Friedel Wahren (Hrsg.) – Isaac Asimovs Science Fiction Magazin, 31. Folge

Von Engeln, Teufeln und Architekten

Dieser Auswahlband aus dem Jahr 1988 enthält Erzählungen von Bruce Sterling, Pat Cadigan, James Patrick Kelly, Andrew Weiner, Pat Murphy, James P. Blaylock sowie von der deutschen Autorin Ute Bauer (München).

Hier findet man unter anderem:

1) Die Story von dem verbannten Engel, der einem armen Teufel auf die Füße half.
2) Die Story von dem Architekten, der ein Mausoleum für Aliens bauen sollte.
3) Die Story von den japanischen Unruhestiftern, die ihre Stadt anzündeten – und von der Vision einer entsetzlichen Explosion heimgesucht wurden.
4) Die Story von dem Unglücksraben, der mit seinem Kaleidoskop Scharen amphibischer Außerirdischer anlockte.
5) Die Story von der Vampirin, die aus VIPs erlesene Kunstwerke machte.

Die Herausgeber

Friedel Wahren war lange Jahre die Mitherausgeberin von Heynes SF- und Fantasyreihe, seit ca. 2001 ist sie bei Piper verantwortlich für die Phantastikreihe, die sowohl SF als auch Fantasy veröffentlicht.

Isaac Asimov, geboren 1920 in Russland, wuchs in New York City auf, studierte Biochemie und machte seinen Doktor. Deshalb nennen seine Fans ihn neckisch den „guten Doktor“. Viel bekannter wurde er jedoch im Bereich der Literatur. Schon früh schloss er sich dem Zirkel der „Futurians“ an, zu denen auch der SF-Autor Frederik Pohl gehörte.

Seine erste Story will Asimov, der sehr viel über sich veröffentlicht hat, jedoch 1938 an den bekanntesten SF-Herausgeber verkauft haben: an John W. Campbell. Dessen SF-Magazin „Astounding Stories“, später „Analog“, setzte Maßstäbe in der Qualität und den Honoraren für gute SF-Stories. Unter seiner Ägide schrieb Asimov nicht nur seine bekannten Robotergeschichten, sondern auch seine bekannteste SF-Trilogie: „Foundation“. Später verknüpfte er die Foundation mit den Robotern – Aliens blieben wie eh und je außen vor, außer sie waren menschliche Mutanten.

Neben SF schrieb Asimov, der an die 300 Bücher veröffentlichte, auch jede Menge Sachbücher, wurde Herausgeber eines SF-Magazins und von zahllosen SF-Anthologien. Im Magazine of Fantasy and Science Fiction hatte er jahrelang eine regelmäßige Kolumne, in der er sich mit zahlreichen wissenschaftlichen Fragen befasste.

Die Erzählungen

1) Pat Cadigan: Engel (Angel, 1987 )

Der Ich-Erzähler ist eine Partnerschaft mit einem Mann eingegangen, den er wegen seiner besonderen Fähigkeiten einfach „Engel“ nennt. Der Mann, der über telepathische Kommunikation verfügt, kann beispielsweise jeden anderen Menschen anstarren und um einen Geldbetrag bitten. Der ist ihm sicher. Dieses besondere Charisma erfordert offenbar einen emotionalen Katalysator, und das unser Chronist. Seine Belohnung besteht in einer Art magischem Staub, der als silberne Funken auf ihn übergeht. Es gibt noch andere, die so sind wie Engel, so etwa die Kellnerin in der Imbisshalle, der das Gesicht fehlt. Auch sie komme von einer anderen Welt und wurde hierher verbannt.

Warum Engel auf diese brutale Welt verbannt wurde, zeigt sich, als er und sein Partner von einer Frau mit türkisgrünen Augen verfolgt werden. Sich in einer Kneipe zu verstecken, funktioniert nicht: Sie werden erst verprügelt, dann hinausgeworfen. Dort wartet schon Engels größter Fan mit ihrem Automobil. Sie packen den bewusstlosen Engel in das Auto und fahren zur Autobahn.

Unterwegs verhört sie ihn, und Engel gibt zu, dass er auf seiner Welt die Paarung verweigert habe. Nun ist sein Partner an der Reihe. Unser Chronist muss zugeben, dass er als Zwitter auf die Welt kam, doch bei einer Operation aller Geschlechtsorgane beraubt wurde; nun könne er sich überhaupt nicht mehr paaren.

Es kommt zu einem schweren Unfall, bei dem die Frau zu Tode kommt. Auch Engel macht es nicht mehr lange, doch vor seinem Tod überträgt er all seine Staubsubstanz auf seinen Partner. Der versteht, was Engel den Menschen mitteilen wollte, und macht sich daran, andere Verbannte zu suchen und ihnen die frohe Botschaft zu bringen.

Mein Eindruck

Die Botschaft lautet wohl: „Das Universum kennt nur ein mehr oder weniger, kein gut oder böse.“ Und somit sind alle Abweichungen hinsichtlich Fortpflanzung, Paarung und so weiter völlig legitim. Somit kann man feststellen, dass die Aussage dieser feinen, anrührenden Story eine frühe Version des LGBTQ-Liberalismus ist. Und dass auch ein sündiger Engel immer noch etwas Gutes bewirken kann, besonders bei armen Teufeln von der Erde.

2) James Patrick Kelly: Die Glaswolke (The Glass Cloud, 1987)

Philip Wing, ein Amerikaner taiwanesischer Abstammung, hat bei einem Architekturwettbewerb unerwartet den ersten Platz gewonnen: Er darf seinen Entwurf einer Glaswolke realisieren. Nicht irgendwo, sondern in den Appalachen-Bergen. Wie seine Frau Daisy nur zu gut weiß, ist er allerdings ein Eigenbrötler, dem sie ab und zu auf die Sprünge helfen muss. Bei Daisys Party, die er mit seinen Projektleitern besucht, lernt er einen der Alien-Botschafter kennen. Ndavu tut ziemlich geheimnisvoll, wenn es um die Frage geht, warum die Aliens die Glaswolke mitfinanzieren.

Deshalb nimmt Philip Wing die Einladung Ndavus an, ihn doch mal in seiner Boten-Mission zu besuchen. Aber auf der Party musste Phillip auch entdecken, dass seine Daisy ein Verhältnis mit McCauley, einem der Boten-Missionare, hat. Feststellen zu müssen, dass Daisy mit McCauley in der Boten-Mission lebt, wo Ndavu lebt, ist schmerzhaft. Nur purer Scotch Whisky betäubt den Schmerz. Und bei erster Gelegenheit landet Phillips Faust in McCauleys Gesicht. Für den Inhalt der Botschaft, die die Aliens verbreiten, interessiert er sich nicht, er kann mit dem Geschwurbel von „Unsterblichkeit der Essenz“ nichts anfangen. Deshalb lädt ihn Ndavu ein, an Bord seines Sternenschiffes zu kommen.

Verblüfft entdeckt Phil, dass auch Daisy eine Kabine an Bord bekommen hat. Er sagt ihr nicht, was ihm Ndavu als neue Aufgabe angeboten hat: ein Grabmal für eine Gottkönigin zu errichten. Besagte Gottkönigin besitzt zugleich das Geheimnis der Langlebigkeit, will es aber leider nach Jahrhunderten ihres Lebens nicht mit ins Grab nehmen: Die Boten erhoffen sich die Übergabe dieses Stoffes der Chani. Natürlich gibt es einen Haken bei diesem Angebot, das Phil zur Legende machen könnte: Die Welt ist so weit entfernt, dass er erst nach Jahrzehnten zurückkehren könnte, wenn nicht sogar nach Jahrhunderten.

Im Gespräch mit Daisy erkennt er jedoch, dass er von Anfang an von den Boten manipuliert worden ist, ebenso wie Daisy und ihr Liebhaber (den sie behalten will). Immer noch unentschieden bezüglich des Angebots reist er mit dem Bus zur Eröffnung der Glaswolke. Eine hippiemäßige Passagierin jubelt ihm Popcorn mit einem Rauschmittel unter, so dass der Eindruck der Entfremdung von diesem Publikum nicht mehr vage bleibt, sondern sich in schreiend bunten Farben äußert. Und als sich die Glaswolke erhebt, fällt ihm die Entscheidung ganz leicht…

Mein Eindruck

Diese feine Geschichte Novelle beschäftigt sich mit Kreativität, Aliens und der Dauer von künstlerischen Aussagen. Im Finale fragt sich Phil Wing, was seine Vermarkter aus seinem ursprünglichen Entwurf gemacht haben. Sie haben ihn völlig verhunzt. Es erscheint daher plausibel, dass er sich eine Perspektive für sein Können wünscht, in der seiner künstlerischen Aussage eine längere, wenn nicht sogar sehr lange Dauer beschieden ist. Wäre also ein Mausoleum für die Gottkönigin einer fremden Welt nicht genau das Richtige?

Andererseits sind die Boten wie Ndavu Meister der Manipulation. Dabei sind die sehr gründlich und denken an alles. Gut möglich also, dass auch die Geschichte von der Gottkönigin nur Phils Manipulation dient und seine wahre Aufgabe eine ganz andere ist. Der Autor hat sich als Protagonist der „Humanisten“ hervorgetan, der Gegenbewegung zu den Vertretern des „Cyberpunk“.

3) Bruce Sterling: Die Blumen von Edo (Flowers of Edo, 1987)

Um 1870 in der japanischen Hauptstadt Tokio, die unter dem Shogun einst Edo hieß. Japan hat sich 1865 den Amerikanern unter Admiral Perry öffnen müssen. Inzwischen stolpern Leute wie der Varietékünstler Encho laufend über Neuerungen in Tokio, die die Westler eingeführt haben. Zusammen mit seinem Saufkumpan Onogawa, einem verheirateten Konservativen, der sich nach 1865 gegen die Neuerungen wehrte, begibt sich Encho in die nagelneue Ziegelstadt.

Ziegel hat es bislang in Tokio nicht gegeben, denn alle Häuser werden traditionell aus Holz, Riedgras und Reispapier errichtet. Die Ziegel sollen, so heißt es, gegen die allfälligen Feuerbrünste schützen. Diese werden auch als „Blumen von Edo“ genannt. Der Zeichenkünstler Yoshitoshi wohnt und arbeitet jetzt in einem solchen Ziegelhaus. Da er gute Verbindungen hat, bietet er seinen Bekannten amerikanischen Whisky als Getränk an: „Borubona“, also Bourbon. Schon bald zeitigt der ungewohnt starke Alkohol eine unheilvolle Wirkung.

Onogawa macht die Fensterläden auf und Telegrafendrähte, die direkt vorm Fenster zu einem Verteilermasten führen. Diesen neumodischen Dingern verpasst er mit seiner langen Bambuspfeife eine Abreibung, bis die Funken fliegen. Er will den Dämon heroisch vertreiben. Das scheint ihm auch zu gelingen, denn eine Funkenstrecke entfernt sich nach Süden. Yoshitoshi nund Encho gratulieren Onogawa zu seiner heldenhaften Tat. Schade, dass er kein Schwert mehr tragen darf, weil es der Kaiser verboten hat.

Schon bald sind aus dem Süden der Stadt Alarmglocken zu hören: Das dort gelegene Arbeiterviertel hat Feuer gefangen. Vor Ort bekommen Encho und Onogawa von den Feuerwehrmännern die Ursache zu hören: „Funkenflug von den Drähten, ja, aber das hat sich wohl nur ein Betrunkener ausgedacht…“

Mein Eindruck

Der Autor führt uns zurück in einen spannenden Moment der japanischen Geschichte, als sich Ost und West dort treffen und eine kulturelle Revolution in Gang setzen. Sterling hat sich intensiv mit solchen Umwälzungen befasst, wie nicht nur seine Erzählungen, sondern auch seine Essays belegen. Manchmal bringt er groteske Apsekte zum Vorschein, manchmal unheilvolle.

Moderne Phänomene wie Telegrafendrähte werden als Dämonen interpretiert, und Feuersbrünste als Blumen. Ziegelhäuser erscheinen als krank machende Zellen des Todes, Lokomotiven als gefesselte Feuerpferde. Gaslaternen vertreiben das Dunkel der Nacht, die Sterne und den Mond – wie unnatürlich!

Im Grunde besteht die Handlung aus einem Besäufnis nach dem anderen, und das ist durchaus amüsant. Aber die Komik überdeckt nur das Grauen. Der „illustrierende Reporter“ Yoshitoshi hat eine Vision, die ihm der Dämon der Moderne eingibt: Lokomotiven, die fliegen können und Eier des Todes über japanischen Städten abwerfen. Doch diese „Blumen von Edo“ sind größer und zerstörerischer als alles Dagewesene: Atombomben. Diese Vision, mit Tusche gezeichnet, verbrennt der Künstler gleich wieder. Sicher ist sicher.

4) Pat Murphy: Rachel ist verliebt (Rachel in Love, 1987)

Rachel ist eine ganz besondere Schimpansin. Ihr „Vater“ Aaron war ein Mensch, der seine eigene Tochter, die bei einem Verkehrsunfall zusammen mit ihrer Mutter ums Leben kam, sehr lieb hatte. Er hatte sie so lieb, dass er ihre geistig-seelische Signatur aufzeichnete, speicherte und nach ihrem Tod auf das Gehirn einer jungen Schimpansin übertrug. Seitdem verfügt Rachel, die Schimpansin mit der Mädchenpersönlichkeit, über eine verwirrende Mischung von zwei Seelen. Doch Aaron behandelt sie weiterhin wie seine eigene Tochter, denn er kann sich mit ihr in Amerikanischer Zeichensprache (AZS), die er sie gelehrt hat, verständigen.

Als er an einem Herzinfarkt im Bett stirbt, wird Rachel von Wissenschaftlern eingefangen, die sie in ihre Forschungsstation in der Wüste bringen, nur 50 km von Rachels Elternhaus entfernt. Niemand von den Forschern versteht, dass sie ein Mädchen ist, sondern bezeichnen sie als „gutes Zuchtmaterial“. Nur Jake, der taube, alkoholsüchtige Hausmeister, kann AZS und akzeptiert sie als seine Gehilfin. Mit ihr reinigt er die Flure, Käfige und Büros viel schneller.

Alles wäre vielleicht gutgegangen, wenn Rachel nicht die Liebe kennengelernt hätte. Zunächst liest sie in romantischen Magazinen über die Liebe zwischen Mann und Frau – genau ihre Kragenweite. Doch Jake zieht es vor, Pornomagazine anzugucken. Sie denkt, sie habe sich in ihn verliebt. Doch wenn sie sich für ihn schön macht, stößt dies auf wenig Verständnis, und dass sie brünstig geworden ist, versteht er erst recht nicht. Dies kapiert ihr Käfignachbar Johnson, dem sie AZS beibringt, umso schneller.

Eines Nachts bricht Rachel zusammen mit Johnson aus dem Institut aus, um durch die Wüste nach Hause zu fliehen. Freiheit und Liebe, was könnte es Schöneres geben?

Mein Eindruck

Diese schöne, gefühlvolle Erzählung schließt thematisch an die bekannte Story von James Tiptree jr (alias Alice Sheldon) über den „Psychologen, der keine Ratten quälen wollte“ an. Wieder wird die Tierforschung als eine Art Gefängnis dargestellt. Hier findet aber auch Rachels Verwandlung statt: Aus einem scheuen Mädchen in Affengestalt wird eine Primatin, die andere Primaten erzieht und auf ein höheres Intelligenzniveau bringen kann (Uplifting à la David Brin). Aus der drohenden Schizophrenie wird eine Verschmelzung der beiden Persönlichkeiten.

Indes fand ich die Aussage durch den Umstand etwas beeinträchtigt, dass die Handlung ein wenig viel romantisches Wunschdenken aufweist, besonders das Happy-End. Das ist zwar schön für bürgerliche SF-Leserinnen, aber mit der Realität hat es wahrscheinlich herzlich wenig zu tun. Man könnte die Geschichte aber gut als Märchen genießen.

5. James P. Blaylock: Myron Chester und die Kröten (Myron Chester and the Toads, 1987)

Unser Chronist lebt in Florida, aber auch in der tiefsten Provinz tragen sich manchmal bemerkenswerte Dinge zu. So etwa die vom Kurzwarenhändler Myron Chester, der von Aliens entführt worden sein will, um eine Rundreise durchs Weltall zu machen. Doch aller Ruhm ist vergänglich und nach 18 TV-Auftritten hat ihn die Welt wieder vergessen. Dafür sucht er nun jede Nacht in den Florida-Sümpfen nach Kröten und Alligatoren, selbst wenn das mit Gefahren verbunden ist.

Unser Chronist besitzt neben speziellen Büchern über Zauberer auch eine Sammlung von rund 40 Kaleidoskopen. Ein doppeltes Kaleidoskop, das mit bunten Steinchen gefüllt ist, richtet er immer wieder gen Himmel, um den Mond zu betrachten. Am 23. April entdeckt er bei dieser Gelegenheit ein Raumschiff, und es ist sicher kein irdisches, aber es landet im Sumpf. Vom Hausdach aus gesehen ist ein helles Leuchten festzustellen – und das Schweigen der grillen und Kröten. Sehr verdächtig. Nur Mrs. Krantz von nebenan hat nichts mitbekommen und schimpf mit ihrem bellenden Hündchen. Das beseitigt jeden Zweifel, dass er sich in einem Land der Phantasie befinde: Dort kommen solche Leute nicht vor. Als war die Landung der Aliens real.

Kein Wunder also, wenn schon bald riesige Schildkröten und Alligatoren in der Siedlung der Menschen auftauchen. Sie werden von Mrs. Krantz erfolglos mit Besenstielen, Bratpfannen und Tranchiermessern bekämpft. Im Sternenlicht entdeckt unser Mann zwei leuchtende Gestalten im Sumpf, die sich zweier großer Kröten bemächtigen. Eine Woche später stapft Myron Chester durch den Sumpf und spricht mit einer Kröte. Offensichtlich schert sie sich weder um Menschen noch Aliens und ihren Raumschiffen.

In einer weiteren Mondnacht hört unser Chronist den Hund von Mrs. Krantz kläffen und jaulen, als käme das Ende der Welt. Tatsächlich ist in der Ferne heller Schein am Boden festzustellen, dann erhebt sich das Raumschiff zu den Sternen. Der Hund verstummt und gibt fortan Ruhe. Das war vor zwei Monaten. Doch das kümmert Myron Chester nicht, er stapft immer wieder durch den Sumpf, um die Kröten zu befragen.

Mein Eindruck

Was wäre, wenn die Aliens nicht in der Hauptstadt, sondern im abgelegenen Hinterland am Golf von Mexiko landen würden? Käme es zu einem Volksaufstand, einem Medienrummel? Nein, im Gegenteil: Beobachter wie Myron Chester würden von den TV-Moderatoren veräppelt werden. Mrs. Krantz und ihres gleichen würden mit Besenstielen und Bratpfannen auf verkleidete Riesenschildkröten losgehen. Und stille Beobachter wie unser Chronist würden sich in weiser Voraussicht hüten, sich wie Myron Chester an die Öffentlichkeit zu wagen. Sie würden auf ein ganz privates Wunder hoffen, auf einen mentalen Weg zu den Sternen, so wie die alten Magier.

Die Kurzgeschichte lässt sich sowohl amüsant als auch geheimnisvoll interpretieren. Denn der Autor gibt nicht zu viele Geheimnisse preis, sondern erwähnt mehrere Phänomene, die Leute wie du und ich als „komisch“ bezeichnen würden. So kann sich jeder Leser seinen eigenen Reim darauf machen. Aber am Schluss hört man förmlich die Sehnsucht nach einem Ereignis, das die tägliche Routine des Lebens in einer Randsiedlung unterbrechen und die Existenz eines Beobachters wenigstens einmal erhöhen würde.

6. Andrew Weiner: Wellen (Waves, 1987)

Der Volkswirtschaftler Ken Vale hat sie einst vorhergesagt, die große ökonomische Zäsur. Nun ist sie da, und alle, die früher einen Job hatten wie er einen an der Uni, müssen sich die Wohlfahrtgutscheine des Nationales Kunstrates verdienen. Ken fertigt ab und zu auf seinem Computer einen SynthVid an, ein CableNet-Video, das verschiedene Genres und Hautdarsteller kombiniert, beispielsweise Western und Detektive. Er führt aber auch einen Laden für gebrauchte Bücher.

In Bayville an der Ostküste leben zahlreiche Leute von den NKA-Zuschüssen, und der lokale NKA-Vertreter ist infolgedessen ein mächtiger Mann: Tom Duke. Auf Toms heutiger Party lernt Ken die geheimnisvolle und aufreizende Sängerin Marianne Reiss kennen. Sie sei früher mal Astronautin gewesen und habe Neurologie studiert, erfährt er, doch sie verrät ihm, dass sie Artefakte aus den fünfziger Jahren sammle. Na, da wäre sie in seinem Buchladen genau richtig.

Was Ken ein wenig verwundert, ist die Info des Gebrauchtfernseherhändlers, dass Marianne gerne einen Gehirn-Scan von ihm angefertigt hätte, für ein Hologramm. Die Vorstellung behagt dem braven Händler überhaupt nicht, es erinnert ihn an Seelenraub. Ken lacht, denn das erinnert ihn an den Aberglauben der Indigenen, als sie erstmals einen Fotografen zu Gesicht bekamen und glaubten, die Fotoaufnahme würde ihre Seelen klauen.

Marianne kauft ein paar alte Mode-Magazine und lädt ihn zu einem Gesangsabend im Bayville Grand Hotel ein. „Grand“ war es vielleicht mal, aber das ist lange her. Dennoch hinterlässt Mariannes düstere Lyrik ihren Eindruck bei ihm. Sie sei angeblich Spezialistin für Dunkle Materie, heißt es am Tisch Kens. Tom Duke fällt durch seine geistige Abwesenheit auf: Es heißt, Marianne habe ihn mit ihrem Scanner das Gehirn abgetastet. Kurze zeit später schüttet auch Phil Conway von der NKA Ken sein Herz aus: Sie habe ihn ebenfalls gescannt. Seither sei er sich seiner Ehe nicht mehr sicher.

Klar, dass auch Ken eine Einladung bekommt. Mariannes Scanner erzeugt bei Ken Halluzinationen. Sie behauptet, dass das Innere des Gehirns der Weite des Universums gleichkomme. Sie muss es ja als Astronomin und Neurologin wissen. Doch der anschließende Sex mit ihr ist kalt, genau wie Phil erzählt hatte. Bei ihr ist kein Bleiben, und sie will ja auch weiter: nach Kenia. Denn von der Volkswirtschaft kommt frohe Kunde: Die Konjunktur weist nach oben, für die nächsten 50 bis 60 Jahre. Die Zeit des Vergnügens ist vorüber, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt. Der SynthVid-Computer landet auf dem Dachboden.

Mein Eindruck

Der Titel „Wellen“ ist für diese Geschichte passend gewählt. Es geht nicht nur um die Wellen der Konjunktur, sondern auch die der persönlichen Beziehungen und der Kulturphänomene. Was als Analogie gedacht war, lässt sich auf erstaunlich viele Phänomene und Verläufe anwenden. Für die Kunstschaffenden verheißt die anziehende Konjunktur nichts Gutes: Ihre Kunst wird nicht mehr gefördert, sie müssen umsatteln. Der Autor untersucht diese Wechselwirkung, lässt aber den Humor nicht außer Acht.

Konterkariert wird dieses Wechselspiel vom düsteren Nihilismus Marianne Reiss‘. Sie scheint das Phänomen der Dunklen Materie, das in den achtziger Jahren entdeckt wurde, verinnerlicht zu haben – und sucht es obendrein in den Gehirnen ihrer Zeitgenossen (nur bei Männern). Sind sie vielleicht Hohlköpfe, könnte sich der ironisch gestimmte Leser fragen. Aber keineswegs: Tom Duke und Phil Conway erleiden schweren emotionalen Schaden durch Mariannes tiefdringenden Scanner. Aber sie erholen sich, wie von ihr vorausgesagt.

Mich hat die Geschichte an eine von J.G. Ballards Geschichten über die innovative Künstlerkolonie Vermilion Sands erinnert. Sie stammen aus den Jahren 1956 bis 1970 (siehe meinen Bericht). Insbesondere „Prima Belladona“ aus dem Jahr 1956 passt ideal als Vorbild für die reiche Bankierstochter Marianne Reiss: eine quasi männerfressende Frau, die deren Gehirne zu Kunstwerken machen will. Die Leere, die sie füllen will, liegt in ihrer eigenen Seele: Sie hatte ein entsprechendes Erweckungserlebnis auf einer der Orbitalstationen, die sie besuchte.

7. Ute Bauer: Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde… (1987)

Der letzte Astronaut ist nach erfüllter Mission unfreiwillig zur Erdoberfläche zurückgekehrt: Er wurde abgeschossen. Und zwar von jenen Raketen, die gerade im finalen Atomkrieg abgefeuert worden waren. Sein Geigerzähler spielt verrückt, als er ihn nahe der „Ewigen Stadt“ in die Luft hält. Also schreibt er noch einen letzten Zettel mit der Notiz „Dies war Challenger II“, nimmt den Helm ab und geht in die Ruinen Roms…

Mein Eindruck

In wenigen Absätzen gelingt es der Autorin (die seit ihrer Heirat anders heißt), den Sinn einer Raumfahrt zu hinterfragen, wenn sich die Erde selbst noch nicht zum Frieden bereitgefunden hat. Daraus folgt, dass nur eine friedfertige Raumfahrt auch eine legitime Raumfahrt sein kann. Dass die Landung ausgerechnet in Rom stattfindet, bedeutet, dass auch der Vatikan keine Chance gehabt hat, zugunsten des Friedens zu intervenieren.

Ein aufmerksamer Beobachter könnte sich allerdings fragen, warum ausgerechnet eine Nation, die einen Astronauten zum Mond geschickt hat, einen Krieg führen sollte. Das kann wohl nur deuten, dass diese Nation sich gegen Angriff einer anderen Macht verteidigen muss, und zwar mit dem ultimativen Mittel: Nuklearwaffen.

Wahrscheinlich entstand der Text schon Jahre früher, nämlich zur Zeit den NATO-Doppelbeschlusses, Europa maximal aufzurüsten. Motto: „Pershing statt Petting“.

Die Übersetzungen

Die Texte sind durchweg korrekt und gut lesbar übersetzt worden, doch wie so oft tauchen hie und da ulkige Druckfehler auf.

S. 43: „…Technik, mit der sich das Bewusstsein selbst noch nach dem organischen Tod erhalten ließe[n].“ Das N ist überflüssig.

S. 76: “ganz normalen Gl-Stern der Hauptreihe“: Mit der Hauptreihe ist der Hauptstrom an Sternenklassen im Hertzsprung-Russell-Diagramm gemeint, das alle Sterntypen erfasst. Unsere Sonne Sol ist ebenfalls ein „ganz normaler Stern“, denn sie ist der Bezugspunkt für alle anderen.

S. 92: “Ein elektrolumineszentes Schild hing an einem viktorianischen Pfefferkuchenkarnies“: Ein Karnies ist laut DUDEN eine „Kranzleiste oder ein Gesims mit S-förmigem Querschnitt“, also verschnörkelt.

S. 218: “Auf dem Gebiet der Synthvid[e]s“: Das E ist überflüssig.

S. 252: “um Astronauten auszubilden, sie[ch] auf eine fremde Umgebung vorzubereiten…“: An dieser Textstelle zeigt sich, dass Marianne Reiss ihre Hirnscanner im Regierungsauftrag entwickelte, nicht etwa zum Privatvergnügen. Statt „sie“ sollte an dieser Stelle besser „sich“ stehen.

S. 258: Es geht um Rockmusik. “in einem Medley aus Motor Head und Judah’s Priest“. Bands dieses Namens gibt es nicht, wohl aber solche, die sehr ähnlich geschrieben werden: „Motörhead“ und „Judas Priest“. Es ist denkbar, dass der Autor oder der Übersetzer diese realen Markennamen vermeiden musste oder wollte, wollte er nicht riskieren, Lizenzgebühren bezahlen zu müssen.

Unterm Strich

Starke Stories von Könnern ihres Fachs sind hier versammelt. Am meisten beeindruckte mich die Erzählung von Bruce Sterling über das alte und das neue Tokio. Aber auch Pat Murphy und Pat Cadigan hinterlassen einen guten Eindruck. Kellys Novelle über die Glaswolke – eine geniale Konstruktion, die erst im Finale beschrieben wird – macht einen ironischen Kommentar über die Dauer eine künstlerischen und architektonischen Aussage in einem Umfeld, das von Manipulation und Ausbeutung geprägt ist. Die eindrucksvollste Novelle ist indes Weiners „Wellen“, die mich an J.G. Ballards Vermilion-Sands-geschichten (1956-1970) erinnerte.

Mehr auf der satirischen Seite ist Blaylocks Story zu verorten, die Aliens, Kröten und Sternguckerei kombiniert. Blaylock gehört wie Tim Powers zu den Jüngern Philip K. Dicks, die noch zu seinen Lebzeiten mit ihm diskutieren durften. Das dürfte wohl zwischen seiner VALIS-Erleuchtung 1974 und seinem Tod 1982 gewesen sein. Zusammen mit ihm erfanden sie ein Subgenre, das heute als Steampunk bezeichnet wird.

Kurzum: Dieser Auswahlband lohnt sich für jeden Freund von hochwertiger Phantastik, insbesondere aber für Kenner des Genres. Der Übersetzer Andreas Brandhorst hat hier feine Arbeit geleistet und sich nur eine minimale Anzahl von Fehlern geleistet.

Taschenbuch: 268 Seiten.
O-Titel: Isaac Asimov’s Science Fiction Magazine, 1987
Aus dem Englischen von Andreas Brandhorst.
ISBN-13: 9783453027510

www.heyne.de

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