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Heitz, Markus – Vampire! Vampire!
Markus Heitz, seines Zeichens deutscher Fantasy-Autor, hat ein Sachbuch geschrieben. Seine „Entschuldigung“ für diesen Tatbestand ist seine Neugierde, immer wieder neue Genres auszuprobieren: „Es wurde Zeit für ein Lach- und Sachbuch!“, findet Heitz zu Beginn, und welches Thema wäre für einen Autor von Heitz‘ Kaliber wohl passender als Vampire? Dabei muss allerdings angemerkt werden, dass sowohl der Untertitel des Buchs (nämlich „Alles über Blutsauger“) als auch die Zusammenfassung auf dem Buchrücken („Alles, was man über die unheimlichsten Geschöpfe der Menschheitsgeschichte wissen muss“) Superlative bemühen, denen das Buch keineswegs gerecht wird. Heitz hat nicht das ultimative Buch über Vampire geschrieben und er liefert längst nicht alles, was man über sie wissen muss – mit gerade 200 Seiten wäre das nicht gerade viel. Stattdessen steckt sich Heitz ein sehr enges Betätigungsfeld ab: Als studierter Historiker interessiert er sich besonders für die Geburtsstunde des europäischen Vampirmythos. Und die liegt im 18. Jahrhundert in Osteuropa.
Dort nämlich, in den Dörfern Medvegia und Kisolova, trugen sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wahre Vampirplagen zu. Diese gingen jeweils – wie bei einer Seuche – von einer Person aus, die starb und dann zahlreiche Dorfbewohner mit sich ins Grab zog. So wurde zunächst die Familie oder die Witwe des Verstorbenen krank und starb, dann weitere Dorfbewohner. Das alles geschah in relativ kurzen Zeitabständen, die Betroffenen waren also kurzzeitig krank (ausgezehrt), bevor sie dann starben. Das Besondere an diesen Fällen ist, dass sie durch offizielle Schriften dokumentiert sind. So wurden Mediziner und Beamte in die Gebiete geschickt, die Rechenschaft über die Begebenheiten ablegen und die Plage beenden sollten.
Die Toten wurden exhumiert, wobei man feststellte, dass sie nicht verwest waren – stattdessen sahen sie rosig und lebendig aus, während Haare und Nägel weiterwuchsen. Als letztes Mittel trieb man ihnen einen Pflock ins Herz oder enthauptete sie.
Dies alles schildert Heitz sehr ausführlich, auch mit Hilfe von Originaldokumenten (in deren gezwirbelte Sprache man sich jedoch erst einmal einfinden muss). Dabei bleibt er immer unterhaltsam, wird nie zu trocken oder langatmig. Und auch wenn sein Stil manchmal etwas ins Klamottige und Sinnfreie abdriftet, z. B. wenn er sich fragt, ob die Kosmetikindustrie im Dienste der Vampire steht, so sind seine Fakten trotzdem immer fundiert und belegbar. Das macht sein Buch zu einem guten Einstieg für alle, die sich für Vampire interessieren und die auf der Suche nach einem kurzweiligen, aber trotzdem vertrauenswürdigen Führer sind.
Nachdem sich Heitz ausführlich den historischen Begebenheiten in Medvegia und Kisolova gewidmet hat, wendet er sich dem daraus entstehenden medizinischen, philosophischen und religiösen Diskurs zum Thema Vampir in westeuropäischen Medien zwischen den Jahren 1730 und 1800 zu. Denn dadurch, dass die Ereignisse in den beiden Dörfern in Serbien so gut dokumentiert waren, wurden auch Wissenschaftler, Journalisten und mit ihnen die europäische Allgemeinheit auf das Phänomen aufmerksam. Man fragte sich, ob Vampire existieren, wie sie zu vernichten seien, oder ob es sich bloß um abergläubische Einbildung hinterwäldlerischer Dorfbewohner handelte. Diese Diskussion lief über mehrere Jahre, bis das Interesse schließlich abflaute bzw. stattdessen in der „Erfindung“ des literarischen Vampirs mündete.
Heitz‘ Buch könnte man als Grundkurs für all jene bezeichnen, die Vampire nur aus einschlägigen Serien, Filmen oder Romanen kennen. All diese modernen Vampire fußen letztendlich auf den Begebenheiten in Medvegia und Kisolova, da diese den Vampir in den Fokus des europäischen Interesses hoben. Und die Geschichten, Novellen und Romane, die darauf folgten, beeinflussen noch heute Autoren in aller Welt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Heitz von Zeit zu Zeit die Überraschung seines unbedarften Lesers ob seiner Rechercheergebnisse teilt. Der Aha-Effekt stellt sich selbstverständlich nur bei ganz Unbeleckten ein. Alle, die schon einmal vampirische Sekundärliteratur in der Hand gehabt haben, werden in Heitz‘ Buch hauptsächlich Bekanntes rekapituliert sehen.
Was fehlt – und die Frage brennt dem Leser eigentlich ständig auf den Lippen -, ist eine aus heutiger Sicht geprägte Erklärung für die Vorfälle aus dem 18. Jahrhundert. Wie konnte es dazu kommen? Handelte es sich tatsächlich um Vampire? Gibt es eine natürliche Erklärung? Zwar streift Heitz das Themengebiet kurz (Stichwort: Porphyrie), doch fehlt vieles, was hier hätte erwähnt werden müssen. Das ist ein Defizit, gerade, weil es sich um ein verwandtes Themengebiet handelt.
Etwas merkwürdig mutet Heitz Fixierung auf Verschwörungstheoretiker an. Stets und ständig vermutet er hinter bestimmten Fakten eine Verschwörung der Vampire. Man fragt sich zwangsläufig, woher diese Idee stammt und was er seinem Leser damit eigentlich sagen will. Zumindest läuft sich der Witz relativ schnell tot und nervt danach nur noch. Ebenso ergeht es der wiederholten Erwähnung seines Vampirromans [„Die Kinder des Judas“. 4306 „Vampire! Vampire!“ ist offenbar das Ergebnis der Recherche, die er für „Die Kinder des Judas“ angestellt hat. Trotzdem erscheint es als billiger Werbetrick, das eine Buch im anderen ständig zu erwähnen und Bezüge herzustellen, offensichtlich nur, um den Leser in den nächsten Buchladen zu treiben.
Es ist ein wenig seltsam, dass der Schriftsteller Heitz sich so offensichtlich gar nicht für den literarischen Vampir interessiert. Wichtige Namen wie Byron, Polidori oder LeFanu (geschweige denn die Namen zeitgenössischer Autoren) fallen gar nicht, und auch für denn Gottvater der Vampire, nämlich Bram Stokers [„Dracula“, 210 hat Heitz nur eine uninspirierte Seite im Abschlusskapitel übrig. Aber wer weiß, vielleicht ist Heitz hier ja so kurz angebunden, weil er eine Fortsetzung seines Sachbuchs plant?
Trotzdem: Heitz arbeitet sich an seinem Thema mit Erfolg ab und liefert viel Wissenswertes. Allen, die danach Blut geleckt haben (im wahrsten Sinne), wird am Ende des Buches noch eine umfangreiche Bibliographie an die Hand gegeben. Doch Vorsicht: Fast alles davon befasst sich ebenfalls mit dem historischen Aspekt des Vampirmythos. Wer nach der Lektüre von Heitz‘ Buch in andere Richtungen weiterlesen will (literarisch, kulturwissenschaftlich, sozialwissenschaftlich, philosophisch, psychologisch), der muss sich anderweitig umsehen und sich z. B. vertrauensvoll in die Hände von Norbert Borrmann begeben, der mit „Vampirismus oder die Sehnsucht nach der Unsterblichkeit“ wohl den ultimativen Rundumschlag zum Thema Vampir veröffentlicht hat.
|220 Seiten, kartoniert
ISBN-13: 978-3-492-29181-1|
http://www.piper-verlag.de
_Markus Heitz auf |Buchwurm.info|:_
[Interview mit Markus Heitz]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=56
[„Ritus“ 2351 (Buch)
[„Ritus“ 3245 (Hörbuch)
[„Sanctum“ 2875 (Buch)
[„Sanctum“ 4143 (Hörbuch)
[„Blutportale“ 5528
[„Die Mächte des Feuers“ 2997
[„Die Mächte des Feuers“ 4655 (Hörbuch)
[„Kinder des Judas“ 4306
[„Die Zwerge“ 2823
[„Die Zwerge“ 2941 (Hörbuch)
[„Die Rache der Zwerge“ 1958
[„Der Krieg der Zwerge“ 3074
[„Schatten über Ulldart“ 381 (Die Dunkle Zeit 1)
[„Trügerischer Friede“ 1732 (Ulldart – Zeit des Neuen 1)
[„05:58“ 1056 (Shadowrun)
[„Die dritte Expedition“ 2098
Garlick, Mark A. – große Weltraum-Atlas, Der
_Preisgünstiger, farbenprächtiger Blick ins All_
Wie ist unser Sonnensystem entstanden und was wissen wir heute über das Universum? Welche Sternbilder kann ich am Himmel sehen und gibt es Leben auf anderen Planeten? „Der große Weltraum-Atlas“ soll Licht in diese Geheimnisse des Universums bringen und lädt auf eine spannende Entdeckungsreise ein. Er soll ein umfassendes Nachschlagewerk für alle sein, die sich für Schwarze Löcher, Raumsonden, Mondlandungen und die Weiten des Alls interessieren. Dabei setzt das großformatige Werk vor allem auf visuelle Präsentation, die das Verständnis erleichtern soll: 800 Fotos, Abbildungen sowie Sternkarten bieten eine Fülle von Informationen.
_Der Autor_
Mark A. Garlick ist Doktor der Astrophysik und war mehrere Jahre lang in der Forschung tätig. Heute ist er freischaffender Autor mit dem Spezialgebiet Astronomie und einer der ganz wenigen und herausragenden Illustratoren auf diesem Gebiet. Sein fachlicher Berater heißt übrigens Dr. John O’Byrne.
_Inhalte_
Das Buch ist in vier Abschnitte eingeteilt:
1) Das Sonnensystem
2) Das Universum
3) Himmelsbeobachtung
4) Erforschung des Weltalls
Die Abschnitte 1 und 2 präsentieren die passive Beschreibung, die Abschnitte 3 und 4 aber die aktive Beobachtung und Erforschung. Diese Einteilung lässt sich leicht nachvollziehen. Aber wie sieht sie im Einzelnen aus?
|Abschnitt 1: Das Sonnensystem|
Unser Sonnensystem besteht nicht nur aus den bekannten Planeten, ihren Monden und der Sonne. Nein, es kommen auch der Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter sowie der Kuiper-Gürtel jenseits des Neptun hinzu. Sehr gut fand ich hier, wie die einzelnen Planeten und Monde (manche Jupiter- und Saturnmonde sind Miniatur-Erden) mit Fotomaterial dargestellt werden, insbesondere auch Fotos von der Rückseite des Mondes, die nur Sonden zu sehen bekommen. Überall sind die Landungsstellen von Sonden eingetragen.
Zu jedem Planeten gibt es auch ein Bild von einer mythologischen Figur, die dem Planeten ihren Namen lieh: Neptun, Jupiter, Mars, Merkus, Venus, Saturn, Uranus, Pluto. Doch was ist mit der Erde und dem Mond? Der Mond ist Diana bzw. Selene zugeordnet, der Mondgöttin, die Erde einer sumerischen Erdgöttin. Man könnte sie auch Gaia oder Gäa nennen. Etwas zweifelhaft fand ich jedoch, dass der Sonne Apollo zugeordnet wurde. Er ist zwar der Lichtgott der Griechen gewesen, aber die Sonne verkörperte der Gott Helios, wie man bei Homer nachlesen kann.
Die Kometen, Meteore, Meteorschwärme und Kleinplaneten kommen nicht aus dem Inneren und Äußeren Sonnensystem, sondern aus der Oortschen Wolke, die das Sonnensystem wie eine Kugel umschließt. Kometen (von griech. „koma“: Haar) und Meteorschwärme nähern sich der Sonne und somit der Erde mitunter stark an, verglühen aber in der Regel in der Atmosphäre. Das Buch sagt ganz allgemein, dass Kometen aus Eis und Gestein bestehen, Meteore aber nur aus Gestein, z. B. Nickeleisen. Zu den Zwergplaneten zählt inzwischen auch Pluto.
Zum Inneren und Äußeren Sonnensystem findet sich je eine Doppelseite mit Übersichten, Zusammenfassungen, wichtigen Zahlen, Rekorden und diversen Ereignissen wie etwa Landungen. Auch die Geschichte der Entdeckungen ist kurz zusammengefasst.
|Abschnitt 2: Das Universum|
Im Sonnensystem finden sich nicht die einzigen Planeten des Weltalls. Eine Doppelseite listet Planeten in anderen Sternsystemen auf, und das sind schon eine ganze Menge. Einige der schönsten Fotos, die das Hubble-Teleskop geschossen hat, sind die von Nebeln, wie etwa vom Pferdekopfnebel. Wunderbar dreidimensional sind Gaskaskaden herausgearbeitet.
Unter den Sternen ist Sol nicht der größte. Es gibt Sterne wie Rigel, der 50-mal so groß ist und 40.000 Mal heller strahlt: ein Blauer Überriese. Der Rote Überriese Antares ist 700-mal so groß wie Sol. Die Übersicht macht die Größenverhältnisse sinnfällig deutlich. Auch das Leben eines Sterns bis zu seinem Tod wird erläutert. Nach den Veränderlichen Sternen sind die Supernovas dran, die zu den spektakulärsten Objekten in der Radioteleskopie zählen. Die Supernova des Krebsnebels wurde 1054 von den Chinesen beobachtet. Entstehung, Verlauf und Folgen einer Sternexplosion werden leider nur sehr knapp erklärt.
Die Einheiten werden größer. Man unterscheidet Offene Sternhaufen, die in den Spiralarmen der Galaxien vorkommen, und Kugelsternhaufen, die außerhalb der Galaxie zu finden sind und ihren Halo bilden. Nach einer weiteren Seite mit Übersichten und Zusammenfassungen findet man folgerichtig Darstellungen unserer Milchstraße und anderer Galaxien. Dass diese nicht immer spiralförmig oder elliptisch sein müssen, hat mich überrascht. Es gibt auch „irreguläre“ und Zwerggalaxien.
Witziges Szenario: In etwa drei Milliarden Jahren wird unsere Milchstraße mit der Andromeda-Galaxie (M31) kollidieren. Galaxien lassen sich wie Sterne zu Galaxiehaufen zusammenfassen, auch zu Superhaufen. Zu unserer lokalen Gruppe zählen mindestens 45 Galaxien.
Recht theoretisch und spekulativ sind die Darstellungen von Schwarzen Löchern und dem Urknall des Universums. Es ist verständlich, dass über die Dunkle Materie, die sechsmal mehr Masse ausmacht als die sichtbare, nur auf der Übersichtsseite etwas zu finden ist – ein paar Zeilen. Ebenso kurz ist die Bemerkung über die Dunkle Energie, von der man noch weniger weiß. Sie wirkt der Schwerkraft entgegen und beschleunigt die Ausdehnung des Universums. Es muss sie geben, sonst würde das Weltall wieder zu einer Singularität zusammenstürzen und erneut einen Urknall hervorbringen (pulsierendes Universum). Tatsache ist aber, dass es sich pausenlos ausdehnt.
|Abschnitt 3: Himmelsbeobachtung|
Von den fernsten Dingen zu den nächstliegenden: Fernrohren. Mit diesem scheinbar einfachen optischen Gerät lassen sich immer noch spektakuläre Entdeckungen machen, so etwa 1997 den Kometen Hyakutake. Für die Beobachtung von Mond und Sonne gibt das Buch Tipps und im Falle einer Sonnenfinsternis auch Tipps für Vorsichtsmaßnahmen, damit der Beobachter nicht erblindet.
Die Beobachtung der Planeten ist etwas kniffliger, weil sie kleiner sind. Aber da sie geordneten Bahnen folgen, kann man mit bloßem Auge ohne weiteres fünf Planeten entdecken, mit einem guten Fernrohr sogar sieben sowie die Jupitermonde. Reizvoller noch finde ich die Sternbilder. Die zwölf Tierkreiszeichen sind zu finden und je nach nördlicher oder südlicher Hemisphäre auch etliche weitere. Es gab Zeiten, in denen weitere Sternbilder erfunden wurden. Und je nach Kultur werden sie auch anders bezeichnet; im Großen Wagen sahen die Sioux beispielsweise ein Stinktier. Die Konstellationen verändern ihre Form, weil die Teilsterne sich weiterbewegen.
Weitere Seiten erklären dem angehenden Pfadfinder, wie man Süden und Norden erkennt, um sich bei Nacht zu orientieren. Das ist beim Südpol schwierig, denn er ist nicht mit einem Stern wie dem nördlichen Polarstern verbunden, sondern liegt irgendwo im Nichts. Wie man Sternkarten liest, fand ich ebenfalls interessant. Gigantische Karten stellen die Sterne dar, die zu den vier Jahreszeiten im Norden bzw. dem Süden zu sehen sind: acht Doppelseiten!
|Abschnitt 4: Erforschung des Weltalls|
Die Erforschung begann mit den ersten Beobachtungseinrichtungen. Interessant ist, dass auch Stonehenge als eine Art Observatorium aufgezählt wird. Natürlich haben auch Hochkulturen wie Babylonien, Ägypten und China erste Astronomiedaten gesammelt. In Mesopotamien wurde immerhin die Mathematik entwickelt. Leider fehlt die Himmelsscheibe aus dem deutschen Ort Nebra.
Das Weltall wurde in der Renaissance und Neuzeit anders betrachtet als im Mittelalter: Große Astronomen wie Kopernikus, Galilei halfen, aus dem geozentrischen ein heliozentrisches Sonnensystem zu machen. Statt Johannes Kepler wird der kupfernasige Däne Tycho Brahe aufgezählt (obwohl der dem heliozentrischen Weltbild deutlich misstraute). Die Reihe endet mit Newton, was ich etwas unfair finde.
Mit Riesenschritten geht es mit Hilfe von Sonden und diversen Großteleskopen immer weiter hinaus in die Tiefen des Alls. Doch bis zu den ersten Spaziergängen im All und auf dem Mond dauert es noch eine Weile. Raumsonden sind der verlängerte Arm des Menschen, um das All zu erkunden. Dass das Buch vor dem Januar 2008 entstand, lässt sich an den Startterminen für die nächsten Sonden ablesen, die ab 1/08 alle in der Zukunft liegen.
Sind wir allein im All? Diese Frage beschäftigt uns nach wie vor. Schiaparelli fand „Kanäle“ auf dem Mars und zeichnete eine recht kuriose Karte. Programme wie SETI suchen Leben und erdähnliche Planeten, doch in unserem Sonnensystem besitzen nur noch Venus und der Saturnmond Titan dichte Atmosphären, in denen ein Mensch landen könnte. Gibt es dort Leben? Die Suche geht dort ebenso weiter wie auf dem Jupitermond Europa, den eine dicke Eisschicht bedeckt, unter der sich ein Wasserozean befinden könnte. Die Darstellungen außerirdischer Lebensformen sehen etwas kurios aus.
Vor dem GLOSSAR mit Fachbegriffen liefert eine Doppelseite die übliche Zusammenfassung und Übersicht, darunter eine Liste mit Ereignissen zum „Weltall ins All“ – wobei natürlich die Amis die Nase vorn haben. Wesentlich interessanter fand ich die Erwähnung des 2013 startenden James-Webb-Weltraumteleskops, welches das veraltete Hubble-Teleskop ersetzen wird. Nach dem Glossar folgt das Register. Dieser Stichwortindex erleichtert das Finden von Begriffen enorm und gehört zu jeder wissenschaftlichen Buchpublikation.
_Unterm Strich_
Die Fülle des auf etwa 120 Seiten präsentierten Materials und Wissens erscheint zunächst überwältigend, erweist sich aber für einen jahrelang mit Astronomie und der Raumfahrt befassten Laien wie mich als doch schon ziemlich bekannt. Sicher, es ist hat etwas für sich, all die wunderbar spektakulären Objekte wie etwa die Ringe des Saturn oder Supernovae in den prächtigsten Farben geboten zu bekommen, aber wie neu ist das denn? Selbst der Kuipergürtel ist seit 1992 bekannt.
Nein, dieser Weltraum-Atlas ist etwas für Einsteiger, insbesondere im jugendlichen Alter, in dem man besonders leicht beeindruckbar ist. Sie werden auch weitestgehenden von Fremdwörtern und Fachjargon verschont. Fortgeschrittene Laien finden in einem Buch von Stephen Hawking oder Markus Chown mehr theoretische Anregungen, die weiterführen.
|Neues?|
Man muss schon in den didaktisch sehr willkommenen Übersichten zu jedem Abschnitt suchen, um etwas wirklich Neues zu finden. Dazu gehören die Dunkle Materie, die Dunkle Energie, bislang entdeckte Exoplaneten sowie Starttermine für künftige Sonden, Teleskope und Raumfahrtprogramme. Da kommt noch einiges, auf das wir uns freuen können.
|Patriotisch?|
Der Eindruck sollte nicht entstehen, dass der amerikanische Autor und sein Autor auf patriotische Weise dafür gesorgt hätten, dass die sowjetische Leistungen in der Raumfahrt verschwiegen oder herabgesetzt würden. Das ist nicht zutreffend, wie die entsprechende Überblicksseite belegt. Unter den „Rekorden“ sind mehrere Russen zu finden sowie die russische Raumstation |Mir|. Auch im „Wettlauf ins All“ sind die Sowjets gut vertreten.
Dass so wenige andere Nationen wie die Europäer auf den Fotos vertreten sind, liegen wohl eher an den Rechten, mit denen manche Foto-Datenbanken ausgewertet werden konnten. Unter diesen Datenbanken hat wohl die NASA eines der größten Archive überhaupt. Die Autoren wollen den Eindruck hinterlassen, dass der Weltraum ebenso wie die Raumfahrt alle Erdenbürger angeht, und das ist eine gute Einstellung.
|Originaltitel: Atlas of the Universe, 2007
Aus dem US-Englischen von Manfred Wolf
128 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-570-13496-2|
http://www.cbj-verlag.de
Fry, Stephen – Feigen, die fusseln
_Von der angebornen Sehnsucht zu dichten_
|“Jedes tiefere Vordringen in die Welt der Poesie rührt unweigerlich an die innerste Urangst eines jeden – die Angst von peinlicher Bloßstellung.“| heißt es im Vorwort zu Stephen Frys inspirierendem Buch „Feigen, die fusseln“, dem man im Deutschen noch den Untertitel „Entfessele den Dichter in dir“ verpasst hat. Dennoch gelingt es dem Schriftsteller, Schauspieler und Komiker Stephen Fry, den Leser davon zu überzeugen, dass „in uns allein eine angeborene Sehnsucht zu dichten“ steckt und „dass wir alle das Zeug dazu haben“.
Höchst kurzweilig und unterhaltsam führt Fry in das Handwerkszeug für die Dichtkunst ein und widmet sich abseits von freier Lyrik dem Metrum, dem Reim und den Formen anhand der englischsprachigen Lyrik, bevor er ein viertes Kapitel zur Lyrik und Poetik von heute anfügt. Dabei schöpft er aus einer Vielfalt von Gedichten, angefangen bei Shakespeare und Chaucer über Wordsworth bis hin zu modernen Dichtung eines Ezra Pound. Mit Hilfe seines schier unerschöpflichen Gedichtfundus‘ stellt er anschaulich dar, was beispielsweise einen Jambus von einem Anapäst unterscheidet, welche Wirkung Enjambements und Zäsuren entfalten oder wie die einzelnen Reimformen wirken. Dabei geht er neben den bekannteren Versformen wie Ballade oder Ode auf weniger bekannte wie Villanelle oder Pantum ein.
Verse über die eigene Nase, fusselnden Feigen oder Kühe auf der Wiese zeigen auf, dass es nicht unbedingt Themen von Weltbedeutung bedarf, um lyrisch tätig zu werden. Diese in Verse gebrachten alltäglichen Beobachtungen spiegeln vielmehr Frys Freude an der Dichtkunst und wirken dem Gefühl entgegen, dass man seinem Deutschlehrer gegenüberstände, für den man gerade zwanghaft versucht hat, eine mehrseitige Liste mit nur vage begreifbaren Fremdwörtern für eine anschließende Klausur in Gedichtanalyse auswendig zu lernen.
Mit der Lektüre dieses Buches könnte man verhindern, dass jungen Menschen bereits in der Oberstufe die Lust am Gedicht ausgetrieben wird. Was in den einzelnen Kapiteln anschaulich an Beispielen dargestellt wird, kann der Leser anschließend anhand einer gestellten Aufgabe sogleich praktisch erproben. Arbeitet man sich solchermaßen aufmerksam durch das Buch, kann das durchaus Wochen und Monate in Anspruch nehmen. Doch auch ohne ständige praktische Übung erhält man auf amüsante Weise einen Wissenszuwachs über die englische Literaturgeschichte und die Möglichkeiten der Dichtkunst so lebendig geschildert, als hätte Fry neben den Autoren gesessen, als Werke der Weltliteratur entstanden.
Mitglieder des Graduiertenkollegs für literarisches Übersetzen an der Universität München haben Stephen Frys Buch unter der Leitung von Andreas Mahler ins Deutsche übertragen, was ihnen vor allem bei den Eigenkreationen des Autors überzeugend gelungen ist. Dennoch war es von Vorteil, bei den zitierten Gedichten sowohl das englische Original als auch die Übersetzung abzudrucken, weil bei den deutschen Versen gelegentlich weniger deutlich wird, was Fry gerade erläutert hat. Gut gelungen ist der Akt übersetzerischer Freiheit beim Einschub von deutschem Rap, an welchem die Übersetzer verdeutlichen, wie viel Potenzial dem Reim auch in der zeitgenössischen deutschen Sprache innewohnt.
Das größte Verdienst des Buches ist jedoch, dass es so manches Vorurteil der Dichtkunst gegenüber ausräumt und, während es den Respekt vor dem Können großer Dichter stärkt, aufzeigt, dass man Freude an einer in der heutigen Zeit wenig beachteten literarischen Form empfinden kann – sowohl als Leser als auch als Schöpfer.
|475 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3351032326|
http://www.aufbauverlag.de
Vermes, Geza – Anno Domini. Ein Who\’s Who zu Jesu Zeiten
_Überraschung: Jesus war ein Exorzist, Joseph pädophil_
„Wer waren die VIPs vor 2000 Jahren?“ Obwohl die Zeitenwende bis heute eines der bedeutendsten Ereignisse der menschlichen Geschichte ist, kann kaum jemand diese Frage beantworten. Geza Vermes ist ein renommierter Jesus-Kenner. In seinem Who’s Who zu Jesu Zeiten beschränkt er sich nicht allein auf theologisch relevante Personen, er porträtiert auch römische Politiker wie Pontius Pilatus und andere weltliche Schlüsselfiguren, die in der Bibel kaum oder gar nicht auftauchen, in Kurzbiografien.
_Der Autor_
Geza Vermes, 1924 in Ungarn geboren, studierte Orientalistik und orientalische Sprachen und promovierte in Theologie. Er wurde zum ersten Professor für Jüdische Studien an der Universität Oxford, wo er noch heute als Professor Emeritus wirkt. Seit 1991 ist er Direktor des Forums für Qumran-Forschungen am Zentrum für Hebräische und Jüdische Studien in Oxford. Er ist Mitglied der British Academy und der Europäischen Akademie für Wissenschaften, Kunst und Literatur sowie Träger diverser Ehrendoktorate. Zu seinen Werken zählen „Die Passion. Die wahre Geschichte der letzten Tage im Leben Jesu“ und „Die Geburt Jesu. Geschichte und Legende“.
_Inhalte_
Nach einem Verweis auf die Quellen und Mitarbeiter stellt der Autor stichwortartig die Gruppen von Namen vor, die er später im biografischen Teil seines Who is Who eingehend vorstellt und beurteilt. Zwei Stammtafeln über die Hasmonäer/Makkabäer (Priesterkönige) und die Herodianer (Könige und Statthalter) beschließen diese Einführung.
Ganz wichtig für das Verständnis der Biografien und deren zeitliche Einordnung ist der Überblick „Das Zeitalter Jesu im breiteren Kontext“. Denn hier stellt der Autor erstmals vor, welchen Zeitraum er überhaupt berücksichtigt. Er könnte ja bei Adam und Eva oder Stammvater Abraham anfangen. Nein, sein zeitlicher Blickwinkel ist auf die Jahre 164 vor der Zeitenwende (v. d. Z.) und 135 n. d. Z. begrenzt – zwei einschneidende Daten in der Geschichte des jüdischen Volkes.
Im Jahr 164 v. d. Z. – der Autor spricht niemals von „vor/nach Christi Geburt“, aus Gründen, die bald ersichtlich werden – erlangen die Juden erstmals nach Jahrhunderten der Unterdrückung durch Babylonier, Perser und Griechen ihre politische Unabhängigkeit und wählen Jerusalem als ihre Hauptstadt. Das bereits erwähnte Geschlecht der Hasmonäer erringt nach dem Makkabäeraufstand die politische und religiöse Macht.
Im Verlauf von Machtkämpfen und Erbstreitigkeiten holt man im Jahr 63 v. d. Z. den römischen Konsul und General Pompeius zu Hilfe – ein schwerer Fehler, denn er annektiert einfach das Land als die römischen Provinzen Judäa und Galiläa (später weitere). Während es Galiläa, wo Jesus geboren wird, gelingt, von seiner eigenen Oberschicht regiert zu werden, ist Judäa bald schlechter dran: die Römer herrschen hier direkt und ohne Vermittlung.
Sie unterdrücken diverse aufrührerische Bewegungen, doch ohne durchschlagenden Erfolg, bis es anno 63 n. d. Z. zum Ausbruch des Ersten Jüdischen Krieges kommt, der mit der Eroberung Jerusalems und der Festung Masada anno 66 endet. Es kommt anno 70 zur Zerstörung des Tempels von Jerusalems, womit die Saat für den Zweiten Jüdischen Krieg gelegt wird, der erst 135 n. d. Z. mit einer vernichtenden Niederlage des Ben Kochba endet. Dies führt zur Diaspora, der Zerstreuung des jüdischen Volkes in alle Winde. Somit deckt der Autor rund 300 Jahre Geschichte ab, die außerordentlich gut dokumentiert ist.
Eine CHRONOLOGIE liefert am Ende des Buches nochmals einen Überblick über die diversen kritischen Ereignisse in diesen drei Jahrhunderten. Der Überblick „Das Zeitalter Jesu im breiteren Kontext“ ist in fünf Abschnitte eingeteilt, in denen die jeweils wichtigsten Personen der Zeitgeschichte kurz auftauchen. Der titelgebende Mann, Jesus von Nazareth, lebte ungefähr in der Mitte des beleuchteten Zeitraums, wird aber nur kurz betrachtet, da es ja vor allem die jüdischen und christlichen Bewegungen in seiner Nachfolge waren, die bis heute die Kirchen- und Glaubensgeschichte von Juden- und Christem beeinflussen.
|Das „Who’s Who“|
Es wäre sinnlos, irgendwelche Artikel aus diesen Biografien zur Gänze zitieren zu wollen. Ja, schon der Versuch einer Übersicht muss im Ansatz scheitern. Sinnvoller ist daher, die wichtigsten BEFUNDE der historischen Beurteilungen, die der Historiker Vermes vornimmt, mal kurz in Beispielen vorzustellen. Sein Ansatz ist, wohlgemerkt, völlig unparteiisch und nur der historischen Disziplin verpflichtet. Daher können sehr religionskritische Aussagen dabei herauskommen. Wie der Leser diese Aussagen aufnimmt und bewertet, steht auf einem ganz anderen Blatt.
|Die Apostel|
Es gibt, wie man inzwischen weiß, jede Menge Evangelien (griechisch für „gute Nachricht“), aber nur vier davon wurden vom Konzil zu Nicaea/Nicäa (heute İznik in der Türkei) im 4. Jahrhundert genehmigt: die von Markus, Matthäus, Lukas und Johannes. Dies ist zugleich die chronologische Folge ihrer Entstehung: Markus ist das älteste, das der historischen Figur des Wanderpredigers, Heilers und Exorzisten Jesus von Nazareth am nächsten ist.
Matthäus und Lukas haben gehörig hinzugedichtet und Jesus zu einem Sohn Gottes, einem Messias und und Propheten gemacht. Hier ändert sich bereits die Bewertung der Juden. Und Johannes macht das Maß voll, indem er die Juden in Grund und Boden verdammt, was mit Jesu Botschaft, der sich strikt ans Mosaische Gesetz hielt, rein gar nichts mehr zu tun hat. Vermes hält es für höchst wahrscheinlich, dass der Evangelist Johannes nichts mit dem Apostel Johannes zu tun hat. Und dass Lukas wie auch „Johannes“ Nichtjuden waren.
|Jesus|
Der historische Jesus, den der Autor nach seinen Recherchen für wahrscheinlich, jedoch nicht für gesichert hält, wurde im Jahr 6 vor der Zeitenwende geboren. Von einem Jahr null = Jesu Geburt kann also keine Rede sein! Jesus wurde nach der Begegnung mit Johannes dem Täufer im Jahr 29 n. d. Z. zu einem eifrigen Wanderprediger, der das Kommen eines Reiches Gottes und somit des Messias für höchst dringlich hielt und verkündete. Im Herbst 29 und dem Frühjahr 30 zog er also mit den bekannten zwölf Aposteln durch Galiläa, sprach aramäisch (nicht hebräisch oder gar lateinisch oder neugriechisch) und entfremdete sich von seiner Familie, außer von seinem Bruder oder (je nach Quelle) Stiefbruder Jakobus, der später der erste Bischof von Jerusalem wurde.
Der einzige Grund, den der Autor für Jesu Verhaftung gelten lässt, ist dessen Auftritt im Tempel von Jerusalem kurz vor dem Passah-Fest. Nicht Römer ließen ihn verhaften, sondern jüdische Älteste und Priester. Er wurde von Hannas verhört, von Kaiaphas verurteilt und an den römischen Präfekten von Judäa, Pontius Pilatus, zur Exekution übergeben.
Das Bemerkenswerte an dem Vorgehen des Glaubensrates von Hannas und Kaiaphas: Damals wie auch heute ist es für einen Juden kein Verbrechen, sich als „Sohn Gottes“ zu bezeichnen, alldieweil sich alle Juden als Söhne Gottes betrachten. Auch gibt es kein Gesetz, wonach Personen, die sich als Messias bezeichnen, als Gotteslästerer zu verurteilen seien. Gotteslästerung hätte mit Steinigung geahndet werden müssen. Stattdessen wird Jesus der Aufwiegelung gegen die Römer bezichtigt, was durch Kreuzigung bestraft wurde – für ein Verbrechen, das er gar nicht begangen hatte. Ein politischer Mord unter so vielen.
All dies geschah aber nicht an jenem Feiertag des Passah- oder Osterfestes, sondern, da an diesem Tag Amtshandlungen verboten waren, einen Tag zuvor. Die Kreuzigung fand dann am Karfreitag des Jahres 30 n. d. Z. statt. Jesus war also 36 Jahre alt. Aber wie verhielt es sich mit seiner „Auferstehung“, die ihn zu jenem gottähnlichen Wesen machte, als das er heute verehrt wird? Wie sich herausstellt, beruht dieser Glaube allein auf den „Visionen“ seiner Anhänger.
Die Evangelien widersprechen sich in zahllosen Details zur Auferstehung wie auch zum Prozess und der Passion Jesu. Nur Markus kann man zutrauen, noch Zeuge der Kreuzigung gewesen zu sein oder wenigstens mit Zeugen gesprochen zu haben. Der Autor stellt die verschiedenen Evangelien einander gegenüber, was zu dem erstaunlichen Resultat führt, dass a) der historische Kern kaum noch sichtbar ist und b) 99 Prozent der Passionsgeschichte Legenden, Dichtungen, Verfälschungen und andere spätere Hinzufügungen sind. Meist musste die „gute Nachricht“ den Verkündern in den religionspolitischen Kram passen. Erst sie machten aus dem jüdischen Wanderprediger, der keine Nichtjuden anerkannte, den christlichen Messias und Erlöser, der für alle da ist.
|Maria|
Kann eine Jungfrau wirklich den Sohn Gottes geboren haben? Dies ist seit dem 19. (päpstliche Bulle von 1854) und 20. Jahrhundert (Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel von 1950) die Doktrin der Katholischen Kirche. Die Quellen besagen etwas ganz anderes. Maria soll mit Joseph dem Zimmermann verheiratet gewesen sein und mit ihm sieben Kinder gehabt haben. Jesus, der Älteste, hatte vier Brüder und mindestens zwei Schwestern. Nach späteren, politisch korrekten Versionen der Evangelien war sie bloß die Verlobte oder zweite Frau des Witwers Joseph. Sie lebte in Nazareth.
Die Geburtslegende, die jedes Kind zu Weihnachten erzählt bekommt, ist in höchstem Maße unwahrscheinlich. Erstens gab es im Jahr 6 v. d. Z., Jesu Geburtsjahr, gar keine Volkszählung plus Steuerschätzung, sondern erst zwölf Jahre später. Zweitens hätte Joseph gar nicht nach Bethlehem reisen müssen, sondern entweder in Nazareth oder der Stadt seiner männlichen Vorfahren vorstellig werden müssen. Und eine Flucht nach Ägypten ist reine Legende. Joseph lässt sich sogar als Pädophiler einstufen, allerdings nur nach heutigen Moralvorstellungen. Sobald Maria zwölf Jahre geworden war oder in die Pubertät kam (= geschlechtsreif wurde), wurde sie einem würdigen Mann anvertraut, eben Joseph: verlobt oder verheiratet? Und der war schon etwas älter als die Zwölfjährige.
|Die Anhänge|
Das Buch endet mit einigen Anhängen. Dazu gehört die erwähnte „Chronologie“ ebenso wie eine Landkarte Palästinas im Zeitalter Jesu, ein Glossar mit wichtigen Begriffen, eine Liste der Abkürzungen (zu Quellen und Publikationen) sowie eine Bibliografie. Ein Stichwortregister (Index) erübrigt sich durch die alphabetische Sortierung der Biografien.
_Mein Eindruck_
Dies ist nur eine knappe Übersicht über die Inhalte und erstaunlichen Befunde. Ich habe mich in der Lektüre wirklich wohlgefühlt und an einem Nachmittag die wichtigsten Artikel gelesen, so etwa über die Apostel, Evangelisten und Jesus plus Familie. Unglaublich, wie winzig der historische Kern ist, der im Neuen Testament enthalten ist. Ich sage ausdrücklich „Neues Testament“ und nicht „Bibel“, weil der Autor mit „Bibel“ nur die Hebräische Bibel meint, die einen ganz anderen Inhalt haben kann als die von christlichen Organisationen wie den Kirchen und Sekten verbreiteten Versionen.
Eine weitere Besonderheit ist die Zählung der Jahre. Ich musste mich erst an die nirgends erklärte Bezeichnung „v. bzw. n. d. Z.“ gewöhnen. Z. ist nicht etwa „Zeitrechnung“ wie in der DDR, sondern „Zeitenwende“. Die Muslime haben ja ebenso wie Hindus, Buddhisten etc. anderen Zeitrechnungen und -wenden. Muslime zählen ab der ersten Hedschra des Propheten Mohammed im Jahr 622 n. d. Z. und zwar nach Mondjahren.
|Eignung und Zielgruppe|
Dieses Werk ist von einem Wissenschaftler für andere Wissenschaftler geschrieben worden. Doch auch „Power-User“ der Kultur- und Religionsgeschichte wie etwa Angehörige der klassisch und humanistisch gebildeten Schichten können das Buch mit großem Gewinn lesen. Sie müssen eben Fachbegriffe wie „Konkordanz“, „Apokryphen“ und „Parusie“ notfalls nachschlagen. Der zentrale Begriff „eschatologisch“ wird hingegen im Glossar erklärt.
Abgesehen von dieser Handvoll Fremdwörter konnte ich den Text aber sehr gut verstehen. Die Darstellung ist an jeder Stelle nachvollziehbar. Weil der Autor mit einer Menge Überraschungen aufwartet, macht das Lesen neugierig. Allerdings nur denjenigen, der für solche Überraschungen offen sein kann. Dogmatische Leser dürften erhebliche Probleme damit haben.
Die zähesten Buchteile sind naturgemäß die Anhänge. Man kann aber die Chronologie gut als Einstieg und ersten Überblick lesen. Fast ebenso schwer, aber ungleich unterhaltsam ist der erste „Überblick“, der in fünf Abschnitte unterteilt ist und sich so ebenfalls leichter konsumieren lässt. Den harten Kern, aber eigentlichen Inhalt bildet das „Who’s Who“.
|Übersetzung|
Eine wunderbare Arbeit von Yvonne Badal: sehr verständlich und eindeutig formuliert. Ich konnte keine Druckfehler finden. Der einzige Fehler, auf den ich stieß und der wohl aufs Konto des Autor geht, steht im Artikel über Joseph, „Vater“ von Jesus“ auf Seite 188/89. In einer koptischen Legende ist Joseph bereits 89 Jahre alt, als er Maria heiratet. Er sei nach 22 Jahren Ehe mit Maria im Alter von 101 Jahren gestorben und vom 22-jährigen Jesus begraben worden. Nun ja, 101 minus 89 ergibt bei mir immer noch zwölf statt 22. Aber die Zeit ist ja auch nicht mehr das, was sie mal war.
_Unterm Strich_
Ein Who’s Who bietet einen biografischen Überblick, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Daher kann dieses Buch sowohl ein erster Einstieg in ein spezielles Thema wie etwa die Passions- oder Geburtsgeschichte Jesu sein (die der Autor beide geliefert hat), als auch eine spannende Lektüre über die während der 300 Jahre Betrachtungszeit lebenden historischen Personen. Letzteres fand ich sehr viel unterhaltsamer und aufregender – die Biografien liefern den Anreiz für den Einstieg in die Vertiefung eines Themas.
Die Zielgruppe des Buches sind sicherlich nicht die blutigen Laien, die von Kirchen- und Glaubensgeschichte keine Ahnung haben. Hier wird schon einiges an Bildung vorausgesetzt. Die Texte sind aber schon derart fundiert, dass man sie ohne weitere Prüfung akzeptieren kann, sofern man kein Dogmatiker ist. Der Ansatz ist unparteiisch und undogmatisch, rein von der historischen Methode getrieben und mit dem Wunsch vorgetragen, jene für Christen so wichtige Zeit besser zu verstehen. Das ist dem Autor gelungen.
Zu wünschen wäre eine Onlinepublikation, die mit entsprechenden Links zu anderen Artikeln weiterführt. Die Einträge des Buches sind in sich konsistent, d. h. sie widersprechen einander nicht. Aber häufig tauchen Namen, Orte und Begriffe auf, die man liebend gerne sofort woanders nachschlagen würde.
Fazit: ein Volltreffer.
|Originaltitel: Who’s Who in the Age of Jesus, 2005
Aus dem Englischen von Yvonne Badal
334 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-7857-2347-0|
http://www.luebbe.de
Holland, Tom – Persisches Feuer. Das erste Weltreich und der Kampf um den Westen
Wir leben in einer Welt, die unüberschätzbar vom Christentum und der griechisch-römischen Antike geprägt ist. Seit einigen Jahren erleben wir in vielfältigen Erscheinungen einen wachsenden Konflikt mit der islamischen Welt. Eine der großen derzeitigen Streitfragen ist die Forderung, die Türkei in die Europäische Union aufzunehmen, womit der Westen einen – allerdings politisch wie finanziell unkalkulierbaren – Brückenkopf im Orient hätte.
Der englische Historiker Tom Holland hat in den Perserkriegen 490 bis 479 v. Chr., als die Griechen die Unterwerfung durch das Persische Reich abwehrten, einen Ursprung des uralten Ost-West-Konfliktes ausgemacht. Mit „Persisches Feuer. Das erste Weltreich und der Kampf um den Westen“ hat er sich die Aufgabe gesetzt, dieses Ereignis unter Beachtung neuerer Erkenntnisse einem breiten Publikum vorzustellen und seine Nachwirkungen in mitunter fragwürdigen Kontinuitäten und Vorstellungen offenzulegen. Hollands Ausführungen im Vorwort über die Brüchigkeit von Traditionslinien, die Mehrdeutigkeit historischer Vorbilder und die Unsicherheit von Quellen machen allein schon die Lektüre des Buches lohnend.
Es beginnt am Vorabend des Untergangs des brutalen Assyrischen Reiches um 600 v. Chr. Unter Führung der Meder erheben sich die Perser gegen ihre Unterdrücker und beenden deren Herrschaft. Ein Menschenalter später zerbricht die Koalition, und die Perser unterwerfen unter ihrem neuen König Kyros II. zuerst Medien und dann auch neben anderen Lydien und Babylon. Das Persische Reich ist entstanden. Die Doppelherrschaft seiner Söhne Kambyses und Bardiya endet in einem mysteriösen politischen Krimi, der bis heute nicht eindeutig geklärt ist. Die Lösung des Rätsels würde auch die Frage beantworten, ob ihr Nachfolger Dareios ein Königsmörder und Usurpator oder der Retter des Reiches ist.
Die Griechen sind ein Kulturvolk gemeinsamer Sprache und Religion, einen gemeinsamen Staat haben sie nicht. Sie leben beiderseits der Ägäis in zänkischen Stadtstaaten, die von inneren Rivalitäten geprägt sind und auch gegeneinander zu den Waffen greifen. Nachdem Dareios europäische Gebiete nördlich von Griechenland erobert hat und die Griechen in Kleinasien einen blutigen Aufstand unternommen haben, greift er das griechische Kernland an, wo er überraschend von den Athenern in der Schlacht von Marathon besiegt wird. Einige Jahre später kehrt der nächste König Xerxes mit einer gigantischen Streitmacht zurück, und allein die Logistik dieses Feldzuges sprengt alles bis dahin Vorstellbare. Die Griechen finden keine Verbündeten, Athen wird evakuiert, und Forderungen nach einer freiwilligen Unterwerfung kommen auf. Doch nach der heroischen Niederlage am Thermopylenpass geschieht in den Siegen von Artemision und Salamis das Unmögliche, und die Ausdehnung der persischen Herrschaft nach Westen ist beendet.
Zwei Dinge sind für „Persisches Feuer“ kennzeichnend: Zum einen wollte Holland, wie erwähnt, kein Werk für die Fachwelt schreiben, sondern für den interessierten Laien eine historische Epoche spannend erzählen. Und spannend ist dieses Buch ohne Zweifel, dass man es kaum aus der Hand legen möchte. Ob Holland von den Feldzügen und den Intrigen der großen Politik berichtet, den Leser in die bedrängten griechischen Städte führt oder die weiten Landschaften und gewaltigen Bauwerke Persiens beschreibt, er fesselt den Leser. Bei so mancher geostrategischen und machtpolitischen Konstante oder menschlichen Schwäche lässt er den Leser durch leise Andeutungen Parallelitäten zu heute feststellen. Dass er sein Sachbuch beinahe wie einen Roman erzählt, geht manchmal auf Kosten der Genauigkeit. Wie Holland selbst einräumt, muss man unbedingt die Anmerkungen mitlesen. Über so manche Kausalität oder Datierung, die im Text mit großer Bestimmtheit vorgetragen wird, heißt es im Anmerkungsteil: Das ist nicht zweifelsfrei geklärt.
Als zweite Eigenheit verliert der Autor, auch wenn er ausführlich die Vorgeschichte der Hauptakteure Persien, Athen und Sparta ausbreitet, nie die Perserkriege als Höhe- und Zielpunkt seines Buches aus den Augen. Einige Details wie Babylon als Vorläuferreich oder die zoroastrische Religion werden nicht chronologisch abgehandelt, sondern dort, wo es zur Dramaturgie des Buches passt. Und als schließlich der Angriff des Xerxes und seines Feldherrn Mardonios endgültig abgewehrt ist, endet das Buch abrupt. Dass die Griechen einige Jahre später in die Offensive gingen und den Krieg in das persische, griechisch besiedelte Kleinasien trugen und sich schließlich bei einem Feldzug nach Ägypten gründlich die Finger verbrannten, wird nur noch auf der letzten halben Seite als Ausblick erwähnt.
Dass vor allem die persische Vorgeschichte sehr ausführlich behandelt wird, bringt einen interessanten Perspektivenwechsel für Westler mit sich. Die sogenannten Barbaren verfügten schon vor zweieinhalb Jahrtausenden über ein ausgeklügeltes Regierungs- und Verwaltungssystem. Unterworfenen Völkern ließen die Perser relativ viel Freiheit, um ihre Oberherrschaft erträglich zu halten und so langfristig zu sichern. Von „östlicher Despotie“ konnte nur bedingt die Rede sein. Umgekehrt bekommt das oft idealisierte Bild der alten Griechen einige Kratzer. So leisteten die Athener gegenüber einer persischen Gesandtschaft eine Unterwerfungsgeste und hatten damit die persische Oberhoheit anerkannt. Später ermordeten sie wie auch die Spartaner Gesandte, die unter diplomatischer Immunität standen. Außerdem erkennt man das unterschiedliche Gewicht des Krieges bei beiden Parteien. Während die Griechen mit äußerster Anstrengung und sehr viel Glück ihre Freiheit und ihre weitere eigenständige Entwicklung, die uns bis heute beeinflusst, gerettet hatten, war das Ganze für die Perser nur eine kleine ärgerliche Niederlage an der Westgrenze. Noch während des Krieges ging Xerxes nach Babylon, um dort erfolgreich einen Aufstand niederzuschlagen. Das persische Großreich sollte noch über ein Jahrhundert weiterbestehen.
Der Text wird ergänzt durch viele, teils farbige Abbildungen, Karten und eine Zeittafel. Mehrere Druckfehler erinnern wieder daran, wie sehr die Verlage mittlerweile bei den Lektoraten sparen. Trotz einiger kleiner Schwächen ist „Persisches Feuer“ ein Buch, das der geschichtlich Interessierte mit Gewinn aus der Hand legt.
|463 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-608-94463-1|
http://www.klett-cotta.de
Patrick Mauriès – Das Kuriositätenkabinett

Der Mensch ist von seiner Natur aus Jäger und Sammler. Das beschränkte sich ursprünglich auf die Dinge, mit denen sich der Magen füllen ließ, erweiterte sich aber sicherlich bald auf den Kopf und bezog ein, was außerdem sein Interesse erregte. Der Drang zu wissen und die Welt um sich zu verstehen ließ sich mit dem Sammeltrieb mühelos in Einklang bringen.
Schon in der griechischen und römischen Antike begannen jene, die es sich leisten konnten, weil sie für ihren Lebensunterhalt nicht rund um die Uhr arbeiten mussten, zusammenzutragen, was die Natur produzierte und ihre Aufmerksamkeit erregte: Mineralien, Knochen, Schnecken- und Muschelschalen, Fossilien. Damit beginnt die Liste nur, denn sie ist schier unendlich. Den Inhalt sorgfältig arrangiert, schön geordnet und zum Studium bereit, schienen diese Kabinette die große Welt und den Kosmos außerhalb der eigenen Türschwelle widerzuspiegeln. Als „Welttheater“ konnte man sie in den Griff bekommen, sie überschauen und verstehen. Patrick Mauriès – Das Kuriositätenkabinett weiterlesen
Mark Carwardine – Extreme der Natur
In vier Kapiteln stellt dieser großformatige Bildband Tiere und Pflanzen vor, die aus dem Rahmen des Bekannten fallen, weil sie ungewöhnlich groß oder klein sind oder über ungewöhnliche Fähigkeiten verfügen:
Einleitung (S. 6/7)
– Extreme Fähigkeiten (S. 8-85): Die Erde wird zwar der „grüne Planet“ genannt, ist jedoch reich an Orten, die das Leben eher ungemütlich machen. Von der Evolution wurde die Herausforderung angenommen. Es entwickelten sich Tiere und Pflanzen, die ihre Nische exakt dort fanden, wo der Konkurrenzdruck nicht gar zu groß war. Das führte zur Entwicklung fleischfressender Pflanzen, giftgassprühender Käfer oder werkzeugbastelnder Vögel. Es geht noch bizarrer: Der Katholikenfrosch besitzt eine Haut, die einen superstarken Sekundenkleber produziert, der männlichen Polyphemus-Motte genügt ein einziges Duftmolekül, um sich auf die Spur des Weibchens zu setzen, die Blüte des Titanenwurzes stinkt so schrecklich, dass Menschen in Ohnmacht fallen, der Pompeji-Wurn lebt in 80° heißem Wasser.
– Extreme Bewegung (S. 86-157): Andere Anpasser fallen durch ihre Mobilität (oder deren Fehlen) auf. Die Larve der Languste reist auf dem Rücken einer Qualle durch die Weltmeere, der Mauersegler fliegt über Monate oder Jahre ohne zwischenzeitliche Landung durch die Luft, der Wanderfalke stürzt sich mit mehr als 300 km/h auf seine Beute, der Tausendfüßler muss bis zu 375 Beinpaare lenken, das Erdferkel gräbt sich beinahe so schnell durch die Erde, wie es oberirdisch laufen kann. Das Faultier verschläft 25 seiner 30 Lebensjahre und überlebt, indem es Bewegung möglichst vermeidet – eine Strategie, die durchaus funktioniert.
– Extremes Wachstum (S. 158-247): Wer möglichst schnell möglichst groß wird, kann von seinen Feinden nicht mehr attackiert werden. Auf diese Karten setzen unter den Säugetieren der Blauwal und der Elefant, unter den Vögeln der Strauß, unter den Reptilien der Netzpython, die Elefantenschildkröte oder das Leistenkrokodil – ein saurierähnliches Monster von bis zu 10 m Länge. Manchmal geht die umgekehrte Rechnung auf: Wer winzig bleibt, wird oft übersehen und hat deshalb seine Ruhe. Der Schindlerfisch misst ‚ausgewachsen‘ gerade 6,5 bis 8,4 mm, der Jaragua-Gecko nicht einmal 2 cm. Manchmal sind es nur einzelne Körperteile, die enorme Größen erreichen und deshalb besonders effektiv arbeiten. Die Schwingen des Albatros‘ klaftern 3,40 m, damit er sich noch in die Lüfte erheben kann, die Zunge des einer auf der Insel Madagaskar beheimateten Motte ist bis 35 cm lang, die Giftnesseln einer Quallenart namens „Portugiesische Galeere“ reichen 35 Meter tief ins Meer, die Haare des in der Arktis lebenden Moschusochsen werden 90 cm lang, die Augen des in der dunklen Tiefsee hausenden Kolosskalmars erreichen mehr als 60 cm Durchmesser.
– Extreme Familien (S. 248-315): Wer nicht wehrhaft oder schnell auf den Füßen ist, muss seine Feinde durch maximale Vermehrung austricksen. Der Riesenbovist – ein Pilz – bläst bis zu 20 Billionen Sporen in die Luft, die Röhrenblattlaus produziert pro Jahr eine Milliarde Klone, die Dickschwanz-Schmalfußbeutelmaus wirft nach 9,5 bis 11 Tagen ihre Jungen. Der umgekehrte Weg ist es, den Nachwuchs so sorgfältig wie möglich zu schützen. In Australien gibt es eine Froschart, die ihre Jungen im eigenen Magen ausbrütet, das Känguru besitzt immerhin einen separaten Beutel, der Kaiserpinguin behütet ein Ei und ein Junges pausenlos und ohne Nahrung zu sich zu nehmen 120 Tage, die Frucht der Seychellennuss wiegt 22 kg und ist praktisch nicht zu knacken – und die Aaskrähe pflegt in Japan ihre Nester nicht mehr aus Ästen, sondern aus Abfällen und Kleiderbügeln zu bauen, seit sie in die Stadt gezogen ist.
Danksagung (S. 316/17)
Index (S. 318-320)
Populärwissenschaft vom Feinsten
Seit 1888 existiert die „National Geografic Society“, schickt wissenschaftliche Expeditionen in die fernsten Winkel dieser Erde und lässt, was dabei entdeckt wird, sorgfältig in Wort und Bild dokumentieren. Diese Tradition ließ – bis heute gewahrt – nicht nur ein nach Millionen Titeln zählendes Text- und Fotoarchiv entstehen, sondern förderte auch eine besondere Art der Vermittlung des gewonnenen Wissens.
Die NGS lebt von den finanziellen Mitteln, die ihr durch ihre Mitglieder zugehen. Diese gehen zwar nicht mit auf die geförderten Reisen, lassen sich aber gern darüber informieren. Es sind beileibe nicht nur Fachleute, die hier ihr Interesse kundtun, sondern vor allem Laien. Sie werden im ‚NGS-Stil‘ angesprochen, der komplexe Themen in allgemeinverständliche Worte fasst und durch Abbildungen illustriert.
Für diese Abbildungen ist die NGS berühmt – zu Recht, denn der Ehrgeiz derer, die für die Society unterwegs sind, zielt auf die klare fotografische Darstellung des Untersuchten und Erforschten in seiner natürlichen Umwelt ab, wobei die Schwierigkeit, dies zu ermöglichen, als Herausforderung gesehen wird. „Extreme der Natur“ zeigt Lebewesen, die sich eigentlich nicht fotografieren lassen, weil sie an Orten leben, die dem Menschen unzugänglich und sie zusätzlich überaus scheu sind. Die Brillanz der dennoch realisierten Fotos lässt die unendlichen Mühen und Fehlschläge, die dahinter stecken, nur selten durchscheinen.
Die Pracht des realen Lebens
Selbstverständlich werden die Leser von „Extreme der Natur“ nicht mit Schnappschüssen abgespeist. Dem Puristen mag die Natur auf diesen Bildern wie inszeniert erscheinen, und auf manche Aufnahmen trifft dies auch zu. So musste der Bombardierkäfer auf einem Gestell fixiert werden, um ihn in glasklarem Detailreichtum dabei fotografieren zu können, wie er sein Reizgas versprüht (S. 14). Die Bilder in diesem Buch fordern das Auge heraus, das sich nicht mit einem kurzen Blick zufrieden gibt, sondern sich auf das Motiv konzentriert und es quasi ‚scannt‘.
Ein Bild sagt bekanntlich mehr als tausend Worte. Jedem großformatigen Foto (28,5 cm Höhe; 25,5 cm Breite) steht eine Textseite gegenüber. Die Informationen sind knapp gehalten, aber sie kommen auf den Punkt. Ihr Zweck ist nicht das Detail, sondern der große, an ausgewählten Beispielen verdeutlichte Zusammenhang. Fast unmerklich und sehr unterhaltsam wird Wissen vermittelt: zwei im Zeitalter der massenmedialen Bombardierung wichtige Faktoren (der knallige Titel trägt dem Rechnung), die freilich – es sei angemerkt – die Gefahr fördern, dass Bücher wie dieses für sich und ihr Thema stehen müssen. Das kann „Extreme der Natur“ nicht leisten, denn es ersetzt keinesfalls die Fachliteratur.
„Extreme der Natur“ ist Teil eines Doppelbandes, der einzeln oder gemeinsam im Schuber erhältlich ist. „Extreme der Erde“ informiert ergänzend über Canyons, Wüsten, Hurrikans, Berge, Vulkane, Erdbeben, Ozeane, Gletscher u. a. extreme Orte oder Phänomene unseres Heimatplaneten.
Autor
Mark Carwardine arbeitete für verschiedene Umweltschutzorganisationen, bevor er sich 1986 als Autor und Fotograf selbstständig machte. Er schrieb bisher mehr als 40 Bücher: Reisebeschreibungen, zoologische Sachbücher und über Umweltschutz, wobei er sich auf Tiere und Pflanzen der Meere spezialisierte. Carwardines Bücher richten sich eher an den Laien als an den Fachmann, beeindrucken jedoch beide durch die ausgezeichneten Fotos. Carwardine sitzt außerdem in der Jury des Wettbewerbs um das beste Naturfoto des Jahres. Mit Textbeiträgen, Bildern und Filmen tritt er oft im Radio und im Fernsehen auf und hält Vorträge und Seminare. Diverse Programme für die BBC entstanden in direkter Zusammenarbeit mit ihm.
Über diese und weitere Aktivitäten informiert Carwardine auf seiner Website.
Gebunden: 320 Seiten
Originaltitel: Extreme Nature (New York : HarperCollins Publishers Ltd. 2005)
Übersetzung: Monika Rößiger
http://www.nationalgeographic.de
Der Autor vergibt: 



Weiner, Tim – CIA – Die ganze Geschichte
„Der Krieg ist der Vater aller Dinge“, sprach der Philosoph Heraklit schon im 6. Jahrhundert vor Christus, aber er fuhr so fort: „Die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Freien.“ Dieser Teil wird im Zitat gern unterschlagen. Damit wollte Heraklit auf die Ambivalenz der Dinge hinweisen, die ein Krieg hervorbringen kann.
Man könnte meinen, der weise Mann habe bereits vor 2500 Jahren die Gründung der „Central Intelligence Agency“ und ihr Scheitern vorausgesehen. Denn ein Kind des Krieges, des II. Weltkriegs sogar, ist diese CIA, die ursprünglich Nachrichten aus aller Welt sammeln, sichten und auswerten sollte, die für die politische Alltagsarbeit des US-Präsidenten von Relevanz sein konnten.
In sechs Kapiteln berichtet der Journalist Tim Weiner, wie einer an sich guten Idee ein Monster entsprang, das die Weltgeschichte auf kriminelle Weise veränderte und entscheidende Mitschuld daran trägt, dass die heute stärkste Großmacht auf Erden Instrumente wie Mord und Folter in ihre Politik aufgenommen hat.
„Anfangs wussten wir nichts“, überschreibt Weiner das erste Kapitel, das die Gründerjahre der CIA unter Präsident Truman (1945-1953) beschreibt. Der Kampf gegen die Nazis und die Japaner war gewonnen, der Kalte Krieg mit der Sowjetunion und China stand bevor. Um ihn nicht militärisch führen zu müssen, waren Informationen nötig, die der neue Gegner selbstverständlich sorgfältig geheimhielt. Von der Informationsbeschaffung bis zum Informationsdiebstahl war es daher nicht nur gedanklich ein kurzer Weg.
Doch Hektik, Unkenntnis und Ratlosigkeit wurden die drei grundsätzlichen Pfeiler der CIA, die ohne Wissen um die Mechanismen erfolgreichen Spitzelns den Feind hinter dem Eisernen Vorhang ausspionieren sollte. Jeder wusste, dass man eine solche Institution benötigte, doch niemand hatte eine Ahnung, wie sie aufzubauen und zu organisieren war.
Dies blieben keine Anfangsschwierigkeiten. „Die CIA unter Eisenhower, 1953 bis 1961“, lernte rein gar nichts aus ihren Fehlern, sondern ergänzte die lange Liste falsch geplanter und fehlgeschlagener Spionage-Einsätze um eine neue Todsünde: Die CIA begann politisch aktiv zu werden, indem sie missliebige Regierungen und Gruppierungen zu unterwandern und aus dem Feld zu schlagen suchte. Verbündete oft zweifelhafter Herkunft wurden mit Geld und Waffen versorgt, Sabotageakte und Attentate gefördert, die Autonomie der betroffenen Nationen und das Recht mit Füßen getreten. Korea und Kuba bildeten die Klammer für die CIA-Aktivitäten dieser Jahre, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie aufflogen, fehlschlugen und ein blutiges Ende nahmen; meist geschah dies alles gleichzeitig.
„Unter Kennedy und Johnson“ komplettierte die CIA nicht nur die außenpolitischen Debakel durch den Vietnamkrieg. Die US-Regierung begann den Geheimdienst zur Bespitzelung der eigenen Bürger zu missbrauchen. Wachsende Kritik an den Menschenrechtsverletzungen durch die und den Diskriminierungen in den USA machten dem politischen Establishment zu schaffen, das keineswegs daran dachte, sich mit der Opposition und ihren gerechtfertigten Forderungen arrangieren, sondern diese den „Commies“ gleichsetzte und als Staatsfeinde betrachtete.
Pikanterweise begann der Abstieg der CIA ausgerechnet unter den Präsidenten Nixon und Ford (1968-1977) – pikanterweise deshalb, weil der paranoide Nixon, den seine Watergate-Schnüffeleien zu Fall brachten, nicht einmal den Hightech-Spitzeln der CIA traute. Die Öffentlichkeit wurde aufmerksam, die CIA einer endlosen Serie von „Reorganisationen“ unterzogen, die sämtlich torpediert wurden und die bekannten Zustände konservierten. Die CIA verwaltete sich weiterhin am liebsten selbst und agierte ohne Zustimmung der Regierung. So kam es, dass seit den 1970er Jahren afghanische Rebellen im Kampf gegen die sowjetischen Invasoren mit modernen Massenvernichtungsmitteln ausgerüstet wurden, die sie später zur Errichtung strikt antiwestlicher Gottesstaaten befähigten: Das Terror-Problem der USA ist weitgehend hausgemacht.
„Die CIA unter Carter, Reagan und George H. W. Bush“ setzte 1977 bis 1993 die Reihe der blamablen Fehlschläge fort. Der redliche Carter wollte die CIA zerschlagen, und selbst der intellektuell beschränkte Reagan bemerkte die Ahnungslosigkeit der gar nicht ‚intelligenten‘ Agenten, die vom Fall der Berliner Mauer oder vom Zusammenbruch des Ostblocks eiskalt überrascht wurden. George Bush der Ältere reihte sich ein, als er den wackligen und geschönten Berichten über einen atom- und chemiewaffengerüsteten Irak Glauben schenkte und den ersten Golfkrieg entfesselte.
„Die Abrechnung“ erfolgte 1993 bis 2007 unter Clinton und George W. Bush. Der zweite Golfkrieg wurde ebenfalls unter Vorspiegelung falscher Tatsachen geführt, die zornige Gegenreaktion im Nahen Osten vom Geheimdienst entweder falsch interpretiert oder ignoriert. Den traurigen Höhepunkt bildete die Attacke auf das World Trade Center im September 2001 – eine Terroraktion, von der sogar die CIA längst wusste, ohne entsprechende Schritte zu einzuleiten. Als Konsequenz büßte die Agency 2006 ihre Vormachtstellung ein – sie untersteht nun dem Nationalen Nachrichtendienst und wird abermals neu organisiert …
_Gut gemeint, aber mörderisch mutiert_
Tim Weiners Geschichte der CIA ist ein Buch, das sich im Grunde nur in kurzen Abschnitten lesen lässt, weil die Lektüre garantiert zu erhöhtem Blutdruck und ungesunden Wutanfällen führt. Das Schlimme ist, dass selbst Weiners Kritiker dem Verfasser zugestehen müssen, wie redlich er recherchiert und ausgewertet hat, was er in jahrzehntelangem Quellenstudium sowie im Rahmen unzähliger Interviews in Erfahrung bringen konnte.
Man wünscht sich verzweifelt eine logische Erklärung dafür, wie eine Institution, die Tod und Leid über die Welt gebracht und Unsummen für groteske und höchst kriminelle Aktionen verprasst hat – Geld, das dem Sozial- und Gesundheitswesen oder der Bildung entzogen wurde -, sich mehr als sechs Jahrzehnten nicht nur halten konnte, sondern wuchs und gedieh und ihre üblen Machenschaften weiterhin fortsetzt.
Weiner liefert diese Erklärung, aber sie befriedigt nicht, weil sie Binsenweisheiten zu einer Dimension verhilft, die schlicht atemberaubend im Sinne von niederschmetternd ist: Angst und Ahnungslosigkeit schufen eine Einrichtung, die unkontrolliert Ziele verfolgen konnte, die nicht selten von psychisch kranken oder offen kriminellen Menschen formuliert wurden und schließlich sakrosankt wirkte: ein Monster, das nach außen menschlich wirkt, während es insgeheim ganze Kontinente verwüstet und ins Unglück stürzt.
Seinen Widersachern macht es Weiner schwer. Er überzieht sie mit Daten und Fakten. Wer seiner Auswertung nicht trauen mag, kann sie ab S. 669 anhand 664 oft mehrseitiger Anmerkungen nachprüfen, die bis zur Seite 834 noch einmal ein eigenes Buch ergeben. Dabei konfrontiert Weiner Worte mit Taten. Die Diskrepanz ist deutlich und lässt sich schwerlich wegerklären.
Eine wertvolle Informationsquelle stellten die Männer und Frauen dar, die für die CIA gearbeitet haben, die Strukturen dort kennen und unglücklich über die Realität einer ebenso ineffizienten wie illegal arbeitenden Einrichtung waren. Als Achillesferse der CIA entpuppte sich stets die Unfähigkeit des Menschen, Geheimnisse zu wahren oder unter den Tisch zu kehren. „Es gibt kein Geheimnis, das die Zeit nicht enthüllt“ – mit diesem Zitat des Schriftstellers Jean Racine (1639-1699) leitet Weiner sein Mammut-Werk ein.
Ist Weiner einseitig? Ihm dies vorzuwerfen, ist schwierig, sollte auch nur teilweise zutreffen, was er ans Tageslicht befördert hat. Die „Falken“ zürnen, weil sie an der Willkür als Mittel im Kampf gegen den Terror festhalten wollen und ein Buch wie dieses, das viele heilige Kühe der politischen, wirtschaftlichen oder militärischen US-Geschichte förmlich schlachtet, als kontraproduktiv betrachten. Im Zweifelsfall sind freilich auch die Moralisten hilfesuchend zur CIA gelaufen, wenn es irgendwo brannte und die Wiederwahl in Gefahr war.
Übrigens ist Weiner nicht grundsätzlich gegen Spionage. Ein geschickter Geheimdienst kann gefährliche Pläne des Gegners offenlegen und diesem damit den Wind aus den Segeln nehmen. Weiner prangert vor allem miserable Spionage an, weil mangelhafte oder fehlende Informationen immer kontraproduktiv sind und die USA in den Vietnamkrieg und andere Desaster geführt haben.
_Kriminelle Geschichte oder Geschichte als Krimi?_
Sollte jemand bisher der Ansicht gewesen sein, dass Geschichte langweilig ist, wird ihn die Lektüre dieses Buches eines Besseren belehren. „CIA“ ist ein Werk, das jeden Thriller deklassiert, denn wieder einmal ist die Realität stärker als jede Fiktion. Weiner kann beweisen, was er schreibt, was Schilderungen ermöglicht, für die man jeden Schriftsteller mit Hohn und Spott übergießen würde. Wer würde ohne entsprechende Belege glauben, dass der US-Geheimdienst ernsthaft probte, Tokio in der Endphase des II. Weltkriegs mit Brandbömbchen zu verheeren, die man den dort beheimateten Fledermäusen umschnallen wollte …? Mit solchen und ähnlich bizarren Anekdoten lockert Weiner seinen Text immer wieder auf. Das Lachen bleibt dem Leser im Halse stecken, wenn er unmittelbar darauf informiert wird, wie viele meist unschuldige Menschenleben solcher Schwachsinn kostete.
Weiner schließt mit der Hoffnung, die ’neue‘ CIA von 2006 werde endlich ihren eigentlichen Aufgaben gerecht. Er will dies annehmen, denn er glaubt wie gesagt an das Konzept der CIA. Die unerfreuliche Realität hat er aufgedeckt, was er jedoch nicht als wütende Attacke, sondern als Warnung versteht. Die CIA ist für Weiner trotz ihrer Sünden ein Teil der US-Regierung geworden. Sie lässt sich hoffentlich umstrukturieren und zukünftig besser kontrollieren, darf aber nicht abgeschafft werden. Dieses Fazit wird vielen (deutschen) Lesern nicht schmecken, doch Weiner ist letztlich Amerikaner, der an das politische, ökonomische und moralische Primat ’seiner‘ USA glaubt.
_Wen interessiert in Deutschland die CIA?_
Die deutsche Ausgabe von „CIA – Die ganze Geschichte“ wurde von vier Übersetzern bearbeitet, um so ein zum Original möglichst zeitnahes Erscheinen zu ermöglichen. Brüche oder stilistische Unterschiede lassen sich nicht feststellen; der seitenstarke Band liest sich wie aus einem Guss.
Wer sich fragt, wieso die Übeltaten der CIA so rasch einem deutschen Publikum nahegebracht werden oder dieses interessieren sollten, wird durch ein separates „Vorwort zur deutschen Ausgabe“ aus seinem Dornröschenschlaf geweckt: Selbstverständlich arbeiten der US-amerikanische und der deutsche Geheimdienst seit 1945 eng zusammen; die CIA stützte sich in den Anfangsjahren sogar gern auf die vorzüglich ausgebildeten Fachleute der Gestapo … Deutschland hat seinen Preis für die von der CIA ‚beratene‘ und damit mitgeprägte Politik zahlen müssen und war u. a. für Jahrzehnte Pufferzone für eventuelle Atom-Attacken aus dem roten Osten, denn natürlich stationierten die USA ihre Raketen am liebsten dort, wo dies das eigene Land nicht in Gefahr brachte. Auch im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung hat sich die CIA nicht mit Ruhm bekleckert. Geheimdienstarbeit war offensichtlich schon globalisiert, als dieser Begriff noch gar nicht existierte. Frieden oder Stabilität hat sie der Welt nicht gebracht, aber Weiner macht uns klar, dass dies womöglich niemals geplant war oder ist.
_Der Verfasser_
Tim Weiner berichtet als Journalist seit mehr als zwei Jahrzehnten über die Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Er arbeitete in Washington, dem Herz der US-Politik, sowie in Mexiko City als Auslandskorrespondent. 1988 wurde er für eine vom „Philadelphia Inquirer“ veröffentlichte Reportage, die geheime Schmiergeld-Praktiken des Pentagons und der CIA offenlegte, mit dem renommierten Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
Weiner blieb dem Thema treu bzw. weitete seine Recherchen aus. Zwischen 1993 und 1999 schrieb er für die „New York Times“ mehr als 100 Berichte über die CIA. Er gilt längst als einer der besten Kenner des US-amerikanischen Geheimdienstsystems. In „Legacy of Ashes“ (dt. „CIA – Die ganze Geschichte“), seinem dritten Buch, fasste er die Ergebnisse seiner Nachforschungen 2007 zusammen. „CIA“ erklomm die Bestseller-Listen und wurde mit dem „National Book Award Non-Fiction“ 2007 ausgezeichnet.
http://www.fischerverlage.de/
Huxley, Robert (Hg.) – großen Naturforscher von Aristoteles bis Darwin, Die
Vor der Interpretation steht das Recherchieren von Fakten; um ein schlüssiges Gesamtbild zu erhalten, muss die Faktenbasis möglichst breit sein. Das Gesamtbild umfasst in diesem Fall nichts Geringeres als die Gesamtheit der Tiere und Pflanzen auf dieser Erde. Jede Art hat ihren Platz in diesem Gefüge, und ihr Standort gibt Aufschluss über ihren evolutionären Status und (mögliche) Verwandtschaften.
Dieses stammbaumähnliche Konzept beruht auf der Jahrtausende währenden Arbeit von Entdeckern und Forschern. Sie wurde von vielen Sackgassen und Irrtümern begleitet, schritt aber voran, bis sie etwa zur Zeit Charles Darwins eine neue Qualität gewann: Bisher wurde sie von Amateurforschern und Universalgelehrten geleistet, die in der Biologie oder Botanik mindestens ebenso beschlagen waren wie in der Medizin, der Astronomie, der Geologie, der Philosophie und anderen Disziplinen.
In „Die großen Naturforscher“ stehen die Entdecker, die Beschreiber, die Klassifizierer im Zentrum der Betrachtung, die jeweils das ganze Tier oder die ganze Pflanze in Augenschein, später unter die Lupe und noch später unter das Mikroskop nahmen.
Forschung wird und wurde vor allem unter dem Gesichtspunkt der Alltagstauglichkeit ihrer Ergebnisse gewertet. Folgerichtig orientierte sich die Naturforschung, deren Anfänge sich bereits im dritten Jahrtausend vor Christus im Reich der Sumerer feststellen lassen, an den beiden Kategorien „nützlich“ und „schädlich“. So blieb es bis in die Zeit der griechischen Antike, die sich der Materie abstrakter näherte, d. h. die Natur und ihre Lebewesen nach ihrer Gestalt zu ordnen begann. Als erster ‚richtiger‘ Naturforscher gilt Aristoteles (384-322 v. Chr.), dem weitere wissensdurstige Männer folgten.
Mit dem Niedergang Roms endete diese Phase der aktiven Forschung. Während des Mittelalters und in der frühen Neuzeit beschränkte man sich auf das Wissen der Vorväter, zumal nur dieses von der allmächtigen Kirche geduldet wurde. Obwohl auch in diesen vielen Jahrhunderten hin und wieder Zweifel laut wurden, brachte erst die Renaissance die Rückkehr zur echten Grundlagenforschung. Spätestens im 16. Jahrhundert setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Zeit überreif für eine Überprüfung, Korrektur und Ergänzung des antiken Wissensschatzes war.
Gleichzeitig begann sich der Akt des Forschens selbst zu verändern. Mehr und mehr setzte sich die Erkenntnis durch, dass ‚am Objekt‘ und möglichst vor Ort studiert werden musste. Ergebnisse sollten nachprüfbar sein, sodass die ersten Sammlungen von Tieren und Pflanzen sowie die ersten Museen entstanden. Hier konnten sorgfältig präparierte Lebewesen auch ohne gefährliche Reisen in ferne Länder untersucht werden. In einem dritten Schritt wurde die bisher vor allem ‚künstlerische‘ Wiedergabe von Forschungsobjekten durch die realitätsbezogene, nüchterne und systematische zeichnerische Abbildung ersetzt.
Das 17. Jahrhundert wird im Abendland das „Zeitalter der Aufklärung“ genannt. Sie brachte vor allem die Trennung zwischen Religion und Naturkunde, die eine objektive Forschung bisher erschwert, oft unmöglich oder – man denke an Galileo Galilei – gar lebensgefährlich gemacht hatte. Jetzt wurden sogar Geistliche zu Forschern, nachdem sie Gottes Geist in seinen Werken zu spüren glaubten.
Ebenfalls im 17. Jahrhundert begann die Arbeit an einer Klassifizierung sämtlicher Lebewesen. Carl von Linné (1707-1778) durchschlug den Gordischen Knoten, aber die Natur war komplexer als gedacht. Es blieb mehr als genug Arbeit für weitere Forscher, die Ausnahmen einer weiter gefassten Ordnung einzupassen.
Die Forscher des 19. Jahrhunderts gingen den nächsten Schritt: Sie suchten nach Erklärungen für das Bild, das sie entworfen hatten. Gelehrte wie Alexander von Humboldt (1769-1859) betrachteten Tiere und Pflanzen nicht mehr isoliert, sondern erkannten die Gesetzmäßigkeiten ihres Zusammenlebens sowie ihre Abhängigkeit von Faktoren des Klimas, der Geologie und der Geografie.
Die klassifizierte Natur musste ihren Ursprung und sich entwickelt haben. Das Konzept der Evolution ließ den Kampf mit der Kirche noch einmal aufflammen. Charles Darwin (1809-1882) wurde unfreiwillig zur Leitfigur dieses Streites.
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts ließen Entdeckungsreisen nie gekannten Ausmaßes und moderne Forschungstechniken den Informationsstrom auf ein Maß anschwellen, das kein einzelner Mensch mehr meistern konnte. Der Amateur und Universalgelehrte wurde abgelöst vom Spezialisten, der sich auf ein ganz bestimmtes Fachgebiet konzentrierte.
„Prachtband“ ist ein großes Wort. Hier darf und muss man es verwenden. „Die großen Naturforscher“ ist ein Buch, das man in die Hand nimmt, darin blättert und sogleich gefangen ist. Schwer liegt es in der Hand, obwohl es kein Überformat und einen Umfang von kaum mehr als 300 Seiten aufweist. Dies bestehen freilich aus dickem, feinporigem Papier, das nicht nur ein wunderbar scharfes Schriftbild garantiert, sondern vor allem die zahlreichen Abbildungen zur Geltung bringt.
Wie ein Relikt aus den ersten Jahrhunderten der Buchdruckkunst wurde „Die großen Naturforscher“ gestaltet. Das Layout orientiert sich an Büchern aus dem 18. oder 19. Jahrhundert. Die mit Text bedruckten Seiten sind gelblich eingefärbt wie ein vergilbter Band aus einem alten und selten benutzten Archiv; nicht einmal Verfärbungen und Flecke wurden vergessen.
Das schwere Kunstdruckpapier kommt freilich vor allem den zeitgenössischen Bildern zugute. Sie stammen aus einer Vergangenheit, die in ihrem Ausklang den Fotoapparat zwar schon kannte, ihn aber nicht verwendete. „Die großen Naturforscher“ ist Zeugnis der großen Zeit der gezeichneten Darstellung von Tieren und Pflanzen. Diese besaß eine Prägnanz, die ihre Werke noch nach den Kriterien der gegenwärtigen Forschung bestehen lässt. Nicht künstlerische Interpretation, sondern die klare Wiedergabe des Tatsächlichen war die Forderung an die Zeichner, Maler und Holzschnitzer der hier wiedergegebenen Werke. Sie haben diese Aufgabe glänzend gelöst und dabei dennoch bestaunenswerte Kunstwerke geschaffen, die heute ungeachtet mancher sachlicher Fehler faszinieren.
Wobei ein besonderer Aspekt dazu beiträgt: Was vor zwei oder drei Jahrhunderten gesammelt und untersucht werden konnte, existiert heute womöglich gar nicht mehr. Viele der in diesem Buch gezeigte Pflanzen und Tiere sind heute dort, wo man sie einst fand, längst nicht mehr heimisch, weil sie durch Überbevölkerung und Umweltverschmutzung verdrängt wurden. Manche wie der Carolinasittich (S. 234) sind inzwischen ausgerottet.
Die einzelnen Beiträge künden von dem langen Prozess der Wissensfindung. Die Naturforschung ist selbst zum Gegenstand der Wissenschaft geworden, stellt doch ihre Geschichte ein Spiegelbild der jeweiligen politischen und geistigen Verhältnisse dar. Sie erschöpfte sich deshalb nie in der Beschäftigung mit offenen Fragen, sondern war immer auch Kampf gegen Aberglaube und Religion, gegen die Gleichgültigkeit derer, die Wissen nur dort interessierte, wo es sich in klingende Münze verwandeln ließ, gegen missgünstige Konkurrenten, denn auch Wissenschaftler waren und sind nur Menschen, die um Rang, Ehre und Fördermittel raufen.
Diese Geschichte ist spannend, denn sie bildet nicht nur einen roten Faden durch die Jahrtausende, sondern hat einen Anfang und ein Ende, auch wenn er nicht straff gespannt verläuft, sondern viele Windungen, Schlingen und sogar Knoten aufweist: Vieles wurde erdacht, ausprobiert und verworfen, manches doppelt oder dreifach gemacht. Aus den Fortschritten wurde ebenso gelernt wie aus den Irrtümern. Dieser Prozess ist heute keineswegs abgeschlossen. Das Leben wird heute als Gefüge ungemein komplexer, miteinander verwobener und nie isolierter Vorgänge akzeptiert, aber keineswegs in allen Details verstanden. Die Reihe der großen Naturforscher wird sich also fortsetzen.
Wer sein Wissen über die Wissenschaftler der Vergangenheit vertiefen möchte, kann sich aus einem umfangreichen Literaturverzeichnis weitere Titel aussuchen. Selbstverständlich gibt ein Register, das ein gezieltes Arbeiten mit diesem Buch ermöglicht, das nur empfohlen werden kann.
http://www.frederking-thaler.de
Schuster, Wolfgang – Mit MS Karin von Jütland zum Saimaa-Kanal. Ein Reisetagebuch
Mit diesem Büchlein legt der 1929 in Borna bei Leipzig geborene Schriftsteller Wolfgang Schuster sein drittes Werk vor. Nach seinem durchweg sehr gut bewertetem Zeitzeugenbericht um seine Inhaftierung von 1945-1950 in einem sowjetischen KZ und einem weiteren Buch über seine Flucht in den ‚Goldenen Westen‘ schildert dieser Band ein positives Erlebnis. Für den Rezensenten ist es auch kein Gegensatz zu den vorherigen Werken, wenn Schuster sich unterschiedlichen Themen zuwendet, da der Vielfalt eines Autors keine Grenzen gesetzt sein sollten und die Werke auch authentisch sind.
In diesem Buch schildert Wolfgang Schuster eine mehrtägige Reise im Jahre 1993, die er nach Beendigung seines Berufslebens zusammen mit seiner Frau Ursula antritt. Diesen neue Lebensabschnitt, der, wie der Autor in seiner Einleitung „Wie es zu dieser Reise kam …“ betont, für viele ein Problem darstellt, da sie in ein ‚Loch‘ fallen, wollte er mit einer Reise beginnen. Nach reichlichem Studium von Reiseprospekten entscheiden sie sich für eine Reise auf der MS KARIN, einem Handelsschiff, welches auch Privatpersonen aufnimmt, von Horsens (Dänemark) nach Lappeenranta (Finnland).
Die Stärken des Buches liegen im weitgehend deskriptiven Charakter, ebenso den Schilderungen von Natur und Naturgewalten, den schiffsfahrttechnischen Abläufen (Transport von Waren, Lotsen im Kanal) sowie den Gefühlen der Reisenden. Der Schreibstil ist natürlich, umgangssprachlich, hebt nicht nur die Besonderheiten dieser Reise gegenüber dem Massentourismus hervor, sondern gewährt auch Einblick in die Persönlichkeit der Schusters, die sich zunehmend mit Schiff und Mannschaft identifizieren, und erscheint dem Rezensenten nicht nur authentisch, sondern auch sympathisch.
Sie ‚mampfen‘ mit Freude ihr Lunchpaket während des Landganges, lassen den Leser auch täglich am Mahl teilhaben, spazieren in der Natur fern der Zentren und pflücken Blumen für den Kapitän, schildern auch ihre ‚Seekrankheit‘, ihre Panik während eines Sturmes, wobei sogar entsprechende Spannung aufkommt, oder ihre aus der Vergangenheit resultierenden Ängste, wenn ein bewaffneter ‚Rotarmist‘ im sowjetischen Teil des Saimaa-Kanals das Schiff betritt.
Hinweglesen kann man über die manchmal unpassende oder fehlerhafte maritime Begrifflichkeit. Der Begriff ‚Gangway‘ passt nicht ganz so in das Gesamtwerk und Stelling wäre besser gewählt. Ebenso finden Begriffe wie Luv und Lee mehr in der Segelschiffahrt Anwendung bzw. müsste es in einem Fall ‚legte an‘ heißen und nicht ‚ankerte an‘. Diese Kleinigkeiten mögen dem Rezensenten besonders ins Auge gefallen sein, da er selbst lange zur See gefahren, aber dem Autor Wolfgang Schuster dennoch dankbar dafür ist, viele seiner eigenen Erfahrungen und Gefühle aus dieser Zeit durch seine lebendigen Schilderungen geweckt zu haben.
Abgerundet wird das Buch durch zahlreiche persönliche Fotos. Auch wenn die Reise der Schusters schon 1993 stattfand, so bildet doch das Vorwort eine Brücke zum Hier und Jetzt und wird dadurch nicht nur für Freunde und Bekannte der Schusters lesenswert, sondern auch für alle, die sich der Natur oder Schifffahrt verbunden fühlen, die Anregungen für ihren ‚wohlverdienten Lebensabend‘ fern des Massentourismus suchen oder einfach eine kurzweilige Reiselektüre.
http://www.holzheimerverlag.de
_Martin Dembowsky_
Pyta, Wolfram – Hindenburg: Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler
Die vorliegende Monographie von Wolfram Pyta über das Leben und Wirken Paul von Hindenburgs (genauer: Paul Ludwig Hans Anton von Beneckendorff und von Hindenburg, 1847-1934) wartet – wie schon die Seitenzahl, welche deutlich die 1000er Marke überschreitet, erahnen lässt – mit einem ausgesprochenem Detailreichtum auf. Das Bild des Mannes, der gleich mehrere bedeutende Zeitabschnitte der deutschen Geschichte miterlebte und teilweise mitgestaltete, erlangt durch die vorliegende präzise und pointierte Biographie eine besondere Schärfe. Hindenburg, der nur ein Jahr vor den europäischen Revolutionen von 1848 geboren wurde, wuchs in einer preußischen Gutsbesitzer- und Offiziersfamilie auf, begann schließlich im preußischen Militär seine erste Karriere, welche ihm später zur Eintrittskarte für die politische Bühne der Weimarer Republik gereichen sollte. Bemerkenswert ist, dass Pytas Buch mit dem Beginn eben dieser militärischen Karriere, welche Hindenburg schließlich zum Generalfeldmarschall und Chef des Generalstabes machen sollte, seine Betrachtung beginnt. Im Folgenden schildert Pyta nicht nur den Aufstieg Hindenburgs innerhalb der Militärhierarchie, sondern zugleich seine Entwicklung zu einem „politischen Herrscher“ und Machtmenschen.
Während sich die erste Hälfte des Buches vor allem auf Hindenburgs Zeit beim Militär konzentriert, steht die zweite Hälfte unter dem Stern der Reichspräsidentschaft. Dies umfasst einerseits natürlich den Weg Hindenburgs zum Reichspräsidenten, der durch die Unterstützung des bürgerlich-rechten Lagers in sein Amt kommt und während seiner Regierungszeit zum Ersatzmonarchen avanciert. Diese oft gewählte Formulierung charakterisiert natürlich den hohen Gehalt an politischer und werterepräsentativer Strahlkraft, welche Hindenburg schon früh aufzubauen und zu pflegen verstand. Eben diese Strahlkraft setzte er in seiner langen politischen Karriere gleich mehrfach ein, um einerseits seinen egomanischen Geltungsdrang zu befriedigen und andererseits alte Weggefährten oder Personen, die schlichtweg seinen persönlichen Zielen im Weg standen, aus dem Weg zu räumen. Dies gilt ebenso für Ludendorff wie auch für Groener, Brüning, Papen und Schleicher.
Man kann es Prestige, Nimbus oder schlichtweg Charisma nennen, wie es auch Pyta vorzieht, man kommt jedoch in keiner Sichtweise umhin, dieser historischen Figur ein Attribut zuzuordnen, das eine gewisse Größe zum Ausdruck bringt, auch wenn es vor allem Hindenburg selbst war, der dieses Image seiner selbst aufbaute und verteidigte. Pytas Buch zeichnet ein deutliches Bild Hindenburgs als zielbewussten und hintertriebenen Utilitaristen mit eiskaltem politischem Kalkül. In diesem Buch werden Hindenburgs Taten nicht durch den vermeintlichen Einfluss von Beraterkreisen, Interessenverbänden oder Demenzkrankheiten entschärft oder gar entschuldigt, sondern vielmehr versucht Pyta deutlich, die aktive Verantwortlichkeit Hindenburgs zu betonen.
In der Gesamtschau handelt es sich bei dem vorliegenden Buch um eine faszinierende und detailreiche Auseinandersetzung mit dem Charakter, der Herrschaftsausübung und dem Mythos Hindenburgs. Das Buch richtet sich dabei vor allem an ein Fachpublikum und dürfte daher für einen Laien ohne tiefer reichende Vorkenntnisse des Themenbereichs nur bedingt gewinnbringend sein. Um Hindenburg und seine Biografie vollständig verstehen zu können, muss man eben auch die deutsche und europäische Geschichte zwischen den 1860ern und 1945 kennen und hinreichend verstehen.
|Gebundenes Buch, 1120 Seiten
100 Schwarzweiß-Abbildungen|
http://www.siedler-verlag.de
Robin Hanbury-Tenison (Hg.) – Die 70 großen Reisen der Menschheit
In sechs Großkapiteln stellt Herausgeber Robin Hanbury-Tenison – selbst ein großer Reisender und mit der Materie vertraut – 70 historische Reisen vor, die das Verständnis von der Gestalt dieser Erde und der Kenntnis ihrer Pflanzen, Tiere und Menschen entscheidend prägten. Die Gliederung folgt historischen Epochen und berücksichtigt darüber hinaus die zeittypischen Formen des Reisens.
1. Altertum: In einer noch weitgehend menschenleeren Welt zogen ‚Reisende‘ im Gruppen- und Familienverbund ins Unbekannte. Ob die Menschen, die vor 100.000 Jahren Afrika verließen, dies aus reiner Not taten oder ob sie bereits die Ferne lockte, muss als Frage mangels Quellen unbeantwortet bleiben. Hatte man Neuland erreicht und kultiviert, kam irgendwann der Zeitpunkt, an dem Überschuss erzielt und (Fern-) Handel getrieben wurde – und der Moment, in dem sich der Nachbar dieses Reichtums gewaltsam bemächtigen wollte. Robin Hanbury-Tenison (Hg.) – Die 70 großen Reisen der Menschheit weiterlesen
Joachim Castan – Der Rote Baron. Die ganze Geschichte des Manfred von Richthofen
Er flog wie ein Gott und kämpfte wie ein Teufel in seinem feuerrot angemalten Dreidecker, schoss im ritterlichen Kampf 80 feindliche Flugzeuge vom Himmel und nahm seine besiegten Gegner am Boden persönlich in Empfang, um mit ihnen ein Glas Sekt auf das tolle Gefecht zu heben – das war Manfred Freiherr von Richthofen (1892-1918), der „Rote Baron“, gefürchtet und bewundert sogar von seinen Gegnern, die ihm das gebührende Heldenbegräbnis ausrichteten, als sie ihn endlich erwischten.
Legenden werden nicht ohne Grund geboren. Auf diese Weise gerät die lästige Wahrheit außer Sicht. Unzählige Bücher wurden über von Richthofen geschrieben. Sie stellen den Flieger in den Mittelpunkt und stützen sich biografisch auf fragwürdige Quellen, die viel zu oft der Verklärung dienten und den Menschen Manfred von Richthofen verzeichneten. Joachim Castan – Der Rote Baron. Die ganze Geschichte des Manfred von Richthofen weiterlesen
Caspers, Ralph / Westland, Daniel – Scheiße sagt man nicht! Die 100 (un)beliebtesten Elternregeln
Scheiße sagt man nicht. Und wenn man schielt, bleiben die Augen so stehen. Und mit vollem Magen darf man nicht schwimmen gehen.
Alle Kinder haben solche Sprüche schon von ihren Eltern gehört. Ralph Caspers, Moderator von „Wissen macht Ah!“ und Mitarbeiter bei der „Sendung mit der Maus“, hat 100 mehr oder weniger bekannte Elternregeln auf ihren Wahrheitsgehalt untersucht und sich dabei Rat aus der Wissenschaft geholt. Je nach Ergebnis hat er sie in seinem Buch „Scheiße sagt man nicht! Die 100 (un)beliebtesten Elternregeln“ in „Stimmt“, „Stimmt nicht“ und „Stimmt nicht ganz“ eingeteilt.
Caspers präsentiert seine Erkenntnisse in dem populärwissenschaftlichen bis populären Tonfall, wie er in seiner Sendung vorherrscht, und dazwischen ist er immer mal wieder für einen Kalauer gut. Seine lockere und leicht verständliche Sprache ist auf die jugendlichen Leser gerichtet, denen ganz offenkundig seine Sympathie gilt, auch wenn er ihnen manchmal das Ergebnis zumuten muss: Tja, da haben die Eltern wohl oder übel Recht. Insofern greift hier auch der Effekt der „Sendung mit der Maus“: Man erklärt für die deklarierte Zielgruppe der Kinder besonders einfach, und die Erwachsenen sind insgeheim erleichtert: „Jetzt verstehen wir es auch endlich.“
So erfahren wir von Caspers, dass man Essensreste wirklich nicht die Toilette hinunterspülen sollte, weil sich auch in zivilisierten Ländern mit funktionierendem Wasser-/Abwassersystem massenhaft Ratten in der Kanalisation tummeln, die nur auf solche Fütterungen warten. Andererseits ist laut Autor das Herunterschlucken eines Kaugummis oder einer kleinen Menge Zahnpasta ungefährlich.
Bei einigen hinterfragten Erziehungssprüchen bringt Caspers nichts Neues. Dass man bei Rot wirklich nicht über die Straße gehen sollte, andererseits aber der altbekannte Satz „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“ keine ethnologische Tatsachenbehauptung ist (und von Eltern auch nie so gemeint ist), dürfte jedem klar sein. Dennoch fördert das Büchlein auch bei vermeintlich eindeutigen Fällen noch einige interessante Hintergründe zutage. Vermutlich glaubt niemand, der auch nur das Alter der Schulpflicht erreicht hat, dass man durch das brave Leeressen seines Tellers schönes Wetter am folgenden Tag hervorrufen könnte. Aber wer hat gewusst, das dieser Spruch auf den zutreffenden plattdeutschen Satz zurückgeht: Iss deinen Teller leer, „dann gifft dat morgen godes wedder“, d. h. wieder Gutes oder Frisches – und nicht die aufgewärmten Reste von heute. Darüber, wie bereitwillig Erziehungsberechtigte diesen Spruch missverstanden haben, kann man nur spekulieren …
„Scheiße sagt man nicht!“ liefert also Eltern wie Kindern einiges an Munition zum Diskutieren. Jetzt kommt es nur darauf an, wer es als Erster liest und vor dem anderen geheimhalten kann. Illustriert ist das Taschenbuch mit teilweise echt witzigen Karikaturen Eva von Platens.
http://www.scheissesagtmannicht.de
http://www.rororo.de
Larson, Erik – Marconis magische Maschine
Guiglielmo Marconi und Dr. Hawley Harvey Crippen: Schon ihre Herkunft trennt sie buchstäblich durch Welten; der eine ist in Italien, der andere in den USA geboren. Auch in ihrem Werdegang sind sie grundverschieden. Marconi ist ein Erfinder, der sich dem drahtlosen Funk verschrieben hat. Seit 1894 experimentiert er wie besessen, und es gelingt ihm, die Entfernung zwischen Sender und Empfänger kontinuierlich zu steigern. Er geht nach England und wird berühmt, doch gleichzeitig wächst die Widerstand gegen den ‚Ausländer‘, der gern als Scharlatan hingestellt wird.
Crippen lässt sich zum homöopathischen Mediziner ausbilden und arbeitet für eine lange Reihe eher windiger Firmen, die rezeptfreie „Patentmedizinen“ auf den Markt werfen. Schon in jungen Jahren trifft er eine verhängnisvolle Entscheidung und heiratet eine Frau, mit der es keine Gemeinsamkeiten gibt. In den nächsten Jahrzehnten machen sich die selbsternannte Künstlerin und der unglückliche, allzu duldsame Gatte das Leben zur Hölle. Auch ein Umzug nach London bringt keinen Frieden. Scheidung ist in dieser Ära verpönt, der Druck wächst – und dann lernt Crippen die junge Ethel kennen. Seine Liebe wird erwidert, Gattin Cora misstrauisch. Keinesfalls will sie ihren Ruf sowie ihren Status als finanziell versorgte Ehefrau verlieren.
Der Druck wächst, Crippen steckt in der Klemme, die ihn 1910 einen verhängnisvollen Entschluss fassen lässt: Cora muss verschwinden! Der Arzt kennt sich mit Giften aus, aber er unterschätzt die Polizei. Nach und nach wird eine grausige Mordtat aufgedeckt. Mit seiner Geliebten will sich Crippen in die USA absetzen, wo sich ihre Spuren in dem riesigen Land verlieren werden. Die Reise per Schiff dauert nur wenige Tage, die das Paar in Verkleidung hinter sich zu bringen hofft.
Aber Crippen hat den Fortschritt gegen sich: Nach Jahren unermüdlicher, von Fehlschlägen begleiteter Versuch gelang es Marconi, den drahtlosen Funk ohne Entfernungsbeschränkungen zu realisieren. Seither werden immer mehr Schiffe mit Funk ausgerüstet. Auch an Bord der „SS Montrose“, mit der Crippen und Ethel reisen, gibt es eine Station. Als Kapitän Kendall die wahre Identität seiner Passagiere erkennt, lässt er mit Hilfe des Funks eine neue Ära der Kriminalgeschichte beginnen …
Forschung und Wissenschaft werden seit jeher gern nach der Alltagstauglichkeit ihrer Ergebnisse bewertet. Die Naturwissenschaft bietet in dieser Hinsicht die besseren Möglichkeiten. Noch immer ist es gelungen, aus der Arbeit von Chemikern, Physikern oder Astronomen wirtschaftlichen oder militärischen Nutzen zu schlagen.
Guiglielmo Marconi wird von denen, die misstrauisch auf das schwer kontrollierbare Treiben in teuren Labors blicken, besonders leicht ins Herz geschlossen, denn der Erfinder des drahtlosen Funks, der die Kommunikation zwischen Kontinenten und Meeren möglich machte, war nicht einmal ein Wissenschaftler, sondern ein Autodidakt, der seine Erfolge aufgrund unermüdlicher Versuche nach dem Prinzip Versuch & Irrtum erzielte. Außerdem stand für Marconi von Anfang an fest, dass er mit seiner Schöpfung reich und berühmt werden wollte.
Was ihn heute zum Helden einer globalisierten und kommerziellen Forschung machen würde, bereitete ihm zu seiner Zeit kurioserweise Schwierigkeiten, denn Ende des 19. Jahrhunderts sah der ‚wahre‘ Wissenschaftler sich ausschließlich seiner Arbeit verpflichtet, deren Ergebnisse zwecks Überprüfung den Kollegen mitzuteilen war. Marconi sperrte sich konsequent gegen diese Tradition und betrachtete diese Kollegen stattdessen als Konkurrenten.
Schon dieser ‚menschliche‘ Aspekt verleiht Marconis Biografie Spannung, resultieren aus seinem Charakter und seinem Werk doch zahlreiche Auseinandersetzungen und Intrigen, die eines Thrillers würdig sind. Gleichzeitig fesselt die Darstellung einer Technik, die nicht mit spektakulären Effekten sparte: Gleich mehrfach ließ Marconi in unwirtlichen Regionen gewaltige Teststationen mit himmelhoch ragenden Masten und bizarren Antennengebilden errichten, die wie dem Titelblatt eines Science-Fiction-Romans nachgebildet wirkten.
Erik Larson verlässt sich indes nicht auf die Anziehungskraft der Marconi-Saga. Er sucht sich ein Ereignis, das auch dem technisch absolut abholden Leser die historische Bedeutung der drahtlosen Kommunikation vor Augen führt. Womöglich fürchtet er, dass diese im 21. Jahrhundert so selbstverständlich geworden ist, dass der Zeitgenosse die Pioniertat Marconis nicht zu würdigen weiß.
Der Autor geht damit ein Risiko ein, denn die Wege von Guiglielmo Marconi und Dr. Crippen haben sich nie gekreuzt. „Marconis magische Maschine“ spiegelt das wider: Die ‚Handlung‘ spielt auf zwei Zeitebenen. Marconi erzielte seinen Durchbruch kurz nach der Jahrhundertwende. Die Jagd auf Crippen fand 1910 statt. Da waren Marconis eigentliche Schlachten im Grunde geschlagen, der drahtlose Funk zur akzeptierten Errungenschaft geworden. Dass Crippens Flucht vereitelt werden konnte, ist nachweislich dem Einsatz des Funks zu verdanken. Trotzdem stellt dieser Kriminalfall in der Geschichte der drahtlosen Kommunikation nur eine Episode dar. Larson spitzt seine Darstellung dagegen konsequent auf dieses Ereignis zu. Die Kapitel, in denen der Verfasser zwischen Marconi und Crippen ’springt‘, werden immer kürzer: Larson inszeniert das große Finale. Das wirkt bemüht, zumal er ansonsten zwei quasi isolierte Lebensgeschichten erzählt.
Diese Zweiteilung übernimmt er aus „The Devil in the White City“ (dt. [„Der Teufel von Chicago“), 492 seinem Bestseller aus dem Jahre 2003, in dem er Leben und ‚Werk‘ der Zeitgenossen Daniel Hudson Burnham und Herman Webster Mudgett gegenüberstellt: der eine ein Architekt, der sich darum bemüht, die Stadt der Zukunft zu bauen, der andere ein Serienkiller, dem im modernen Stadtleben die Möglichkeiten erkennt, seinem Mordtrieb nachzugeben.
Burnham und Mudgett waren Zeitgenossen und leben in derselben Stadt. Ihre Lebenswege ließen sich verweben. In „Marconis magische Maschine“ muss Larson eher kleben. Marconi spielte in Crippens Leben keine Rolle, und Crippen bewegte sich in anderen Kreisen als Marconi. Die Technik bildet den eigentlichen Berührungspunkt – eine Tatsache, die Larson anscheinend für nicht publikumstauglich genug hielt.
Die nur bedingt überzeugende Verknüpfung der Marconi- und Crippen-Viten irritiert. Sie schmälert freilich nicht den Informations- und Unterhaltungswert dieses Buches. Larson ist ein exzellenter Sachbuch-Autor: Er recherchiert aufwändig und kleidet die Fakten in eine Sprache, die auch den Laien schwierige technische Sachverhalte problemlos erfassen lässt. Marconi und Crippen bewegen sich durch einfühlsam und anschaulich geschilderte Welten, denn Larson bezieht die politische und kulturelle Realität der Vergangenheit jederzeit in seine Darstellung ein. Zum Verständnis historisch bedingter und deshalb heute oft schwer oder gar nicht verständlicher Sachverhalte trägt diese Einbettung nachhaltig bei.
Überhaupt bedient sich Larson eines Stils, der die Lektüre zum Vergnügen macht – ein Kompliment, das selbstverständlich die Übersetzerin einschließt. Larson schreibt lebendig, reiht nie trockene Fakten, sondern wählt aus dem Wust der zeitgenössischen Überlieferung zentrale bzw. relevante Ereignisse. Für Abwechslung sorgen gut ausgewählte Anekdoten, die den Fakten Leben einhauchen. Vor publikumswirksamen Tricks schreckt Larson ebenfalls nicht zurück: Im Vorwort schreibt er: „Ich bitte den Leser meine Leidenschaft für Abschweifungen nachzusehen. Wenn Sie beispielsweise über ein Stück menschliches Fleisch mehr erfahren, als Ihnen lieb ist, dann entschuldige ich mich im Vorhinein, auch wenn ich gestehen muss, dass es nur eine halbherzige Entschuldigung ist.“ Wer würde da nicht neugierig? Die Erwartungen werden nicht enttäuscht, wenn wir detailfreudig erfahren, auf welche groteske Weise der sanfte Dr. Crippen seine Gattin in „ein Stück menschliches Fleisch“ verwandelte. Niemand wird anschließend behaupten, ein Sachbuch müsse zwangsläufig langweiliger als ein Roman sein …
Erik Larson (geb. 1954) wuchs in Freeport, Long Island, auf. Er absolvierte die „University of Pennsylvania“, die er mit einem Abschluss in Russischer Geschichte verließ. Klugerweise ergänzte er dies mit einem Studium an der „Columbia Graduate School of Journalism“. Im Anschluss arbeitete er viele Jahre für diverse Zeitungen und Magazine.
Inzwischen hat Larson diverse Sachbücher veröffentlicht, von denen „Isaac’s Storm“ (1999, dt. [„Isaacs Sturm“) 2068 ihm den Durchbruch und Weltruhm brachte. Der Autor lebt mit seiner Familie in Seattle.
http://www.fischerverlage.de/
Hanson, Neil – Nur das Meer war Zeuge
Tollesbury ist eine kleine Hafenstadt an der Nordseeküste der englischen Grafschaft Essex und im 19. Jahrhundert als Heimat besonders fähiger Seeleute bekannt. Trotzdem ist Arbeit rar, die Konkurrenz groß. Der junge Navigator Tom Dudley ist daher nach einem für ihn und seine Familie harten Winter im Frühjahr 1884 geneigt, auf ein verlockendes aber riskantes Angebot einzugehen: Als Kapitän soll er die Rennjacht „Mignonette“ von Tollesbury nach Sidney zu ihrem neuen Eigner überführen – eine Seereise von 10.000 Seemeilen! Dudley ist ein guter Seemann, aber die „Mignonette“ ist zwanzig Jahre alt und wurde für die Küstenschifffahrt, nicht jedoch für die hohe See gebaut. Doch der gute Lohn lockt, und so stellt Dudley nach einigen Schwierigkeiten eine kleine Crew zusammen, mit der er im Mai in See sticht. Mit ihm reisen Edmund „Ned“ Brooks als Vollmatrose und Schiffskoch, der Maat Edwin Stephens und der 17-jährige Richard Parker, der als Leichtmatrose auf seine erste große Fahrt geht.
Kapitän Dudley ist als Hochseeschiffer ein Neuling. Die Sicherheit von Schiff und Mannschaft steht für ihn an erster Stelle. Er steckt einen Kurs ab, der die „Mignonette“ fern bekannter Sturmzonen halten soll. Doch ihm entgeht, dass ihn seine Route weitab der befahrenen Segel- und Dampfschiffrouten führt. Das rächt sich bitter, als am 5. Juli 1884 die „Mignonette“ in einem gewaltigen Sturm binnen weniger Minuten sinkt. Die vier Männer können sich retten, doch als sich die Wogen glätten, finden sie sich auf der halben Strecke zwischen Afrika und Südamerika ohne Lebensmittel und Wasser in einem halb lecken Dingi von gerade einmal vier Meter Länge und 1,20 Meter Breite wieder. Fast drei Wochen halten die Schiffbrüchigen trotz unglaublicher Strapazen und Entbehrungen aus. Am Ende ihrer Kräfte, den Tod unmittelbar vor Augen, berufen sich Kapitän Dudley, Stephens und Brooks auf den „Brauch des Meeres“: Sie töten Richard Parker, den Schwächsten ihrer Crew, und verzehren ihn. Das rettet ihnen das Leben, bis sie Tage später vom deutschen Dreimaster „Moctezuma“ gefunden und aufgenommen werden.
Der „Brauch des Meeres“ ist eine in Seemannskreisen wohlbekannte, doch naturgemäß niemals schriftlich fixierte Regel, rührt sie doch an ein uraltes Tabu. Das soll Kapitän Dudley und seinen beiden Begleitern zum Verhängnis werden. Während sie sich in dem Bewusstsein, etwas Furchtbares, aber letztlich Unvermeidbares getan zu haben, an Bord der „Moctezuma“ allmählich erholen, braut sich über ihren Köpfen ein Sturm ganz anderer Natur zusammen: Kannibalismus passt gar nicht in das Selbstbild der stolzen Seefahrernation England, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Weltmacht aufsteigt. Der brave britische Seemann hat gefälligst gefasst und entschlossen und wenn möglich mit einem Hoch auf die Königin in den Tod zu gehen.
Das Unglück der „Mignonette“ wird zum Politikum, als das Innenministerium beschließt, an Dudley und seinen Begleitern ein Exempel zu statuieren, um auf diese Weise den verhassten „Brauch des Meeres“ endgültig auszurotten. Das unglückliche und völlig überraschte Trio, das aus seiner Tat keinen Hehl macht, wird des Mordes angeklagt. Es entspinnt sich ein Rechtskampf durch alle Instanzen, in dem die Angeklagten niemals eine Chance haben. Sie werden zum willkommenen Bauernopfer in einem politischen Schachspiel, das sie weder verstehen noch fassen können, als sie es endlich durchschauen. Dudley, Stephens und Brooks verlieren alles – ihre Freiheit, ihren Ruf, ihre Würde und schließlich ihre Selbstachtung, als sie in ihrer Not beginnen, einander zu verraten. Nach einem in den Annalen der Justizgeschichte einmaligen und beschämenden Schauprozess, der sich über Monate hinzieht, werden die drei Angeklagten zum Tode verurteilt – und sogleich zu einer sechsmonatigen Haftstrafe begnadigt.
Die Resonanz der Öffentlichkeit und vor allem der Presse hält sich anschließend in Grenzen, und so haben es die Drahtzieher auch geplant. Als die Überlebenden der „Mignonette“ dann freigelassen werden, geschieht dies in aller Stille. Ihr Leben ist zerstört. Verbittert bemühen sie sich um einen Neuanfang, doch die Ereignisse des Jahres 1884 werden sie bis zu ihrem Tode verfolgen.
Als die unglücklichen Überlebenden der „Mignonette“ gerettet werden, hat der Leser gerade die Hälfte des Buches erreicht. Das sorgt für Verblüffung, bis sich herausstellt, dass die Geschichte nun richtig beginnt. Manches Mal werden sich Kapitän Dudley und seine Gefährten wohl gewünscht haben, auf See umgekommen zu sein, während sie durch die unerbittlichen Mühlen der britischen Justiz gedreht wurden. Dem Mord als letztem Ausweg für ein Überleben folgte der ungleich verdammenswertere Mord durch eine unheilige Allianz von Politikern, Richtern und Anwälten und selbsternannten Streitern für den ‚britischen‘ Geist.
Entschlossen ist der Journalist und Historiker Neil Hanson in die mehr als ein Jahrhundert tiefe Schicht von Prozessakten, Zeitungsartikeln und Büchern zum Fall „Mignonette“ abgetaucht, um bis auf den Grund der Geschichte vorzudringen. Das eigentlich Unglaubliche ist ja die Tatsache, dass die Beteiligten des Justizskandals von 1884 ihr Tun kaum verbargen. Deprimierend ist die Erkenntnis, dass dazu auch kein Grund bestand: In den Augen des Gesetzes waren diejenigen, die über Kapitän Dudley und seine Männer ihr Urteil sprachen, durchaus im Recht – jedenfalls aus juristischer Sicht.
Die Urteil stand von vornherein fest. Den Weg dorthin zu verfolgen, ist dank Neil Hanson fesselnd, und die Fakten können wahrlich für sich selbst sprechen Auch die letzte Fahrt der „Mignonette“ und die Leiden der Schiffbrüchigen rekonstruiert der Autor mit großer Meisterschaft. Auffällig ist die kunstvolle Verschränkung der einzelnen Kapitel; im Erzählfluss tauchen immer wieder Brüche in Gestalt interessanter, doch eigentlich nicht zum Thema gehörender Exkurse auf, die jedoch an anderer Stelle plötzlich ihren wahren Sinngehalt offenbaren. Wie nebenbei erhält der Leser auf diese Weise Informationen nicht nur über den Kannibalismus in der Geschichte, sondern auch über die Handelsschifffahrt nach 1850, das Gesellschaftsleben, die Politik und die Justiz im England an der Schwelle zur modernen Industrienation.
Und die haben es durchaus in sich. Allgemein bekannt ist die rohe Grausamkeit, die auf den Schiffen der britischen Kriegsmarine an der Tagesordnung war. Hanson deckt nunmehr auf, dass es auf den Handelsschiffen keineswegs gesitteter zuging. Die perfide Geldgier skrupelloser Geschäftsmänner, die das Recht nach ihrem Gusto beugten, machte es möglich, unschuldige Seeleute auf halb wracken, überladenen und hoch versicherten Frachtschiffen – den berüchtigten „Seelenverkäufern“ – hinaus aufs Meer zu schicken, wo auf diese Weise Zehntausende ein elendes Ende fanden.
Aber auch mit der Solidarität der Seeleute untereinander war es nicht besonders weit her. In Literatur und Film weit verbreitet ist jene Szene, in der die im Ozean treibenden Überlebenden eines Untergangs in der Ferne das Segel eines anderen Schiffes sehen. Jubel angesichts der nahen Rettung bricht aus, und das zu Recht, denn später sehen wir die Geborgenen in Decken gehüllt an Bord des Retters in die Heimat zurückkehren. So selbstverständlich war dies allerdings gar nicht. Hanson legt dar, dass Schiffbrüchige weitaus öfter von anderen Schiffen entdeckt als gerettet wurden. Die Gründe reichten von eigener Lebensmittelknappheit über Furcht vor ansteckenden Krankheiten bis zu blanker Gleichgültigkeit.
Wenn es etwas einzuwenden gibt gegen die traurige, aber fesselnde Geschichte vom „Gesetz der See“, dann ist es der verhängnisvolle Drang des Verfassers, das tatsächliche Geschehen in eine solche zu verwandeln: Dieses Buch ist keine Dokumentation, sondern ein Tatsachenroman. Was Hanson zu dieser Form veranlasste, bleibt unklar; eventuell fürchtete er, seine Leser durch das allzu ausführliche Zitieren zeitgenössischer Quellen zu langweilen. Doch sein Drang, um jeden Preis zu unterhalten, geht auf Kosten der Glaubwürdigkeit. Dafür ist nicht einmal die offenkundige Unbeholfenheit des ehrgeizigen Romanciers verantwortlich, die allerdings auch der arg hölzernen deutschen Übersetzung anzulasten sein mag. (Dies wird unterstrichen durch den deutlichen Bruch zwischen der Geschichte der „Mignonette“ und dem Prozess gegen ihre Besatzung: Beide Teile wurden von verschiedenen – und unterschiedlich begabten! – Übersetzern ins Deutsche übertragen.)
Schlimmer ist Hansons Spiel mit der Realität. Schon früh schwant dem Leser wenig Gutes, wenn er Kapitän Dudley und seine Crew ausführliche und geradezu prophetische, scheinbar im Wortlaut zitierte Gespräche mit dem jungen Parker, dem späteren unglückseligen Menschenopfer, über das „Gesetz der See“ und jene, die ihm folgen mussten, führen sieht. Ans Herz gehen weiterhin zwei Begegnungen der Schiffbrüchigen mit möglichen Rettern, von denen sie jedoch schmählich im Stich gelassen werden. Erst im Nachwort muss man dann lesen, dass Hanson diese Episoden frei erfunden hat – der Melodramatik wegen und weil sich dieses traurige Geschehen so hätte ereignen können. Tatsächlich war die „Moctezuma“ das erste und einzige Schiff, das dem Dingi in den dreieinhalb Wochen seiner Irrfahrt begegnet ist.
Ein solcher ‚Kunstgriff‘ ist unredlich. Was nützt die sorgfältige Recherche, wenn der Leser ständig damit rechnen muss, manipuliert zu werden? Der Verdruss über diese überflüssige Effekthascherei sowie die hausbackene Übersetzung sind denn gewichtige Argumente gegen dieses ansonsten trotz (oder gerade wegen) seines düsteren Themas faszinierende und knapp, aber sorgfältig bebilderte Werk.
Conrad Anker/David Roberts – Verschollen am Mount Everest

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Kenn Harper – Die Seele meines Vaters. Minik: Der Eskimo von New York

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Maples, William R. / Browning, Michael – Knochengeflüster. Mysteriösen Kriminal- und Todesfällen auf der Spur
So mancher Berufszweig wird sich insgeheim glücklich schätzen über den weltweiten Siegeszug des Privatfernsehens, beschert ihm dieses doch die Aufmerksamkeit eines Publikums, das sich noch vor wenigen Jahren eher vor Lachen gewunden hätte oder vor Grauen geflohen wäre. Mit „Quincy“ (über den sich Maples amüsant zu beklagen weiß) und Gideon Oliver fing es schon vor Jahren sacht an, mit Patricia Cornwells Detektiv-Pathologin Kay Scarpetta oder Kathy Reichs‘ Temperance „Bones“ Brennan explodierte die Thriller- und „True Crime“-Szene förmlich vor Knochendetektiven. Seitdem giert die Welt nach Nachrichten und Bildern aus dem Leichenschauhaus, und sie bekommt reichlich, was sie begeht: wahrlich realen Horror und die Bekanntschaft mit jenen Menschen, die sich von Berufs wegen mit Leichen beschäftigen.
Zu ihnen gehört das exotische Völkchen der forensischen Anthropologen, das sich streng wissenschaftlich bemüht, aus den knöchernen Überresten meist übel geendeter Zeitgenossen deren Schicksal zu rekonstruieren. William R. Maples vom „Human Identification Laboratory“ des Florida-Museums für Naturgeschichte (das wiederum der örtlichen Universität angeschlossen ist), gilt seit Jahrzehnten als einer der Meister seines Faches.
Maples (unauffällig unterstützt von Co-Autor Michael Browning) schildert zunächst seine abenteuerlichen Jugend- und Wanderjahre – die offenbar zu allen Zeiten drückende Akademiker-Arbeitslosigkeit trieb ihn sogar zum Pavianfang nach Afrika -, welche – so ist das typisch für Biografien wie diese – schon die spätere Berufswahl anzukündigen schienen. Einen ersten Vorgeschmack erfuhr der junge William sogar bereits im zarten Alter von elf Jahren, als sich ihm die Möglichkeit bot, gemeinsam mit dem Vater und einem befreundeten Polizeibeamten die Autopsiefotos des berühmt-berüchtigten Verbrechenpärchens Bonnie & Clyde anzuschauen. Welches Kind könnte dieser Verlockung widerstehen …?
Schon wenige Jahre später verbrachte Maples glückliche Zeiten in der Gesellschaft malerisch verwester und zuvor erschossener, erschlagener, verbrannter, zersägter, zermahlener oder sonstwie einfallsreich zugerichteter Leichen. Darunter befanden sich so illustre Gestalten wie Francisco Pizarro (1478-1541), die koloniale Geißel Mittelamerikas, Zachary Taylor (1784-1850), Präsident der Vereinigten Staaten, den ein Imbiss aus rohem Gemüse, frischen Kirschen und eisgekühlter Buttermilch (kaum verwunderlich) auf das Sterbebett warf (oder war es doch eine Prise Arsen …?), Joseph Merrick, der „Elefantenmensch“ (dessen Skelett einst Michael Jackson käuflich erwerben wollte) oder die 1918 dilettantisch niedergemetzelte russische Zarenfamilie.
Aber auch über die ganz ’normalen‘ Toten weiß Maples grausige Geschichten zu erzählen. Mit Details (teilweise unerfreulich, wenn auch relativ dezent durch Fotos verdeutlicht) geizt er nicht, aber man muss ihm zugute halten, dass er nie wirklich spekulativ wird. Jawohl, die forensische Anthropologie weist als Wissenschaft bizarre Züge auf, und es ist schon eine besondere Sorte Mensch, die sich hier um die Wahrheitsfindung verdient macht. (Ich empfehle die ebenso beispielhafte wie bemerkenswerte Episode mit dem Leichentransport im nagelneuen Familienauto an einem heißen Sommertag …) Es ist durchaus faszinierend zu lesen, wie schwierig es heutzutage ist, eine unerwünschte Leiche tatsächlich verschwinden zu lassen. Der modernen Wissenschaft kann es gelingen, aus 10.000 (Maples hat nachgezählt …) Knochensplittern eines verbrannten Skeletts die Identität eines Menschen zu rekonstruieren. Schlechte Zeiten für Mörder also – wenn sie nicht darauf zählen könnten, dass Experten vom Schlage eines William Maples eher rar auf dieser Erde sind.
So kann man sich denn über „Knochengeflüster“ wohl ob des dämlichen deutschen Titels grämen (den amerikanischen Kollegen ist allerdings auch nichts wirklich Originelles eingefallen), doch dem Werk insgesamt Informationsgehalt und Unterhaltungswert keinesfalls absprechen. Sich über das Berufsbild eines Forensikers informieren zu wollen, ist keine Schande und verrät auch nicht den zukünftigen irren Serienmörder. Interesse und selbst sachte Neugier sind nur menschlich; bedenklich wird es erst, wo beides in kruden Ekeltourismus übergeht. (Das Internet wartet in dieser Beziehung mit einigen Überraschungen auf!)
Aber das muss sich Maples hier nicht vorwerfen lassen. Wer kann es ihm verdenken, dass er, der so viel weiß und zu erzählen hat, die Chance nutzen möchte, das Bild seines Berufsstandes ein wenig aus dem fahlen Dunkel des Seziersaals ins rechte Tageslicht zu rücken? Wie man mit dem Tabu-Thema Leichenforschung am besten umgeht, schildert der Autor an passender Stelle in der Einleitung: nämlich nüchtern und ohne vorgefasste Ressentiments.
Der normalsterbliche Zeitgenosse wird zwar auch nach der Lektüre einen weiten Bogen um jene Stätten schlagen, in denen die Kunst Dr. Maples und seiner Kolleginnen und Kollegen blüht, aber er hat aus der Flut einschlägiger und in der Regel wesentlich effekthascherischer ‚Sachbücher‘ einen Titel gefischt, der sich des Themas recht seriös annimmt, sehr gut geschrieben ist und auch noch sorgfältig übersetzt wurde!
http://www.springer.com/dal/home/birkhauser
http://www.heyne.de


















