Friedel Wahren (Hrsg.) – Isaac Asimovs Science Fiction Magazin 28. Folge

Hochkarätige Autorinnen und Autoren

Dieser Auswahlband aus dem Jahr 1985 enthält Erzählungen von Gene Wolfe, Lucius Shepard, Nancy Kress und Michael Bishop sowie von dem deutschen Autor Hans Bach.

Hier findet man unter anderem:

1) Die Story von dem zum Tode Verurteilten, der im Inferno der Killer-Stadt zu überleben versucht.
2) Die Story von dem misshandelten Kind, das dank einer grausamen Bestrafung am Leben bleibt.
3) Die Story vom Gastmahl der sinnesfrohen Levantiner, denen ein blinder Seher gründlich den Appetit verdirbt.
4) Die Story von den Flüchtlingen eines nuklearen Winters, die in der Eiswüste Islands das Überleben proben.
5) Die Story von dem Klavierverkäufer, der mit seiner Kunst einen spektakulären – wenn auch unerwünschten – Erfolg erzielt.

Die Herausgeber

Friedel Wahren war lange Jahre die Mitherausgeberin von Heynes SF- und Fantasyreihe, seit ca. 2001 ist sie bei Piper verantwortlich für die Phantastikreihe, die sowohl SF als auch Fantasy veröffentlicht.

Isaac Asimov, geboren 1920 in Russland, wuchs in New York City auf, studierte Biochemie und machte seinen Doktor. Deshalb nennen seine Fans ihn neckisch den „guten Doktor“. Viel bekannter wurde er jedoch im Bereich der Literatur. Schon früh schloss er sich dem Zirkel der „Futurians“ an, zu denen auch der SF-Autor Frederik Pohl gehörte.

Seine erste Story will Asimov, der sehr viel über sich veröffentlicht hat, jedoch 1938 an den bekanntesten SF-Herausgeber verkauft haben: an John W. Campbell. Dessen SF-Magazin „Astounding Stories“, später „Analog“, setzte Maßstäbe in der Qualität und bei den Honoraren für gute SF-Stories. Unter seiner Ägide schrieb Asimov nicht nur seine bekannten Robotergeschichten, sondern auch seine bekannteste SF-Trilogie: „Foundation“. Später verknüpfte er die Foundation mit den Robotern – Aliens blieben wie eh und je außen vor, außer sie waren menschliche Mutanten.

Neben SF schrieb Asimov, der an die 300 Bücher veröffentlichte, auch jede Menge Sachbücher, wurde Herausgeber eines SF-Magazins und von zahllosen SF-Anthologien. Im „Magazine of Fantasy and Science Fiction“ hatte er jahrelang eine regelmäßige Kolumne, in der er sich mit zahlreichen wissenschaftlichen Fragen befasste.

Die Erzählungen

1) Dennis Takesako: Stadt der Vernichtung (Destroyer City, 1982)

Statt die Abweichler in überfüllte Gefängnisse zu stecken, ist die Regierung dazu übergangen, sie in ganze Städte zu schicken, die von einem tödlichen Kraftfeld abgeriegelt sind. Da die Städte von einem Elektronengehirn gesteuert werden, werden die Insassen durch Maschinenkanonen, Todesfallen und Jägerautos, die die Straßen absuchen, dezimieren. Die Opfer werden von Abräumkommandos entsorgt.

Wie also konnte es Jason Shiro gelingen, mehr als die durchschnittlichen zwei Wochen zu überleben? Das fragt sich auch die junge Angie, die unvermittelt in seinem Apartment auftaucht. Quasi als Antwort bringt er diesem Frischling bei, in der gefährlichen Destroyer City zu überleben. Eines Tages erklärt ihre Ausbildung für abgeschlossen, aber sie findet, dass Überleben allein nicht genug ist. Man müsse auch anderen helfen zu überleben. Er kann nur den Kopf schütteln, denn Regel Nr. 1 lautet, immer zuerst an sich selbst zu denken.

Am nächsten Morgen ist sie weg. Auf einem Abschiedsbrief erklärt sie, dass sie sicher sei, er werde sie finden. Nach einer Weile stößt er auf sie, wie sie in einer Gruppe am Rand des Gehwegs steht. Riskant. Schon kann er in der Ferne ein Jägerautos grollen hören. Er sprintet los, um wenigstens Angie zu retten…

Mein Eindruck

Dieses Endzeit-Szenario erinnert entfernt an „Mad Max“, allerdings scheint der Kampf ums Überleben nicht zwischen Gruppen stattzufinden, sondern zwischen einer faschistoiden Justizbehörde und ihren wehrlosen Opfern. Intelligente Jägerautos pirschen auf lebensuntaugliche Opfer, und die Abräumkommandos warten schon. Es ist kein Wunder, dass sich Angie nicht mit dieser trostlosen Lage abfinden will. Sie ist jünger als Jason und verfügt noch über einen Funken Hoffnung, sie glaubt an Nächstenliebe und Solidarität. In einer gnadenlosen Welt wie dieser sind das sehr gefährliche Empfindungen.

Der Rest der Story ist pure, routiniert geschilderte Action. Wir drücken Jason die Daumen, dass er Angie und ihre Schützlinge vor den Jägern bewahren kann. Gerissen und kühn genug wäre er ja. Mehr darf nicht verraten werden. Aber er beweist, dass auch die Jägerautos nicht schlau genug sind, die Grenzen des Systems, sprich: das Kraftfeld, in ihre Berechnungen einzubeziehen. Und das weckt Hoffnung.

2) Michael Bishop: Ein Geschenk aus dem GrauenLand (A Gift From the Graylanders, 1985)

Nachdem sich seine Mutter von seinem Vater getrennt hat, muss der siebenjährige Cory mit ihr zu ihrer Schwester, deren Kinder und deren Mann in Denver ziehen. Es ist aber wenig Platz für sieben, und so soll Cory im düsteren Keller übernachten. Dies ist ein grauer Ort: grauer Beton unten und ringsum, sogar die Gerüche sind grau, wie die Toten.

Sobald er seine Phantasie spielen lässt, ist er überzeugt, dass gleich hinter Wand das Land der grauen Toten liegt. Die GrauLänder werden ihn bestimmt eines Tages holen, so wie sein Vater es kürzlich versucht hat. Sie werden durch die Betonmauern brechen; er kann ja schon die Risse und Riefen sehen. Sie sehen aus wie ungelenke Buchstaben oder Zeichen, doch er kann sie nicht entziffern. Da fällt ihm blitzartig ein, dass die Zeichen ja spiegelverkehrt gelesen werden müssen. Deshalb klaut er den Schminkspiegel der ältesten Tochter und betrachtet damit die Zeichen an der Wand. Er versteht nichts. Das ist zwecklos. Aber für den Diebstahl gibt es von Onkel Marty Haue. Fortan steht Cory unter Beobachtung.

Als er sich heimlich einen Eimer Farbe schnappt und beginnt, das Grau der Wände mit bunten Farben zu bemalen, lässt er sich ein wenig hinreißen: eine große Sonne, viele Blumen, Ananas, Papayas und vieles mehr. Doch die Reaktion Onkel Martys besteht darin, Cory nun endgültig einzusperren, weil er ihn für gefährlich verrückt hält. Nun herrscht endgültige, vollkommene Finsternis. Sie gibt den GrauLändern Gelegenheit, sich durch die Wand zu arbeiten. Als er im Finstern nach den Zeichen tastet, ergeben sie weiterhin keinen Sinn.

Schon bald jedoch erhellt sich die Wand bis zur Unerträglichkeit: Als würde eine zweite Sonne durch Corys gemalte Sonne strahlen. Cory versteckt sich hinter einem alten Heizkessel und in einem breiter Riss in der Wand dahinter. Ein Donnern und brausender Wind fegen das Haus darüber hinweg, dann herrscht tiefe Stille. Als er hinaussteigt, ist er fast vollkommen allein. Aus Denver ist eine große Müllhalde geworden. Doch ein paar Wesen haben überlebt. Bestimmt sind das GrauLänder, denkt Cory, denn sie sehen aus wie Erdzombies, und die Haut fällt ihnen vom Fleisch. Cory wird wütend: keiner hat ihm gesagt, dass die GrauLänder innen genauso aussehen wie echte Menschen…

Mein Eindruck

Die „Gabe der GrauLänder“ besteht im Überleben des kleinen phantasievollen Cory, nicht in irgendwelchen Botschaften. Alles andere erweist sich auf makabre Weise wahr: Die gemalte Sonne wird von der Atomexplosion erleuchtet, die Denver vernichtet, die GrauLänder selbst erweisen sich als deren verstrahlte Opfer, deren Körper sich auflösen. Und die Plagegeister um Onkel Marty herum haben sich in radioaktiven Staub aufgelöst. Nun ist Cory sie zwar los, er erwacht aber in einer Welt, die ihm wahrscheinlich keine Zukunft erlaubt.

Indem er die Perspektive eines kleinen Kindes einnimmt, schildert der Autor auf phantasievolle Weise die Auswirkungen einer Atombombenexplosion à la Hiroshima, nur eben aus der Sicht der amerikanischen Sieger. Das Generalthema ist die Auflösung der Realität und das Verschwinden ihrer menschlichen Bewohner. Die angeblichen eingebildeten GrauLänder gibt es nun wirklich, und sie begegnen Cory auf der verwüsteten Straße: Es sind die deformierten, sich auflösenden Opfer des nuklearen Holocaust. Sie sagen etwas, aber es ist ebenso unverständlich wie ihre Zeichen an der Betonwand im Keller.

3) Bruce Sterling: Abendmahl in Audoghast (Dinner at Audoghast, 1985)

Anno 1014 ist im westafrikanischen Stadtstaat Audoghast noch (fast) alles in Ordnung, und so finden sich im Hause des reichen Sklavenhändlers Manimenesch dessen Hofdichter, ein weitgereister Karawanenführer und der am Hofe des Stadtfürsten gern gesehene Arzt und Giftexperte Bagayoko zu einem Festmahl ein. Mit dem Nachbarstaat Ghana gibt es gerade keine Probleme, und an Manimeneschs Tafel lassen sich zahlreiche Meinungen und Neuigkeiten austauschen. Den Karawanenführer, der sogar so weit wie Cordoba, Byzanz und China gereist ist, interessiert vor allem Elfenbein und afrikanisches Gold.

Das Eintreffen der wohlgenährten und goldbehangenen Kurtisane Elfelilet verspricht angenehme Freuden für die Nachtstunden. Doch Manimenesch hat den verzeihlichen Fehler begangen, aus Neugier einen neu angekommenen Wahrsager zu sich bringen zu lassen. Der Krüppel ist ein von Lepra gezeichneter Krüppel. Doch das hindert ihn nicht daran, eine sehr düstere Zukunft vorauszusagen. Spielverderber! Man sollte ihn köpfen lassen…

Mein Eindruck

Tatsächlich hat man seit dem Jahr 1054 (einem Jahr mit einer Supernova), als die fanatischen Almoraviden Audoghast überfielen und dem Erdboden gleichmachten, nie wieder etwas von der prächtigen Stadt gehört. Nur ein paar (dem Text vorangestellte) Zeilen im Buch eines arabischen Reiseschriftstellers erinnern an die schöne, prächtige Stadt unweit von Timbuktu und Ghana.

Die Erzählung ergeht sich in der Beschreibung leiblicher Genüsse und sinnlicher Vorfreuden. Die Muslime schauen auf die Christen und anderen Ungläubigen ebenso herab wie auf Sklaven und Frauen. Und warum auf nicht? Schließlich erstreckt sich das islamische Weltreich von Marokko und Niger über Ägypten und Arabien bis hinüber nach Iran und Afghanistan. Es ist größer als das römische Imperium. Die Männer sind mit sich zufrieden. Und wenn nicht, so sorgt das Gift des Arztes für Ausgleich.

Der Wahrsager erscheint wie ein Zeitreisender aus der Zukunft – aus unserer Zeit, um genau zu sein. Er sieht angemessen getarnt aus, krank und verkrüppelt, bemitleidenswert, ein Almosen wert. Doch was er sagt, trifft akkurat zu. Die Botschaft des Autors, der durch ihn spricht, ist klar: „Auch dies, lieber Leser, was du gerade vor dir siehst, wird einmal vergehen.“ Wir sollten uns daher des Augenblicks erfreuen.

4) J. V. Brummels: Deus ex Machina (1985)

Die Sonne ist zu einem bedrohlichen Ball am Himmel geworden, der Speere aus Licht und Elektrizität auf die Erde schleudert. Die Menschen verkriechen sich in Steinhäusern wie in Festungen, es sei denn sie haben sich unter eine Schutzkuppel geflüchtet. Die im Drinnen fürchten die im Draußen und halten sie für gefährliche Barbaren. Dazwischen gibt es das GESETZ, Automaten, die angeblich für Recht und Ordnung sorgen.

Erst denkt David Jones, der Dichter, dass er wie die im Drinnen sei, obwohl er noch draußen lebt. Doch als er und zwei Kumpels eine Bande wilder Hunde dezimieren, erfährt er aus ihren Geschichten, woher das Fleisch im Burger und der Tabak in der Zigarette kommen: aus dem Draußen, wo es offenbar noch je eine Lieferkette dafür gibt. Und dass es dort auch immer Munition gibt, versteht sich von selbst.

Er ist froh, dass die Übersetzung, die er gerade per Computer an Tella-Dotun in der Zentrale geschickt hat, für ein Meisterwerk gehalten wird. Daher gewährt man ihm die seltene Ehre zu, in das Team der Transmats aufgenommen zu werden. Die Transmats werden transmaterialisiert, und zwar auf ferne Welten: Sie sind die einzigen, die eine Chance des Überlebens haben.

Aber noch hängt Davids Herz an seinem treuen alten Hund Felix und seiner jungen Freundin Louisa Carlton. Auch sie ist eine letzte Überlebende. David hat den Wunsch, sie auf den Transmat-Trip mitzunehmen, doch die Zentrale lehnt ab. Die Transmat-Betreuerin LaMer, mit der David ein paar erotische Stunden verbracht hat, hat wohl den Heiratsantrag verbummelt. Aber es gibt einen Ausweichplan: Er will Lou in der Kirche seiner verstorbenen Eltern heiraten.

Mittlerweile sind für die Erde die letzten Stunden angebrochen, und gerade als der Pfarrer das Hochzeitsfoto schießen, lösen sich die Brautleute in strahlendes Licht auf. LaMer hat die Freigabe endlich erreicht, und dem Flug zu den Sternen steht nichts mehr im Wege.

Mein Eindruck

Wenn dem Leser die Story wie ein modernes Märchen vorkommt, so wird klar, dass sich der Autor gezwungen sah, die Geschichte positiv enden zu landen. Positive Geschichten sind nämlich die einzigen, die ein Autor an das Magazin von Starautor Isaac Asimov verkaufen kann. Das ist sicherlich ein Faktor für den anhaltenden Erfolg dieses Magazins in einem schwierigen Markt.

Dennoch finden sich auch negative Phänomene in der Story, so etwa die wilden Hunde, die Segregation zwischen Drinnen und Draußen und nicht zuletzt die hohe Fehlerquote bei der Transmaterialisation. LaMer beispielsweise hat ihren Fuß verloren, so dass sie jetzt eine Prothese tragen muss. Andere haben ihren Namen vergessen und vieles mehr. Dennoch ermöglicht die Transmat buchstäblich eine Art von Himmelfahrt.

5) David Brin: Koexistenz (1982)

Es fängt damit an, dass die Leute mitten in der Bewegung erstarren. Sie haben nicht den leeren Blick eines Bewusstlosen, aber sie schauen einen auch nicht an. Unserem Chronisten, einem Science-Fiction-Autor namens Brand, passiert es in einem Restaurant, und der Betroffene ist sein Agent. Brand präsentiert gerade eifrig seine neueste Story-Idee, als ihm an seinem Agenten etwas auffällt: Er rührt sich nicht. Er lässt ihn in ein Krankenhaus bringen und erfährt so, dass es schon ähnliche Fälle gibt. Aber als die Militärpolizei ihn abholt, weiß er, dass es etwas Ernstes sein muss.

Er wird daran erinnert, dass er einst für das fürstliche Entgelt von 100 Mäusen pro Jahr eingewilligt hat, seinem Land in einem Notfall zu dienen. Deshalb stecken sie ihn nun in eine Kommission. Diese wird von der Medizinerin Dr. Hunter geleitet, die den Über- und hoffentlich auch den Durchblick hat. Nachdem alle Theorien durchgehechelt worden sind, steigt man auf Beobachtung der Opfer des sogenannten „ComaSlow“-Phänomens um. So kommt heraus, dass einer Komatösen tatsächlich eine Notiz an das Pflegepersonal geschrieben hat – aber wann? Der Patient muss die ganze Nacht gebraucht haben, als er schrieb, dass man zu ihm sehr langsam sprechen soll. Ihn und seine Schicksalsgenossen nennen Brand, Hunter und Co. die Superlangsamen. Sie erhalten eine eigene Zone in der Stadt, um sich selbst zu organisieren.

Das war vor den Schnellen. Plötzlich verlieren Menschen auf offener Straße die Kleider oder in Häuser werden von unsichtbarer Hand eingebrochen – derlei Schabernack. Nach einer Weile starten Brand und Dr. Hunter ein Experiment. Auf die Gefahr hin, sofort ausgezogen zu werden, lassen sie vor ihren Augen ein großes Plakat malen und ein paar Blatt Papier auf einem Tisch auslegen. Schon bald zeigen die Folgen der Besuche der unsichtbaren Schnellen: Botschaften und der Hinweis auf einen Professor mit einem deutschen Namen. So klärt sich die Lage: Die Superschnellen bekommen ihre eigene Zone in der Stadt.

Dann tauchen die Superschnellen Typ II auf…

Mein Eindruck

Die Analogie ist für denjenigen, der in Atomphysik nicht gepennt hat, schnell klar: Es sind die Elektronenbahnen eines Atoms. Manche liegen ihnen, das sind die Schnellen, manche liegen außen, das sind die „relativ“ Langsamen. Es kommt eben immer auf den jeweiligen Standpunkt an. Wir „Normalen“ sind an unsere Bewegungsgeschwindigkeit gewöhnt, aber für die Schnellen sind wir langsam wie Schnecken.

Interessanter wird es, als Brand und Dr. Hunter Kinder bekommen. Auf welcher Bahn der Zeit werden sie jeweils landen? Als eines zu den Langsamen gehört, geben sie es in die Obhut der Nachbarn und so weiter. Aber die Evolution geht weiter. Nur die Ursache wird nie verraten.

Dies ist die interessanteste, weil im wahrsten Sinne des Wortes „superschnelle“ Story, bei der dem Leser keine Pause gegönnt, sondern immer das Gaspedal bis zum Anschlag durchgedrückt wird. Man merkt sofort, dass hier ein Routinier am Werk ist, der mit Ideen nicht geizt, und das ist eine Empfehlung, seinen Roman „Sternenflut“ zu lesen, den zweiten Band seiner ersten UPLIFT-Trilogie.

6) Pat Murphy: In einer heißen Sommernacht weit weg (1986)

Gregorio, der Maya, verkauft Hängematten in der Stadt Merida auf der Halbinsel Yucatán. Eines Tages fällt ihm auf dem Zentralplatz eine sehr schlanke, weiße Frau mit kurzen Haaren auf. Sie ist keine amerikanische Touristin, sondern macht sich Notizen in einem Tagebuch. Und sie trinkt die ganze Zeit Aguardiente, einen starken Brandy. Bei der zweiten Begegnung senkt sie ihre Sonnenbrille, so dass er ihre dunkelvioletten Augen bewundern kann. Sie will immer noch nicht mit ihm anbändeln. In der dritten Nacht hat er seinen Bus zu seinem Dorf verpasst, und er entdeckt sie immer noch beim Süffeln auf dem Zentralplatz. Sie sagt, sie könne nicht schlafe, aber er könne bei ihr übernachten. Als sie betrunken genug ist, klagt sie ihm ihr Leid. Sie und ihre zwei Kollegen seien von dort oben, von den Sternen gekommen, um hier zu forschen, aber niemand sei seit hundert Jahren gekommen, um sie abzuholen. Nach und nach seien die anderen gestorben, und nun fühle sie sich einsam. Und sie könne nie schlafen, kein bisschen.

Also führt er sie hinaus in den Busch, wo sie in einen verborgenen Zenote steigen, eine tiefe Kalksteinhöhle mit einem Teich an ihrem Grund. Kaum hat er seine Hängematte aufgespannt, als sie sich hineinlegt und zu schlafen beginnt. Er geht schwimmen und grüßt Bilder seiner Vorfahren, die sich freuen: endlich Gesellschaft. Und wenn sie nicht gestorben ist, dann schläft sie dort noch heute.

Mein Eindruck

Dies ist wohl eine Variante des bekannten Grimmschen Märchen „Dornröschen“, nur dass es diesmal von den Sternen kommt. Die Autorin kennt sich jedoch in Mittelamerika bestens aus, wie ihr Roman „The Falling Woman“ belegt. Lesern der „Qintana Roo“-Stories von James Tiptree jr. Ist Yucatán ebenfalls vertrautes Terrain: Dies ist altes Maya-Land. Und der Leser darf sich über alte Maya-Gottheiten und -Namen in der Murphy Story nicht wundern: Sie tragen sehr zum glaubhaften Lokalkolorit bei.

Das Attribut „weit weg“ ist sehr relativ zu verstehen, je nach Blickwinkel und Standpunkt. Insgesamt entsteht die Spannung aus den erotischen Absichten Gregorios, die auf die melancholische Wehmut des Dornröschens treffen. Das bringt den Leser vielleicht auf den Gedanken, was mit dem Grimmschen Dornröschen passiert wäre, wenn der Prinz, der sie erweckt, weniger keusche Absichten gehabt hätte. Solchen Lesern kann nur die Dornröschen-Trilogie von Anne Rice empfohlen werden, die diese Roman unter dem Pseudonym „A.N. Roquelaure“ veröffentlichte (dt. beim Goldmann-Verlag)

7) Frederik Pohl: Fermi und Frost (Fermi and Frost) (1985)

Timothy Clary sitzt an seinem neunten Geburtstag auf dem New Yorker JFK Flughafen fest, denn gerade bricht der Dritte Weltkrieg aus. 2800 Menschen wuseln um ihn herum, er verliert Mutter und Vater. Jemand verspürt Barmherzigkeit und bringt ihn in den vormals exklusiven Ambassador Club. Dort lernt er den britischen Astrophysiker Harry Malibert kennen. Der hat auch keine Antwort auf Fermis Paradox: Wo sind bloß die Aliens?

Ein Flughafen-Mitarbeiter bittet Harry, sich um den Jungen zu kümmern, der schon hohes Fieber hat. Das macht Harry gerne und einfallsreich. Ein anderer Mitarbeiter steckt ihm deshalb heimlich, dass inoffiziell eine isländische Maschine in Kürze abheben werde und man Harry einen Sitz anbiete. Er will nicht ohne „seinen Sohn“ fliegen. Und während die sowjetischen Raketen den Atlantik überqueren, fliegt Harry mit Timmy die isländische Hauptstadt an. Diese wird aus Versehen getroffen, denn ihr Ziel war der US-Stützpunkt Keflavik. Später stellt sich heraus, dass die halbe Million Menschen, die in der Hauptstadt sterben, den wenigen, die überlebten, viel Proviant überließen. Denn den braucht man im Nuklearen Winter dringend.

Harry bekommt sofort eine Stelle bei den Heizungsmonteuren, die Geothermie aus den heißen Quellen zu den wenigen intakten Häusern leiten. Timmy genest von seiner Lungenentzündung und findet in Elda, der Krankenschwester, eine mütterliche Freundin. Während die Erdoberfläche bis zum Äquator zufriert, bilden Elda, Timmy und Harry eine Ersatzfamilie. Bei einem Einsatz nennt Timmy Harry zum ersten Mal „Daddy“.

Es gibt zwei Schlüsse, einen für die Katastrophe und einen für den Fall, dass die Menschheit auf Island überlebt.

Mein Eindruck

Die Handlung selbst klingt einfach, doch die Umstände, die sie zustande bringen, sind alles andere als gewöhnlich: Zuerst erfolgt der Weltuntergang in Gestalt eines Atomkriegs zwischen USA und UdSSR, dann ein langer nuklearer Winter. Dessen Grauen malt der Autor in allen Details aus, so dass auch der letzte Leser das Gruseln bekommt und diesen Schrecken auf jeden Fall vermeiden will.

Warum ausgerechnet Island, mag sich der Leser fragen. Nun, die Isländer mussten seit der Besiedlung im 9. Oder 10 Jahrhunderts stets mit Kälte zurechtkommen, ebenso ihr Vieh. Und sie lernten in der Neuzeit, die Geothermie zu nutzen, um ihre Häuser zu heizen. Mit dieser Energie werden heute auch Rechenzentren kostengünstig betrieben. Ein richtiges Problem ist natürlich die ständige Aktivität der Erde: Vulkanismus und Erdbeben. Dafür sind die Trolle verantwortlich, von denen Elda dem jungen Timothy erzählt.

8) Gregory Benford: Der Zahn der Zeit (Time’s Rub, 1985)

Viele Jahre nach dem Untergang der Menschheit haben nur ihre Cyborgs Xen und Fazo überlebt, Hybriden aus Mensch und Maschine. Sie kommunizieren häufig mithilfe modulierter Magnetströme, und diese Felder wissen sie perfekt zu manipulieren. Aber sie befinden sich evolutionär in einer Sackgasse, denn sie werden von den Laggermorphen angegriffen und bedrängt. Was ist zu tun?

Da bekommen sie es nun mit einem unbekannten Helfer zu tun, der sich Sam, der Unsterbliche nennen lässt, kurz Im (für „immortal“). Sam bietet ihnen eine verlockende Wahl in einem Spiel. Er hat ein blaues und ein rotes würfelförmiges Kästchen. In dem einen befinde sich die Jek, eine Injektion mit dem Wissen, die Feldkunst perfekt zu beherrschen. Im zweiten Würfel befinde sich der Weg zur Unsterblichkeit. In diesem Algorithmus der Probabilität entscheidet sich der weitere Weg der Existenz für Xen und Fazo. Im erweist sich als nicht ganz so schlau, wofür er sich gehalten hat.

Xen triumphiert: Er kann nun die menschliche Gestalt annehmen und so seiner geliebten Pymr näher sein als je zuvor. Fazo wählt die Maschinengestalt und wird unsterblich. Nach einer guten Weile begegnen sie einander und ziehen ein Resümee.

Mein Eindruck

Der Ton erinnert zuweilen an Shakespeares tiefgründigste Dramen, und schon der O-Titel verweist auf die Gedanken eine gewissen Dänenprinzen, der da sagte: „There’s the rub.“ Also etwa: Darauf kommt’s an; das ist das Problem bzw. des Pudels Kern. Gemeint ist bei Benford jedoch die Frage, worauf es bei der Existenz ankommt: auf Langlebigkeit und ewiges Lernen (Fazo) oder auf Ewigkeit durch geklonte Wiederholung (Xen). Es kommt eben drauf an, was man draus macht. Nach einigem Nachdenken sind beide mit ihrer jeweiligen Existenzform zufrieden.

9) Octavia B. Butler: Der süße Klang des Wortes (Speech Sound, 1983)

Valery Rye war vor der Katastrophe Lehrerin und Schriftstellerin, eine Frau des Wortes. Doch nachdem die Seuche ihr die gesamte Familie genommen hat, will sie nach Pasadena fahren, um sich bei ihren letzten Verwandten, falls sie noch leben, umzubringen. Sie steckt ihre Automatic-Pistole ein und geht zur Straße, um den erstbesten Bus zu besteigen. Sie hat Glück, doch im Bus streiten mehrere junge Männer, bis der Fahrer das Gefährt mit der bewährten Methode zu einer Vollbremsung bringt.

Rye steigt sofort aus und harrt der Dinge. Da kreuzt ein bärtiger Mann auf, stoppt seinen PKW und wirft eine Gasgranate in den Bus. Das Reizgas vertreibt die Streithähne, die Fahrgäste und den Fahrer. Rye fragt sich, ob er ein Polizist ist. Und ja: Als er seinen Mantel öffnet, ist darunter eine Polizeiuniform zu erkennen. Doch die Hüter von Recht und Gesetz sind schon längst aus der Stadt, wo sich der Verfall in jeder Hinsicht ausbreitet, längst verschwunden.

Kaum hat sich die Situation entspannt, lädt er Rye zu sich ein, um sie zu ihrem Ziel zu fahren. Nach etwas Zögern steigt sie ein. Da jeder die Sprechfähigkeit verloren hat, verständigt sie sich mit ihm durch Gesten und Blicke. Er bedeutet ihr, dass er weder sprechen noch lesen könne. Auf einer Stadtkarte zeigt sie ihm, wo sie Pasadena vermutet. Er zeigt ihr sein Amulett mit einem Stein aus schwarzem Obsidian, sie zeigt ihm ihres mit einer goldenen Ähre. Nach einer Weile bedeutet ihr Obsidian, dass er mit ihr schlafen möchte. Da die Straßen leer sind und die Sonne unschuldig herabscheint, ist sie einverstanden. Sie tun es mit Kondom und sogar zweimal. Also lädt sie ihn in ihr Haus ein, denn sie braucht einen Beschützer.

Da kommt es zu einer gewalttätigen Szene, die drei Menschen das Leben kostet. Doch nachdem zwei Kinder ihre Mutter und ihren mutmaßlichen Vater erhalten haben und Rye ihren potentiellen Beschützer gefunden hat, stellt sich heraus, dass die Kinder der Sprache durchaus mächtig sind – und sie selbst auch…

Mein Eindruck

Ähnlich wie die Geschichten von Frederik Pohl, von Takesako und von Michael Bishop geht es ums Überleben der letzten Menschen nach einer Katastrophe. Diese kann nuklear oder eine Epidemie oder ein Freiluftgefängnis – die Wirkung ist stets die gleiche: Die Überlebenden müssen eine Strategie entwickeln, sich zu schützen und weiterzumachen. Diesmal besteht die Strategie darin, keine Sprache zu benutzen. Wenn sie allen anderen fehlt, wozu auffallen und zum Ziel werden?

Die Autorin zeigt, wie wertvoll gesprochene Sprache ist, denn sie ist der entscheidende Faktor, der die Kommunikation aus nächster Nähe erlaubt. Sie zu benutzen, kann unter Umständen riskant sein, aber mit ihr lässt sich die Realität auch radikal zum Positiven verändern. Das Gegenbeispiel: Obsidian spricht nicht, sondern greift im Notfall zur Gewalt. Das kostet ihn wiederum das Leben.

10) Hans Altmeyer: Lebenskraft (1986)

Der Maestro ist zugleich auch ein Vertriebsgenie, und für den Verkauf von Stingbay-Pianos nimmt er lange Reisen zwischen den Sternen des bekannten Universums auf sich. Diesmal landet sein Raumschiff bei den Bewohnern eines Planeten der Sonne Tau Ceti. Die Sprache der Cetaner ist noch nicht entschlüsselt und ihre Gewohnheiten und Bräuche noch nicht erforscht, aber was macht das schon.

Jedenfalls merken die Einheimischen, dass etwas Besonderes am Abend bevorsteht und machen sich fein, bis sich jeder auf seinen 30 Füßchen auf den Weg macht, um der Darbietung beizuwohnen. Der Älteste beschimpft den Maestro, aber das wird als Beifall aufgefasst, so dass er gleich loslegt mit seinem Konzert: erst Chopin, dann Bachs Toccatas. Erst als Flammen aus dem Flügel schlagen, hört er auf, in die Tasten zu hämmern.

Er hat nicht gemerkt, dass die Musik bei den versammelten Cetanern eine physische Reaktion ausgelöst hat. Für den Kommandanten des Raumschiffs sieht es wie Gruppensex aus, doch das trifft nicht zu: Allein der Älteste bringt die neuen Embryos hervor, und die Weibchen transportieren sie ab. Diverse Flüssigkeiten kommen zum Einsatz, und als Lampions sie entzünden, wird es heiß. Zu heiß für den Maestro, der den Zusammenbruch seines Flügels nicht überlebt. Der Raumschiffkommandant legt einen Notstart hin…

Mein Eindruck

Ein klarer Fall von Culture Clash! Die Ironie trieft nur so aus den Seiten, wenn die Cetaner auf das Phänomen edler Musik von der Erde stoßen. Der Raumschiffkommandant bekommt von Chopin und Bach Migräne und Depressionen. Die ganze Story kann man unter der Rubrik „E-Musik-Kritik“ abheften.

Die Übersetzung

S. 16: „Jason setzte ein Übungsprogramm für die Entwicklung von Schnelligkeit [ein]…“: Das Wörtchen „ein“ fehlt, oder man ersetzt „setzte“ durch „nutzte“, was evtl. besser wäre.

S. 46: “[Cory] spürte einen Schiefer im Handballen…“: Gemeint ist ein Holzsplitter, in manchen deutschsprachigen Regionen auch „Spreißel“ genannt. Jedenfalls eine schmerzhafte Sache.

S. 229: “Rya” statt “Rye”.

S. 230: Der Originaltitel der Butler-Story wird als „Speech Face“ anstelle von „Speech Sound“ angegeben.

Unterm Strich

Es ist auffällig, wie häufig das Ende der Welt – oder wenigstens der USA – in diesen Geschichten auftaucht. Bei Takesako ist es die Destroyer City, die das Endstadium bildet, bei Brummels versengt die Sonne die Erde, bei Pohl ist der Dritte Weltkrieg ausgebrochen, ebenso bei Bishop. Butler schildert eine Stadt im Endstadium, deren Bewohner die Gabe des Sprechens verloren haben, und bei Benford haben die Cyborgs das Ende der Welt bereits hinter sich.

Ab 1982 waren unter der Reagan-Regierung offenbar schlimme und bedrohliche Zeiten angebrochen, ähnlich wie derzeit unter Donald Trump. Die Bedrohung zeigte sich vielfältig, und wie es ihre Aufgabe ist, sagten die SF-AutorInnen eine ganze Reihe unerfreulicher Ereignisse und Phänomene voraus.

Hochkarätige Könner

Der vorliegende Auswahlband versammelt etablierte Könner wie, Butler, Brin, Benford, Sterling, Murphy und Pohl, aber auch Newcomer wie Brummels, Takesako und den ironischen deutschen Beitrag. Alles in allem handelt es sich überwiegend um ausgezeichnete Geschichten, selbst wenn ich mit dem Beitrag von Benford wenig anfangen konnte. Das lag zum Teil an der unkonventionellen Zeichenverwendung von dicken Punkten anstelle von Gänsefüßchen und einem Entscheidungsbaum, der wie eine Matrix aussieht. Das ist innovativ, gewiss, muss sich aber der Botschaft der Geschichte unterordnen. Vielleicht sollte man die Geschichte einfach dreimal lesen.

Taschenbuch: 237 Seiten.
O-Titel: Asimov’s Science Fiction Magazine, 1982-86.
Aus dem Englischen von diversen Übersetzern.
ISBN-13: 9783150205266

www.reclam.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)