Samuels, Mark – weißen Hände und andere Geschichten des Grauens, Die (Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek 4)

Wenn es keine Kleinverlage gäbe, müsste man sie erfinden, damit man solche Bücher lesen kann – Bücher wie dieses, Werk eines 1967 geborenen Autors, der in der Verwaltung eines Londoner Unternehmens arbeitet, zwei Storysammlungen veröffentlicht hat, eine dritte vorbereitet, an einem Roman schreibt und dennoch nicht an seine Karriere als Berufsautor glaubt – „eine leider wohl realistische Einschätzung der Lage, denn von anspruchsvoller Phantastik kann heutzutage wahrscheinlich kaum jemand existieren“ (siehe das exzellente Nachwort von Thomas Wagner, S. 206).

Doch es gibt BLITZ, [BLITZ]http://www.blitz-verlag.de macht diese – phantastische! – Reihe, also können wir Mark Samuels sogar auf Deutsch lesen. Andernfalls wäre uns etwas entgangen, und wir hätten es nicht einmal gewusst. Wie viele begabte Autoren finden nicht den Weg in britische, deutsche, US- und anderswo beheimatete Verlage? Wie viele phantastische Geschichten bleiben in Schubladen liegen oder werden bestenfalls auf Websites dargeboten? Gedanken, die traurig stimmen.

Aber „Die weißen Hände und andere Geschichten des Grauens“ haben wir: neun Storys, übersetzt von Monika Angerhuber, die uns verschiedene Facetten des Unheimlichen nahe bringen. Wie zum Beispiel die Titelgeschichte: Da stößt der Ich-Erzähler, der über viktorianische Horrorautoren schreiben will, auf einen exzentrischen Literaturtheoretiker, der eifersüchtig den Nachlass der fast vergessenen Lilith Blake hütet und behauptet, ihre Geschichten würden nicht von übernatürlichen Phänomenen erzählen, sondern selbst solche sein; im Übrigen sei Lilith Blake nicht wirklich gestorben, sondern träume in ihrem Sarg; und wer ihr letztes Manuskript „Die weißen Hände und andere Erzählungen“ lese, der würde die Welt anders sehen, würde alles verstehen … Der Erzähler, zu Anfang skeptisch, entwickelt nach und nach eine Obsession für die Blake und ihr Werk …

Oder nehmen wir „Appartement 205“. Darin besucht ein seltsamer nächtlicher Gast einen Medizinstudenten. Der entdeckt, dass sein Besucher nur wenige Türen weiter wohnt; aber als er Appartement 205 öffnen lässt, um Klarheit über den merkwürdigen Mann zu erhalten, entdeckt er diesen nicht, dafür ein seltsames Gemach mit einem Stuhl und einem Spiegel. Er macht den Fehler, hineinzusehen – und erfährt Dinge über die Realität, die er sich nicht hätte träumen lassen.

Folgt „Die Sackgasse“ – eine Geschichte über einen Mann und seinen ersten Arbeitstag in den Büros der Ulymas-Organisation; doch dieser Tag verläuft weder so wie erwartet, noch geht er zu Ende wie erhofft. Man spürt, dass Samuels weiß, wovon er schreibt; und den Albtraum, in den der Protagonist gerät, kann man getrost in den Kontext des Werks des Bureau-Angestellten Dr. Franz Kafka stellen.

Wie „Die Suche nach Kruptos“ den Geschichten Jorge Luis Borges’ nachempfunden ist: Ein Student der Metaphysik reist 1940 dem vergessenen Philosophen Thomas Ariel nach, um dessen letztes Werk – „Kruptos“ – aufzuspüren. Ariel ist freilich seit sechzig Jahren irgendwo im Norden Finnlands verschwunden, aber vielleicht findet man ja noch dieses Buch, das Hauptwerk eines kühnen Theoretikers, dessen Schriften die Drucker sich zu drucken weigerten? Nun: Die Protagonisten dieser Geschichten finden immer etwas, doch nie das, was sie finden wollten … Wer „Die Bibliothek von Babel“ liebt, wird von dieser Geschichte begeistert sein; ebenso von den anderen, seien sie nun hier genannt worden oder nicht.

Zwei Vorbilder habe ich schon angesprochen, weitere kommen hinzu, Lovecraft etwa (Das ist nicht tot, was träumend liegt …) oder Ligotti, dem „Vrolyck“ und „Kolonie“ zu verdanken sind. Doch Samuels kann es sich leisten, seine Vorbilder zu nennen oder erkennen zu lassen, denn er schafft durchaus eigenständige Texte. Was hier zu lesen ist, verrät viele Einflüsse, ist aber nicht Kafka oder Ligotti, nicht Lovecraft oder Borges, sondern eben Samuels – ein Autor, der mit diesen seinen Kollegen freilich eines teilt: Er stellt den hilflosen Menschen in eine Welt voller undurchschaubarer Vorgänge, macht seine Protagonisten zu Opfern unbegreiflicher Mächte, lässt sie nur reagieren, nicht agieren. Damit antwortet er – wieder wie die genannten Schriftsteller, zu denen auch Philip K. Dick, Robert Aickman und Algernon Blackwood gehören – auf die Verwerfungen der Moderne, die nicht nur traditionelle Lebensweisen zerstört, sondern auch Sicherheiten anderer Art (zum Beispiel den Schutzkonsens der Moral); die oberflächliche Illusionen an die Stelle des tiefgründigen Denkens setzt und den Menschen von sich selbst, seiner Arbeit und seinen Mitmenschen entfremdet. „Gott“ oder „Hoffnung“ kommen in diesen Geschichten nicht vor, wohl weil sie in der heutigen Welt auch nicht mehr zu existieren scheinen; der Mensch wird zum Traum, zur Puppe, zur Hülle für Fremdes, er verliert nicht nur den Sinn seines Lebens, sondern oft auch seine Existenz. Dies beschwört Samuels mit starken Bildern und intensiver Sprache. Zitiert sei als Beispiel der Schluss von „Kolonie“:

|“Wir alle sind verloren in der weiten, endlosen Nacht, die wir selbst sind. Wir wandern, hoffnungslos und auf ewig verlassen, durch unsere eigenen geheimen Höllenkammern. So wie die Schatten von der Nacht verschluckt werden, so rufen unsere Seelen nach ihrem Ursprung. Und alles, was dann noch bleibt, ist die Wahrheit: Die Worte der toten Sprache können nicht entziffert werden, und alles ist schwarz und eisig und trostlos, ohne einen Sinn oder eine endgültige Lösung …“|

Wahrlich: Das ist kein Buch für Optimisten. Aber welcher Liebhaber dunkler Phantastik wäre schon Optimist …???

Band 1: [„Grausame Städte“ 1018
Band 2: [„Das Alptraum-Netzwerk“ 1023
Band 3: [„Spuk des Alltags“ 1142

_Peter Schünemann_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de veröffentlicht.|

Smith, Sarah – dunkle Haus am See, Das

Aus uraltem österreichischen Adel stammt er, der Baron Alexander von Reisden; verarmt zwar, aber dank erfolgreicher Börsenspekulationen wieder zu Geld gekommen und als fähiger Biochemiker in der Fachwelt hoch angesehen. Er ist jung, gut aussehend, bei seinen Freunde beliebt, der Titel öffnet ihm in der Gegenwart des Jahres 1906 gesellschaftlich alle Türen. Aber Reisden ist ein Einzelgänger, seit er vor fünf Jahren seine Gattin bei einem von ihm verschuldeten Automobilunfall verlor, einen Nervenzusammenbruch erlitt und nach einem Selbstmordversuch lange Monate in einem Sanatorium verbringen musste.

Ein Fachkongress in der US-amerikanischen Metropole Boston verwickelt Reisden in eine bizarre Affäre, die einer der prominentesten Familien der Stadt seit Jahrzehnten argen Verdruss bereitet. 18 Jahre zuvor war Island Hill, der Stammsitz der steinreichen Knights, einsam gelegen am Matatonic-See im US-Staat New Hampshire, Schauplatz eines Morddramas geworden. William, Selfmade-Millionär, Räuberbaron, Kriegsgewinnler, religiöser Fanatiker und seiner Familie ein kaltherziger, böser Patriarch, hatte seine zahlreichen Kinder im Jahre 1887 entweder überlebt oder verstoßen. Nur sein Enkel Richard leistete ihm Gesellschaft, den der alte Mann mit brutaler Gewalt zu seinem Universalerben heranzog. Dies erregte offensichtlich den Neid von Jay French, von dem es hieß, er sei das illegitime Kind eines Knight-Sohnes, der im Bürgerkrieg gefallen war. Als „Bastard“ von der Erbfolge ausgeschlossen und vom Großvater huldvoll als Privatsekretär angestellt, erschoss der gekränkte French eines Tages William Knight im Streit und entfloh – so die Familiensaga. Richard, der die Bluttat beobachtete, weigerte sich zu reden. Drei Tage später verschwand auch er spurlos.

Das Knight-Vermögen fiel an Richards Erben: Gilbert Knight, den letzten von Williams Söhnen, den dieser Jahre zuvor enterbt und aus dem Haus gejagt hatte. In den folgenden Jahren weigerte sich dieser Gilbert, seinen Neffen für tot erklären zu lassen. Sein Glauben an dessen Fortleben trägt durchaus irrationale Züge. Ein Schock soll ihn zwingen, das stets Aufgeschobene endlich nachzuholen: Alexander von Reisden sieht dem verschollenen Richard zum Verwechseln ähnlich. Er soll dessen Stelle einnehmen, um sich dann in Gilberts Anwesenheit zu demaskieren. Aber der Plan misslingt: Gilbert erkennt Reisden uneingeschränkt als Richard an – bitter vor allem für Pflegesohn Harry, der endlich offiziell das Knight-Erbe antreten und die schöne Perdita Halley ehelichen wollte. Aber auch Reisden bereut es, sich auf das seltsame Spiel eingelassen zu haben. Er tritt die Flucht nach vorn an, beschließt, sich als Amateur-Detektiv zu versuchen und endlich Richards Schicksal zu klären. Mit den Knights bezieht er Island Hall, inzwischen zum düsteren Spukhaus verfallen, um dort die vor Jahren erkaltete Spur wieder aufzunehmen. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten bei den Ermittlungen sind freilich nicht die einzigen Hindernisse, gegen die Reisden anrennt. Längst nicht alle Beteiligten des Knight-Dramas sind so ahnungslos oder gar unschuldig wie sie zu sein vorgeben, und das bringt den schwermütigen Detektiv recht bald in Teufels Küche …

„Das dunkle Haus am See“ ist ein historischer (oder besser: historisierender) Kriminalroman der besseren Sorte, d. h. überzeugend nicht nur als sauber geplotteter und schriftstellerisch umgesetzter Thriller, sondern auch harmonisch verschmolzen mit der Realität des Jahres 1906. Diesen Punkt darf man nicht unterschätzen, denn allzu oft setzen Autoren gar zu offensichtlich auf die Vergangenheit als exotische Kulisse, die ganz allein eine 08/15-Krimihandlung – meist grob verschnitten mit Elementen des Herz-Schmerz-Genres – transportieren soll. Nicht besser sind jene Schreiberlinge, die geradezu manisch historische Fakten zusammenzutragen, um darunter mit ihrer Geschichte auch das Publikum zu begraben. Sarah Smith findet indes den goldenen Mittelweg, der da heißt: Historisch wird es nur dort, wo es der Handlung dienlich ist. Das zu realisieren, ist schon Herausforderung genug.

Smith meistert sie, was sie allerdings nicht in den Stand einer schriftstellernden Heiligen erhebt, wie uns der Klappentext glauben machen möchte. Bei nüchterner Betrachtung besticht dieser Roman jedenfalls nicht unbedingt durch Originalität. Alte Familienskandale in ebensolchen Gemäuern werden immer Interesse erregen. Neu sind sie als Grundlage eines Kriminalromans aber sicher nicht. Wie so oft ist es die Variation einer bekannten Melodie, die den wahren Genuss bringt. Hier besteht sie vor allem in der wohltuenden Abwesenheit jener hysterische Gefühlsduseligkeit, die fälschlich mit der „guten, alten Zeit“ in Verbindung gebracht wird, als die Menschen angeblich Gefangene einer stets erdrückenden, weil restriktiven Gesellschaftsordnung waren und Ausbruchsversuche unweigerlich in theatralischem Geschrei und Tränen endeten. Smith macht nun deutlich, dass die Welt vor einhundert Jahren zwar durchaus eine andere war, jedoch auch von ihren weiblichen Bewohnern nicht als reine Hölle empfunden wurde. Perdita Halley widersetzt sich erfolgreich dem ihr vorbestimmten Leben als Hausfrau und Mutter; sie startet allen Hindernissen zum Trotz eine Karriere als Künstlerin, ohne dass sie dafür von ihrer Familie in Acht und Bann getan wird. In einem Anne-Perry-Roman wäre mindestens der unsensible Harry für seine Selbstsucht mit einem schmalzigen Schurkentod „bestraft“ worden.

Mit Baron Alexander von Reisden ist Smith eine interessante Figur geglückt; dies allerdings nicht wegen, sondern trotz ihrer überkomplizierten, eher von Klischees als von Tragödien geprägten Vergangenheit. Gibt Reisden nicht gerade den weltschmerzgeplagten Schwermüter, treten seine angenehmeren Wesenszüge zu Tage: Als Naturwissenschaftler nennt er die Dinge beim Namen und geht ihnen auf den Grund. Ihn zum österreichischen Adligen amerikanischer Herkunft zu machen, ist ein geschickter Zug der Verfasserin, denn es erhebt Reisden zum Wanderer zwischen den Welten: der Alten und der Neuen, aber zwischen den gesellschaftlichen Schichten. Deshalb kann er ganz selbstverständlich sein zweites Abenteuer in der französischen Hauptstadt Paris erleben.

Leider wird ihn auch besagte Perdita Halley dorthin begleiten. Nur Sherlock Holmes konnte sich als personifizierte Denkmaschine ganz auf seine kriminalistische Arbeit konzentrieren, ohne dass seine Leser, besonders aber seine Leserinnen ihm dies übel nahmen. Die Zeiten haben sich jedoch geändert: Nun ist ein Privatleben für jeden Detektiv verpflichtend. Also muss es – die historische Realität wird hier problemlos mehr oder weniger ausgeklammert – neben dem Helden eine selbstbewusste, ihr Schicksal selbst gestaltende Frau geben, die nichtsdestotrotz auf der Suche nach Mr. Right ist, den sie und der sie nach vielen gefühlswalligen Verwicklungen auch finden wird – wenigstens im Roman dürfen Wünsche endlich einmal wahr werden! So erlebt Perdita das Abenteuer Emanzipation, nur dass sie das leider nicht wirklich zur interessanten Figur reifen lässt. Zur Abrundung des richtigen Kloß-im-Hals-Ambientes wird sie zusätzlich mit Blindheit geschlagen; nützt auch nichts. Stattdessen wundert und ärgert sich der Leser (hier einmal ausdrücklich in seiner maskulinen Variante angesprochen), dass die Verfasserin so einen Wirbel um ein ziemliches Gänslein entfesselt, während sie Anna Fen, die tatsächlich frei denkt und handelt, nicht nur stiefmütterlich behandelt, sondern regelrecht verstößt – sie war wohl selbst ihrer geistigen Mutter ein bisschen zu arg vom Leben verdorben.

Solche Einwände dürfen aber als marginal bezeichnet werden. Es überwiegt die Freude an der mit sicherem Pinselstrich rekonstruierten Welt des frühen 20. Jahrhunderts, jener eigentümlichen Epoche, die ungestüm den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt feierte, ohne mit den Kehrseiten konfrontiert zu werden, und schon modern im heutigen Sinne war, aber in gewisser Weise noch mittelalterlich. In Europa gab es noch Könige, die wirklich herrschten, in den USA ersetzten sie feudale Brachial-Kapitalisten, die sogar noch mächtiger waren. Der I. Weltkrieg würde dieser Märchenwelt nachdrücklich ein Ende machen, aber hier lässt sie Sarah Smith noch einmal aufleben. Das dafür nötige Rüstzeug hat ihr ein Studium der Filmkunde und Literatur in London und Paris sowie in Harvard verschafft – nicht die angebliche Nachfahrenschaft zu einer der berühmt-berüchtigten Hexen von Salem, wie kaum ein Werbetext vergisst dümmlich einzuflechten. Heute lebt sie in Boston, Massachusetts (Aha!), ist verheiratet, hat zwei Kinder und hält zwei graue Katzen (eine Klappentext-Weisheit).

Die „Alexander von Reisden/Perdita Halley“-Trilogie umfasst die Bände:

1. The Vanished House (1992; dt. „Das dunkle Haus am See“)
2. The Knowledge of Water (1996; dt. „Lautlose Wasser“) – dtv galleria 20333
3. A Citizen of the Country (2000; dt. „Das Geheimnis von Montfort“) – dtv galleria 20539

Nach Auskunft der Verfasserin ist die Serie damit abgeschlossen – aber was heißt das schon in der Literatur-Welt … Natürlich gibt es auch eine Website: http://www.sarahsmith.com (die freilich etwas angestaubt wirkt).

Frey, Alexander Moritz – Spuk des Alltags (Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek Band 3)

Alexander Moritz Frey kannte ich bis zum Eintreffen dieses Buches noch gar nicht; dabei hat Thomas Mann seinen Roman „Solneman der Unsichtbare“ gelobt als Ausdruck des „Allerbesten, was die phantastische Literatur hervorgebracht“ hat (vgl. das Nachwort von Marco Frenschkowski, S. 233). Und Rein A. Zondergelds „Lexikon der phantastischen Literatur“ bemerkt: „F., der 1933 Deutschland verließ, gehört zu den wichtigen, heute aber weitgehend vergessenen Vertretern der großen Blüteperiode der deutschen Phantastik zwischen 1900 und 1930.“ Der Emigrant Frey, 1957 verarmt in Zürich verstorben, findet sowohl hinsichtlich seiner Sprache als auch in puncto ideologischer Haltung Gnade vor den Augen des bisweilen unerbittlichen Zondergeld – völlig zu Recht, wie dieses Buch beweist, ein kleines Juwel deutscher phantastischer Literatur.

Der Titel ist Programm. In „Spuk des Alltags“ kommt kein Grauen aus dem schwarzen Abgründen jenseits der Sterne, lauert kein böses Wesen in der Kanalisation einer Kleinstadt in Maine. Was hier geschieht, ist nicht fremd: eine alte Frau bittet einen jungen Mann, ihr nach Hause zu helfen; ein Friseur plaudert mit einem Kunden über Zeitungsnachrichten; eine Mutter nennt ihren Sohn arbeitsscheu … so banal nehmen die Katastrophen, die Schrecken und Psychodramen ihren Anfang.

Jeder Titel der elf Erzählungen besteht aus nur einem Wort, das mit „Ver-“ beginnt: „Verhexung“, „Verneinung“, „Verfolgung“ etc. – diese Texte bleiben nicht isoliert voneinander, sondern bilden ein Ganzes, eine Studie über das seltsame, vielgesichtige Wesen Mensch. Und keine Geschichte lässt kalt. Wenn sich ein Teil des Schloss-Spuks in „Vermummung“ als recht irdisch-fleischlich erweist, schmunzelt man (und auch die Rache, die hier das echte Gespenst nach 200 Jahren nimmt, ist eher komisch). Wenn in „Verwesung“ ein Elternmörder Tagebuch schreibt, während nebenan im Schlafzimmer die Leichen liegen, gibt es keinen „Knalleffekt“ (Frey setzt auf Stimmungen, nicht auf Pointen); aber man fühlt den sich steigernden Wahnsinn des hilflosen Mörders mit. Gleichermaßen erschüttern der innere Monolog des Verbrechers in „Verfolgung“ und der des ehemaligen Frontsoldaten in „Verzweiflung“ – der eine versucht, seine Tat zu rechtfertigen, der andere muss sich Schuld und (Selbst-)Verrat eingestehen. (Frey diente im selben Bataillon wie Adolf Hitler, kannte diesen persönlich, zog aber genau entgegengesetzte Schlussfolgerungen aus dem Krieg – und musste daher emigrieren, als sein „alter Kamerad“ an die Macht gelangte).

Die Geschichten fesseln jedoch nicht nur durch Thema, Aufbau und Spannungsbogen; Frey ist auch ein Meister expressionistisch gefärbter Sprache, die mit starken Bildern operiert, mit Wortneuschöpfungen, Synästhesien, mit gewohnten Wörtern in unüblichen Kontexten. Und er brilliert mit inneren Monologen; beste Beispiele: die drei zuletzt genannten Erzählungen. Doch auch wo er in der dritten Person erzählt (in „Verneinung“ oder dem schwarzsatirischen „Versammlung“ etwa), kommen die Gedanken der Hauptfiguren, ihre Ängste und Schwächen deutlich zum Ausdruck. Vor allem Ängste und Schwächen, denn fast jede Erzählung läuft auf die Zerstörung von Rationalität oder Leben (oder beidem zugleich) hinaus. Die bekannte Welt zeigt ihre unheimliche Seite, der gewohnte Alltag gebiert das Grauen, das die alltäglichen – freilich selten schuldlosen – Protagonisten nach und nach verschlingt. (Hier fühlt man sich manchmal an Kafka erinnert.)

Kurz und gut: Dieser dritte Band der Serie „Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek“ setzt das Konzept, Besonderes zu bieten, erfolgreich fort. Zu den Erzählungen treten kongenial die exquisiten Innenillustrationen von Otto Nückel (dem Original von 1920 entnommen), und das ebenso informative wie analytisch fundierte Nachwort von Marco Frenschkowski. Diese Wiederentdeckung Freys für ein heutiges Lesepublikum muss man hoch schätzen.

Band 1: [„Grausame Städte“ 1018
Band 2: [„Das Alptraum-Netzwerk“ 1023

_Peter Schünemann_
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Laymon, Richard – Vampirjäger

Sam scheint als Lehrer ein bisher ziemlich gewöhnliches und langweiliges Leben geführt zu haben. Bis zu dem Abend, an dem seine Jugendliebe Cat plötzlich, nur mit einem blauen Bademantel bekleidet, vor seiner Tür steht. Dazu muss man wissen, dass Sam natürlich immer noch unsterblich in Cat verliebt ist, auch wenn er sie zehn Jahre nicht gesehen hat. Und so bedarf es auch fast keiner Überredungskünste ihrerseits, ihn zu einem Mord anzustiften.

Cat hat es nämlich faustdick hinter den Ohren. Ihren Ehemann hat sie schon vor ein paar Jahren beseitigen lassen, doch nun macht ihr der damals angeheuerte Killer zu schaffen. Der ist nämlich ein Vampir und besucht sie alle paar Nächte, um ihr das Blut auszusaugen. Drum will Cat den Kerl, Elliot ist sein Name, loswerden und braucht dazu Sams Hilfe.

Sam schlägt sich auch ganz gut als gedungener Mörder, doch stehen er und Cat nun vor einem Problem: Denn obwohl Vampire in Filmen immer sehr praktisch und zeitsparend zu Staub zerfallen, passiert mit Elliot gar nichts. Er blutet den Teppich voll und ist ansonsten eine ziemlich durchschnittliche Leiche. So machen sich Cat und Sam also mitten in der Nacht auf, um die Leiche in einem tiefen Loch weit weg von L.A. zu verscharren …

So einfach, wie die beiden sich diese Aktion vorstellen, ist sie aber lange nicht. Denn „Elliots Fluch“, wie sie ihr schlechtes Karma schon bald nennen werden, macht sich bald bemerkbar. Die beiden sind einfach vom Pech verfolgt. Zuerst kommen sie durch einen geplatzten Reifen von der Straße ab, dann geraten sie in die Fänge eines ziemlich zwielichtigen Bikers und von da an geht es rapide abwärts für Cat und Sam …

Man sollte es gleich zu Anfang sagen: Ein Vampirroman ist Richard Laymons „Vampirjäger“ wohl kaum. Elliot der Vampir ist eine wenig eindrucksvolle Gestalt mit seinen Fängen aus Stahl und seinem lächerlichen Cape. Und so wird er dankbarerweise auch relativ schnell ins Jenseits befördert. Seine reichlich seltsame Erscheinung und die Tatsache, dass er weder zu Staub zerfällt noch übermäßig auf Sonnenlicht reagiert, lässt beim Leser darüberhinaus die Vermutung aufkommen, dass Elliot nur ein Spinner ist; ein Außenseiter, der hinter der Maske des Vampirs seine brutale Sexualität auslebt. Auch Cat und Sam sind sich nie so ganz sicher, ob sie mit Elliot nun einen wahren Blutsauger um die Ecke gebracht haben. Doch sicherheitshalber befolgen sie die ungeschriebenen Regeln für Vampirjäger genau – man kann ja nie wissen!

Aber wie gesagt, Elliot ist für den Hauptteil des Romans tot und im Kofferraum von Cats Wagen verstaut. Statt eines Vampirromans bekommt der Leser also eine Art Horror-Road-Movie (als Buch, versteht sich) mit einer starken Prise Erotik und Sex. Denn natürlich bleiben Sams Gefühle für Cat nicht lange unerwidert. Nach einigen zaghaften Annäherungsversuchen fallen die beiden, im Angesicht der Todesgefahr, förmlich übereinander her – was macht es schon, dass sie gerade einen Autounfall hinter sich haben und beide ziemlich lädiert sind?

Laymon beschreibt auf stolzen 440 Seiten gerade mal einen Tag im Leben von Cat und Sam. Zugegeben, an diesem Tag passiert außergewöhnlich viel und außergewöhnlich Seltsames. Trotzdem erklärt Laymon mit akribischer Genauigkeit, was seinen Protagonisten gerade widerfährt. Dies kann zu Ermüdungseerscheinungen beim Leser führen. Wenn man nachts um zwei ins Bad geht, ist es relativ logisch, dass man das Licht anmacht. Solche Dinge müssen nicht extra erzählt werden. Sie hemmen das Vorankommen der Handlung und verlängern das
Buch unnötig.

Laymon schreibt eindeutig für ein männliches Publikum, das garantiert den meisten Spaß an seiner erotisch aufgeladenen Atmosphäre haben wird. Sams Fixierung auf Cats Busen und das allgemeine Fehlen jeglicher Unterwäsche im Roman wird Frauen schnell langweilen. Laymon kann ganze Seiten damit zubringen zu beschreiben, wie Cats Bluse über ihre Haut rutscht und ein Stück Brust freilegt. Hochrutschende Kleider, freigelegte Schenkel und schweißnasse Haut sind ein wichtiger Bestandteil von Laymons Romanwelt.

Die andere wichtige Zutat ist Gewalt. Nachdem Cat und Sam ihre (ohnehin nur minimal vorhandene) Moral abgeschüttelt haben, haben sie kein Problem mit Mord, Gewalt, Brechstangen, Waffen und einem guten Schuss Folter. Mit zunehmendem Genuss lassen sie sich in die Halbwelt von Kleinkriminellen und Verbrechern hinab und teilen so gut aus, wie sie einstecken müssen.

Für zarte Gemüter ist Richard Laymon also nichts. Auch klassische Horrorelemente findet man nur spärlich, stattdessen setzt er auf Brutalität und Gewalt und lässt das Blut genüsslich spritzen. Cat und Sam unternehmen eine wilde Reise hinab in den Sumpf menschlicher Abgründe – wem „Kalifornia“ gefallen hat, der wird auch „Vampirjäger“ lieben!

Wer härtere Gangarten mag, der greift mit „Vampirjäger“ zum richtigen Buch. Zusammen mit Cat und Sam darf man sich als Leser genussvoll dem Blutrausch aus zweiter Hand ergeben und den Bösen ordentlich eins auf die Mütze geben. Und auch wenn es klischeehaft und kaum überraschend ist, so freut man sich doch, dass der Held wider Willen am Ende die wunderschöne und tapfere Frau gewinnt und sie beide bis ans Ende ihrer Tage glücklich leben … Oder zumindest so lange, bis der nächste Unruhestifter vorbeikommt.

Nix, Garth – Lirael (Das alte Königreich 2)

Nachdem Garth Nix den Leser bereits in [„Sabriel“ 1109 in die magische Welt des „Alten Königreiches“ entführt hat, lockt er ihn nun zum zweiten Mal auf eine Reise an neue verwunschene Orte und zu weiteren düsteren Geheimnissen, die entdeckt werden wollen.

Vierzehn Jahre sind vergangen. Sabriel und Touchstone haben das Erbe angenommen, das ihnen durch ihr Blut bestimmt worden ist.

Als Magierin Sabriel Abhorsen und König Touchstone versuchen sie das Alte Königreich, aber auch Ancelstierre jenseits der Mauer vor immer noch ruhelosen Toten zu beschützen und die Schäden zu beseitigen, die ihr damaliger Feind angerichtet hat. Kraft und Hoffnung schöpfen sie dabei auch durch ihre Kinder Ellimere und Sameth, von denen jedes eines Tages in die Fußstapfen der Eltern treten soll, um den Schutz der Reiche zu gewährleisten.

Unbemerkt von dem Königspaar ist unter den Clayr – einem seherisch begabten Volk – das Mädchen Lirael herangewachsen. Das Mädchen sieht sich wie eine Außenseiterin, denn zum einen kennt sie ihren Vater nicht, zum anderen will in ihr einfach nicht die Gabe des Sehens erwachen. Je mehr Jüngere erwählt werden, desto mehr schämt sie sich und verzweifelt. Sie möchte nicht länger als unmündiges Kind angesehen werden, weiß aber nicht, wie sie das erreichen soll.

Erst als sie nahe daran ist, sich das Leben zu nehmen, findet sie Hilfe und Trost. Andere Clayr helfen ihr dabei, nicht die Geduld zu verlieren, und verschaffen ihr eine Stelle in der großen Bibliothek, die weniger als ein Saal voller Bücher, als vielmehr eine versunkene alte Stadt voller Geheimnisse, Artefakte und Gefahren ist.

Obwohl sie ihr neues Leben zu schätzen beginnt, entwickelt sich Lirael auch hier zu einer Außenseiterin, die lieber liest, Magie lernt und verbotenerweise durch die Bibliotheksstadt streift. So bleibt es nicht aus, dass sie schließlich ein gefährliches magisches Geschöpf zum Leben erweckt und nun sehen muss, wie es gebannt wird, ehe es noch mehr Schaden anrichtet oder gar Leute umbringt. Durch diese erste Bewährungsprobe gewinnt sie an innerer Stärke, was sie selber aber noch nicht begreift. Erst als die Seher der Clayr ihr Tun entdecken und sie auf eine gefahrvolle Reise schicken, lernt Lirael ihre wahre Bestimmung kennen und lernt ebenso, sie zu akzeptieren.

Aber auch Sabriel und Touchstone bekommen neue Schwierigkeiten. Immer wieder müssen sie Gefahren im Alten Königreich beseitigen. Ihnen wird recht schnell klar, dass wieder eine dunkle Macht aufgetaucht ist, um die Lebenden zu bedrohen, und dass die ganzen Geschehnisse klug geplant wurden, um sie von der eigentlichen Gefahr abzulenken.
So ist es auch an ihren Kindern zu helfen, so gut sie können.
Sameth etwa soll in die Fußstapfen seiner Mutter treten und der nächste Abhorsen werden, um weiterhin die Toten zu binden und zu vernichten. Aber den Prinz befällt beim Wirken von Nekromantie regelrechte Angst. Kann er diese überwinden, um seinem ancelstierrischen Freund Nicholas beizustehen? Denn als dieser Sameth besuchen will, gerät er in die Klauen des Feindes …

Obwohl „Sabriel“ in sich abgeschlossen war, bot der Hintergrund doch genug Möglichkeiten, um die Geschichte fortzuspinnen und eine neue Generation von Helden zu erschaffen, denen die ersten zur Seite stehen können und umgekehrt. Garth Nix begeht aber nicht den Fehler, ein einmal erfolgreiches Konzept zu wiederholen, auch wenn es Parallelen zu geben scheint. Die Grundvoraussetzungen der Personen und ebenso ihr Einstieg in das Abenteuer sind anders, denn Sameth ist nicht unbedingt der Sohn, den seine Eltern erwarteten und begehrt wie jeder Teenager gerne auf. Lirael erkämpft sich als Außenseiterin ihren Weg und ist nicht unbedingt jemand, der sich leicht Freunde macht. Und nicht zuletzt erweist sich der Feind als jemand von einem ganz anderen Kaliber.

Wieder überzeugt der Autor mit einer spannenden Geschichte, die immer zum rechten Zeitpunkt ihre Geheimnisse preisgibt und an keiner Stelle langweilig wird, einer faszinierenden Schilderung von Magie, die wir in diesem Band noch besser kennen lernen, und einer wirklich exotisch geschilderten Bibliothek.

Einziger Wermutstropfen ist nur, dass die Auseinandersetzung mit dem Feind am Ende des Buches noch nicht ausgestanden ist.

„Lirael “ ist wie sein Vorgänger „Sabriel“ Fantasy, in die man ruhig einmal einen Blick werfen sollte, wenn man der Drachen, Elfen und Zwerge überdrüssig ist, denn die Bücher beweisen, dass das Genre auch aus wenig exotischen Hintergründen viel machen kann.

_Christel Scheja_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de veröffentlicht.|

Bunch, Chris – Dunkle Schwingen (Die Drachenkrieger 2)

Nach „Herrscher der Lüfte“ legt Chris Bunch nun mit „Dunkle Schwingen“ den zweiten Teil seines Zyklus um den Drachenmeister Hal Kailas vor. Während der erste Band den Aufstieg des jungen Mannes vom Bauernburschen, der davon träumt, ein Drachenreiter zu sein, zu einem erfolgreichen Offizier schilderte, widmet sich dieses Buch nun seinen Bewährungsproben im Krieg zwischen den Ländern Deraine und Roche und der Rache an dem Mörder seines ersten Lehrmeisters Athelny.

Hal Kailas hat es weit gebracht. Er, der einst in den Dienst der Armee gepresst worden war, ist vom einfachen Soldaten der leichten Kavallerie inzwischen zu einem Anführer der Drachenreiter aufgestiegen und von seinem König in den Adelsstand erhoben worden.

Anders als viele der von Geburt an adligen Heerführer kennt er die Gefahren des Kampfes aus erster Hand und ist deshalb umsichtiger im Einsatz seiner Kräfte und der seiner Kameraden. Deshalb soll er in der nun geplanten Offensive Sondereinsätze fliegen, um den Bodentruppen weitere Vorstöße zu ermöglichen, denn noch immer leisten die Drachengeschwader Roches erbitterten Widerstand.

Doch zunächst geht alles schief. Da Hal zunächst nicht mit seinem eigenen Drachen fliegen kann und auf einen Ersatz ausweichen muss, gerät er durch die Unerfahrenheit des neuen Tieres in die Gefangenschaft der Roche. Er trifft dort nicht nur seinen Todfeind Ky Bale Yasin wieder, der ihn zum Verrat zu überreden versucht, sondern wird auch in ein angeblich ausbruchssicheres Gefangenenlager in einer Burg verbracht.

Eine Flucht scheint zunächst aussichtslos, aber Hal bleibt geduldig, beobachtet und sucht nach Schwachstellen in der Bewachung der Roche. Mit der Hilfe einiger anderer, denen er vertrauen kann, gelingt es ihm, sein Gefängnis hinter sich zu lassen, doch er schwört zurückzukommen und die anderen Derainer dort herauszuholen – ein Plan, den er sofort in die Tat umsetzt, als er wieder bei seinem Geschwader ist.

Und auch später setzt er alles daran, um seinen Teil dazu beizutragen, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, auch wenn er weiß, dass gerade seine Pläne viele unschuldige Menschenleben auslöschen werden. Eines weiß er aber ganz sicher: Wenn er Erfolg haben will, muss er zuallererst Ky Bale Yasin ausschalten, der als eine treibende Kraft auf der Seite des Feindes gilt.

Chris Bunchs Romane um „Die Drachenreiter“ lesen sich mitnichten wie eine Kopie von Anne McCaffreys oder vergleichbaren Romanen, in denen Drachen eine Rolle spielen, denn hier sind diese Geschöpfe nur Tiere, die bis zu einem gewissen Grade dressiert werden können.

Am ehesten kann man die Bücher wohl mit Landser-Romanen vergleichen, die das Leben von Soldaten an einem Kriegsschauplatz oder während einer Kampagne schildern. Menschliche Schicksale werden nicht gefühlvoll ausgewalzt und breitgetreten, sondern nüchtern geschildert, ebenso wie Pläne, die auch das Leben Unschuldiger massiv bedrohen könnten. Die Zerrissenheit zwischen Hals Gewissen und der Notwendigkeit, grausame Entscheidungen zu treffen, wird gut herausgearbeitet.

Heldentum und Pathos sind der Hauptfigur fremd, wichtig ist Hal Kailas nur, dass er und sein Geschwader ohne allzu schwere Verluste durch die nächsten Kämpfe kommen; den Krieg zu überleben, ist alles. Die einzige Freude seines Lebens ist Lady Khiri Carstairs, bei der er so etwas wie Frieden findet.

Insgesamt dürfte der Roman wie sein Vorgänger vor allem denjenigen gefallen, die ein Faible für ausgefeilte Schlachten, ausführlich beschriebene Kämpfe und militärische Schilderungen und sich vielleicht auch schon in Konfliktsimulationen damit beschäftigt haben. Romantik und ausgefeilte Beziehungen sollte man allerdings in diesem Werk nicht erwarten.

|Originaltitel: Dragonmaster, Vol. 2, Knighthood of the Dragons
Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Thon|

_Christel Scheja_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de veröffentlicht.|

Armin Rößler (Hrsg.) – Überschuss

»Es bewegt sich etwas in der deutschsprachigen Science-Fiction-Landschaft…«
– Armin Rößler 2005 im Vorwort zu „Überschuss“

Aus der ersten SF-Anthologie des Wurdack-Verlags „Deus Ex Machina“ wurden gleich mehrere Geschichten sowohl für den Kurd-Laßwitz-Preis als auch den Deutschen Science-Fiction-Preis nominiert. Neben ganz neuen Autoren, die durch das ambitionierte Projekt des Wurdack-Verlags die Möglichkeit erhalten, ihre ersten Geschichten zu veröffentlichen, melden sich auch in der Szene bekannte Autoren wie Markus K. Korb, Thorsten Küper oder zuletzt in „Walfred Goreng“ sogar Profis wie Ernst Vlcek und Helmut W. Mommers zu Wort. „Überschuss“ ist eine Sammlung von 19 Geschichten deutscher und österreichischer Autoren, die laut Klappentext auch „neue Fragen auf konventionelle Antworten“ wagen.

Überschuss – Thorben Kneesch (Physiker)
Die Titelstory bietet gleich ein erschreckend denkbares Modell der menschlichen Zukunft, vor allem mit der derzeitigen Arbeitslosenpolitik der Bundesregierung im Blick. Kneesch lässt die weitere Entwicklung streiflichtartig vorüberziehen und steuert eine klassisch tragische und ausweglose Situation an, um mit einem Hammer zu enden. Sehr gelungen!

Der Irrtum – Lutz Herrmann (Dozent für Physik und Chemie)
Die Handlung ist absolut nachvollziehbar, kein abgedrehter Text, ganz normal geschrieben – und trotzdem hab ich die Geschichte erst jetzt, beim Schreiben dieser Zeilen, wirklich verstanden. Direkt nach dem Lesen bleibt das Gefühl des Nichtverstehens, aber die Ansätze werden vermittelt. Erst wenn man darüber nachdenkt, warum die Story ihren Titel trägt, kommt die Erkenntnis. Tragisch. Das Schicksal von Menschen, durch Irrtümer drastisch veränderbar.

Barrieren – Armin Rößler_ (Journalist)
Die Angst vor dem Fremden – immer wieder Grundlage von Missverständnissen und Kriegen. Oder ein oft thematisierter Gegenstand in der Science-Fiction, wenn Menschen mit überragenden Fähigkeiten ausgenutzt, aber auch gefürchtet werden. Luz ist einer von ihnen, aber er hat seine eigene Überzeugung und sucht einen Weg, seinen Leuten gegen alle Gefahren zu helfen. Fesselnd geschrieben!

Nur ein Gedanke – Birgit Erwin (Referendarin für Anglistik und Germanistik)
Ob schon mal jemand auf den Gedanken gekommen wäre, eine Fritte ins All zu schicken? Nein, warum auch. – Zu diesem Zeitpunkt ist man gewarnt, ahnt aber noch nicht das Ausmaß der Geschichte. Erwin fackelt ein ironisches Feuerwerk ab, bei dem eine Blödheit der anderen folgt und eine Verkettung merkwürdiger Zufälle schließlich zum Höhepunkt führt. Ob schon mal jemand auf die Idee gekommen wäre, eine Sternschnuppe zu bauen?

Der Spaziergang – Markus K. Korb (Herausgeber)
Wie schön Protagonist Wilson sich ausmalen kann, wie der Tod kommen würde. Und wie zynisch sich der Tod anschleicht. Wunderbar geschrieben.

Der Untergang der Titan – Bernhard Weißbecker (Physiker, Agarwissenschaftler)
Die irrigen Wege der Medien und die ungebrochene Sensationsgier der Menschen. Entscheidung zwischen einer Freudenfeier und einem Stierkampf. Wieder eine Geschichte für den Zynismus.

Nicht ganz Atlantis – Andrea Tillmanns (Physikerin)
Obwohl recht schnell einigermaßen klar ist, worum es geht, ist die Geschichte so gut erzählt, dass sie den Leser bis zum Schluss fesselt. Eine Art von Kulturschock bricht herein, eine Katastrophe führt zu einem unwürdigen Leben. Es ist eine etwas längere Geschichte, aber wert, erzählt worden zu sein.

Strafvollzug – Peter Hohmann (Sport-Anglistik-Student)
Sehr unterhaltsam und flüssig zu lesen. Leider steht die Pointe als offene Drohung im Hintergrund. Hohmann schafft es aber, eine tragische Geschichte zu erzählen.

Wider Willen – Axel Bicker (Physiker)
Wieder einmal herrscht der Feudalismus auf neu erschlossenen Planeten. Und der Sohn lehnt sich nicht auf. Aber Bicker erzählt eine alte Thematik in neuem Gewand. Sehr spannend.

Das Festtagsprogramm – Thorsten Küper (Lehrer)
Eine durch und durch hinreißende Geschichte, die vom ersten bis zum letzten Wort spannend ist. Mit jedem Satz verdichtet sich das Bild, ein Thriller, dessen Ende eine Horrorzukunft beschwört. Meisterhafte Unterhaltung.

Die Spirale – Nina Horvath (Biologie-Studentin)
Philosophische Gedankenspielerei, die aber zum Mitdenken animiert und (da es sich um existenzielle Spekulationen handelt) mehrere unergründliche Lösungen bietet, um schließlich zu einer erschreckenden Konklusion zu kommen.

Der Besucher – Uwe Herrmann (tätig in der Kunststoffbranche)
Der Außerirdische selbst ist nicht weiter ungewöhnlich. Aber sein Ursprungsplanet umso mehr. Er ist nämlich so weit von allen Galaxien entfernt, dass selbst die Naturgesetze ihn nicht erreicht haben, weil sich der Aufwand nicht lohnt. Wir erhalten eine neue Erkenntnis um die Intelligenzverteilung auf der Erde und erfahren erleichtert, dass das Säbelrasseln der Amerikaner nicht jeden einschüchtert. Zum Schmunzeln.

Albas bestes Spiel – V. Groß (studierte Erziehungswissenschaften, Sozialpsychologie, Sprachwissenschaften)
Ein Spiel entscheidet. Spannend geschrieben, enthüllt Groß nach und nach die Ursache eines Streits, und als man endlich hoffen kann, führen die Spielsucht und die Entschlossenheit der potenziellen Retter zum tragischen Ende. Die beiden letzten Absätze sind überflüssig, verdeutlichen nur die ohnehin deutliche Pointe. Trotzdem toll.

Flasken – Edgar Güttge (Übersetzer)
Ich hätte ja die letzten drei Absätze weggelassen. Insgesamt eine flotte Geschichte, die vor satirischen Elementen nur so strotzt. Der Nihilist Friedhelm Nichtsche zum Beispiel. Güttge hat wohl alles, was ihm an Humor gekommen ist, hier verbraten, zwischen Flasken, Flaschen und Flachsen. Manchmal vielleicht etwas viel, insgesamt aber flüssig und sehr unterhaltend.

Das Buch – Ilka Sehnert (Sängerin, Schauspielerin)
Sehr fragmentarisch, aber auch eindringlich. Warnend vor dem Vergessen und der Kontrolle. Eine Vision nach Orwell und Bradbury, mit einem Lichtblick.

Der Bewohner – Bernhard Schneider (Physiker)
Eine Geschichte, die auf den gleichen Grundlagen ruht wie „The 13th Floor“ und „The Matrix“. Trotzdem ist sie äußerst originell, denn die philosophischen Fragen, die bei den genannten Geschichten entschlüsselt werden, finden hier keine Lösung. Diese Geschichte ist der Knaller dieser Sammlung!

Alles wandelt sich – Antje Ippensen
Inmitten der Geschichten mit düsteren Visionen hebt sich diese hier wunderbar ab. Sie löst ein hoffnungsvolles Gefühl aus, sieht allerdings die Rettung der Erde nicht durch die alleinige Kraft der Menschen kommen, sondern durch aufopferungsvolle Hilfe von außen. Als eine Warnung vor den naturzerstörerischen Machenschaften der Menschen sieht sie die Zukunft trotzdem nicht verloren.

Allmacht – Uwe Sauerbrei (Geophysiker)
Schön schnelle Geschichte, aber das Wichtigste bleibt ungeklärt: Woher kommt die Allmacht? Wohl ein Fehler in irgendwelchen kosmischen Systemen, wird ja auch temporal bereinigt. Immerhin giert der Allmächtige nur nach Wissen, nicht nach Überlegenheit. Unterhaltsam.

Fallstudie: Terroristin Jenny S. – Heidrun Jänchen (Physikerin)
Fehlinformation der Medien (oder durch die Medien) und ständig gelockerte ethische Vorstellungen machen schnell aus einer Frau eine Terroristin, die sich in einer genmanipulierten Welt eine natürliche Schwangerschaft wünscht. Schlaglichtartig leuchtet Jänchen die Verhältnisse in dieser Welt aus und skizziert eine dramatische Entwicklung. In der Welt gibt es menschliche Ersatzteillager; sogenannte „defekte“ Menschen haben keine Rechte und keine Zukunft mehr. Es ist eine brandaktuelle Diskussion um ethische Grundsätze und Gentechnik. Schnell und eindringlich zu lesen, ein würdiger Abschluss der Anthologie.

Fazit

„Überschuss“ ist eine wunderschön zusammengestellte Sammlung von hervorragenden Geschichten, die sich zum Teil eindringlich mit aktuellen schwierigen Themen befassen oder humoristisch unterhalten – oder beides.
Eine Geschichte für Zwischendurch oder mehrere Geschichten am Stück: Nie wird die Lektüre langweilig, jede Story wartet mit einer eigenen Idee und eigenem Stil auf. Für jeden Science-Fiction-Freund zu empfehlen; man wird seine Freude haben – und auch für jeden anderen an unserer Welt Interessierten bietet die Anthologie spannende Unterhaltung. Ein starkes Stück!

broschiert, 196 Seiten
ISBN-13: 978-3938065112

Der Autor vergibt: (4/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (2 Stimmen, Durchschnitt: 1,00 von 5)

Hubert Haensel – Die längste Nacht (Perry Rhodan. Lemuria 6)

Man befindet sich wieder in der Gegenwart. Perry Rhodan und sein kleines Team kämpfen in der Bestien-Station um ihr Überleben und stoßen dabei auf ein schreckliches Geheimnis: In tausenden von Tanks wurden seit Jahrtausenden Bestien gezüchtet, doch erst bei Bedarf erweckt. Das überschüssige Material wurde in einem ewigen Zyklus wieder aufgelöst und zur erneuten Zucht verwendet. Jetzt stehen auf mehreren Planeten hunderttausende Bestien für den erneuten Krieg bereit, und die Maschinerie produziert unablässig Kampfraumschiffe.

Aufgrund der mehrdimensionalen Strahlung durch das Hyperkristallvorkommen gibt es keinen Funkkontakt zur PALENQUE, Rhodan will eine Funkzentrale in der Station finden, deren stärkere Geräte hoffentlich ausreichen, um Hilfe herbeizurufen. Derweil wird Sharita Coho, die Kommandantin des Schiffes, ungeduldig und setzt ein Team auf dem Planeten ab, um nach Rhodan zu suchen. Sie stoßen auf die gelähmte Bestie, die sich gerade aus ihrer Erstarrung befreit. In einer Hetzjagd erreicht das Team vor der Bestie das Landungsboot und startet, doch die Bestie klammert sich an den Rumpf und beginnt mit ihren strukturveränderten Gliedmaßen, sich eine Öffnung zu schaffen.

Im Akon-System versucht Levian Paronn, sich Zugang zu den akonischen Zeitumformern zu verschaffen, um sein Vorhaben doch noch auszuführen. Aber gerade sein größter Förderer und väterlicher Freund Admiral Mechtan von Taklir bringt ihn ins Grübeln über sein beabsichtigtes Zeitparadoxon. Sowieso ist es fast zu spät, denn die Bestien schlagen los.

Hubert Haensel, Exposéeautor des Minizyklus, beendet mit dem vorliegenden sechsten Band den bisher besten Spin-off-Zyklus der Perry-Rhodan-Serie. Ihm ist es in Zusammenarbeit mit Frank Borsch zu verdanken, dass bei der Konzeption neue Wege beschritten wurden, dass von dem platten Schema der Vorgängerzyklen (wo es vor allem um Action und unschlagbare Gegner ging) abgewichen wurde. Der Lemuria-Zyklus behandelt eines der beliebtesten Themen der Serie, nämlich den Exodus der ersten Menschheit. Die Lemurer bergen noch immer phantastische Geheimnisse, um sie ranken sich kosmische Rätsel und wundervolle Abenteuer. Statt rasanten Verfolgungsjagden schildert „Lemuria“ die Jagd nach der Wahrheit um das Rätsel der Sternenarchen. Allen Autoren ist es hervorragend gelungen, individuelle Romane beizusteuern, so dass ein buntes Bild und wundervolle Charakterisierungen zustande gekommen sind.

Haensel führt alle Fäden zusammen und offenbart damit einen größeren Komplex, als bisher geahnt werden konnte. Rhodan ist nur vordergründig allein aufgebrochen, um mit den Akonen Kontakt aufzunehmen. Sein eigentliches Anliegen betraf Informationen, die mit merkwürdigen Gerüchten zusammenhingen. Rückblickend ist klar, dass es sich dabei um die neuen Aktivitäten der Bestien handelte. Ein erstaunlicher Zufall also, dass Rhodan ausgerechnet jetzt auf die erste Sternenarche trifft und sich so an den Hinweisen entlanghangeln kann, bis sich ihm die Wahrheit offenbart.

Übrigens spielten die Menttia, die Hans Kneifel im zweiten Band einführte, tatsächlich eine große Rolle und sind nicht nur von Kneifel erfunden worden. Mit ihrer Unterstützung ließ Haensel die Akonen jene ultimate Waffe gegen die Bestien entwickeln, durch die Paronn erst auf den Gedanken des Zeitparadoxons gebracht wurde.

Ziegler schilderte die große Enttäuschung Paronns und seine Kurzschlussreaktion, die nach der bisherigen Charakterisierung nicht zu dem überlegten Mann passt. Haensel vertieft sich in Paronns Zwiespalt und lässt uns teilhaben an seinen Problemen; er sieht selbst ein, kurzsichtig gehandelt zu haben, ja sieht sogar seine Handlungsweise als ihm nicht geziemend. Und nicht zuletzt befreit sich der Zyklus aus einem Schwarz-Weiß-Denken, das ein oft kritisiertes Problem der Perry-Rhodan-Serie ist. Die Pro- und Antagonisten haben ihre Schattierungen, entwickelt durch die sechs unterschiedlichen Autoren; selbst die gezüchteten Bestien, die aufgrund ihrer Konditionierung durchaus einseitig beschrieben werden können, erhalten neue Facetten. Schwierigstes Objekt ist sicherlich Perry Rhodan selbst, eine seit über vierzig Jahren beschriebene Gestalt, der neue Glaubwürdigkeit zu verleihen ein großes Problem ist. Er ist der große, unnahbare Unsterbliche mit allumfassendem Durchblick. Und endlich einmal gelang es wieder, ihn in einen Menschen zu verwandeln, mit Gefühlen und Schwächen, und ihm trotzdem seine große Erfahrung zu belassen.

Fazit

Mit dem Lemuria-Zyklus ist den Autoren ein Abenteuer gelungen, das trotz des gigantischen Serienhintergrundes auch für interessierte Science-Fiction-Leser geeignet ist, denen die Perry-Rhodan-Serie bisher abging. Vor allem der phantastische Roman von Andreas Brandhorst liest sich schön auch ohne Zusammenhang. Ihm ist hier das beste Ergebnis gelungen, allein schon, wenn man bedenkt, dass er sich für dieses Werk völlig neu in die Serie einarbeiten musste. Jeder der Autoren hat einen hervorragenden Beitrag geleistet, nicht ein Roman erscheint überflüssig oder langatmig, wie das bei Vorgängern nicht ausgeschlossen werden kann. Bei dem erreichten Niveau fällt es schwer, qualitative Abstufungen zu machen. Der Roman von Leo Lukas fällt um eine Nuance zurück, was nur im Vergleich mit den anderen gesehen werden kann. Insgesamt hat mir der Zyklus hervorragend gefallen.

Der Autor vergibt: (4/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (8 Stimmen, Durchschnitt: 1,50 von 5)

Nedjma – Mandel, Die

Laut Verlag handelt es sich bei der Autorin um eine Araberin Anfang bis Mitte vierzig, die unter dem Pseudonym „Nedjma“ ihre Lebensgeschichte veröffentlicht. In Frankreich stand das Buch lange Zeit auf den Bestsellerlisten und das wohl aus einem guten Grund, denn Sex verkauft sich natürlich immer hervorragend. Nach der Lektüre des Buches kommen dem nachdenklichen Leser einige begründete Zweifel an der wahren Identität der Autorin, denn bereits das angebliche Alter stimmt nicht mit der im Buch erzählten Geschichte überein. Doch interessiert das wirklich? Wird dieser Roman spektakulärer durch ein wahres Schicksal? Oder ist er als erdachte Erzählung nicht ebenso lesenswert? Ich persönlich glaube nicht an die Wahrheit der erzählten Geschichte und habe das Buch dennoch gern gelesen …

_Badras Geschichte_

Badra ist erst siebzehn Jahre jung, als sie den wesentlich älteren Hmed heiraten muss. Wie die Tradition es haben möchte, wird vor der Hochzeit ihre Jungfräulichkeit überprüft, damit ihr zugedachter Ehemann sie in der Hochzeitsnacht entjungfern kann. Doch bereits die erste Nacht zwischen Badra und Hmed wird für die junge Frau zur Qual. Ihr Ehemann ist bereits zum dritten Mal verheiratet, da seine ersten beiden Frauen ihm keine Kinder hatten schenken können. Schon in der Hochzeitsnacht müssen Badras Schwester und Schwiegermutter hinzukommen, um sie festzuhalten, da Badra sich vor dem Geschlechtsverkehr sträubt. Jede Nacht stirbt Badra ein wenig mehr, wenn ihr Ehemann emotionslos über sie hinwegsteigt und seinen eigenen Orgasmus als einziges Ziel sieht.

Nur drei Jahre lang hält Badra es bei Hmed aus, ihre eigene und glücklich verheiratete Schwester ist es schließlich, die ihr zur Flucht nach Tanger zu ihrer Tante Selma verhilft. Ihrer Tante erzählt Badra von den Qualen ihrer Ehe, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie nicht zu Hmed zurückkehren kann. Bald lernt Badra den angesehenen Arzt Driss kennen und lieben. Er ist es schließlich, der ihr bei der Erfüllung ihrer geheimsten sexuellen Wünsche hilft. Mit ihm erlebt sie über Jahre hinweg scheinbar das sexuelle Glück in Vollendung, doch muss Badra sich schließlich eingestehen, dass sie ihrem Liebhaber hörig ist. Obwohl es sie unendlich quält, dass er neben ihr auch mit anderen Frauen und Männern schläft, kann sie sich nicht von Driss trennen.

_Klartext reden_

Bereits in einem kurzen Vorwort macht Badra deutlich, worum es ihr in diesem Buch geht, denn sie möchte ihre eigene Lebensgeschichte aufschreiben und von ihrer sexuellen Befreiung berichten. Sie ist überzeugt davon, das allerschönste Geschlecht überhaupt zu besitzen, das sie einzusetzen weiß und dies auch tut. Die Autorin nimmt kein Blatt vor den Mund, um von ihren intimsten Erlebnissen zu berichten, das zeigt schon die kurze Leseprobe aus dem Vorwort:

S. 10: |“Ich, Badra, verkünde, mir nur einer Sache sicher zu sein: Dass ich das schönste Geschlecht der Welt habe; es hat die schönste Form von allen; es ist prall, heiß, feucht, duftend und singt wie kein anderes; und es ist unübertrefflich in seinem Verlangen nach harpunengleich sich reckenden Schwänzen.“|

In abgeklärten Worten schildert Badra von ihrer gescheiterten Ehe mit Hmed und den seelischen Qualen, die sie dort erleiden musste. Als die Ehe kinderlos bleibt, muss sie zudem merkwürdige Rituale vollführen, um die Fruchtbarkeit anzulocken, doch selbstverständlich scheitern all diese Versuche. Fast bekommt der Leser den Eindruck, dass Badra eine mögliche Schwangerschaft durch bloßen Widerwillen ihrem Mann gegenüber verhindern konnte.

Wenn Badra von ihren Erlebnissen mit Hmed berichtet, sind ihre Sätze meist kurz und knapp, darüber verliert sie kein Wort zu viel, während sie ihre sexuellen Episoden mit Driss und anderen demgegenüber ausschmückt und ausführlich in allen Facetten zu beschreiben weiß. So drücken sich ihre Gefühle auch in der veränderten Sprache aus:

S. 47: |“Ihn bedienen, dann wieder abräumen. Ihm ins Ehebett folgen. Die Beine breit machen. Mich nicht bewegen. Nicht seufzen. Die Übelkeit bekämpfen. Nichts fühlen. Sterben. Auf den Kelim starren, der an der Wand hängt. Saied Ali zulächeln, der den Menschenfresser mit seinem gegabelten Schwert enthauptet. Mich zwischen den Beinen trockenreiben. Schlafen. Die Männer hassen. Ihr Ding. Ihr übel riechendes Sperma.“|

Der gesamte Roman ist leicht und verständlich geschrieben, ein ausführliches Glossar am Ende des Buches erleichtert das Verständnis des arabischen Vokabulars, das sich nicht immer aus dem Zusammenhang erschließt. Doch deckt das Glossar alle fremden Vokabeln ab, sodass keine Fragen offen bleiben.

_Nichts ist unmöglich_

Die Autorin entwickelt zwei verschiedene Handlungsstränge. Auf der einen Seite berichtet Badra von ihren Erlebnissen bei Tante Selma in Tanger und von ihrer Liebe zu Driss, eingeschoben sind aber immer wieder kursiv gedruckte Kapitel, die Geschichten aus ihrer Vergangenheit erzählen. Im Vordergrund stehen jedoch die Episoden um Driss, die den deutlich größeren Raum in diesem Buch erhalten. Über Badras Vergangenheit erfahren wir nur das Nötigste, hier offenbart sie nur die Fakten, die erforderlich sind, um ihre Handlungsweisen zu verstehen und um deutlich zu machen, dass sie aus ihrer Ehe flüchten musste.

Neben den Episoden einer gescheiterten Ehe erfährt der Leser darüber hinaus Geschichten aus Badras Kindheit und muss erkennen, dass die junge Frau schon lange vor ihrer Entjungferung mehr als neugierig war. Dort lesen wir Geschichten über ihre Cousine Noura, die oftmals mit einigen Freundinnen zu Badra zu Besuch kommt, um dort statt mit Puppen zu spielen, sich gegenseitig zu erkunden und zu befriedigen. Doch auch die Jungen wissen sich zu helfen, denn eines Tages kann Badra eine Reihe von Jungen beobachten, von denen „jeder den neben ihm Liegenden zwischen den Beinen bearbeitete“, so ihre Ausdrucksweise.

Als Badra schließlich ihre Affäre zu Driss beginnt, driftet „Die Mandel“ (welch treffender Titel!) deutlich ins Schlüpfrige ab, der Leser bekommt mehr als offenherzige Episoden zu lesen, nicht nur Badra erscheint uns sexsüchtig, sondern auch Driss, der offen bekennt, dass er auch gerne mit Männern und bisexuellen Frauen schläft. In diesem Buch gibt es nichts, was es nicht gibt. Hier befriedigen sich die Jugendlichen nicht nur untereinander, da gibt es auch Driss‘ Großmutter, die sich mit Vorliebe jungen Mädchen gewidmet hat, auch Geschichten aus der Oberschule erzählt uns Badra, wo die Mädchen des nachts zu zweit in einem Bett geschlafen haben – offiziell, um sich gegenseitig zu wärmen, doch bezeichnet Badra das Schulheim ganz deutlich als „knisterndes Freudenhaus“.

Bei derlei Beschreibungen über den arabischen Lebensstil regen sich nun spätestens leise Zweifel angesichts des Wahrheitsgehalt dieses Buches, denn schwer vorstellbar ist es doch, dass derlei freie Liebe dort wirklich praktiziert wird. Doch haben diese Zweifel auch ihren Reiz, da der Leser für sich entscheiden kann, ob er Nedjmas Lebensbeichte Glauben schenken mag oder das Buch als unterhaltsame erotische Lektüre sieht, die vielleicht noch Anregungen für das eigene Liebesleben zu bieten vermag?!

_Sexuelle Befreiung?_

Ein wichtiger Punkt ist die Frage nach der sexuellen Befreiung, auf den die Autorin besonders deutlich verweist. Badra flüchtet zu ihrer Tante Selma, um ihrem lieblosen Ehemann zu entkommen, der sie als bloßes Stück Fleisch ansieht, an dem er sich allabendlich kurz abreagieren kann. Dass auch seine Frau sexuelle Begierden hat, scheint Hmed nicht zu interessieren. Erst Driss ist es, der seiner Geliebten jeden Wunsch von den Augen ablesen kann, der sie in Sphären mitreißen kann, die sich Badra nie erträumt hätte. Sie ist abhängig von ihm und süchtig nach dem Sex mit ihm, in ihrer Beziehung zueinander dreht sich alles um das Eine und Badra erkennt schnell, dass ihr einmal Sex nicht reicht. Der Leser ist selbstverständlich immer mittendrin im Geschehen und erlebt alles hautnah mit.

Während Badra noch von ihrer sexuellen Befreiung schwärmt, merkt sie offensichtlich nicht, wie sie immer abhängiger wird von Driss. Er gibt ihr jeden Monat Geld für ihren Lebensunterhalt und kauft ihr am Ende sogar eine Wohnung. Obwohl es Badra fast das Herz zerreißt, lässt sie Driss gewähren und mit anderen Frauen und Männern schlafen. Selbst wenn die beiden zusammen ausgehen, ist es doch nicht sicher, dass Driss später Badra auswählt, die er mit nach Hause nehmen wird. Alles schluckt sie runter, auch Zeiten der Abstinenz, in denen Driss Badra nicht beachtet und nicht mit ihr schläft. Badra wird dabei immer unglücklicher und beschließt schlussendlich, sich von ihrem Geliebten zu trennen, doch ist die Hörigkeit so groß, dass sie es nicht schafft.

So wird beim Lesen doch immer offensichtlicher, dass die sexuelle Befreiung keine wirkliche Befreiung ist, da sich Badra in eine Abhängigkeit zu Driss begeben hat. Erst spät erkennt sie die Lage, in die sie geraten ist und nach Driss‘ Tod spricht Badra teils in verbitterten Worten über ihren einstigen Geliebten. Dennoch finde ich es fragwürdig, diese sexuelle Hörigkeit als eine Befreiung hinzustellen, die sie in Wahrheit nicht ist.

_Bildungslektüre mit Spaßfaktor_

Insgesamt ist das Buch angenehm zu lesen und auch eine unterhaltsame Lektüre, die eventuell manchem Leser noch etwas Neues zu berichten weiß. Am Ende ist man fast traurig, dass es nur einen Abend braucht, um dieses schmale Buch zu lesen, das einen in eine exotische und faszinierende Welt versetzt, die man höchstens aus erotischen Filmen kennt, die keine Jugendfreigabe erhalten. Diskussionswürdig ist die Frage nach der sexuellen Befreiung, die eigentlich keine ist, auch wenn die Geschichte einer Frau, die sich von religiösen und kulturellen Fesseln lösen kann, anderen Frauen in einer ähnlichen Situation vielleicht auch Mut machen kann. Das Buch wird ergänzt durch ein umfassendes Glossar, das alle auftauchenden arabischen Wörter erklären kann. Mit nur kleinen Einschränkungen bleibt das Buch insgesamt empfehlens- und auch lesenswert.

http://www.droemer-knaur.de/mandel/

Andrea Rennschmid (Hg.) – Alamo. John Waynes Freiheitsepos

Rennschmid Alamo Cover kleinDie Geschichte eines vergessenen Filmepos, das von seinem Regisseur, Darsteller und Produzenten John Wayne als „größter Film aller Zeiten“ oder doch wenigstens der USA geplant war, seinen Zweck monumental verfehlte aber Einblicke in die Psyche seines Schöpfers bietet sowie den Hollywood-Alltag in der Endphase seiner großen Zeit rekonstruiert. Die deutschen Verfasser zeichnen die Vorgeschichte, die Dreharbeiten und die Rezeption nach. Dazu kommen ein historischer Überblick zum realen Alamo-Geschehen und andere interessante Informationen. Zahlreiche Fotos runden dieses leider kontraproduktiv bieder layoutete Sachbuch ab.
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Mario R. Dederichs – Heydrich. Das Gesicht des Bösen

„Das Gesicht des Bösen (1904-1942)“; S. 13-24: Im Bösen ist Reinhard Heydrich (1904-1942) heute eine fast mythische Gestalt. Sein Tod exakt zu dem Zeitpunkt, da der Triumph- und Terrorzug des „Dritten Reiches“ seinen Höhepunkt erreichte, bewahrte ihn vor dem glanzlosen Ende durch Selbstmord oder Henkerstrick, das die meisten anderen Nazi-Fürsten ereilte. So geriet Heydrich nach 1945 quasi „außer Sicht“; der „Hitlergang“ blieben drei zusätzliche Jahre, die Liste ihrer Verbrechen zu verlängern. Doch den organisierten Völkermord und damit die größte Gräueltat der Nazis hatte Heydrich vorbereitet. Auf sein mörderisches Geschick und die dadurch geschaffenen Strukturen konnte die NS-Führungsspitze sich stützen. Heydrichs Opfer erkannten sehr gut den „jungen bösen Todesgott“ und die „Bestie in Menschengestalt“. Die Unbelehrbaren erinnern sich lieber an den bienenfleißigen, schneidigen, korrekten Tatmenschen, der in seiner knappen Freizeit dem Leistungssport frönte und so herrlich die Geige spielte.

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Robert Arthur – Die drei ??? und das Gespensterschloss (Band 1)

Eigentlich muss man über diese Jugendserie keine Worte mehr verlieren, denn seit über 30 Jahren steht sie vom Bekanntheitsgrad her ungefähr auf gleicher Stufe mit Enid Blytons „5 Freunde“-Reihe. Der unaufhaltsame Erfolg der drei ??? auch in Buchform stellte sich in Deutschland aber erst mit Aufkommen der Hörspiele aus dem Hause EUROPA ein. Das „Gespensterschloss“ ist dabei ein markantes Kuriosum, denn die Buchvorlage ist der erste je veröffentlichte Fall der drei Detektive. In Deutschland jedoch befand man ihn für die jugendliche Hörerschaft Anno 1979 anscheinend als ungeeignet zum Auftakt der Serie. So zog man für die Vorstellung der Hörspielserie – quasi als Versuchsballon – den „Super-Papagei“ vor und das Gespensterschloss rutschte dort auf den undankbaren Platz 11.

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O’Shea, Pat – Meute der Mórrígan, Die

Pat O’Shea, Jahrgang 1931, hat 13 Jahre an diesem Roman gearbeitet, und es hat sich gelohnt. 1985 erschien dieses wundervolle, heitere Buch für Kinder und Erwachsene bei |Oxford University Press|, 1995 erschien eine gebundene Fassung beim |Verlag Freies Geistesleben|, 2001 präsentierte es der |Deutsche Taschenbuch Verlag| auch denjenigen hiesigen Lesern, die Englisch nicht (so gut) beherrschen oder Originallektüre scheuen. Die lange Verzögerung hat das Werk nicht verdient, aber besser spät als nie. Freunde guter Kinderbücher werden es mögen, Freunde irisch-keltischer Mythologie ebenso.

Worum geht es? Eines Tages findet der zehnjährige Pidge in einem Antiquariat ein paar alte Blätter, eins davon zeigt ein kompliziertes Muster, das sich beim näheren Hinsehen als eine Schlange offenbart – die böse Schlange Olc-Glas. Es ist mit einem zweiten Blatt zusammengeklebt, auf dem ein Bannspruch des Heiligen Patrick höchstselbst geschrieben steht; aber nun lösen sich beide Blätter voneinander, und allerlei merkwürdige Ereignisse nehmen ihren Anfang. Seltsame dünne Leute mit spitzen Zähnen interessieren sich sehr für Pidge und seine fünfjährige Schwester Brigit, in ein benachbartes Glashaus ziehen die zwei merkwürdigen Damen Melody Mondlicht und Breda Ekelschön ein, und die neue Stute, die Pidges Vater just an diesem Tag gekauft hat, beherbergt eine unheimliche Präsenz. Schnell begreifen die Geschwister, dass sie das Schlangen-Blatt vor Feinden verbergen müssen. Eine fast unlösbare Aufgabe, denn Melody, Breda und das Wesen in der Stute (das diese zum Glück bald verlässt) sind Macha, Bodbh und die Mórrígan, drei Schlachtendämoninnen oder auch Kriegsgöttinnen, die eins sind. Sie bieten all ihre Kraft auf – nicht nur, um das Blatt zu bekommen, sondern auch, um Pidge und Brigit daran zu hindern, einen Stein mit dem Blut der Mórrígan zu finden. Oder besser: Sie wollen diesen Stein an sich bringen. Kann die Mórrígan ihn in die Hände kriegen, kann sie ihr schwach gewordenes Blut mit diesem Tropfen wieder stark machen, Olc-Glas töten und sich seine Bosheit einverleiben; die gesamte Schöpfung wäre dann von ihr bedroht. Gelingt es den Geschwistern, den Stein zu behalten, können sie mit dem Blut Olc-Glas vernichten und die Welt retten. Zum Glück helfen ihnen die guten Götter: der Dagda, Angus Óg, der Gott der Liebe, und Brigit, die Göttin des Herdfeuers; es helfen auch der mythische Held Cúchulain, viele Tiere und andere Geschöpfe.

Pat O’Shea schreibt mit einer geradezu übersprudelnden Fülle von Einfällen und mit ständig präsentem, feinsinnigem Humor, den Übersetzerin Bettine Braun gekonnt ins Deutsche übertragen hat. Die Diktion und der Reigen skurriler, liebenswerter Figuren erinnern stark an Lewis Carroll; wer Bücher wie „Alice im Wunderland“, „Der Zauberer der Smaragdenstadt“ oder „Der kleine Prinz“ mag, wird dieses Buch ebenfalls liebgewinnen. Es ist für Kinder zum Lesen oder Vorlesen geeignet, auch für kleinere, denn es bietet eine einfache und dennoch kunstvolle Sprache, hält mit den Geschwistern zwei starke Identifikationsfiguren bereit und beinhaltet – ohne zu moralisieren – sehr viel Lebensweisheit, auf fast beiläufige, aber einprägsame Art vorgetragen. Ein sehr schönes Beispiel ist die Unterhaltung mit dem Fuchs Curu, dem vielleicht besten Freund der Kinder, der sich bitter über die Fuchsjagd beklagt und beweist, dass Füchse nicht Schädlinge, sondern sehr nützlich sind, auch wenn sie einmal ein Huhn stehlen. (Wer danach noch immer ein Fan dieses Mordsports ist, dem kann nicht mehr geholfen werden.)

Spannung und auch gruselige Momente kommen natürlich nicht zu kurz, jedoch zerstören diese Szenen, bei allem Ernst, nicht den heiteren Zauber des Buches. Man erkennt die Sicht der Autorin: Zum Leben gehört auch das Gefährliche und Dunkle, ohne dass die Schönheit des Ganzen darunter leidet. Pidge und Brigit müssen viele Abenteuer und Gefahren bestehen, und manchmal wird sich beim Vorlesen ein kleines Kind vielleicht auch unter die Decke verkriechen, aber doch immer mit der festen Gewissheit, dass am Ende alles gut ausgeht. Und noch öfter wird geschmunzelt werden; zwar entbehrt dieser Roman jeder hemdsärmligen Comedy, doch der feine Humor ist überall präsent, bis in die liebevolle Zeichnung der Nebenfiguren hinein (einer davon, dem Wachtmeister, der am Ende geläutert wird, gehört sogar der Epilog). Selbst die Vertreterinnen des Bösen, zumindest Melody und Breda, haben lustige Szenen und wirken bisweilen eher skurril als finster. Es ist überhaupt erstaunlich, wie Pat O’Shea die Götter- und Heldengestalten Irlands zum Leben erweckt und dem Leser nahe bringt. Gleiches gelingt ihr mit der Landschaft der Grünen Insel, die auch die Landschaft der Anderswelt Tír-na-nÓg ist, in der die Geschwister den größten Teil ihrer Abenteuer bestehen müssen und die eine liebevoll gezeichnete Kulisse für die Handlung bildet, nicht in langen Schilderungen ausgewalzt, aber ständig präsent und einprägsam in den Details.

Kurzum: ein großartiges Buch!

|Orginaltitel: The Hounds of the Mórrígan
übersetzt von Bettine Braun|

_Peter Schünemann_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de veröffentlicht.|

Arthur, Robert / Hitchcock, Alfred – Die drei ??? und die flüsternde Mumie

Während die flüsternde Mumie bei den EUROPA-Hörspielen die Nummer 10 verpasst bekam, ist die Romanvorlage eigentlich der zweite Fall der drei Jung-Detektive aus dem fiktiven Rocky Beach, die sich selbst „Die drei Fragezeichen“ nennen. Die drei Detektive sind die amerikanischen Schuljungen Justus Jonas, Peter Shaw und Robert „Bob“ Andrews, die immer wieder knifflige und mysteriöse Fälle lösen. Dafür stehen auch die Fragezeichen – als Symbol für das Unbekannte und ungelöste Rätsel. Nicht etwa für Selbstzweifel, wie Erwachsene nicht müde werden zu fragen. Für Selbstzweifel gibt es auch gar keinen Grund, denn das Trio ermittelt nunmehr seit über 40 Jahren erfolgreich durch die Jugendliteratur. Ihr Erfinder Robert Arthur schuf einen Evergreen, als er mit dem zugkräftigen Namen Alfred Hitchcock im Titel die Serie 1964 ins Leben rief. Zu uns schwappte die Welle Anfang der Siebziger und sie ebbt bislang nicht ab. Auch wenn hierzulande eher die Hörspiele bekannter (und beliebter) sind als die Romane.

_Zur Story_
Der Brief ihres Mentors Alfred Hitchcock versetzt die drei Detektive in Verzückung. Na ja, bis auf Hasenfuß Peter vielleicht. Ein höchst mysteriöser Fall wird ihnen dort in Aussicht gestellt. Professor Yarborough – ein Freund Hitchcocks – ist Ägyptologe und hat kürzlich die von ihm entdeckte Mumie des Ra-Orkon für sein Privatmuseum erhalten. Doch der olle Lappenträger scheint trotz seines augenscheinlich toten Zustands sehr mitteilungsbedürftig zu sein. Jedoch nur dann, wenn Professor Yarborough alleine im Raum mit dem Sarkophag ist, flüstert der 3000 Jahre alte Knabe unverständliches Zeug in einem alt-arabischen Dialekt. Sobald etwa der abergläubische Butler Wilkins mit im Zimmer ist, herrscht Funkstille. Aus nachvollziehbaren Gründen wendet sich der Professor weder an die Polizei noch an seine Wissenschaftskollegen – beide würden ihn für verrückt erklären. Justus und Bob bieten ihm ihre Dienste an. Peter kümmert sich derweil lieber um eine verschwundene Katze, ihm sind flüsternde Mumien definitiv zu gruselig.

Sie erhalten den Auftrag aber erst nachdem Justus dem Professor glaubhaft versichert hat, dass er an den Fluch des Pharaos und ähnlichen übersinnlichen Humbug nicht glaubt, welcher der Mumie angedichtet wird. Butler Wilkins sieht das ganz anders, wofür er gern und ständig vom Professor gerüffelt wird. Schon bei der ersten Begutachtung des Raumes scheint der dünnhäutige Wilkins aber Recht zu bekommen. Ohne ersichtlichen Grund stürzt eine schwere Anubis-Statue beinahe auf Justus und einige der Masken an der Wand rauschen kurz darauf zu Boden. Ra-Orkon hingegen tut aber, was Tote nun mal so tun: er schweigt beharrlich. In seinem Sarkophag und am Leichnam selbst sind keinerlei technische Einrichtungen zu erkennen, welche darüber Aufschluss geben könnten, dass jemand den Professor zu verulken oder gar zu ängstigen gedenkt. Justus greift zu einem Trick, um Ra-Orkon zum Flüstern, und Licht in die Sache, zu bringen.

Verkleidet als Professor Yarborough betritt er den Raum alleine, bewaffnet mit einem Tonbandgerät. Siehe da. Die Mumie beginnt leise zu flüstern. Lässt sich der Pharao so einfach veräppeln? So scheint es, denn als Justus sich unfreiwillig demaskiert verstummt der alte Ägypter sofort – ein kleines Malheur, jedoch hat Justus das schwache Flüstern immerhin auf Band. Nun können er, Bob und der Professor zu dessen Nachbarn gehen und sich Ra-Orkons Gebrabbel übersetzen lassen. Professor Freeman ist nämlich Experte für Arabisch und zudem ein langjähriger Freund von Yarborough. Er und dessen Vater haben seinerzeit das Grab des Ra-Orkon gemeinsam entdeckt – Freeman senior kam kurz darauf um, was allgemeinhin dem Fluch angelastet wird. Doch während Butler Wilkins alleine das Haus hütet, taucht plötzlich Schakalgott Anubis höchstpersönlich auf und entwendet die Mumie. Der grade eingetroffene Peter, der von alledem nichts ahnt, hat derweil eine unheimliche Begegnung der dritten Art: mit Ra-Orkons vermeintlichem Lieblingskater und erzürnten Nachfahren des Pharaos.

_Meinung_
Man merkt, dass dieser Fall der direkte Anschluss an das Debüt „… und das Gespensterschloss“ ist, und man gewinnt den Eindruck, beide Romane wurden in einem Rutsch von Robert Arthur verfasst. Die flüsternde Mumie stammt aber aus dem Jahr 1965. Wie wir im Auftaktroman erfahren, hat Bob ein Gipsbein, welches ihn auch noch im vorliegenden Buch leicht behindert. Bei genauerer, chronologischer Betrachtung können zwischen den beiden Geschichten keine 30 Tage liegen, denn die drei Schnüffler haben immer noch (beschränkten) Zugriff auf den Rolls-Royce, samt Chauffeur Morton. Dessen Benutzung hat Justus bei einem Preisausschreiben einer Autovermietung für exakt diesen Zeitraum gewonnen. Erst später, als sie einem jungen Mann mit Namen August August aus der Patsche helfen, sorgt dieser dafür, dass das Trio ohne zeitliche Begrenzung auf den Rolls zurückgreifen kann, wann immer er benötigt wird. Das passiert aber erst bei „… und der Fluch des Rubins“ und soll hier nur dazu dienen, die Handlung zeitlich ungefähr einordnen zu können.

Zudem wird zwischendrin immer wieder nur das Gespensterschloss als Referenz angegeben. Vor allem, was den Bezug der drei Fragezeichen zu Altmeister Hitchcock betrifft. Freilich hat dieser mit der Serie nur insofern zu tun, als dass er vom Autor für seine Reihe verwurstet wird. Mit dessen Einverständnis (und gegen Lizenzgebühr) natürlich. Eine Lizenz, die nun am Anfang 2005 endgültig auslief und nicht erneuert wurde. Für altgediente Fans etwas bedauerlich, aber sicher kein Weltuntergang. Mit Voranschreiten der Serie verschwanden Vorwort und Zwischenkommentare des angeblichen Mentors sowieso mehr und mehr aus den Büchern. Irgendwo um Band 50 herum taucht diese Besonderheit der alten Geschichten gar nicht mehr auf. Keine augenzwinkernden Tipps mehr für unaufmerksame Leser. Hier gibt’s sie selbstverständlich noch und liefern den einen oder anderen humorvollen Fingerzeig in Richtung Auflösung.

Die Flüsternde Mumie ist auch anderweitig eine wichtige Wegmarke. Erstmals finden hier die inzwischen berühmt gewordenen Ausrüstungsgegenstände, wie die Walkie-Talkies und das als Ofenrohr getarnte Periskop in der Zentrale auf dem Schrottplatz, Erwähnung und Verwendung. Das heißt, es wird nicht nur beschrieben, wie Justus die genannten Teile zusammenbastelt, sie erweisen sich als wichtige Elemente in dieser Geschichte und sind auch im weiteren Verlauf der Reihe immer wieder gern verwendete Utensilien der drei Fragezeichen. Die Story ist der erste Versuch Arthurs, einen two-in-one-Fall zu etablieren. Einerseits Peter auf der Suche nach einer verschwundenen Katze, andererseits Just und Bob beim „Hauptfall“. Man kann sich bereits denken, dass beide Stränge irgendwann zusammenlaufen – das geschieht tatsächlich sogar sehr schnell.

Flott geschriebene und leicht zu lesende 142 bzw. 176 (dtv) Seiten mit relativ großem Schriftbild machen die flüsternde Mumie zu einem recht kurzen Vergnügen. Zu kurz und hastig für meinen Geschmack, man hätte den Leser ruhig noch etwas mehr zappeln lassen können. Aus dem Mystery-Element der Mumie – samt dem sie umwabernden Fluch – und Peters Parallelaktionen wäre noch mehr heraus zu holen gewesen, stattdessen geriert der Plot alsbald als wilde Hatz nach der gemopsten Leiche und ihrem Sarkophag quer durch Los Angeles. Trotz der gelegentlichen Fingerzeige „Hitchcocks“ kommt man auf die endgültige Lösung wohl kaum selbst, dazu enthält Robert Arthur der Leserschaft zu viele wichtige Informationen vor. Die letzten Puzzlesteinchen des Warum fallen erst beim obligatorischen Finale an ihren Platz – hauptsächlich durch ein (zu) rasches, umfassendes Geständnis und weniger durch detektivische Kombinationsgabe.

_Fazit_
War das Erzähltempo durchweg von einer gewissen Hektik geprägt, kommt der Schluss ziemlich abrupt. Logisch nachvollziehbar ist die Story aber, wenn auch der Grund für das Flüstern etwas arg konstruiert wirkt. Der sonst so schätzenswerte, subtile Pädagogik-Faktor innerhalb der Serie kommt hier ebenfalls ungewöhnlich kurz. Verschenktes Potenzial zugunsten von mehr Action. Dabei hätte die interessante Thematik bestimmt mehr hergegeben als verzweifelte Verfolgungsjagden, was ihr einen Touch Unausgewogenheit verleiht. Somit zählt die flüsternde Mumie unterm Strich, trotz ihres sicher nicht gänzlich unverdienten Klassiker-Status, nicht unbedingt zu meinen persönlichen Top-Favoriten. Weder als Roman, noch als Hörspiel. Nichtsdestoweniger ist die solide Geschichte auch kein Totalausfall, sondern reiht sich im durchaus akzeptablen Mittelfeld ein. Wie alle „alten“ Fälle eignet sich auch dieses Buch uneingeschränkt für (Quer-)Einsteiger.

_Die Buchdaten auf einen Blick:_
Originaltitel: „Alfred Hitchcock and the Three Investigators in the Mystery of the Whispering Mummy“
Erzählt von Robert Arthur
Erstveröffentlichung: 1965 / Random House, NY
Deutsche Ausgabe: 1970 / Franckh-Kosmos, Stuttgart
Übersetzung: Leonore Puschert
Seiten: 142 / 176
Von verschiedenen Verlagen in unterschiedlichen Bindungen erhältlich
ISBN: 3-423-07022-6 (dtv-TB)
ISBN: 3-440-05207-9 (Originalausgabe)

Enquist, Per Olov – Buch von Blanche und Marie, Das

|“Die Liebe kann man nicht erklären. Aber wer wären wir, wenn wir es nicht versuchten?“|

Marie Curie ist bis heute die vielleicht berühmteste Physikerin überhaupt. Sie war nicht nur die erste Frau, die mit dem Physiknobelpreis ausgezeichnet wurde, sondern sie ist bis heute die einzige Frau, der zweimal ein Nobelpreis verliehen wurde; auch ist Curie neben Linus Pauling die einzige, die in zwei unterschiedlichen Fachgebieten den Nobelpreis erhalten hat. Nach dem Unfalltod ihres Mannes Pierre Curie sorgte ihre Beziehung zum verheirateten Kollegen Paul Langevin für einen öffentlichen Skandal. Im Jahre 1934 starb die polnische Physikerin Marie Curie an Leukämie, eine Krankheit, die sie sich höchstwahrscheinlich durch den ständigen Umgang mit radioaktiven Substanzen zugezogen hatte.

Per Olov Enquist hat sich für seinen aktuellen Roman einige bekannte historische Persönlichkeiten herausgepickt, um eine fiktive Geschichte um sie herum zu spinnen. Im Zentrum der Erzählung stehen zwei bekannte Frauen, nämlich eben jene Marie Curie und Blanche Wittman, die als Medium des Nervenarztes Jean Martin Charcot in die Geschichte einging. Darüber hinaus begegnen dem Leser Figuren wie Paul Langevin, der in Physikerkreisen ebenfalls recht bekannt ist, aber auch Sigmund Freud findet sich in diesem Roman wieder.

_Wahrheit oder Fiktion?_

Ein Erzähler präsentiert dem Leser die Geschichte von Blanche und Marie, wobei ein Teil des Romans aus dem sogenannten „Fragebuch“ von Blanche stammt, das sie in Art eines Tagebuches verfasst hat. Der Rest ist aus der Sicht des Erzählers geschrieben und überbrückt meist die Zeit zwischen den Fragebuchpassagen, indem Einschübe über die Geschichte der Radioaktivität und über die gesicherten historischen Daten der bekannten Figuren berichten.

In zwei verschiedenen Handlungssträngen erfährt der Leser mehr über das Leben und Lieben von Marie Curie und Blanche Wittman. Blanche fungiert dabei als Bindeglied zwischen beiden Biographien, da sie zumindest in Enquists Geschichte einige Jahre nach ihrer Entlassung aus der Salpetrière Laborassistentin bei Curie wird. Der Autor beginnt bei bekannten historischen Fakten, erzählt also von Curies physikalischer Karriere und von der Geschichte der Radioaktivität, wir erfahren mehr über die Experimente mit Pechblende und auch über die Ehe zwischen Marie und Pierre Curie. Später beginnt Marie eine Affäre mit dem verheirateten Paul Langevin, die tatsächlich damals zu einem öffentlichen Skandal wurde. Enquist bedient sich also dieses Wissens und schmückt die Fakten mit eigenen Ideen aus.

Seine Phantasie kann etwas weiter gehen in der Zeichnung der Figur von Blanche Wittman, da sie zwar bekanntlich das berühmte Medium von Professor Charcot gewesen ist und als Königin der Hysterikerinnen bezeichnet wurde, doch dichtet Enquist eine kurze Liebesaffäre zwischen Arzt und Patientin hinzu, die alles andere als historisch gesichert ist. Darüber hinaus kann man dem Autor allerdings nicht viel Phantasie zugestehen, da er wenig über bekannte biographische Daten der auftauchenden Figuren hinausgeht.

_Amputierte Figuren_

Schon zu Beginn des Buches wird Blanche Wittman als ein Torso vorgestellt, da ihr im Laufe der Jahre beide Beine und ein Arm amputiert werden müssen. Später verbringt Blanche daher die meiste Zeit des Tages in einer Holzkiste, in der sie mit ihrem einen verbleibenden Arm ihr Fragebuch füllt. Obwohl etliche Passagen des Romans aus Blanches Sicht geschrieben sind, bleibt sie doch recht undurchsichtig. Recht früh wird ihre möglicherweise aktive Beteiligung an Prof. Charcots Tod angedeutet, doch später schildert sie diese Episode ganz anders. Auch über ihre Krankheiten wird der Leser im Dunkeln gelassen, nur andeutungsweise werden die Patientenexperimente und öffentlichen Vorführungen an der Salpetrière geschildert und etwas über die mögliche Krankengeschichte der dortigen Patienten erzählt, doch bleibt alles undurchsichtig und zweifelhaft. Auch kann der Leser nur vermuten, dass Blanches Amputationen von den Experimenten mit radioaktiven Substanzen herrühren.

Selbst ihre Gefühle werden nur zart angedeutet, obwohl sie doch ein Buch über die Liebe schreiben und diese erklären möchte. Ihre gesamte Beziehung zu Charcot und ihr Wesen zeichneten sich für mich nicht klar ab, sodass mir ihre Figur einfach nur absurd erschien. Darüber hinaus legt Enquist meiner Meinung nach zu viel Wert darauf, Blanche als verkrüppelten Torso hinzustellen, sodass es schwierig wird, sich diese Frau als ein liebendes Wesen zu denken, zu deutlich führt uns der Autor ihre Krankheiten vor Augen.

Marie Curie erhält dagegen den ihr zustehenden Raum im Buch, ihre Biographie ist hinlänglich bekannt und gesichert, sodass sich Enquist auf diese Fakten stützen kann, nur ihre Verbindung zu Blanche Wittman stammt aus Enquists Feder. Doch auch Curies Zeichnung gelingt nur mäßig, da wir zwar viele biographische Daten kennen lernen, aber zu wenig über ihre menschliche Seite erfahren.

Erst zum Ende hin lässt Enquist seine beiden Hauptfiguren in den Vordergrund treten, erst dann geht es wirklich um die Liebe, nämlich um die verzweifelte Liebe zwischen Marie Curie und Paul Langevin, die für einen Skandal sorgte und fast das Ende von Curies Karriere gewesen wäre, und um die kurze aber heftige Liebe zwischen Blanche Wittman und ihrem Arzt. Zu viel Zeit vergeudet Enquist damit, zwei Biographien zu entwickeln und zu wenig Raum gibt er der eigentlich interessanten Geschichte, an der seine eigene Phantasie einsetzen kann. So erfährt der kundige Leser wenig Neues über das Leben von Marie Curie, lediglich die Passagen über Blanche Wittman und die Geschichte der Salpetrière offenbarten mir unbekannte Fakten.

_Orientierungslos_

Da Per Olov Enquist gleich zwei sagenumwobene Frauengestalten in den Mittelpunkt seines schlanken Buches stellt und beide Lebensgeschichten zu entwickeln versucht, verheddert er sich leider zu häufig in den einzelnen Episoden. Es gibt zu viele Gedankensprünge im Buch, zu oft wechselt der Erzähler von Blanche zu Marie, zu häufig tauchen Zeitsprünge auf, sodass der Leser ratlos die Seiten umblättert und den Gedankengängen des Autors nur sehr schwierig folgen kann. Ein roter Faden, der uns durch das Buch leitet, wäre sehr wünschenswert gewesen, doch hinterlässt „Das Buch von Blanche und Marie“ eher den Eindruck einer losen Gedankensammlung, die noch sortiert und in die richtige Reihenfolge gebracht werden muss. Auch die häufig wechselnde Erzählerperspektive erschwert das Lesen, da oft erst aus dem Zusammenhang klar wird, ob der Erzähler spricht oder wir Passagen aus Blanches Fragebuch zu lesen bekommen.

Leider möchte der Autor zu viele Aspekte in seinem Büchlein unterbringen, sodass er die meisten Dinge nur anreißen kann, denn natürlich ist die Biographie einer Persönlichkeit wie Marie Curie nicht annähernd in ein so dünnes Buch zu quetschen. Zudem tauchen zahlreiche bekannte Figuren auf, die ihren Raum verlangen; der Versuch, all diese Personen unter einen Hut zu bringen, muss zwangsläufig scheitern.

Wünschenswert wäre gewesen, wenn Per Olov Enquist sich auf ein Thema beschränkt hätte, wenn er also aus Curies und Wittmans Leben nur ihre Liebesgeschichten erzählt hätte oder wenn er nur eine der beiden Damen herausgepickt hätte. Doch hält er sich mit Beschreibungen aus der Vergangenheit der beiden Frauen so sehr auf, dass für die Liebe zu wenig Raum bleibt. Darüber hinaus ist es schade, dass Enquist die Schicksale beider Frauen nicht mehr miteinander verbindet, da beide Erzählungen fast zusammenhanglos nebeneinander stehen.

_Gefühlskalte Worte_

Auch sprachlich weiß das Buch nicht zu überzeugen. Häufig finden sich nur kurze holperige Satzfragmente, die teils ohne Verb auskommen müssen. Darüber hinaus hat Enquist offenbar eine Vorliebe für Ausrufezeichen, die manchmal gehäuft mitten in einem Satz auftauchen und den Lesefluss erheblich stören. Als Stilmittel sind mir diese eingeschobenen Satzzeichen nicht sonderlich positiv aufgefallen, da sie scheinbar zufällig einzelne Worte betonen.

S. 115: |“Der Punkt! von dem aus die Geschichte betrachtet wurde und wirklich wurde! einen Meter von einem Tisch entfernt, an dem sie einst! als Pierre noch lebte! den geheimnisvollen Stoff entdeckt hatte, der! und das blaue radioaktive Licht! war denn dies nicht der richtige Punkt, um die Angst zu überwinden!“|

Besonders negativ aufgestoßen ist mir die Passage über Pierre Curies Unfalltod, der völlig herzlos und gefühlskalt beschrieben wird wie von einer Person, die sich nichts mehr gewünscht hat als diesen brutalen Tod. Mir erscheint eine solche Ausdrucksweise in der Situation völlig unangemessen, da sie selbst Maries Trauer nicht adäquat zeigen kann.

S. 85: |“Man rief die Ehefrau Marie herbei, und sie kam. Und er war tot. Nichts mehr zu machen. Wir müssen alle sterben. Aber er war doch noch so jung. […] So endete Maries dritte Liebe. Sein Kopf wurde zertrümmert. In keiner Weise gleich einem Vogel, der von der Wasseroberfläche abhebt und im Nebel verschwindet, nein, sein Kopf wurde ganz einfach von dem sechs Tonnen schweren Wagen zertrümmert, und dann war es zu Ende.“|

_Versuch eines Brückenschlages_

„Das Buch von Blanche und Marie“ wird im Nachwort ausdrücklich als Roman tituliert, dennoch stützt Enquist sich auf viele historische Quellen, die etliche Aspekte des Buches belegen können. Besonders aus Marie Curies Leben ist offensichtlich wenig hinzugedichtet, da bis auf ihre Freundschaft zu Blanche Wittman alle ihre Daten bekannt sind. Somit scheint das Buch eine Vermischung zwischen Biographie und Roman werden zu wollen, doch ist dieser Versuch misslungen. Die Geschichte um Blanche Wittman ist an vielen Stellen zu skurril, als dass sie wirklich mitreißen und unterhalten könnte, sodass ich auf diesen Part im Buch leicht hätte verzichten können. Über Marie Curie schreibt Enquist aber zu wenig, um sich deutlich von einer Biographie abzugrenzen.

Ein solcher Brückenschlag wäre durchaus möglich gewesen, wenn der Autor sich am Ende genug Raum gelassen hätte, um seine eigene Geschichte zu entwickeln, die sich endlich vom bereits Bekannten abgrenzen kann. Als das Buch etwas in Schwung kommt, Blanche von ihrer Affäre zu Charcot erzählt und Marie unter Liebeskummer leidet, da hetzt Enquist plötzlich, obwohl er sich doch vorher so viel Zeit genommen hat, um den persönlichen Hintergrund seiner Figuren zu entwickeln. Fast hat es den Eindruck, als wären ihm die Ideen ausgegangen und auch der Mut, eine eigene Geschichte über zwei so bekannte Personen zu schreiben.

_Ein Fazit_

Der vorliegende Roman ist schwierig in ein Genre einzuordnen, da er sich größtenteils auf bekannte historische Fakten stützt und zwei Biographien entwickelt, die in unabhängigen Quellen nachzulesen sind. Zu wenig eigene Ideen hat Enquist eingebaut, wobei er die Charakterisierung Blanche Wittmans leider zu stark übertrieben hat. Wittman erscheint dem Leser eher als verkrüppelter und verschrobener Torso denn als eine gefühlsvolle Frau, die versucht, die Liebe zu erklären. Auch sprachlich konnte Enquist mich nicht überzeugen, die Wahl seiner Stilmittel erscheint mir oftmals ungeschickt und unangemessen. Sein Schreibstil kam mir unausgegoren vor, zumal die Erzählung einen roten Faden deutlich vermissen ließ. Abschließend kann ich nur nochmals unterstreichen, dass ich enttäuscht war von diesem Buch und mir deutlich mehr erwartet hatte.

Dische, Irene – Ein Job

Ganz harmlos fängt sie an, die Geschichte, die Irene Dische um die Erlebnisse eines kurdischen Profikillers in New York spinnt, mit Schneeballwerfen in der kurdischen Heimat. Der kleine Junge, der damals türkische Soldaten mit Schneebällen beworfen hat, ist in der Gegenwart der gefürchtete Killer „Schwarzer Stein“. Nach der Flucht aus dem türkischen Gefängnis, in dem Alan Korkunç inhaftiert war, bringt ihn sein neuer Auftraggeber nach New York, um ihn dort einen Job erledigen zu lassen. Alan soll einem unbequemen Geschäftpartner seines Auftraggebers eine Lektion erteilen und zu diesem Zweck dessen Familie umbringen.

Alan versucht den Job mit der gleich Coolness anzugehen wie jeden anderen auch. Die Tatsache, dass er zum ersten Mal in New York ist und nicht ein Wort Englisch versteht, ist für einen Mann wie Alan schließlich kein Hindernis. Etwa eine Woche bleibt ihm für die Vorbereitungen, die er nach den ersten schweißtreibenden Erlebnissen beim Donutkauf und bei der Fortbewegung durch die Stadt angehen will. Doch irgendwie ist er hin- und hergerissen zwischen neuen Eindrücken und der Sehnsucht nach Vertrautem. Er sehnt sich nach seinen Joop-Socken und seinen teuren Anzügen, die daheim in Istanbul in seinem Schrank hängen, während er in New York nicht einmal eine Hose zum Wechseln hat. Seine Finger brauchen dringend eine Maniküre, denn mit nichtmanikürten Fingern den Abzug zu ziehen, kommt für Alan nicht in Frage, schließlich ist er Perfektionist.

Doch irgendwie geht mit Alan auch eine merkwürdige Veränderung vor sich, denn da wäre noch Mrs. Allen, die ältere Dame, die im Appartement nebenan wohnt und glücklicherweise Türkisch spricht. Alan trägt ihr nicht nur die Einkaufstaschen in die Wohnung, er isst auch mit ihr und sieht zusammen mit ihr fern. Die fremde Stadt, Mrs. Allen – irgendwie scheint Alan ein wenig aus dem Takt zu geraten. Aber er hat schließlich noch einen Job zu erledigen …

Einen Kriminalroman verspricht Irene Dische dem Leser und hält das Versprechen, während sie es gleichzeitig bricht. Sie provoziert eine gewisse Erwartungshaltung, die letztendlich eine kleine, aber geschickte Fallgrube ist, denn am Ende stößt sie den „Kriminalroman-Leser“ ein wenig vor den Kopf. Auch die Krimizutaten Profikiller und Mordauftrag können nicht darüber hinwegtäuschen, dass „Ein Job“ eine Geschichte ist, die sich eigentlich auch noch auf einer gänzlich anderen Ebene abspielt. Seltsam schwarzhumorig angehaucht, entpuppt sich die gerade einmal 155 Seiten lange Erzählung zum Ende hin als eine Art Lebensmärchen. Eine Geschichte, die ein Vater seiner Tochter erzählt.

Für den Leser ist dies allemal unterhaltsam. Der Zusammenprall zweier gänzlich unterschiedlicher Kulturen, mit allen Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, wird mit scharfem Blick und Witz geschildert. Die kurdische Problematik taucht dabei nur am Rande auf. Alan ist ein eher unpolitischer Mensch. |“Ein Kurde ist zu wenig. Zwei Kurden sind zu viel.“| So lautet Alans Einstellung. Alan, der in Istanbul stets um Coolness und korrektes, mitunter eiskaltes Auftreten bemüht war, der es verstand, Frauen mit einem gewissen Blick um den kleinen Finger zu wickeln, wirkt nach dem Ortswechsel seltsam deplatziert. Wie ein dummer Bauerntrottel stolpert er durch die Metropole. Seine Beschattungsversuche des Zielobjekts verlaufen derart unprofessionell und stümperhaft, dass man als Leser fast schon Mitleid bekommt, und so entwickelt sich eine etwas sonderbare Sympathie zwischen Leser und Hauptfigur.

Alan wirkt mitunter orientierungslos und fängt dabei, ohne dass er es selbst großartig merkt, an, sich anderen Menschen zu öffnen. Er verbringt viel Zeit mit Mrs. Allen, trinkt mit ihr Sherry und fährt mit ihr spazieren, und so entsteht daraus ein überraschend herzliches Verhältnis, das so gar nicht zu dem eiskalten Profikillerimage passen mag. Die Erzählung wird dadurch um eine weitere interessante und unterhaltsame Komponente erweitert – zumal der Leser schon recht schnell vermuten darf, dass es für den Job eines Killers nicht unbedingt förderlich ist, so eine enge persönliche Bindung zu einer älteren Dame einzugehen.

Je näher der Tag rückt, an dem Alan seinen Job auszuführen hat, desto mehr scheint er bereits aus dem Takt geraten zu sein. Auch in diesem Punkt hegt man als Leser im Laufe der Erzählung die dunkelsten Befürchtungen. Es scheint fast unausweichlich. Irgendetwas geht bestimmt schief. Man spürt es einfach. Und so baut Irene Dische einen kontinuierlichen Spannungsbogen auf, der eine ausgewogene und professionelle Gesamtkomposition erkennen lässt. Der Leser fiebert mit und sehnt den Tag des „Jobs“ richtiggehend herbei.

Zum Ende der Geschichte hin, aber führt Irene Dische den Leser noch einmal ein wenig an der Nase herum. Sie fährt ein etwas sonderbares Happy-End auf, bei dem man nicht so recht weiß, was man davon halten soll. Irgendwie absurd wirkt es, wie sie den Leser aus der Geschichte schickt.

Sprachlich wirkt die Erzählung jederzeit souverän. Irene Dische versteht mit Worten umzugehen, zaubert durch ihre Formulierungen immer wieder Witz und Charme in die Zeilen, zeichnet die Figuren sehr treffend und versteht mit wenigen Worten, die kulturellen Unterschiede spitzfindig herauszukehren. Selbst die eingestreuten kurdischen Wörter stören nicht, sondern tragen zur Atmosphäre bei, obwohl sie nicht übersetzt werden. Sie erschließen sich aus dem Zusammenhang. Einzig die Erzählperspektive wirkt hier und da verwirrend, denn es kommt vor (zwar nur an sehr wenigen Stellen der Geschichte), dass mit dem Erzählten eine Person direkt angesprochen wird, entweder der Leser oder irgendwer sonst, den der Leser nicht kennt. Diese merkwürdige Perspektive, die sich auch nicht aus dem Ende heraus so richtig erschließt, schafft wiederum eine gewisse Distanz zur Geschichte und bleibt etwas sonderbar.

Wer einen Roman mit Action erwartet, der ist schief gewickelt. Irene Dische konzentriert sich auf Alans Erlebnisse im New Yorker Alltag und schildert am Ende den Verlauf seines Auftrags. Aber Alans Zurechtfinden im Alltag, das Aufeinanderprallen zweier so unterschiedlicher Kulturen ist für sich genommen schon nervenaufreibend und teilweise rasant genug. Action ist da absolut überflüssig. Entstanden ist der Roman übrigens nach dem Drehbuch „The Assassin’s Last Killing“, das Irene Dische zusammen mit Nizamettin Ariç geschrieben hat.

Dische erzählt herrlich unterhaltsam, scharfsinnig beobachtend und manchmal urkomisch und schwarzhumorig. „Ein Job“ ist ein Krimi und ist es gleichzeitig nicht. Eine Geschichte, die mit der Erwartungshaltung des Lesers spielt und dabei absolut ausgewogen komponiert und für den Leser ein kurzweiliges Vergnügen ist.

Mader, Matthias – Over the Top – Das Motörhead-Fanbuch

Neben dem primär auf die Person Lemmy Kilmister ausgerichteten [„Lemmy – White Line Fever“ 954 hat der Verlag |Iron Pages| ein Buch herausgebracht, welches sich mit dem Gesamtphänomen MOTÖRHEAD beschäftigt: „Over the Top – Das Motörhead-Fanbuch“ von Matthias Mader. Mader hat mit „Burning Ambition“ bereits ein „Fanbuch“ zu IRON MAIDEN im selben Verlag herausgebracht und möchte dieses Prinzip nun mit „Over the Top“ fortsetzen.

Zum Inhalt: Mader beginnt nach einem zweiseitigen „ultimativen Quiz für alle MOTÖRHEAD-Kenner“ sofort mit einer einleitenden Rechtfertigung seines Werkes. Zum einen sei der deutsche Markt nicht wirklich offen für MOTÖRHEAD-Biographien aus dem Ausland, und andere deutschsprachige Publikationen zu diesem Bereich seien bis dato nicht „zusammenhängend“ gewesen. Zum anderen sei gerade das Buch „White Line Fever“ ein Produkt der „The Osbournes“-Ära und somit nicht „seriös“. Diese Kritik mutet ein wenig seltsam an, da die deutsche Edition von „White Line Fever“ im selben Verlag wie „Over the Top“ erschienen ist, auf S. 41 ganzseitig beworben wird und obendrein von Lemmy persönlich autorisiert wurde. Man könnte meinen, Mader würde seine Fachkompetenz, was MOTÖRHEAD betrifft, über die von Lemmy selbst stellen. Starker Tobak, zumal Mader eine solche Selbstbeweihräucherung eigentlich gar nicht nötig hätte – „Over the Top“ weiß durchaus aus sich selbst heraus zu überzeugen.

Neben dem Prolog gliedert sich das Buch in sechs weitere Teile. „Teil 2: Die Bandhistory“ beleuchtet zunächst den Werdegang von MOTÖRHEAD, Lemmys Interesse am III. Reich, das freundschaftliche Verhältnis zwischen MOTÖRHEAD und den RAMONES sowie Lemmys Berührungen mit der Filmbranche. Maders Wiedergabe der Bandgeschichte bietet im Grunde das, was bei „White Line Fever“ gefehlt hat: Fakten, Fakten, Fakten in einer chronologisch sinnvollen Reihenfolge. Einige Zitate werden dabei (wie im folgenden Textverlauf auch) noch einmal gesondert in grauen Kästchen hervorgehoben. Dieses Verfahren kenne ich sonst nur aus Zeitschriftenartikeln. Wirklich stören tut es den Textfluss m.E. nicht, aber es trivialisiert das Ganze ein wenig. „Lemmys Faszination mit dem [sic!] II. Weltkrieg“ ist eine erfreulich unaufgeregte Darstellung der Fakten. Wer nach der Lektüre immer noch meint, Lemmy eine rechtsradikale Gesinnung attestieren zu müssen, disqualifiziert sich im Grunde nur selbst. Das Verhältnis zwischen MOTÖRHEAD und den RAMONES wird kurz, aber anschaulich beschrieben. Ich habe MOTÖRHEAD selbst live gesehen und kann daher aus eigener Erfahrung bestätigen, dass der Tod von Joey und Dee Dee (Johnny lebte damals noch) für Lemmy ein großer persönlicher Verlust ist. Schließlich folgt eine Reihe von Kurzbesprechungen sämtlicher Filme, in welchen Lemmy mitgespielt hat. Diese Besprechungen entsprechen natürlich Maders persönlichen Präferenzen. Über Geschmack lässt sich ja bekanntlich nicht streiten, aber weshalb „Airheads“ im Vergleich zu „Eat the Rich“ „platt“ und „langweilig“ sein soll, entzieht sich völlig meinem Verständnis.

In Kapitel Nr. 3 beschreibt Mader en detail, wer wann wo und wie bei MOTÖRHEAD musikalisch mitgewirkt hat, und was für andere Projekte diese Personen verfolgt haben. Inhaltlich gibt es hier nichts zu meckern. Die Frage ist nur, ob und inwiefern man sich für diese Detailfülle begeistern kann.

Kapitel Nr. 4 besteht aus vier O-Ton-Interviews. Zunächst kommen wir in den Genuss eines dreiseitigen Interviews aus dem Jahre 1998, welches Mader mit Lemmy himself geführt hat. Das Hauptthema ist wieder einmal „deutsche Geschichte“. Danach folgt ein längeres Interview mit Fast Eddie Clarke aus dem Jahre 2003, wiederum von Mader geführt. Dieses Interview ist insbesondere deswegen interessant, weil die Gleichung MOTÖRHEAD = Lemmy Kilmister eben nicht aufgeht. Nachdem die Perspektive der Band dergestalt zum Tragen gekommen ist, folgt wieder ein Interview aus dem Jahre 2003, diesmal mit Jörn Rüter von Remedy Records bzw. TORMENT. Rüter ist sowohl Fan als auch Experte und steht mit MOTÖRHEAD in persönlichem Kontakt. Auch hier erwartet den Leser wieder eine Menge Insiderwissen. Zuletzt folgt ein Interview mit dem Hamburger Underground-Filmemacher Peter Sempel. Sempel ist auf Musikfilme spezialisiert und hat mit „Lemmy“ ein filmisches Portrait des selbigen gedreht.

Es folgt mit Kapitel Nr. 5 eine ausführliche Katalogisierung der wichtigsten MOTÖRHEAD-Cover und Tribut-Alben. MOTÖRHEAD-Fans, die musikalisch aufgeschlossen sind, kommen hier sicherlich auf ihre Kosten.

Kapitel Nr. 6 wurde von einem gewissen Ralf Hartmann verfasst und beinhaltet eine Auflistung sämtlicher MOTÖRHEAD-Bootlegs (von denen es tatsächlich nicht allzu viele gibt). Für Sammler eine unentbehrliche Checkliste und wahre Fundgrube.

Das Buch schließt mit einem ausführlichen Quellenverzeichnis. Zwar hat Mader nicht wissenschaftlich (ohne Fußnoten) gearbeitet, aber anhand dieser Auflistung müssten sich die meisten seiner Aussagen überprüfen lassen (wenn es einem der Aufwand wert ist).

Mein Gesamteindruck: Der Schreibstil von Matthias Mader ist soweit okay und der Thematik angemessen, sofern man von seinem inflationären Gebrauch des Ausrufezeichens absieht. Bindung und Papierqualität sind aber – wie schon bei „White Line Fever“ – angesichts des Preises von 18,60 Euro eine absolute Frechheit. Wenn der Verlag |Iron Pages| „Over the Top“ schon als „Fanbuch“ etikettiert, dann sollte er m.E. auch eine entsprechende Preispolitik betreiben.

Letztendlich kommen aber die absoluten MOTÖRHEAD-Maniacs an dieser Ansammlung geballten Fachwissens nicht vorbei. Alle anderen sollten vielleicht mal einen Blick riskieren. „Over the Top“ ist dabei keinesfalls als Konkurrenz zur Quasi-Autobiographie „White Line Fever“ zu sehen, da die beiden Bücher völlig verschiedene Bereiche („Infotaimnent“ respektive „Rockstarmythos“) abdecken. Tatsächlich ergänzen sich die beiden Bücher gerade aufgrund ihrer unterschiedlichen Betrachtungsweisen des motörheadschen Paralleluniversums hervorragend. Wer also bereit ist, knapp 40 Euro zu investieren, erhält dafür ein MOTÖRHEAD-Kompendium, welches (inhaltlich) keine Wünsche offen lässt.

Matthew Delaney – Dämon

Das geschieht:

Im November 1943 erreicht der Pazifikkrieg die kleine Tropeninsel Bougainville. Während der Gefechte geht ein US-Erkundungstrupp im Dschungel verloren. Ein zweites Platoon wird ihm hinterher geschickt. Ständig wird es in Scharmützel mit feindlichen Japanern verwickelt. Schlimmer sind jedoch hinterhältige Mordattacken, die eine fremde, sadistische Macht auf die Männer verübt. Hartnäckig verfolgen diese ihren Auftrag, aber was sie finden und bergen (s. Buchtitel), versinkt nach einem Luftangriff mit dem Truppentransporter „Galla“ im Meer.

2007 wird das Wrack gehoben und in das neue Marinemuseum des Finanzmagnaten Joseph Lyerman nach Boston im US-Staat Massachusetts geschleppt. Ein Jahr später fällt dessen Sohn einem brutalen Mord zum Opfer. Mit dem Fall werden die Detectives Jefferson und Brogan beauftragt. Sie haben kaum die Ermittlungen aufgenommen, als überall in der Stadt Leichen gefunden werden, die von riesigen Klauen buchstäblich in Stücke gerissen wurden. Matthew Delaney – Dämon weiterlesen

Arthur, Robert / Hitchcock, Alfred – Die drei ??? und der Super-Papagei

Der Super-Papagei hat in Deutschland einen Sonderstatus innerhalb der Serie, denn mit ihm begann der Siegeszug. Das bedarf einer kurzen Erklärung. Einem breiteren Publikum bekannt wurden die Fragezeichen erst 1979 über die Hörspiele aus den EUROPA-Studios, die ersten Bücher erschienen bereits Anfang der Siebziger und fristeten bis dahin ein ziemliches Schattendasein. Bei EUROPA wurde der eigentlich erste Roman „… und das Gespensterschloss“ von 1964 zurückgestellt und dafür „… und der Super-Papagei“ (aus dem gleichen Jahr) stattdessen als Pilot vertont. Das Gespensterschloss rutschte auf Platz 11 und fürderhin galt der Papagei – nach dem durchschlagenden Erfolg der Hörspielserie – auch bei den Büchern als Auftaktgeschichte. Zumindest in Deutschland. Wenngleich es chronologisch falsch ist, hält sich diese Annahme bei manchen bis heute. Ebenso wie die Autorenschaft von Hitchcock, tatsächlich wurde die Serie von Robert Arthur ins Leben gerufen, der sich auch noch für den Super-Papagei verantwortlich zeigt.

Alfred Hitchcock hat eigentlich nichts weiter mit den „Three Investigators“ (so der amerikanische Originaltitel der Reihe) zu tun. Er stiftete unter Lizenz lediglich seinen zugkräftigen Namen und tritt als Moderator in den alten Geschichten auf, später ließ aber auch das nach. Die drei Fragezeichen sind ein flügger Selbstläufer geworden, man brauchte das markttechnische Tuning nicht mehr. Jene Lizenz ist nun Anfang des Jahres 2005 pünktlich zum 25. Jubiläum der Serie in Deutschland sowieso endgültig ausgelaufen. Fürderhin werden Printausgaben und Hörspiele ohne sein Konterfei und Namen im Titel erscheinen. Das Nostalgikerherz blutet ein wenig, doch im Grunde genommen ist dies kein wirklicher Verlust oder gar Rückschlag. Man hatte sich als Fan nur daran gewöhnt, Altmeister Hitchcock mit der Serie in Verbindung zu bringen. Nicht mehr, nicht weniger.

Doch wer sind die drei Detektive? Die amerikanischen Schuljungs Justus, Peter und Bob lösen ihre kniffligen und mysteriösen Fälle zumeist von ihrer Zentrale – einem alten, versteckten Campingwagen – auf dem Schrottplatz von Justus‘ Onkel Titus aus. Auch und gerade solche, welche der Polizei manchmal zu banal erscheinen. Hier und da stößt die Jugenddetektei auch durch puren Zufall auf Rätsel und Abenteuer, falls sie nicht von ihrem Impressario Hitchcock oder einem anderen potenziellen Klienten an sie herangetragen werden. „Wir übernehmen jeden Fall“ ist das Credo der drei Schnüffelnasen, das neben dem ???-Logo auf der berühmten Visitenkarte der drei prangt. Die Fragezeichen – ein verschiedenfarbiges für jeden – stehen nicht etwa für Selbstzweifel, sondern für ungelöste Geheimnisse und Rätsel aller Art. Diesen Umstand müssen sie, als Running Gag, mindestens einmal pro Fall den oft skeptischen Erwachsenen erklären.

Sollte die Visitenkarte nicht den gewünschten Effekt bringen, das Gegenüber zu überzeugen, dass die Drei es faustdick hinter den Löffeln haben, verfügen sie noch über einen Ausweis der Polizeidirektion von Rocky Beach, der sie zu „offiziellen, ehrenamtlichen Junior-Mitarbeitern“ erhebt. Diesen haben sie aufgrund ihrer zurückliegenden, oft erfolgreichen, Zusammenarbeit mit den Cops von der Behörde erhalten. Den Ausweis drücken sie gerne jedem in die Hand, der ihre Fähigkeiten wegen ihres Alters in Zweifel zieht. Nicht selten münden die Ermittlungen der Jungs nämlich darin, dass der ihnen wohlgesonnene Hauptkommissar Reynolds tätig werden muss, weil sich ein anfangs harmlos anmutender Fall dann doch als „richtiges“ Verbrechen erweist. Morde sind aber nie aufzuklären, man beschränkt sich darauf, die Jugendserie „sauber“ zu halten und auf weniger kapitale Verbrechen, z. B. Diebstahl, Fälschung, Entführung, Betrug etc. als maximum crime zu setzen.

_Zur Story_
Mr. Malcolm Fentriss ist sein Papagei Lucullus abhanden gekommen, den er erst kürzlich von einem mexikanischen Hausierer erstanden hat. Da sich die Polizei wenig kooperativ zeigt und davon ausgeht, dass sein gefiederter Hausgenosse ganz einfach entflogen ist, wendet sich Mr. Fentriss an seinen Freund Alfred Hitchcock, ob dieser nicht eine gute Detektei empfehlen könne. Kann er. Natürlich schickt Hitchcock die drei Fragezeichen auf die Fährte des ausgesprochen sprachbegabten Flatterviehs. Doch zunächst müssen Just und Peter das Haus des neuen Klienten besuchen, um näheres zu erfahren. Ein Hilferuf daraus alarmiert die Jungs, als sie sich dem Gebäude nähern. Ein unfreundlicher, dicker Mann in Fentriss‘ Haus, der sich als der Eigentümer ausgibt, behauptet, das wäre der wiedergekehrte Papagei gewesen. Es gäbe keinen Fall zu lösen. Vielen Dank und Tschüss!

Natürlich war das nicht Mr. Fentriss, den finden Justus und Peter kurz darauf gefesselt in seinem Haus, nachdem sie misstrauisch geworden waren und noch einmal zurückkehrten. Der Befreite erzählt ihnen die ganze Geschichte und auch, dass der Papagei keinesfalls ausgebüxt sein kann. Einleuchtend, denn kein Papagei würde gleich seinen Käfig mitnehmen. Doch vor allem was „Lucky“ so auszeichnete, klingt für Justus hochinteressant. Er hat einen sehr höchst rätselhaften Spruch auf der Pfanne. Damit ist Lucullus nicht der Einzige. Mrs. Waggoner – eine Nachbarin von Mr. Fentriss – hat vom gleichen Hausierer einen gelbköpfigen Papagei gekauft. „Schneewittchen“ gibt auch seltsam Verdrehtes zum Besten – und ebenso wie schon Lucullus ist Schneewitchen gestohlen worden, wie Justus und Peter wenig später durch Zufall erfahren. Und wieder wurden der dicke Mann und sein markantes Auto in der Nähe des Tatorts gesehen.

Als wären zwei solcher schrägen und geheimnisvollen Vögel nicht schon genug, stellt sich heraus, dass es insgesamt sieben davon gibt, hinter denen nicht nur der undurchsichtige Mr. Claudius (so heißt der Dicke), sondern auch der spätere Erzrivale der Satzzeichen – Victor Hugenay – her sind wie der Teufel hinter armen Seelen. Vor allem Monsieur Hugenay, der Gentleman-Kunstdieb aus Frankreich, ist eine verdammt harte und clevere Nuss. Doch wie passt er ins Bild? Skinny Norris, der Dauergegenspieler der drei Detektive, schmeißt ihnen auch noch Steine in den Weg, was die wilde Jagd nach dem Federviechern zum Kippen zu bringen droht. Wem wird es zuerst gelingen die Papageien zu finden und die Rätselsprüche von Lucullus, Schneewittchen, Robin Hood, Blackbeard, Käpt’n Kidd, Sherlock Holmes und Al Capone zu knacken? Besonders der unscheinbare Blackbeard scheint der unverzichtbare Schlüssel zum kniffligen Fall zu werden. Obwohl er optisch nicht viel hermacht, ist er nämlich: der Super-Papagei.

_Meinung_
Die Entscheidung, den Roman „… und der Super-Papagei“ als Auftakt zur Hörspielserie zu verwenden, war eine sehr gute von EUROPA. Und eine mit Spätfolgen. Man hatte sich eine Vorlage herausgepickt, die voller Stammfiguren steckt, mit welchen die drei Detektive auch später immer wieder zu tun bekommen werden. Der verhasste Erzrivale Skinny Norris, Superschurke Hugenay (gesprochen: „Üschänee“) oder Chauffeur Norton, der den (gelegentlich zur Verfügung gestellten) Rolls Royce der drei Fragezeichen lenkt. Alles ziemlich feste Größen im späteren Verlauf der Reihe. Nicht zu vergessen Blackbeard – genannt „Blacky“ -, der ab dieser Story dauerhaft in Justus‘, Peters und Bobs Zentrale einzieht. Als ihr gefiedertes Maskottchen. Kein Wunder also, dass auch der Buchtitel fälschlicherweise gemeinhin als „Teil 1“ gilt.

Besonders attraktiv für Jugendliche ist sicher das Konzept, dass drei Schuljungs in der Erwachsenenwelt bestehen und diese von ihren detektivischen Fähigkeiten überzeugen können. Wer hätte sich als Kind bzw. Teenie nicht gewünscht, wenigstens etwas mehr Gehör zu finden? Oder auch geheimnisvolle Rätsel zu lösen vermocht? Die drei Fragezeichen bestehen solche Abenteuer und dabei symbolisieren sie, dass frisches Denken und gute Bildung im Verbund mit Teamwork zum Erfolg führen. Teamwork ist ein gutes Stichwort. Fallen viele der Fälle in „the one and only Justus-Superstar“-Manier aus, dienen Peter und Bob endlich mal wieder nicht nur als reine Statisten, sondern liefern der Leserschaft äußerst wichtige Informationen, die selbst das unumstrittene Mastermind der Fragezeichen nicht kennt. Bei der Lösung des Falles ist zudem diesmal eine große Portion Glück mit im Spiel und nicht nur fleißige Detektivarbeit.

Der Superpapagei ist auch wieder eine Geschichte, bei der man eine Menge nebenher lernen kann. Nicht nur den Gebrauch des eigenen Verstandes, um des Rätsels Lösung auf eigene Faust zu knacken, wie es bei jedem Fall der drei Detektive stets gedacht und erwünscht ist. Gemeint sind vielmehr die Papageien (wie man ihren Namen bereits ersehen kann), die dem Autor als Transportmittel dazu dienen, durch ihre verbogenen Zitate auch andere berühmte Gestalten der Literatur und aus realen Geschichte dem Leser etwas näher zu bringen. Diesen vielleicht sogar neugierig zu machen, über die einzelnen Figuren, welche die Papageien verkörpern, selbst etwas mehr zu lesen. Ein geschickter Schachzug, ein paar pädagogisch und didaktisch wertvolle Informationen in Punkto Allgemeinwissen derart einzuflechten.

Besonders angetan hat es Robert Arthur offensichtlich Robert Louis Stevenson und seine „Schatzinsel“. Leider ist Übersetzerin Leonore Puschert das wohl nicht ganz aufgegangen, als sie „Long John Silver“ (ein feststehender Eigenname) mit „dem langen John Silver“ übersetzte. Dies ist aber die einzige Übersetzungsmacke, die auffällig wurde und soweit ich weiß, ist sie in späteren Auflagen ausgebügelt worden. Sieht man von der Änderung des Titels an sich mal ab, denn eigentlich müsste das Buch „… und der stammelnde Papagei“ heißen. Okay, „Super-Papagei“ klingt zweifellos interessanter und ist so falsch nun nicht. Der Schreibstil ist locker, mutet aber in seiner Wortwahl ein wenig antiquiert an. Das tut der Geschichte aber keinen Abbruch, im Gegenteil. Irgendwie gehört diese Schreibweise zu den drei Fragezeichen.

Geübte Leseratten rauschen in knapp zweieinhalb bis drei Stunden durch die fast 200 Seiten. Somit ist das Buch eines der längeren der Serie. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass die Figuren schärfer konturiert sind als bei manch anderem Vertreter der Reihe. Fehlen darf selbstverständlich nicht, dass „Alfred Hitchcock“ mit seinen gelegentlichen, augenzwinkernden Zwischenkommentaren, die vielleicht nicht ganz so akribisch mitdenkenden Leser immer wieder in die richtige Bahn lenkt und Denkanstöße liefert. Aber auch das hilft nicht, den Fall selbst klären zu können, geschweige denn das verzwickte Rätsel zu lösen. Arthur gibt als „Hitchcock“ zwar subtile Hinweise, der Showdown gerät dann doch sehr unerwartet und spannend bis zur letzten Seite. Außerdem dürfen die Protagonisten am Ende noch beweisen, dass sie das Herz auf den rechten Fleck haben. Warum? Das sei hier aufgrund des Spannungserhalts nicht verraten.

_Fazit_
Es wäre ganz bestimmt ein würdiges Buch zur Vorstellung der Serie gewesen, keine Frage. Es verkörpert wie kaum ein zweites das Flair und die Tugenden, welche Leser – ob jung oder alt – seit Jahrzehnten so sehr schätzen. Es ist alles da, was eine gute Abenteuergeschichte ausmacht: Ein „richtiges“ Verbrechen, ein exzellent durchdachtes und logisch aufgebautes Rätsel, eine Portion Mystery und zu guter Letzt ein Friedhof im Nebel mit abschließendem Happy-End. Lesefaulen sei an dieser Stelle das Hörspiel in der 2004er-Neuauflage ans Herz gelegt, welches schon ziemlich nah an die Vorlage herankommt. Im Gegensatz zur „alten“ Version von 1979 jedenfalls, auch wenn einige wichtige Nebenhandlungen auch hier fehlen bzw. stark angepasst wurden. Alles in allem ist dieser Fall ganz besonders für Neueinsteiger dringend zu empfehlen, auch wenn das „Gespensterschloss“ der allererste Fall der drei Fragezeichen ist.

_Die Buchdaten auf einen Blick:_
Originaltitel: „Alfred Hitchcock and the Three Investigators in the Mystery of the Stuttering Parrot“
Erzählt von Robert Arthur
Erstveröffentlichung: 1964 / Random House, NY
Deutsche Ausgabe: 1972 / Franckh-Kosmos, Stuttgart
Zugrunde liegende Ausgabe: Taschenbuchausgabe 1978 / dtv
Übersetzung: Leonore Puschert
Seiten: 186
Von verschiedenen Verlagen in unterschiedlichen Bindungen erhältlich
ISBN: 3-423-07316-0 (TB / dtv)

Athans, Philip – Verheerung (Der Krieg der Spinnenkönigin 5)

„Verheerung“ von Philip Athans ist der fünfte Band des sechsteiligen AD&D-Epos „Der Krieg der Spinnenkönigin“ (War of the Spider Queen), das in deutscher Übersetzung bei |Feder & Schwert| erscheint.

Unter der Schirmherrschaft von AD&D-Altmeister R. A. Salvatore haben sechs Autoren ihr Debüt in der Serie „Die Vergessenen Reiche“ gegeben. Bei Philip Athans kann man weniger von einem Debüt sprechen: Seit Jahren ist er als Herausgeber verschiedener Bücher der „Vergessenen Reiche“ bei |Wizards of the Coast| tätig, gelegentlich hat er jedoch einige wenige Bücher selbst geschrieben, wie die in Deutschland eher unbekannten Romanfassungen der AD&D Computerspiele |Baldur’s Gate| und |Neverwinter Nights|. Athans wurde von seinen Kollegen mehrfach lobend erwähnt für seine Mithilfe in AD&D-Fragen, er hat auch das Lektorat der Serie übernommen.

_Die verschollene Göttin_

Was kann eine Gruppe von sieben bösartigen und egoistischen Drow dazu veranlassen, fast uneigennützig für ein gemeinsames Ziel Gefahren und Entbehrungen auf sich zu nehmen? Natürlich nur ein außergewöhnlicher Notstand … und dieser ist eingetreten: Lolth, die Spinnengöttin der Drow, schweigt – verwehrt ihren Priesterinnen ihre Magie und jeglichen Beistand. Die matriarchalische Herrschaftsstruktur der Drow ist gefährdet, ohne die Magie der Priesterinnen droht der Metropole Menzoberranzan die Vernichtung durch ihre zahlreichen Feinde. Aber auch abtrünnige männliche Drow sehen eine Chance, die Verhältnisse zu ihren Gunsten umzukehren, andere sinnen einfach nur auf Rache. Die Macht der Feinde der Drow ist groß, die Stadt Ched Nasad wurde bereits völlig vernichtet. Nur Gromph, der Erzmagier Menzoberranzans, könnte den Leichnam (Lich; ein untoter Magier) aus dem abtrünnigen Haus Agrach Dyrr aufhalten, dessen Verbündete (Dunkelzwerge, Tanarukk) bereits in den Straßen Menzoberranzans kämpfen.

Die bereits zerbrochene Gruppe um die Hohepriesterin Quenthel und ihren Draegloth-Diener Jeggred, bestehend aus dem Magier Pharaun, dem Waffenmeister Ryld, dem Söldner Valas Hune sowie der aus Ched Nasad entkommenen Priesterin Halisstra und ihrer Leibsklavin Danifae war bisher auf ihrer Suche nach der Göttin Lolth erfolglos.

Halisstra ist vom Glauben an Lolth abgefallen und hat sich Eilistraee, der Göttin der an die Oberfläche Faerûns zurückgekehrten Dunkelelfen, zugewandt. Zusätzlich hat sie von ihrer neuen Göttin eine schwere Aufgabe erhalten: Sie soll mit einer magischen Mondsichelklinge Lolth selbst töten! Ryld ist verwirrt von den Lehren Eilistraees und entsetzt von dem Gedanken, gegen Lolth kämpfen zu müssen, bleibt aber wegen seiner Liebe zu Halisstra bei ihr.

Quenthel und Pharaun setzen derweil ihre Reise in den Abgrund der Dämonennetze fort. An die Stelle der sonst üblichen, oft eskalierenden Reibereien ist Verzweiflung getreten, Quenthel wirkt apathisch und hoffnungslos, was insbesondere Jeggred missfällt. Das nützt Danifae für ihre Zwecke aus. Während eines Erkundungszugs mit Valas Hune gelingt es ihr zudem, sich von Halisstras Bindezauber zu befreien, ihr Leben ist nicht mehr mit ihrem verbunden – endlich kann sie Rache nehmen …

Während Gromph mit dem Lich Dyrr um sein Leben und um Menzoberranzan kämpft, eskaliert die Situation im Abyss: Jeggred macht sich auf die Jagd nach Halisstra und Ryld. Schließlich erreicht Quenthels Gruppe den Abgrund der Dämonennetze, der sich anscheinend aus dem Abyss gelöst hat und nun eine eigene Ebene bildet. Quenthel übernimmt wieder die Führung: Lolth lebt – und gewährt ihren Priesterinnen wieder ihre Macht.

_Fast am Ende der Reise_

Es ist ein seltenes Vergnügen, Drow-Priesterinnen im Freudentaumel zu erleben. Lolth lebt offensichtlich, aber warum hat sie den Abgrund der Dämonennetze aus dem Abyss gelöst, warum hat sie so lange geschwiegen? Diese Fragen bilden den Cliffhanger für den nächsten Band. Man sollte zudem nicht vergessen: Halisstra ist nach wie vor wild entschlossen, Lolth zu töten.

Athans rückt neben dieser entscheidenden, das Finale vorbereitenden Neuigkeit vorallem Gromph und Danifae in den Mittelpunkt. Die Vorbereitungen für das Magierduell um Menzoberranzan und schließlich der Kampf selbst zählen zu den Highlights des Romans. Wie Gromph sich zum Beispiel sein verlorenes Augenlicht wiederbeschaffft, ist einfach nach feinster Drow-Manier …

Einige Schnitzer aus vorherigen Romanen bügelt Athans aus, so war Danifae trotz ihrer Bindung an Halisstras Leben und ihrer langen Abwesenheit nie im Geringsten besorgt. Diese Bindung zerschlägt Athans in diesem Roman etwas beiläufig und wenig originell, aber er gibt der bisher blassen Danifae etwas mehr Charakter, sie ist sogar eine entscheidende Triebfeder der Handlung dieses Romans.

Athans hat die Handlung und die zahlreichen Kämpfe geschickter verbunden als viele seiner Kollegen, was mir sehr gut gefiel, doch gerade bei einem Kenner wie Athans sind einige Fehler einfach nicht verzeihlich: So hat Ryld als Waffenmeister von Melee-Magthere einen schwereren Stand gegen eine Riesenfaultiermutter als der Späher Valas Hune gegenüber einem uralten Drachen. Die Konzentration auf Danifae tut sowohl Pharaun als auch Quenthel nicht gut, insbesondere Pharaun wirkt nicht mehr gewitzt, sondern eher beschränkt. Die wenig überzeugende apathische Phase Quenthels erklärt sich wenigstens am Ende des Romans, wenn auch nicht zur vollständigen Zufriedenheit. Diese inkonsistenten Charakterdarstellungen – jeder Autor hob bisher eine andere Figur hervor – sind leider ein durchgehendes Problem der gesamten Serie.

Zwischen Ryld und Jeggred wird es in diesem Roman zu einem tödlichen Duell kommen, in dessen Verlauf Athans sie recht originell aus der Sicht einiger unfreiwillig in diese Auseinandersetzung hineingezogener menschlicher Holzfäller beobachten lässt. Ob Ryld den Halb-Dämon halbiert oder ob dieser, wie er es schon oft versprochen hat, Ryld das Herz herausreißen und fressen wird, möchte ich nicht verraten.

_Fazit:_ Wie alle Autoren bisher, hat auch Philip Athans den Schwerpunkt auf eine andere Figur verlagert, in diesem Fall Gromph. Die Handlung ist nach wie vor sehr actionreich und spannend, eine besondere Note konnte Athans jedoch weder der Handlung noch einer Figur geben. Seine Vorgänger hatten jeweils eine deutliche Stärke oder Schwäche; so hat Richard Lee Byers Menzoberranzan überzeugend dargestellt, während man bei Richard Baker außer einer – wenn auch überzeugenden – Kampforgie wenig geboten bekam. Athans erlaubte sich keine Extreme oder Fehler bis auf die enttäuschend beiläufige Entfernung von Danifaes Bindungszauber und den offensichtlich schwächelnden Drachen. Das Magierduell sowie der Showdown zwischen Ryld und Jeggred sind zweifelsohne die Highlights dieses Romans, ebenso wird ein vielversprechendes Finale vorbereitet. Leider schafft es auch Athans nicht, die Charaktere zumindest konsistent zum Vorgängerband darzustellen. Dennoch ist auch dieser Roman überdurchschnittlich gutes Lesefutter für Drow-Fans. Wie die ganze Reihe ist er jedoch eher Kennern der „Vergessenen Reiche“ zu empfehlen, da sie entsprechende Grundkenntnisse voraussetzt.

Weitere Besprechungen aus dieser Reihe bei |Buchwurm.info|:
[Zersetzung 183 (Band 1)
[Zerstörung 677 (Band 4)