende Vampirliteratur nicht denkbar; ganz abgesehen von dem Genre des Vampirfilms, das sein ganz eigenes Dracula-Bild entwickelt hat (entweder Bela Lugosi mit Theatercape oder Christopher Lee mit blutroten Augen). Van Helsings wilde Jagd auf den untoten Grafen wirkt auch heute noch faszinierend und lohnt damit unbedingt die Lektüre!

|Siehe ergänzend dazu auch:|
Michael Matzers [Rezension 3489 anhand der Hörspielfassung von |Titania Medien|
Michaela Dittrichs [Rezension]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=622 der Hörspielfassung des |Hörverlags|

Umberto Eco – Das Foucaultsche Pendel

Umberto Eco (*05.01.1932), piemontesischer Professor der Semiotik, dürfte den meisten Lesern durch „Baudolino“ und „Der Name der Rose“ bekannt sein. Letzteres wurde bereits mit Sir Sean Connery, F. Murray Abraham und Christian Slater verfilmt, mit etwas anders gesetzten Schwerpunkten.

„Das Foucaultsche Pendel“ hat ebenfalls einen Bezug zum Mittelalter, allerdings ist es anders aufgebaut: Ein vermeintlicher Geheimplan zur Weltbeherrschung der Tempelritter wird hier von drei Mailänder Verlagslektoren in den Siebzigerjahren aufgedeckt – und nahezu alle bekannten Verschwörungstheorien in diesen ominösen, großen Geheimplan eingewoben.

Die Handlung

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Eckart Peterich, Pierre Grimal – Götter und Helden

Der Kunsthistoriker und bekannte Reiseschriftsteller („Rom“) Eckart Peterich sowie der Altphilologe Pierre Grimal lassen in diesem Buch die Vorstellungen dreier antiker Völker wieder lebendig werden: Peterich schreibt über Götter und Helden der Griechen und Germanen, während Grimal die Entwicklung der römischen Sagenwelt nachzuzeichnen versucht. Die Kapitel sind kurz und knapp gehalten, aber anschaulich, ja unterhaltsam geschrieben. Archaisierungen werden im Stil dabei ebenso vermieden wie Ironie oder aufgesetzte Peppigkeit.

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Mankell, Henning – Hunde von Riga

Neun Bände umfasst inzwischen die Krimiserie um Kurt Wallander, dem dauer-Kaffee-trinkenden schwedischen Polizisten, dessen Erfolg mit dem „Mörder ohne Gesicht“ begann. Laut seinem Schöpfer, Henning Mankell, ist damit das Ende der Serie beschlossen, allerdings scheint Wallanders Tochter Linda in seine Fußstapfen treten zu wollen, wie der neueste Krimi „Vor dem Frost“ vermuten lässt..
Mankell, geboren 1948 in Härjedalen, Nordschweden, geht mit 17 Jahren nach Stockholm und lernt dort am Riks-Theater Regie führen. Kurz darauf beginnt er zunächst über gesellschaftliche und politische Themen zu schreiben. Nach einer Afrikareise, 1972, widmet er seine nächsten Werke den Themen Arbeiterbewegung, Imperialismus und Klassenkampf. Sein erster Roman „Das Gefangenenlager, das verschwand“ erscheint 1979.
Mankell teilt sein Leben zwischen Afrika und Schweden auf; in Afrika unterstützt er den Aufbau eines Theaters und engagiert sich mit der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“, in Schweden arbeitet er als Schriftsteller und in verschiedenen Theatern als Intendant und Regisseur.

Nun liegt mir mit „Hunde von Riga“ der zweite Wallander-Roman vor, ein Buch, das sich ebenfalls deutlich dem politischen Thema widmet. Geschrieben 1992, führt Mankell sich die schwierige Situation der östlichen Länder zu Gemüte, im Besonderen jene von dem immer noch unter sowjetischen Einfluss stehenden Lettland. Kurt Wallander taucht dort in ein Nest von Verschwörung, Korruption und Armut ein, das er nur schwer begreifen kann.
Beginn ist das Auftauchen eines Rettungsbootes am schwedischen Strand, das zwei Leichen und unzählige Fragen mit sich bringt, zumal ein anonymer Anrufer dieses Geschehen voraus gesagt hatte. Die Männer wurden gefoltert und hingerichtet, dies ist Wallander schnell klar, doch die Identität bleibt ein völliges Rätsel. Immerhin ergibt die Obduktion, dass es sich nicht um Schweden, sondern wahrscheinlich um Russen handelt, und das Boot wird als ein jugoslawisches Exemplar erkannt, was die Einmischung des Außenministeriums zur Folge hat. Dieses nimmt Kontakt mit der baltischen und der sowjetischen Polizei auf, und tatsächlich wird mit einem Anruf von Major Liepa aus Riga, Lettland, die Identitäten der Männer aufgedeckt, allerdings bleibt das Mordmotiv weiterhin unbekannt.
Major Liepa fliegt in Schweden ein, um Wallander bei den Ermittlungen behilflich zu sein. Wallander, dessen politisches Wissen in Bezug auf Lettland und Sowjetunion alles andere als ausreichend ist, lernt durch Liepa den Freiheitsdrang der Letten näher kennen. Schon nach kurzer Zeit empfindet er einen tiefen Respekt für seinen lettischen Kollegen und dessen Arbeitsweise. Dann wird der Fall nach Riga abgegeben und für Wallander scheint dies das Ende der Ermittlungen zu sein, worüber er nicht gerade unzufrieden ist.
Als ihn die Nachricht erreicht, dass Major Liepa am Tag seiner Rückkehr ermordet wurde, wird er nach Riga gerufen, um Liepas Vorgesetzten bei der Aufklärung zu helfen. Doch Ungereimtheiten fallen ihm ins Auge: der Tatort wurde unzulänglich untersucht, es gibt keine schriftlichen Berichte vom Major über seine Arbeit in Schweden, Wallander selbst wird beschattet und abgehört.
Als die Ehefrau des Majors heimlich Kontakt mit ihm aufnimmt und ihm anvertraut, dass der Major einer Gruppe angehörte, die für die Freiheit und Unabhängigkeit Lettlands kämpft, und dass sie einen der Vorgesetzten von Liepa des Mordes an dem Major verdächtigen, wird Wallander langsam klar, in welchen gefährlichen, fast überkochenden Kessel er da geraten ist.

Aus der Sicht eines unwissenden, alternden Polizisten zeichnet Mankell mit genauem, stechendem Blick ein Horrorszenarium, das unter die Haut geht. „Hunde von Riga“ ist sowohl ein spannender Krimi als auch der Versuch, die politische und menschliche Situation eines Landes zu verstehen, das durch die Besetzung mit russischen Truppen seiner Unabhängigkeit beraubt wurde und nun die Chance sieht, diese wieder herstellen zu können. Eine Zeit des Umbruchs und eines drohenden Bürgerkrieges, in der die Mafia, korrupte Polizisten und Drogenhandel eine bedeutende Rolle spielen.
Mankell lässt seine Charaktere wie guten Wein geduldig reifen, gibt jedem eine kleine, persönliche Note und erzählt in einfachen, deutlichen und fesselnden Worten die Geschichte eines Mannes, der seines Berufes überdrüssig ist, aber einfach nicht aufhören kann, der seine Tochter viel zu selten sieht, der große Probleme mit seinem Vater hat und der sich in eine Frau verliebt, für die er selbst seine Existenz aufs Spiel setzt, obwohl ein Zusammensein unerreichbar scheint.
Unglaubliche Spannung, eine teilweise schwermütige Atmosphäre und eine bewundernswerte, erzählerische Intensität katapultierten dieses Buch berechtigterweise in die Bestsellerlisten und bei mir in die Favoritenabteilung. Ein unbedingtes und ohne Diskussion notwendiges Muss für alle Krimileser!

Leseprobe:
„Obwohl es mitten am Tag war, befanden sich nicht viele Menschen auf der Straße. Wallander näherte sich langsam dem Haus, das Major Liepa an jenem Abend verlassen hatte, als er zu seinem letzten Spaziergang aufbrach. Ihm fiel ein, dass Rydberg einmal gesagt hatte, ein Polizist müsse manchmal wie ein Schauspieler sein und das Unbekannte mit Einfühlungsvermögen erkunden. Einem Täter oder Opfer unter die Haut kriechen, sich Gedanken und Reaktionen vorstellen. Wallander ging zur Eingangstür und öffnete sie. Im Treppenhaus war es dunkel und ein beißender Uringestank schlug ihm entgegen. Er ließ die Tür los, die sich mit einem schwachen Knacken fast lautlos wieder schloss.
Woher die Eingebung kam, konnte er nicht sagen. Aber als er dort stand und in das dunkle Treppenhaus starrte, schien er plötzlich deutlich vor sich zu sehen, wie alles zusammen hing. Ein kurz aufflackerndes Bild, das unmittelbar darauf wieder erlosch. Es war entscheidend, dass er sich an alle Einzelheiten erinnerte. Es muss vorher schon etwas geschehen sein, fuhr es ihm durch den Kopf. Als Major Liepa nach Schweden kam, war bereits viel passiert. Das Rettungsboot, das Witwe Forsell bei dem Mossby-Strand entdeckt hatte, war nur Teil eines Ganzen, dem Major Liepa auf die Spur gekommen war. Das war es, was Upitis wissen wollte, als er seine Fragen stellte. Hatte Major Liepa sich ihm anvertraut, hatte er darüber gesprochen, dass er von einem Verbrechen in seiner Heimat etwas wusste oder ahnte? Wallander wurde schlagartig klar, dass er bisher einen Gedankenschritt übersprungen hatte, den er schon früher hätte erkennen müssen. Wenn Upitis mit seiner Vermutung Recht hatte, dass Major Liepa von jemandem aus seinen eigenen Reihen verraten worden war, vielleicht von Oberst Murniers, lag es dann nicht auf der Hand, dass sich außer Upitis noch andere Leute dieselbe Frage stellten? Was weiß eigentlich der schwedische Polizist Kurt Wallander? War es möglich, dass Major Liepa ihm etwas anvertraut hatte?
Wallander wusste jetzt, dass die Angst, die er in Riga schon mehrmals verspürt hatte, ein Warnsignal gewesen war. Vielleicht sollte er wachsamer sein als bisher? Es bestand kein Zweifel, dass die Verantwortlichen für die Morde an den Männern im Rettungsboot und an Major Liepa nicht zögern würden, noch einmal zu töten.“

Homepage von „Kurt Wallander“: http://www.wallander-web.de

Michaela Diers (Hrsg.) – Mystik

Ein Lesebuch für Nachdenkliche

Mystik ist in unserer Zeit ein schwer fassbarer Begriff, der nur allzu oft mit abgehobenen Phantastereien und Wundern einer transzendierten, weltscheuen Esoterikelite in einen Kontext gebracht wird. Dass hier ein deutliches Missverständnis durch Unkenntnis der eigentlichen Materie vorliegt, macht Michaela Diers, Herausgeberin des Buches „Mystik“, in ihrer stimmungsvollen Einleitung deutlich, mit der die Problembereiche und das Fundamentale des Mystikbegriffes mit klaren, wohlgesetzten Worten zum Punkt gebracht werden und welche den Leser wunderbar auf das Nachfolgende einzustimmen vermag.

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Michels, Ulrich – dtv-Atlas Musik Band 1

_Band 1: Systematischer Teil / Musikgeschichte von den Anfängen bis zur Renaissance_

Aus der Reihe der beliebten dtv-Atlanten zählt das zweibändige Werk „Musik“ nun bereits seit 25 Jahren zu den festen Größen der musiktheoretischen Veröffentlichungen (Band 1 seit 1977, Band 2 seit 1985; in 14 Sprachen erschienen). Auf insgesamt 600 klein gedruckten Seiten in vom dtv gewohnter ausgezeichneter Papier- und Druckqualität wird ein zwar komprimierter und knapp gefasster, aber gerade dadurch sehr umfassender Rundumschlag mit Überblicken zum systematischen / musiktheoretischen und musikgeschichtlichen Wissen geboten. Jede Themenseite gliedert sich in den eigentlichen, stets gut lesbar strukturierten Sachtext zur rechten und durchgehend mehrfarbige begleitende und gut veranschaulichende Grafiken – mit viel Sorgfalt erstellt und von hohem didaktischen Nutzwert – zur linken Buchseite.

Zwar können die beiden Bände dank eines sehr detaillierten Personen- und Sachregisters als Nachschlagewerk verwendet werden, lassen sich vom eigentlichen Aufbau her aber besonders gut durchgehend lesen, da sie nicht lexikalisch, sondern thematisch aufbauend gegliedert und nicht in Stichpunkten, sondern als zusammenhängende Texte abgefasst wurden. Der systematische Teil im ersten Band umfasst dabei alles Grundsätzliche zur Musik, angefangen bei Akustik, Gehör- und Stimmphysiologie, Hörpsychologie (also physikalischen, biologischen und psychologischen Voraussetzungen) über Instrumentenkunde (die von simplen Schlaginstrumenten alter Zeit bis hin zu elektronischen Klangerzeugern der Neuzeit reicht) und die besonders wesentliche Musiklehre bis hin zu einer Darstellung klassischer Gattungen und Formen der Musik. Aufgrund der Komprimierung ist dieser nicht immer einfache Teil natürlich vor allem für einen Überblick oder zur Auffrischung und Vertiefung durch den musikalisch bereits Vorgebildeten geeignet und kann den interessierten Laien nicht so gut in die Thematik einführen wie ein ausführlicherer Text zur Sache.
Der musikhistorische Teil beginnt in Band 1 bereits mit der Altsteinzeit, geht dann über die antiken Hochkulturen und das Mittelalter zur Renaissance. In Band 2 wird dies dann von Barock bis zur heutigen Zeit noch ausführlicher dargelegt, da natürlich mehr Informationen zur Verfügung stehen. Dabei wird die Musik immer im gesellschaftlichen Kontext analysiert und Einflüsse von Weltanschauung, Spiritualität, Riten, Kultur übergreifender gegenseitiger ‚Befruchtung’ betrachtet. Man beschränkt sich hierbei allerdings nicht auf eine rein geschichtliche Darstellung, sondern bleibt parallel dazu in einem systematischen Kontext, der die besonderen Strukturen, Instrumente, Gattungen der Musik innerhalb der jeweiligen Entwicklungsepoche beachtet. Durch diese dialektische Herangehensweise, zusammen mit der Möglichkeit, Details im vorhergehenden systematischen Teil nachzuschlagen, lässt sich der musikhistorische Part sehr gut lesen und hat einiges Interessantes zu bieten.

Ein kritischer Punkt sei jedoch bei aller Güte der Arbeit erwähnt: Inzwischen wäre es an der Zeit, die Reihe um einen dritten Band zu erweitern, der sich eingehender mit der Moderne befasst, zumindest mit Jazz, Blues und Rock und ihren Variationen und Entwicklungen. Zwar werden beispielsweise dem Jazz und der elektronischen Musik Raum zugestanden, aber die Ausführlichkeit lässt trotz des knappen Grundaufbaus noch zu wünschen übrig, und modernere Entwicklungen (es sei hier nur der neoklassische und progressive Rockbereich erwähnt) fehlen gänzlich, obwohl das 20. Jahrhundert sicherlich ausreichend Ansatzpunkte für theoretische und historische Betrachtungen bietet und das Interesse seitens der Leserschaft an einer solchen Erweiterung gegeben sein dürfte.

Ob man nun gezielt bestimmte Themen nachlesen möchte, die Bände als Nachschlagewerk Verwendung finden oder man sich die Muße nimmt, das gesamte Buch aus Interessenneigung und Gründen der Weiterbildung in Gänze zu lesen – die beiden dtv-Atlanten zur Musik kann ich jedem fachlich musikalisch Interessierten nur zur Aufnahme in die eigenen Buchbestände empfehlen.

Ulrich Michels – dtv-Atlas Musik (Band 2)

Band 2: Musikgeschichte vom Barock bis zur Gegenwart

Aus Gründen der Zweckmäßigkeit ist nachfolgend die gleiche Textbeschreibung zu finden wie bereits zu Band 1.

Aus der Reihe der beliebten dtv-Atlanten zählt das zweibändige Werk „Musik“ nun bereits seit 25 Jahren zu den festen Größen der musiktheoretischen Veröffentlichungen (Band 1 seit 1977, Band 2 seit 1985; in 14 Sprachen erschienen). Auf insgesamt 600 klein gedruckten Seiten in vom dtv gewohnter ausgezeichneter Papier- und Druckqualität wird ein zwar komprimierter und knapp gefasster, aber gerade dadurch sehr umfassender Rundumschlag mit Überblicken zum systematischen / musiktheoretischen und musikgeschichtlichen Wissen geboten. Jede Themenseite gliedert sich in den eigentlichen, stets gut lesbar strukturierten Sachtext zur rechten und durchgehend mehrfarbige begleitende und gut veranschaulichende Grafiken – mit viel Sorgfalt erstellt und von hohem didaktischen Nutzwert – zur linken Buchseite.

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