Gene Wolfe – Die Nachtseite der Langen Sonne (Das Buch der Langen Sonne 01)

Abenteuer im Generationenschiff, Götter im Zentralcomputer

Nach dem Meisterwerk der frühen achtziger Jahre, dem ‚Buch der Neuen Sonne‘, ist Gene Wolfe mit einem neuen exotischen und farbigen Gobelin zur Science Fiction zurückgekehrt, einem wunderbaren Abenteuerromanzyklus, der im Innern eines gewaltigen Sternenschiffes spielt, das seit Generationen in der Galaxis unterwegs ist.

Seine Bewohner haben die Erde längst vergessen, die Wiege der Menschheit ist zur Legende geworden. Sie wissen auch nichts mehr von ihrem Ziel, zu dem sie unterwegs sind. Kaum einer kann sich vorstellen, dass außerhalb der Welt der langen Sonne ein Kosmos von Myriaden Sternen existiert und dass ein Planet, der einen dieser Sterne umkreist, ausersehen ist, der Menschheit eine neue Heimat zu sein.

Dieser Band eröffnet den Lange-Sonne-Zyklus des amerikanischen Meisterfabulierers Gene Wolfe, welcher mit dem fünfbändigen Zyklus „Das Buch der Neuen Sonne“ DEN Fantasy-Zyklus der achtziger Jahre schuf. Auch der neuen Zyklus wurde von der Kritik hoch gelobt.


Der Autor

Gene Wolfe ist einer der großen Stilisten der Science Fiction. Insbesondere seine Kurzgeschichten sind meisterlich feinsinnige Gratwanderungen zwischen Realität und Phantasie, die zum Nachdenken anregen. Zu seinen wichtigsten Story-Sammlungen gehören „The Island of Dr. Death and Other Stories“ (1980; s. meinen Bericht) sowie „Endangered Species“ (1989; s. meinen Bericht). Und natürlich das „Book of Days/Das Buch der Feiertage“ (1981; s. meinen Bericht).

Seine wichtigsten SF-Romane gehören den drei Zyklen um die Sonne an – die neue, die lange und die kurze:

DAS BUCH DER NEUEN SONNE

1) Der Schatten des Folterers
2) Die Klaue des Schlichters
3) Das Schwert des Liktors
4) Die Zitadelle des Autarchen
5) Die Urth der Neuen Sonne

DAS BUCH DER LANGEN SONNE

1) Die Nachtseite der Langen Sonne
2) Der See der Langen Sonne
3) Der Caldé der Langen Sonne
4) Der Exodus aus der Langen Sonne

THE BOOK OF THE SHORT SUN (unübersetzt)

1) On Blue’s Waters
2) In Green’s Jungles
3) Return to the Whorl

Weitere SF-Romane:

1) Frees Vermächtnis (bei Heyne)
2) Operation Ares
3) Der fünfte Kopf des Zerberus

Wichtige Fantasywerke sind:

1) MYTHGARTHR 1: Der Ritter (dt. bei Klett-Cotta)
2) MYTHGARTHR 2: Der Zauberer (dt. bei Klett-Cotta)
3) Soldat des Nebels (dt. bei Heyne; Band 1 eines Zyklus’ aus bislang 3 Romanen)
4) Peace (Frieden; bei Carcosa)
5) Der Teufel hinter den Wäldern (Bastei-Lübbe)
6) Das Buch der Feiertage (Kurzgeschichten)

Handlung

Patera Silk ist ein etwa 23 Jahre alter, blonder Priester in einem schäbigen Viertel der Heiligen Stadt Viron, die auf der röhrenförmigen Welt, die die Lange Sonne genannt wird, liegt. Früher kamen die Menschen, die Chemischen (Kyborgs) und die Mechanischen (Roboter) von der Kurzen Sonne. Maytera Marble, die „chemische“ Sibylle und Lehrerin in Silks Manteion, kann sich noch vage daran erinnern, ebenso an den Schnee. Heute gibt keinen Schnee mehr, sondern nur noch Dürre und Hitze.

Niemand ahnt (in diesem ersten Teil), dass er oder sie in einem Generationenraumschiff durchs All fliegt. Nein, es ist vielmehr ein wenig wie im italienischen Mittelalter: Da gibt es Klosterschulen und Viehmärkte, sogar Opfertiere lassen sich erstehen, um Orakel zu lesen. Silk hat dies alles auf der Schola gelernt. Er bedauert, dass sich die neun Götter schon lange nicht mehr haben bemerkbar gemacht. Er hofft, dies eines Tages ändern zu können, etwa durch Gebete. Scylla ist Virons Schutzgöttin, eine der Töchter von Hauptgott Pas und seiner Gattin Echidna.

Theophanie

An diesem Tag wird Patera Silk direkt auf einem Sportplatz eine intensive Vision zuteil, die ihm einer der Götter, der Außenseiter, geschickt hat, davon ist er überzeugt: Er muss das Manteion, also das Orakel mit seinem heiligen Fenster, erhalten, um den Göttern besser Opfer bringen und deren Willen besser erkennen zu können.

Ein folgenreiche Begegnung

Auf der Straße wird er von Blood, einem reichen Bordellbesitzer, aus dessen Fahrzeug heraus, angesprochen. Der verspricht ihm drei Karten, also 300 Minims, als Lohn für die Antwort auf eine simple Frage: Wie kann man Besessenheit von Erleuchtung unterscheiden? Blood hat dazu eine Theorie, die ziemlich atheistisch wirkt, ja, beinahe schon blasphemisch: Dass Besessenheit real, Erleuchtung aber Einbildung sei. Silk antwortet, indem er sein Erleuchtungserlebnis schildert. Die umstehenden Bürger bekommen das natürlich auf der Straße mit, und ein Gerücht verbreitet sich, dessen Wirkung nicht lange auf sich warten lässt…

Nachdem Silk seine wohlverdienten drei Karten auf dem Markt investiert hat und mit einem rabenähnlichen Vogel zurückgekehrt ist, berichtet ihm Maytera Marble, dass ein gewisser Blood das gesamte Grundstück des Manteions von der Stadt und dem Orden erworben habe, um es zu sanieren. Doch das darf nicht sein, denn Silk fühlt sich verpflichtet, den Willen des Gottes, der ihn erleuchtet hat, zu erfüllen. Das kann Maytera Marble gut verstehen, aber was ist zu tun? Sie rät Silk, die Hilfe des professionellen Einbrechers Auk einzuholen.

Auks Rat und Beistand

Auk ist in der verkommensten Spelunke des verrufensten Viertels von Viron zu finden. Kaum ist Silk eingetreten, gerät er zwischen die Fronten einer Schlägerei, doch Auk schützt ihn mit einem Schuss aus seiner Nadelpistole. Doch was sie zu besprechen haben, erledigen sie lieber in Auks Versteck im Keller. Sie beichten einander ihre Untaten und verpflichten sich zu jeweils drei guten Taten. Auk ist bereit, Silk bei seinem göttlichen Auftrag zu helfen. Ein erster Kontakt mit Blood schlägt fehl, denn der junge Schönling auf dem Bildschirm namens Musk ist eine Ausgeburt des Bösen.

Expedition und Invasion
Zusammen mit Auk, der ihm zahlreiche unbezahlbare Ratschläge erteilt, begibt sich der Augur auf eine schicksalhafte Reise hinaus aufs Land, um in die burgartige Villa des neuen Manteionbesitzers einzubrechen und sich mit diesem zu unterhalten. Da gerät er in einen schönen Schlamassel: Nachdem er von einem sprechenden Wachroboter, einem Talus, abgewiesen worden ist, schleicht er sich aufs Dach der Villa.

Abenteuer eines Einbrechers

Auf dem Dach wird er von einem Riesenvogel angegriffen, stürzt etliche Meter ab und bricht sich fast die Knochen. Dennoch gelingt ihm die Flucht in mehrere Zimmer, in denen sich interessante Frauen aufhalten: Da wäre beispielsweise ein junges Mädchen namens Mucor, das sich unsichtbar machen kann und Telepathie beherrscht. Da wäre die wunderschöne Hure Hyacinth, die den einbrechenden Silk mit der Droge „Rost“ kampfunfähig machen will, ihn an sich sich binden will und ihm schließlich zwei Waffen abnimmt, die er in ihrem Boudoir gefunden hat: eine Nadelpistole und einen Dimensionszerteiler mit eingebautem „Dämon“. Schließlich befragt Silk noch die intelligente Kommunikations- und Überwachungseinheit der Villa, die sein Freund wird. Leider muss Silk vor Hyacinths Zudringlichkeit – und Strahler – aus dem Fenster im zweiten Stock springen und bricht sich das Fußgelenk.

Blood und sein grausamer Assistent Musk lassen Silk von Doktor Crane behandeln. Während der Untersuchung steckt ihm Dr. Crane heimlich eben jenen Strahler zu, offenbar mit einem Hintergedanken…

Mein Eindruck

Nachdem Silk mit dem Hausherrn Blood einen Deal gemacht hat, begibt er sich am nächsten Tag in dessen Bordell in der Lamp Street, das von Orchid geleitet wird. Dort spuke es, sagen die Sexarbeiterinnen – die nebenbei auch für Blood die Polizeipräsidenten aushorchen. Silk schafft mit seinen priesterlichen Methoden, was zahlreiche Pfuscher vor ihm nicht schafften: Einen Mord aufzuklären und den Spuk zu beenden.

Diese Episode erinnert sehr an die Father-Brown-Geschichten von G.K. Chesterton, doch Silk ist sehr viel entschlossener als Heinz Rühmanns Darstellung von Father Brown. „Seine Merkwürden“ gerät in einige recht komische Situationen, so etwa im Bett von Hyacinth. Dennoch bleibt er todernst: Bloods Freund Musk bedroht sein Leben, und für den Rückkauf der Kapelle muss Silk noch eine Menge Geld stehlen: exakt doppelt so viel wie Musk in Bloods Namen dafür bezahlt hat.

Frauen

Frauenfiguren spielen eine enorm wichtige Rolle für Silk in seinem Werdegang zum neuen Caldé der Langen Sonne. Mal von den drei Sibyllen in seinem Manteion abgesehen, stellt zuerst Hyacinth den Auguren auf die Probe: Sie ist völlig zugedröhnt, als er sich in ihrem Bett in Bloods Villa vor den Hausdienern verstecken muss. Aber dadurch wird sie scharf auf ihn und will ihn unbedingt haben. Als er sich keusch weigert, feuert sie mit ihrem Strahler auf ihn – und zerlegt ihr eigenes Schlafzimmer in seine Bestandteil. Es gehört ja nicht ihr, sondern ihrem Dienstherrn Blood.

In „Der See der langen Sonne“ wird deutlich, wie wichtig die im Verborgenen lebende Mucor für Silk ist. Sie ist Bloods Tochter, aber mit der Gabe der Telepathie und Seelenwanderung ausgestattet. Ist sie ein fehlgeschlagenes genetisches Experiment?

Im Bordell in der Lamp Street lernt Silk schließlich Chenille kennen, eine Frau von vielen Talenten und möglicherweise von der Göttin Kypris erfüllt – oder von Mucor besessen. Mehr kann an dieser Stelle nicht gesagt werden.

Unterm Strich

Wer wie ich schon Begeisterung für die bunte, magische Welt im „Buch der Neuen Sonne“ aufbringen konnte, wird auch an diesem neuen Zyklus seine helle Freude haben. Der Einsteiger sollte sich auf einige interessante „Augenöffner“ gefasst machen. Gene Wolfe hat nicht nur eine interessante Art zu erzählen, ihm gelingen auch die tollsten Dinger in einer eigenständigen, originellen Weltschöpfung: abgenutzte Androidinnen mit sehr menschlichen Gefühlen; Visionen und Orakel; Teufelsaustreibung im Bordell; Priester beim Einbrechen in Villen und so weiter.

In den Folgebänden krempeln Silks Aktionen das soziale Gefüge in der Langen Sonne völlig um – bis es schließlich um den Exodus aus dem Raumschiff geht.

Dieser erste Band des Zyklus verfügt leider über kein Glossar und Namensverzeichnis. Das macht die Lektüre zu einer Herausforderung. Ein Namensverzeichnis gibt es in den jeweiligen Folgebänden.

Gebunden: 397 Seiten.
O-Titel: Nightside the Long Sun, 1994
Aus dem Englischen von Jürgen Langowski.
ISBN-13: 9783453133341

www.heyne.de

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