Reichs, Kathy – Knochenarbeit

Sie ist eine viel beschäftigte Frau, diese Temperance Brennan: Als Dozentin lehrt sie Anthropologie an der Universität von Charlotte in North Carolina, einem der US-amerikanischen Südstaaten, in den Semesterferien arbeitet sie als forensische Anthropologin für die Provinz Quebec, d. h. am gerichtsmedizinischen Institut der kanadischen Metropole Montréal – jedes Mal eine Reise von mehr als 2000 Meilen. Als bekennender Workaholic nimmt Frau Doktor aber auch dazwischen noch allerhand Knochenarbeit an. Gerade gräbt sie z. B. für die Erzdiözese Montréal nach den Überresten der wohl- und womöglich wundertätigen Ordensschwester Maria, die Anfang des 20. Jahrhunderts verstarb und nun zur Heiligsprechung ansteht.

Aber schon bald ruft wieder die Alltagspflicht. In St. Jovite, einem Vorort von Montréal, ist ein Wohnhaus in einem wahren Höllenfeuer niedergebrannt. In den ausgeglühten Trümmern findet die Polizei die Leichen von sieben Menschen, die sämtlich schon tot waren, als der Brand gelegt wurde, um die Bluttaten zu vertuschen. Unter den Opfern sind auch zwei Säuglinge, die nicht „nur“ ermordet, sondern regelrecht geopfert wurden: Man hat ihnen die Herzen herausgeschnitten. Treiben womöglich Satanisten ihr Unwesen im kalten Winter Nordamerikas? Dr. Brennan holt sich Rat bei einer Spezialistin. Daisy Jeanotte ist Professorin für religiöse Studien an der örtlichen Universität. Ihr Fachwissen ist enorm, ihr Verhalten merkwürdig. Ihren studentischen Hilfskräfte ist sie unumschränkte, gefürchtete Herrin. Einige von ihnen, die Jeanottes Unwillen erregten, scheinen sogar spurlos verschwunden zu sein.

Inzwischen steht für Tempe Brennan ein neuer Lehrturnus in Charlotte an. Wie es der Zufall will, stolpert sie während eines Wochenendausflugs mit Tochter und Freunden über zwei neue Leichen. Die Polizei identifiziert sie mit Brennans Hilfe als Mitglieder einer obskuren Sekte, die offensichtlich ihre Abtrünnigen nicht ziehen zu lassen gedachte. Bald stellen sich sogar Verbindungen zum Massenmord von Montréal heraus. Anscheinend plant die nordamerikaweit operierende Sekte nach dem Vorbild der Schweizer Sonnentempler den kollektiven Selbstmord. Professor Jeanotte scheint das heimliche Oberhaupt zu sein. Die Zeit läuft den Ermittlern davon. Ganz besonders betroffen ist Tempe Brennan, die feststellen muss, dass die eigene Schwester der Sekte beigetreten und inzwischen ebenfalls verschwunden ist. Ein Wettlauf mit der Zeit und mit dem Tod beginnt, dessen Regeln die Sektenfanatiker festlegen, denen jedes Mittel recht ist, sich den Weg ins Jenseits notfalls zu erzwingen …

Zum zweiten Mal lassen Kathy Reichs und Temperance Brennan (die reale Person geht nahtlos in die fiktive Figur über, wie wir weiter unten erfahren werden) wieder Knochen sprechen. Das mag der Purist als allzu ernstes, geradezu anrüchiges Thema für die Feierabend-Lektüre werten; er (oder sie) sei an dieser Stelle verabschiedet und auf die Lagunen-Schmachter der Donna Leon verwiesen.

Wer nicht so zart besaitet ist, sich aber ein gesundes Maß kindlicher Neugier bewahren konnte, erlebt einen nicht gerade realistischen, aber höchst turbulenten, an alten und frischen Leichen reichen Thriller vor der eindrucksvollen Winterkulisse Kanadas. Während die Handlung vom Leser hier und da fordert, sich mit einem Knüppel kräftig auf den Kopf zu schlagen, um so die gar zu offensichtlichen Löcher besser ignorieren zu können, lässt sich Verfasserin Reichs das Heft nicht mehr aus der Hand nehmen, sobald sie ihr eigentliches Reich der Gräber, Mordschauplätze und Leichenhallen betritt. Hier kennt sie sich aus, hier stimmt jedes Detail, und es lässt sich nicht leugnen: Der Tod ist ein faszinierendes Thema, so lange es nicht der eigene ist.

In den Lesegenuss mischen sich leider mehr als nur ein paar Wermutstropfen. Da ist zum einen der allzu gekünstelte Plot. An einem Ende der Stadt gräbt Tempe Brennan eine potenziell heilige Nonne aus, während am anderen Sekten-Strolche losschlagen. Die Nichte einer der lebenden Ordensschwestern ist Adeptin dieser Sekte und arbeitet für genau jene Hochschul-Dozentin, die Tempe bei ihren Nachforschungen über Schwester Marie befragt. Aus dem Süden reist Tempes Schwesterlein an, die gerade von besagter Sekte rekrutiert wurde. Diese treibt ihr mörderisches Unwesen auch in den USA und „versteckt“ – hübsch schlampig, damit die Entdeckung nur ja gelingt – ihre gemeuchelten Untertanen exakt dort, wo Tempe das amerikanische Lager ihres Nomadenlebens aufschlägt. Damit wird das Phänomen des Zufalls ein wenig zu heftig strapaziert. Tatsächlich wollen sich die Subplots dieses Romans im Finale gar nicht recht zu einer Geschichte mischen lassen, deren Auflösung den Leser wirklich zufrieden stellt. Dass die im Mainstream-Thriller der Gegenwart obligatorischen, Reichs aber nicht gerade gelungenen und aufgesetzt wirkenden Seifenoper-Elemente (wirrköpfige Schwester, eigensinnige Tochter, liebeskranker Kollege etc.) verwässern die Handlung zusätzlich.

Ein weiterer Kritikpunkt richtet sich gegen den plakativen, nein inflationären Einsatz aufdringlicher Gewalt- oder Ekeleffekte. Auf dem Markt des modernen Kriminalromans bilden die Leichenhallen-Thriller nur eine kleine Nische, die inzwischen recht gut besetzt, vielleicht sogar überbelegt und daher heiß umkämpft ist. Neben Patricia Cornwell, der Königin dieses Subgenres (Kay Scarpetta), warten z. B. auch Nigel McCrery (Sam Ryan) oder Sharyn McCrumb (Elizabeth MacPherson) regelmäßig mit Pathologen-Spektakeln auf. Da ist es nicht leicht, die Konkurrenz auszustechen. Nicht von ungefähr werden die Schilderungen immer bizarrer und drastischer. Das ist durchaus vergnüglich, denn seit jeher ist die Leichenhalle die natürliche Heimat des schwarzen Humors. Aber Reichs übertreibt es, indem sie auf Nummer Sicher gehen will. Von religiösen Fanatikern herausgeschnittene Herzen scheinen ihr nicht genug zu sein – es müssen auch noch kleine Kinder die Opfer sein. Damit schreiben sich die entsprechenden Szenen wie von selbst, und Entsetzen und Wut und damit die ungeteilte Aufmerksamkeit des Lesers stellen sich ebenfalls automatisch ein. Aber das ist ein billiger, unredlicher Trick, der in einem reinen Unterhaltungsroman wie „Knochenarbeit“ nichts verloren hat.

Über Leben und Werk der Kathy Reichs informiert eine geradezu opulente Website: http://www.kathyreichs.com – hier gibt es sogar eine Einführung in die Welt der pathologischen Anthropologie. (Ich verweise besonders auf den Link „HBO’s Interactive Autopsy“, der uns zu einer Website bringt, auf der Dr. Michael Baden uns das Privileg gönnt, der digitalen Zerlegung eines Menschenkörpers beizuwohnen; wem das zu theoretisch bleibt, darf sich des reichen Farbfoto-Materials einer richtiger Sektion erfreuen.) Die erfolgreiche Schriftstellerin scheint ein Workaholic zu sein; sie schreibt ihre Thriller, während sie weiterhin ihrem ohnehin aufreibenden Vollzeit-Job als Mitarbeiterin des „Office of the Chief Medical Examiner“ in North Carolina und des „Laboratoire de Sciences Judiciaires et de Medecine Legale“ in Quebec nachgeht und außerdem als Dozentin für die Fachbereiche Soziologie und Anthropologie an der Universität von North Carolina-Charlotte lehrt (von ihren zahlreichen Auslands-Einsätzen – z. B. im afrikanischen Ruanda, wo sie die Knochenlager diverser Völkermorde untersuchte – oder ihrer Beratertätigkeit für das FBI ganz abgesehen); diese Parallelen lassen vermuten, dass Reichs Recherche-Zeit spart, indem sie die Figur der Tempe Brennan sehr dicht am eigenen Leben ausrichtet. Dieser Trick versagt allerdings, wenn es darum geht, nackte Fakten mit einer durchdachten Handlung zu einem wirklich überzeugenden Roman zu kombinieren, zu dem sich „Knochenarbeit“ trotz aller Bemühungen nur bedingt fügen will.

Hanif Kureishi – Das schwarze Album

_Die Geschichte eines anderen Londons_

|Auf dem Flur seines abgewrackten Londoner Wohnheims begegnet der unbedarfte Literaturstudent Shahid dem Anführer einer militanten Moslemgruppe und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Kureishis zweiter Roman zeigt unter anderem, wie subtil und willkürlich die Veränderungen sind, die einen Kleinstadtjungen zu einem Terroristen werden lassen.|

Bekannt ist „Das schwarze Album“ vor allem für Kureishis Verarbeitung der Fatwa gegen Salman Rushdi, dessen „Satanische Verse“ (1988) bis heute nicht nur eine schwer verdauliche Lesekost sind, sondern dessen sehr freie Darstellung des frühen Lebens des Propheten Mohammed zudem unter Muslimen zu einer Protestbewegung mit wochenlangen Demonstrationen und Ausschreitungen gegen den Autor geführt hatte. Obwohl sich Rushdi Ende 1990 öffentlich von seinem Roman distanzierte und zum Islam bekannte, blieb die Fatwa mit einem Kopfgeld in Millionenhöhe bis 1998 bestehen. Der damalige iranische Präsident Khatami erklärte zu diesem Zeitpunkt den Fall Rushdi für erledigt, extreme Moslemgruppen wie die „Stiftung 15. Chordad“ meldeten sich jedoch bald zu Wort und bekräftigten das Todesurteil, so dass der Autor sich bis heute nicht völlig sicher fühlen kann.

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Schweikert, Ulrike – Seele der Nacht, Die (Die Legenden von Phantásien)

Tahâma ist ein Blauschopf, ein Wesen des Lichts, des Winds und des Klangs. Die Blauschöpfe sind friedliche Künstler, die ihre Tage damit verbringen, alle möglichen Instrumente zu bauen und damit zu musizieren. Außerdem lieben sie alle möglichen Arten von Windspielen, die sie kunstvoll aus bunten Kristallen zusammensetzen. Von Waffen und Kämpfen verstehen sie nichts.

Das ist auch der Grund, warum sich das gesamte Volk dazu entschlossen hat, sein friedliches Tal zu verlassen und auszuwandern. Das Nichts, das schon seit längerem Phantásien bedroht, ist inzwischen auch bei ihnen aufgetaucht, und die finsteren Wesen, die schon seit Urzeiten in den umgebenden Bergen leben, dringen ebenfalls immer weiter vor. Der Bote, der zur Kindlichen Kaiserin gesandt wurde, ist nicht zurückgekehrt, dafür waren Wanderer aus dem Land Nazagur zu Besuch, die diesen Ort als wahres Paradies beschrieben haben. Vor allem soll das Nichts dieses Land verschont haben.

Nun ist Tahâma allein in dem verlassenen Dorf. Sie will nicht fortgehen, ehe der Bote zurück ist, und tatsächlich taucht er eines Abends auf. Doch eines der Ungeheuer, die draußen umherstreifen, hat ihm eine Wunde beigebracht, die er nicht überlebt. Alles, was er Tahâma noch mitteilen kann, ist, dass die Kindliche Kaiserin einen gewissen Atréju mit der Rettung Phantásiens beauftragt hat. Und sein Entsetzen darüber, dass sein Volk nach Nazagur gezogen ist! Tahâma schiebt seine erschrockene Warnung auf die schlechte körperliche Verfassung kurz vor seinem Tod. Noch am selben Abend macht sie sich auf den Weg zu ihrem Volk.

Unterwegs trifft sie auf den Jäger Céredas, der von einem Wolf am Bein verwundet wurde. Ein Erdgnom namens Wurgluck kann die Wunde zwar heilen, ist damit aber überhaupt nicht zufrieden. Er weiß, dass es kein gewöhnlicher Wolf war, der Céredas da gebissen hat! Seine Besorgnis geht so weit, dass er den beiden folgt, um Céredas zu beobachten. Schon bald mehren sich die Anzeichen, dass seine Befürchtungen nicht unbegründet sind.
Dann erreichen sie Nazagur …

„Die Seele der Nacht“ ist Ulrike Schweikerts Beitrag zu den „Legenden von Phantásien“.
Ihre Tahâma ist ein recht entschlossenes Mädchen. Was sie sich einmal vorgenommen hat, das zieht sie auch durch, ob es nun die Suche nach ihrem Volk ist, die Rettung ihres Freundes Céredas oder ihr Entschluss, den Weisen der Stadt Krizha um Hilfe zu bitten. Natürlich schafft sie das alles nicht ohne Hilfe.

Wurgluck ist zwar ein kauziger kleiner Kerl und schnell beleidigt, aber er ist auch klug und ein wertvoller Berater sowie ein treuer Freund. Wohin Tahâma auch geht, der Erdgnom ist dabei, auch wenn er dafür reiten oder in einem Rucksack sitzen muss!
Céredas, der stolze Jäger aus den schwarzen Bergen, dagegen ist ein weit schwierigerer Geselle. Abgesehen davon, dass er ziemlich von sich eingenommen scheint, hat er die schlechte Angewohnheit, in der Nacht ständig davonzuschleichen, ohne den anderen Bescheid zu sagen. Je weiter sie ins Landesinnere kommen, desto launischer wird er.

Viel mehr gibt es über die Charaktere nicht zu sagen, was auch schon wieder etwas aussagt. Sie bleiben alle mehr oder weniger blass. Tahâma ist die typische Heldin, die entschlossen ist, das Böse zu vernichten und ihr Volk zu retten, notfalls auch alleine. Das lässt sich natürlich bis zu einem gewissen Grad nicht vermeiden, denn eine gleichgültige oder selbstsüchtige Protagonistin würde sich einfach aus dem Staub machen, und was gäbe es dann für eine Geschichte zu erzählen? Außer dieser Motivation ist ihre erwachende Liebe zu Céredas jedoch das Einzige, das man von ihr erfährt. Sie hat keine besonderen Neigungen oder Vorlieben, keine Zukunftspläne, keine Erinnerungen, an denen sie hängt.

Auch Céredas fehlt ein solcher Hintergrund. Zwar begleitet er Tahâma, um zu sehen, ob Nazagur auch seinem Volk Zuflucht vor dem Nichts bieten kann, verschwendet im Laufe der Reise jedoch nicht ein einziges Mal einen Gedanken an nahe stehende Personen wie Familienmitglieder oder Freunde. Für seine Launenhaftigkeit kann er nichts, wie sich schnell herausstellt, sie hat ihre Ursache in dem Wolfsbiss. Den inneren Kampf, den Céredas mit sich ausfechten muss, bekommt der Leser allerdings kaum mit, weil seine Gedanken nur drei- oder viermal kurz erwähnt werden, wenn es um seine wachsende Zuneigung zu Tahâma geht.

Tahâmas Gefühle wiederum scheinen lediglich daher zu kommen, dass Céredas sie ein paarmal aus warmen braunen Augen angesehen hat. Mehr erfährt man zumindest nicht.

Der Erdgnom mit seinem scharfen Verstand und seiner Kauzigkeit hätte das Potenzial zu einem wirklich liebenswerten Charakter gehabt. Ich konnte nur nicht verstehen, warum er den Mund nicht aufmacht! Er weiß ganz genau, dass Céredas von einem Werwolf gebissen wurde. Das sagt er den beiden auch. Außer ihm scheint sich aber keiner über die Folgen Gedanken zu machen, nicht einmal, als sie absehbar werden. Wurgluck warnt Tahâma durchaus vor Céredas, aber seine vagen Andeutungen sind nicht geeignet, das bereits verliebte Mädchen davon zu überzeugen, dass ihr Schwarm eine Gefahr für sie darstellt. Warum sagt er ihr nicht klipp und klar, was Sache ist? Zumal auch Aylana und Céredas selbst sie bereits gewarnt haben.

Abgesehen davon: Wieso wird Céredas durch den Biss eigentlich kein Werwolf, sondern ein Sklave des Schattenlords? Steht dieser in irgendeiner Verbindung zu Gmork? Und selbst wenn, der Gmork ist kein phantásisches Wesen. Unwahrscheinlich, dass er von einem Phantásier beherrscht werden könnte!

Noch schemenhafter als die Hauptfiguren bleiben die Nebenfiguren Aylana, ihr Bekannter Ýven und die Spinnenfrau. Sie sind reine Zweckfiguren. Aylana hilft Tahâmas Gruppe und bietet ihr Unterschlupf. Ýven versucht offenbar, den Grund des Universums zu erforschen. Der Versuch, in einem Gespräch zwischen Wurgluck und Ýven die Ursache für die Geschehnisse in Nazagur und ganz Phantásien herauszufinden, gerät allerdings eher vage. Die Spinnenfrau Crachna fügt dem nur wenig hinzu.

Natürlich kennen erfahrene Phantásien-Leser den Grund für das Nichts längst. Warum aber Nazagur davon verschont bleibt, dafür bietet die Autorin keine plausible Erklärung. Die einzige Frage des Buches, die beantwortet wird, ist die nach dem Wachstum Nazagurs: Wenn die Menschheit dazu übergeht, sich anstelle von Außergewöhnlichem nur noch Horror und Grausamkeit auszudenken, dann wird eben auch Phantásien zu einem einzigen Ort des Horrors und der Grausamkeit.

Die Autorin sagt selbst von sich, dass Vampire sie faszinieren. Ob aber deshalb der Schattenlord wie ein Abklatsch der unzähligen bereits existierenden Gruselfiguren wirken muss, ist eine andere Frage. Wer nimmt eine Schauerfigur ernst, deren gesamte Erscheinung aus einer Sammlung von Klischees besteht? Und wie kommt es, dass dieser Schattenlord sich offenbar der Tatsache bewusst ist, dass er ein erdachtes Geschöpf ist? Dass Crachna, die mit ihren Augen offenbar bis in die Menschenwelt sehen kann – was auch schon ungewöhnlich ist! – dies weiß, mag noch nachvollziehbar sein. Aber woher weiß es der Schattenlord? Überhaupt wissen in Schweikerts Geschichte ziemlich viele über die Menschenwelt bescheid, auch Ýven und Wurgluck. Sehr verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Geschichte zeitgleich zur „Unendlichen Geschichte“ spielt, einem Zeitpunkt also, wo seit unsagbar langer Zeit kein Menschenkind mehr in Phantásien gewesen ist und alle möglichen Wesen Boten zur Kindlichen Kaiserin schicken, weil sie nicht wissen, was es mit dem Nichts auf sich hat!

Das größte Manko des Buches ist jedoch, dass man kaum bemerkt, dass es in Phantásien spielt. Abgesehen davon, dass am Rande die Kindliche Kaiserin, Atréju, der Gmork und das Nichts erwähnt werden, lässt nichts darauf schließen, wo man sich befindet. Die Landschaften sind zwar abwechslungsreich, könnten sich aber genausogut in der Menschenwelt befinden. Von den Personen, die vorkommen, besitzen offenbar nur der Schattenlord und die Blauschöpfe außergewöhnliche Fähigkeiten. Die einzigen bunten Farbtupfer im ganzen Buch sind die Darstellungen im Zusammenhang mit der Magie der Kristalle und der Musik der Blauschöpfe und das Vorkommen des Erdgnoms. Enttäuschend! Hier hätte ich mir eindeutig mehr Einfallsreichtum gewünscht.

Dieser Band ist auf jeden Fall der schwächste der drei, die ich bisher gelesen habe. Außer nackter Handlung ist hier nicht viel zu holen. Keine Charaktere, mit denen man wirklich mitfiebern würde, eine Menge Fäden, die nicht miteinander verknüpft wurden, logische Brüche in sich und zur Vorlage … Dem Buch fehlt jegliches Flair, das man sonst mit dem Gedanken an Phantásien verbindet, und man fragt sich, wie lange es her ist, dass die Autorin die Vorlage gelesen hat. Dabei wäre bei nur rund 300 Seiten durchaus noch genug Raum gewesen, um Facetten zu vertiefen und Fragen zu beantworten. Was hat Aylana dazu bewogen, einfach geschehen zu lassen, was mit ihr geschah, ohne wenigstens den Versuch zu unternehmen, etwas dagegen zu tun? Ýven ist ein Forscher und rennt ständig mitten im Gespräch davon zu seinen Experimenten. Was denn überhaupt für welche? Welchen Zweck erfüllt eigentlich der Kristall Krísodul, wenn Tahâma ihre Musikmagie auch ohne ihn wirken kann? Und wieso kann ihr Großvater Centhân, der ja offenbar über ebenbürtige Fähigkeiten verfügt, Krizha ohne Krísodul nicht mehr beschützen? Fehlanzeige! Fast scheint es, als hätte die Autorin zu diesem Roman keine rechte Lust gehabt.

Ulrike Schweikert, gebürtig in Schwäbisch Hall, war nach der Schule zuerst im Bankwesen tätig, ging dann an die Universität, um Geologie zu studieren, schob später noch ein Studium in Journalistik nach. Mit „Die Tochter des Salzsieders“ wurde sie bekannt, seit „Die Hexe und die Heilige“ ist sie hauptberufliche Schriftstellerin. Ihre Krimis und Fantasygeschichten erscheinen unter dem Pseudonym Rike Speemann. In der Liste ihrer Arbeiten finden sich auch Jugendbücher und eine Theaterversion der „Tochter des Salzsieders“. Zurzeit schreibt sie an der Fortsetzung ihres Vampirkrimis „Der Duft des Blutes“.

Gebundene Ausgabe: 336 Seiten
ISBN-13: 978-3-426-19643-4

http://www.droemer-knaur.de/home
http://www.ulrike-schweikert.de/

Der Autor vergibt: (2.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (6 Stimmen, Durchschnitt: 1,00 von 5)

Franzen, Jonathan – Korrekturen, Die

Auf allen Bestsellerlisten standen „Die Korrekturen“ ganz oben, sämtliche Kritiker überhäuften Jonathan Franzen mit Lob und 2001 wurde ihm der |National Book Award| verliehen. Doch was ist es eigentlich, das dieses Buch ausmacht? Warum haben so viele Menschen es gelesen? Und warum lieben wir es, obwohl auf der Handlungsebene so wenig passiert?

_Nobody’s perfect_

Alfred und Enid Lambert wollen zusammen auf eine Kreuzfahrt gehen und vorher ihre beiden Kinder Denise und Chip besuchen. Das Familientreffen soll in Chips New Yorker Wohnung stattfinden, doch als Chip genau in diesem Augenblick von seiner Freundin Julia verlassen wird und einsieht, dass er in seinem Drehbuch noch einige Änderungen vornehmen muss, lässt er seine Eltern stehen und begibt sich zu seiner Verlegerin Eden, der er das Drehbuch entreißen will, bevor sie es lesen kann. Denise kocht ihren Eltern derweil ein Essen und verbringt mit ihnen den Mittag, bevor sie Alfred und Enid zum Schiff begleitet.

Im Zentrum der gesamten Geschichte steht das bevorstehende Weihnachtsfest, das Enid gerne mit ihrer gesamten Familie, also den Kindern Gary, Chip und Denise und Garys Frau Caroline und den drei Kindern, in St. Jude im elterlichen Haus verbringen möchte. Alfred ist an Parkinson erkrankt und hat mal mehr mal weniger mit seiner Gesundheit zu kämpfen, und auch Enid wird von ihrer kranken Hüfte geplagt, daher wünscht sie sich nichts mehr als dieses gemeinsame Weihnachtsfest, doch haben nicht alle Kinder die Absicht, Enid diesen Wunsch zu erfüllen.

Zu Beginn lernen wir Chip näher kennen, der einst erfolgreich als Dozent an einem College gearbeitet hat, bis seine Affäre mit einer Studentin bekannt wurde, die ihn Beförderung und Job gekostet hat. Nun schlägt er sich mehr schlecht als recht durchs Leben und schreibt Drehbücher. Denise ist Chefköchin in einem noblen Restaurant, hat allerdings schon eine geschiedene Ehe vorzuweisen und will auch einfach kein Glück in der Liebe haben. Auch Gary hat es mit seiner Frau und den drei Kindern nicht besser getroffen, denn an seinem ehelichen Himmel ziehen dunkle Gewitterwolken auf, wenn er das Weihnachtsfest in St. Jude erwähnt. Seine Frau weigert sich, das Weihnachtsfest bei ihren Schwiegereltern zu verbringen und manipuliert die gemeinsamen Kinder soweit, dass sie sich von ihrem Vater abwenden. Sie scheint größten Gefallen daran zu finden, sich über Gary und seine Familie lustig zu machen.

Auf der Kreuzfahrt schließt Enid schnell Bekanntschaft mit einer netten Frau, die ihr ein persönliches Geheimnis anvertraut, während die beiden sämtliche Vorzüge der Kreuzfahrt genießen. Doch dann sieht Enid ihren Mann Alfred vom Schiff fallen …

_Korrigiere dein Leben_

Trotz aller Vorschusslorbeeren stand ich den „Korrekturen“ äußerst skeptisch gegenüber, denn bei seinen knapp 800 Seiten und dem offensichtlich spärlichen Inhalt machten sich zunächst gewaltige Zweifel breit, die von den ersten 25 Seiten des Buches noch bestärkt wurden. Das erste Kapitel nämlich zieht sich wie Kaugummi und erzählt eine Geschichte, die ich auch nach zweifachem Lesen nicht recht nachvollziehen konnte. Doch mit dem Beginn des zweiten Kapitels erscheint uns der Autor wie ausgewechselt, erst hier beginnt die eigentliche Erzählung, die vom ersten Moment an mitzureißen weiß.

Jonathan Franzen zeichnet ein wunderbares Bild seiner fünf Protagonisten, denen viel Raum im Buch gewidmet ist. Jedes der drei Lambertschen Kinder erhält hierbei sein eigenes Kapitel, während Enid und Alfred ganz nebenbei auftauchen. Mit jeder Seite wachsen einem die handelnden Personen mehr ans Herz, denn jeder hat irgendwo einen kleinen Spleen oder eine besondere Eigenart, die sie so sympathisch machen. So ist Alfred früher Hobby-Wissenschaftler gewesen, der hauptberuflich für die Eisenbahn gearbeitet und in seinem Keller chemische Experimente durchgeführt hat, die ihm einige Patente eingebracht haben. Doch nun ist er krank geworden und sieht des Nachts seltsame Scheißhaufen (das ist wörtlich zu nehmen) durch sein Zimmer springen.

Chip hat kein Glück mit Frauen und vergnügt sich daher oft genug auf und mit seinem eigenen Sofa, außerdem schuldet er seiner Schwester einen Haufen Geld. Gary dagegen steht unter dem Pantoffel seiner eigenen Frau. In ihrer Ehe spürt man keine Liebe mehr, sie wird eher als eine Art Kampf dargestellt. Garys Frau Caroline zieht die gemeinsamen Kinder auf ihre Seite, stichelt gegen ihren Mann, straft ihn mit Missachtung und will sich nicht zu einem Weihnachtsfest in St. Jude überreden lassen, während Gary beschließt, alleine zu seinen Eltern zu fahren, um den ehelichen Frieden zumindest oberflächlich wieder herzustellen.

Mit seinem ausführlichen und liebevollen Schreibstil schafft Franzen es, dass der Leser sich ein sehr gutes Bild von der Familie Lambert machen kann, wir erleben hautnah all die familiären Katastrophen mit, die die Lamberts zu ertragen haben. Dabei vergeht im Haupterzählstrang nicht viel Zeit, während uns Franzen oftmals in einer Nebenerzählung weiter in die Vergangenheit entführt, um mehr über die Lambertschen Kinder und ihr Leben zu berichten. Während dieser Vorstellungen werden also wesentlich größere Zeitspannen abgearbeitet. Die Charakterzeichnungen sind so gut gelungen, wie man es nur äußerst selten erleben kann. Kaum ein Autor schafft es, seinen Lesern die handelnden Romanfiguren so deutlich vor Augen zu führen wie Franzen, das allein macht das Buch schon zu einem einzigartigen persönlichen (Lese-)Erlebnis.

Franzens Sprache ist zwar einfach aber ausschmückend; so bedient er sich zahlreicher Adjektive, um seinen Beschreibungen noch mehr Farbe zu verleihen, er ist mit viel Liebe zum Detail bei der Sache. Seine Beschreibungen sind ausführlich, lebendig und so detailliert, dass man sich beim Lesen mitten in der Geschichte wiederfindet. In diesem Buch entfaltet Jonathan Franzen sein gesamtes hervorragendes Erzähltalent, das eine oberflächlich betrachtet einfache Geschichte über alltägliche Menschen über eine epische Breite von knapp 800 Seiten gekonnt und unterhaltsam vorzutragen weiß, ohne nach dem zweiten Kapitel auch nur einen Moment lang zu langweilen.

Der Autor splittet seine Geschichte in mehrere Handlungsstränge, die sich an einem Zeitpunkt wiedertreffen und hier überzeugend zusammengeführt werden. Ein wenig Aufmerksamkeit ist allerdings erforderlich, um den Zeitverlauf immer richtig einzuordnen, doch wer würde bei einer so liebevollen Erzählung seine Konzentration freiwillig schweifen lassen?

Zwischendurch wird nur bedingt Spannung aufgebaut; im Grunde genommen gibt es nur einen Moment, der den Leser so sehr an das Buch fesselt, dass man es nicht mehr aus der Hand legen könnte. An dieser Stelle nämlich erhält Gary einen aufgeregten Anruf seiner Mutter, die Schreckliches von der Kreuzfahrt zu berichten hat, doch erst viel später erfährt der Leser, dass Alfred vom Schiff gefallen ist. Bis Franzen uns aber offenbart, was aus dem Lambertschen Familienoberhaupt geworden ist, spannt er uns lange Zeit auf die Folter. Jonathan Franzen bedient sich noch ganz anderer Elemente, um den Leser bei der Stange zu halten, seine faszinierende Erzählweise ist es, die zu unterhalten weiß.

„Die Korrekturen“ haben ihre Lobhudeleien völlig zu Recht verdient. Über die gesamte Strecke des Buches führt uns Jonathan Franzen ein liebevolles Familienportrait über eine merkwürdige, aber irgendwo doch alltägliche Familie vor Augen, das sympathisch geschrieben und überzeugend erzählt ist. So wachsen einem die Romanfiguren dermaßen ans Herz, dass man sich völlig in der Geschichte verliert und am Ende die eine oder andere Träne verdrücken muss, wenn man sich von Familie Lambert leider wieder verabschieden muss. Dieses Buch besticht durch seine ausgezeichnete Erzählweise und wird dadurch zu einem literarischen Hochgenuss und einem absoluten Muss für jeden Buchwurm!

S. 9: |“Drei Uhr am Nachmittag war eine Zeit der Gefahr in den gerontokratischen Vororten von St. Jude. Alfred hatte seit dem Mittagessen in seinem großen blauen Sessel geschlafen und war gerade aufgewacht. Nun lag sein Nickerchen hinter ihm, und die nächsten Lokalnachrichten kamen erst um fünf. Zwei leere Stunden waren eine Nebenhöhle, in der Infektionen keimten. Er rappelte sich hoch und stand neben der Tischtennisplatte, vergebens horchend, ob Enid sich oben regte.“|

Henning Mankell – Die Rückkehr des Tanzlehrers

Stefan Lindman, 37, Kommissar bei der Kriminalpolizei im südschwedischen Borås, lebt in Angst, seit bei ihm Zungenkrebs diagnostiziert wurde. Bald steht die Strahlentherapie an. Lindman sucht Ablenkung. Er findet sie im Mord an seinem ehemaligen Mentor Herbert Molin. Der Ex-Polizist hatte sich nach seiner Pensionierung in die Wälder von Härjedalen zurückgezogen. Dort wurde er in der Nacht überfallen, von seinem Mörder zum Tangotanz gezwungen und mit einem Ochsenziemer brutal zu Tode gepeitscht.

Mit dem Fall betraut wird Giuseppe Larsson, der mit seinen Kollegen vor einem Rätsel steht. Wer hasste den alten Molin so sehr? Lindman, der aus Borås angereist ist, wird als „inoffzielle Verstärkung“ eingesetzt, zumal er sich ohnehin nicht von dem Fall fernhalten lässt.

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Sharpe, Matthew – Eine amerikanische Familie

Die Geschichte, die hinter der Veröffentlichung von „Eine amerikanische Familie“ steckt, mutet schon ein wenig fantastisch an. Mehr als 20 Verlage ließen Matthew Sharpe mit seinem Roman abblitzen, bis der winzige New Yorker Verlag |Soft Skull Press| Sharpes Buch druckte. Ein paar Wochen später war der Roman ein absoluter Renner. Die Kritiker zeigten sich begeistert und mittlerweile sind sogar schon die Filmrechte verkauft. Die Pressestimmen auf dem Klappentext verheißen Gutes. Vollmundiges Lob und ein Vergleich mit Jonathan Franzens [„Die Korrekturen“ 1233 lassen Freunde moderner amerikanischer Literatur in jedem Fall aufhorchen.

Eine schrecklich nette Familie: Chris Schwartz ist 17, ein vorlauter Klugscheißer aus Bellwether, Connecticut, der zu allem und jedem einen blöden Spruch macht. Seine ein Jahr jüngere Schwester Cathy unternimmt trotz der jüdischen Wurzeln ihrer Familie gerade einen Ausflug zum Katholizismus, getreu ihrem Vorbild der jüdischen Märtyrerin Edith Stein folgend. Pubertät wäre mit Blick auf beide ein passendes Stichwort. Vater Bernard schafft es, nachdem seine Frau ihn verlassen hat, kaum noch ohne seine tägliche Dosis Prozac aus dem Bett, während seine mittlerweile von ihm geschiedene Frau Lila nach Kalifornien durchgebrannt ist und dort Karriere macht. Alles ganz normal bei den Schwartzens.

Das ändert sich schon bald, als Bernard versehentlich seine Antidepressiva vertauscht. Er erleidet einen Schlaganfall und fällt ins Koma. Als Bernard aufwacht, ist die Welt nicht mehr dieselbe. Sohn und Tochter geleiten den Vater zurück in den Alltag, der sich für Bernard erschreckend befremdlich gestaltet. Er muss die einfachsten Handgriffe neu erlernen und tut sich mit so ziemlich allem schwer. Doch besonders Chris kümmert sich rührend, seine Schulbildung opfernd, um Bernards Training. Zusammen schlingert die Familie durch so manche kleinere und größere Katastrophe. Die Sprösslinge werden stetig, und ohne es recht zu merken, erwachsen und während sie ihre Unschuld verlieren, hat Vater Bernard sie wieder zurückgewonnen …

„Eine amerikanische Familie“ erzählt genau das, was der Titel vermuten lässt: Die Geschichte einer amerikanischen Familie. Etwas plump mag der deutsche Titel wirken (im Original heißt es: „The Sleeping Father“), aber er trifft’s halt. Sharpes Roman ist in erster Linie eine Familiengeschichte. Und die kommt so komisch und schräg daher, dass das Lesen von der ersten bis zur letzten Seite durchweg Spaß macht.

Den Reiz des Romans macht dabei seine Mischung aus. Auf der einen Seite irrsinnig witzig, auf der anderen Seite alles andere als eine Komödie. Sharpe gelingt der Drahtseilakt zwischen Dramatik und Witz, zwischen Humor und Melancholie. Verglichen wird „Eine amerikanische Familie“ im Verlagstext mit Sam Mendes‘ Film „American Beauty“, in dem Kevin Spacey als von Midlife-Crisis geplagter Vorstädter die Höhen und Tiefen eines sich wandelnden Familienlebens durchmacht. Ganz grob kann man den Vergleich im Grunde stehen lassen. Im Detail gibt es natürlich zu viele Unterschiede, um beides wirklich in einen Topf werfen zu können, aber die Stimmung ist in beiden Werken durchaus ähnlich. Diese Mischung aus Witz und Melancholie und dieser alles durchdringende Sarkasmus, der im Endeffekt dazu dient, den wahren Kern des heutigen Amerika zu entblößen, ist beiden Werken gemein.

Doch während die Figuren in „American Beauty“ so erschreckend normal wirken, präsentiert sich bei „Eine amerikanische Familie“ manches etwas überspitzt, was Sharpe aber andererseits durch seine feinfühlige Erzählweise kompensiert. Mag einiges, wie zum Beispiel die Entführung des Vaters zu Thanksgiving aus dem Krankenhaus oder Chris‘ „Make-up-Aktion“ am Krankenbett des schlafenden Vaters, noch so überzogen anmuten, so zeigt Sharpe dennoch, dass er ein Herz für seine Figuren hat. Wirken gerade Chris und sein Kumpel Frank auch noch so bitterböse und beleidigend auf andere Menschen, so erkennt man doch stets ihren guten Kern. Sharpe schafft es, trotz der scheinbar eher oberflächlich angelegten Erzählung, trotz des Humors, der zwischen den Zeilen funkelt, ein überraschend tiefes Bild seiner Figuren zu skizzieren. Er entblättert auf so lockere und unterhaltsame Art ihr Innerstes, dass es ein wahrer Genuss ist.

Sharpe wechselt immer wieder die Perspektive, verfolgt mal Bernard oder Lila, meistens aber Cathy und Chris. Und so ist „Eine amerikanische Familie“ eben auch eine Geschichte über das Erwachsenwerden, über die ersten sexuellen Erfahrungen und über die Tücken der Pubertät. Besonders Chris macht mit der Zeit einen Reifungsprozess durch und ist die heimliche Hauptfigur in Sharpes Roman. Seine bösartige Ironie trägt er wie eine Art Schutzschild vor sich her und wenn jemand auf die gleiche Art kontert, wie er zuvor ausgeteilt hat, ist er verunsichert. Er wandelt etwas haltlos durch seinen Alltag und weckt hier und da Erinnerungen an Holden Caulfield in J.D. Salingers „Der Fänger im Roggen“.

Was an der Lektüre so erfrischend ist, ist Sharpes Stil. Voller Wortwitz, raffiniert erzählt, bissig und gespickt mit Pointen, ist „Eine amerikanische Familie“ ein Roman, der Spaß macht. Sharpes Stil ist eine Stil der schnellen Schnitte. Er braucht keine großen Worte, um in der Handlung von einer Figur zur nächsten überzuleiten. Die Wechsel vollziehen sich wie von selbst. Temporeich treibt er die Geschichte voran, von der der Leser vielleicht manches vorausahnen mag, es dann aber in Sharpes Worten präsentiert zu bekommen, macht diese Transparenz wieder wett.

Was in meinen Augen ein wenig hinkt, ist der Vergleich mit Jonathan Franzens [„Die Korrekturen“. 1233 Beiden gemein ist zwar eine genaue Beobachtungsgabe mit einem Blick für kleine unscheinbare Details und beide haben sicherlich einen Sinn für Humor der eher trockenen Sorte, dennoch ist Sharpes Werk irgendwie lauter und frecher. Wenn Jonathan Franzen Pop ist, dann ist Matthew Sharpe Rock.

Thronend über all dem steht Sharpes Sinn für Sarkasmus und Ironie. |“Egal, ob einem die Ironie entging oder nicht, der Ironie entging man auf keinen Fall.“| (S. 150) Das scheint nicht nur Chris‘ Einstellung widerzuspiegeln, sondern lässt sich auch auf Matthew Sharpes Art des Erzählens übertragen. Daraus ergibt sich ein unnachahmlich heiterer Erzählstil, der richtig Lust darauf macht, mehr von Sharpe zu lesen. Doch da wird der deutsche Leser sich wohl noch gedulden müssen, bis mehr von Sharpe auf dem deutschsprachigen Buchmarkt erscheint bzw. auf die amerikanischen Originalausgaben umsatteln müssen. Da gäbe es dann immerhin noch einen Band mit Kurzgeschichten („Stories from the Tube“, 1998) und den Roman „Nothing is Terrible“ (2000).

Bleibt unterm Strich der Eindruck eines wirklich lohnenswerten Buches für Freunde moderner und vor allem unterhaltsamer amerikanischer Literatur. Wer die Stimmung und die Art des Films „American Beauty“ mochte, der wird auch an Matthew Sharpes „Eine amerikanische Familie“ seine wahre Freude haben. Ein Buch, das gewitzt, schräg, herzerfrischend, herrlich ironisch und ganz nebenbei so feinfühlig und mit einem ausgeprägten Sinn für Melancholie daherkommt, dass man es mitsamt seiner Figuren einfach mögen muss. Für mich eines der bislang unterhaltsamsten Bücher dieses Jahres. Bitte mehr davon!

Stover, Matthew – Star Wars Episode III – Die Rache der Sith

Über Coruscant tobt eine erbarmungslose Weltraumschlacht. Nachdem die Separatisten unter der Führung von Count Dooku und General Grievous tolldreist den Regierungsplaneten angegriffen haben, setzen sich die Truppen der Republik zur Wehr. Bald schon wird aus der Verteidigung auch eine Rettungsaktion, denn ein Stoßtrupp aus Kampfdroiden unter der Führung von General Grievous hat den obersten Kanzler Palpatine entführt.
Niemand auf der Oberfläche des Planeten ahnt den wahren Hintergrund der Entführung. In Wahrheit will Palpatine alias Darth Sidous mit Count Dookus Hilfe den jungen Anakin Skywalker auf die dunkle Seite der Macht ziehen. Für Dooku scheint es eine leichte Angelegenheit zu sein, zuerst Obi-Wan Kenobi zu töten und dann Skywalker gefügig zu machen, doch der Adlige täuscht sich gewaltig. Die beiden Jedi spielen nur mit dem Grafen. Zwar gelingt es Dooku, Obi-Wan einstweilen außer Gefecht zu setzen, doch gegen Anakin ist er chancenlos.
Im letzten Augenblick erkennt er den wirklichen Plan von Darth Sidous: Anakin kann nur weiter auf die dunkle Seite gezogen werden, wenn er Dooku tötet. Sidous ist auf der Suche nach einem Schüler, der mächtiger ist als Dooku. So erfährt Dooku eine der elementaren Wahrheiten der Sith am eigenen Leib: Verrat ist eine Grundeigenschaft der Sith.

Mit letzter Kraft können die beiden Jedi und der Kanzler aus dem abstürzenden Schlachtkreuzer der Separatisten entkommen. Leider gelingt dem einzigen noch verbliebenen Anführer der Separatisten, General Grievous, ebenfalls die Flucht.

Die Situation auf Coruscant ist angespannt. Die Jedi haben mit Misstrauen den zunehmenden Machtbereich des Kanzlers registriert, aber sie haben ihn auch nicht verhindern können. Inzwischen sind sie sicher, dass der Sith Lord sich im unmittelbaren Umfeld des Kanzlers aufhält, aber mehr wissen sie nicht. Der Kanzler kann es nicht sein, denn er hat bereits die absolute Macht.
Mace Windu und Yoda weihen Obi-Wan in ihre Gedanken ein. Sie machen deutlich, dass der Jedi-Meister diese Geheimnisse für sich behalten soll, denn sie trauen selbst Anakin nicht. Skywalker mag der mächtigste Jedi von allen sein, doch er ist auch instabil.

Seit geraumer Zeit wird Anakin von schlimmen Ängsten geplagt. Seine Mutter verlor er bereits und nun fürchtet er sich davor, die, die ihm am nächsten stehen, zu verlieren. Palpatine, der ihn fördert wie ein väterlicher Freund. Obi-Wan, mit dem ihm eine tiefe Freundschaft verbindet. Und nicht zuletzt Padmé, seine geliebte Frau. Seine Träume zeigen ihm eine tote Padmé, eine Voraussicht, die für ihn furchtbarer ist als alles andere, was ihm widerfahren könnte.
Als Obi-Wan auf Geheiß des Jedi-Rates die Jagd nach General Grievous aufnimmt, kommt es auf Coruscant zum zweiten Akt der Tragödie. Die dunkle Seite der Macht sei in der Lage, Tote wieder zum Leben zu erwecken, so offenbart Palpatine seinem jugendlichen Freund. Als er außerdem seine Maske fallen lässt und sich als Sith Lord offenbart, ist es zu spät. Mace Windu und seine Freunde können den Sith nicht stellen. Wenig später gibt Palpatine die Weisung an die Klon-Truppen aus, Plan 66 auszuführen.
So geschieht es. Überall in der Galaxis richten die Klon-Soldaten ihre ehemaligen Anführer hin. Das Ende der Republik ist nahe.

„Die Rache der Sith“ ist wohl das Beste der bisherigen Filmbücher. Sein Stil ist gewöhnungsbedürftig, aber binnen kurzem weiß es sehr zu gefallen.
Lange haben die Fans darauf gewartet zu erfahren, wie George Lucas denn seine Geschichten zusammenfügen würde.

Die Auflösung ist gelungen. Anakin konnte letztlich nur durch die Angst zur dunklen Seite verführt werden. Im Grunde seines Herzens ist er kein schlechter Kerl. Doch er ist zu unerfahren, um nicht leicht verführt zu werden. Die Möglichkeit, mit Hilfe der dunklen Seite in der Lage zu sein, Padmé vom Tode zurückzuholen, wiegt für ihn schwerer als das Wohl seiner Freunde. Am Ende ist er bereit, für seinen neuen Lehrer alles zu tun, wenn nur seine Frau gerettet werden kann.
Für die Geschichte ist es sehr wichtig, dass Anakin trotz allem ein sympathischer Charakter ist. Er ist ein Heißsporn, der zwischen seinen eigenen Ansprüchen hin und her gerissen ist. Leider passen diese Ansprüche nicht zueinander und sie werden auch nicht zur Gänze von den anderen Jedi akzeptiert. Das Profil eines machtvollen Menschen, dessen Gefühle noch viel mächtiger sind und deshalb alles zunichte machen, was er sich wirklich gewünscht hat, ist ohne jegliche Widersprüche umgesetzt.
Der Brückenschlag vom kleinen Anakin Skywalker hin zum innerlich zerstörten Darth Vader ist letztlich von George Lucas sehr gut in Szene gesetzt worden.

Figuren, die bisher eine Randexistenz innerhalb der Geschichte führten, werden aufgewertet, andere hingegen müssen sich mit einer Nebenrolle begnügen. So auch Padmé. Zwar wird sie zum Stein des Anstoßes, ansonsten muss sie allerdings hinter der eigentlichen Handlung zurückstehen.
Andere Charaktere gewinnen an Profil, so zum Beispiel Bail Organa, jener Senator, der später die kleine Leia aufziehen wird. An der Seite der Senatorin Mon Mothma versucht er von der Republik zu retten, was zu retten ist. Letztgenannte Senatorin ist eine der Figuren, die bereits aus kleinen Nebenauftritten aus der alten Trilogie bekannt sind. Es wurde überhaupt sehr viel Wert darauf gelegt, dass sich mit dieser letzten Geschichte ein Kreis schließt. Der Leser macht hier bereits die Bekanntschaft mit Chewbacca, er erfährt, dass der Wookie und Yoda sich während einer gemeinsamen Kampfhandlung kennen gelernt haben.

Im Gegensatz zum Film nutzt das Buch die Gelegenheit, ausführlich auf die Gedankenwelt seiner Protagonisten einzugehen. Dann schaltet Autor Matthew Stover auf eine Art Reportage um, damit die eigentliche Handlung nicht unnötig unterbrochen wird. So merkwürdig dieser dokumentarische Stil während der eigentlichen Handlung auch ist, so viele wichtige Informationen liefert er doch zum Verständnis der Handlung. Es wird interessant sein zu sehen, wie der Film ohne diese Hilfsmittel auskommen will.

Der Roman folgt dem Drehbuch des Films. So spitzt sich die Handlung in einem sehr klassischen Aufbau immer weiter zu. George Lucas hat nie geleugnet, dass er sich vieler bekannter Themen bedient hat. Serien aus seiner Jugend, Sagen, ja selbst die Bibel mussten für Motive herhalten. So ist denn der Endkampf von Obi-Wan und Anakin ähnlich groß und dramatisch geraten. Anakins Auferstehung als Darth Vader wird als Triumph der Sith zelebriert, ein Triumph, der, wie der Fan weiß, nur von kurzer Dauer ist.

Anakin ist der Auserwählte, welcher der Macht das Gleichgewicht bringen wird, nur eben nicht zu der Zeit und auf dem Weg, den die Jedi gerne hätten. Daumen hoch für einen erstklassigen Abenteuerroman, der als Geschichte zum Film absolut für sich alleine stehen kann.

_Michael Nolden_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de veröffentlicht.|

Andreas Eschbach – Die seltene Gabe

Als Science-Fiction-Leser kommt man ja kaum an paranormal begabten Wesen vorbei, seien sie nun als „positive Mutanten“ oder als natürlich begabt beschrieben. Oft trifft man auch auf Außerirdische, die mit Gedankenkraft Dinge bewegen oder Gedanken lesen können. Prominentes und aktuelles Beispiel sind die Yedi und Sith der Star-Wars-Saga, wobei hier diese Fähigkeiten seit Episode I leider etwas entmystifiziert wurden.

In „Die seltene Gabe“ nimmt sich Andreas Eschbach dieses Themas an, indem ein junges Mädchen der heutigen Zeit eine Erfahrung der besonderen Art macht: Sie trifft im urlaubsleeren Haus ihrer Eltern auf einen jugendlichen Einbrecher, der scheinbar von der ganzen Polizei der Stadt gesucht wird. Und dabei ist er ganz normal – bis auf seine unglaubliche Fähigkeit. Er bezeichnet sich als Telekinet, der parawissenschaftliche Ausdruck für jemanden, der Materie kraft seines Willens bewegen kann. Und er ist auf der Flucht vor französischen Militärwissenschaftlern, die ihre Forschungen an ihm betreiben wollen. Ein Fluchtweg bietet sich: Mit Marie als Geisel und mit verändertem Aussehen geht es an den Streifen vorbei, die bisher nach nur einer Person fahnden. Aber um die Ecke steht ein alter Bekannter: ein Telepath, der die Polizei mit seiner Gedankenleserkraft unterstützt!

Informationen zu Andreas Eschbach finden sich auf seiner Seite http://www.andreaseschbach.de/

Man wird langsam an die Probleme, die diese Andersartigkeit hervorruft, herangeführt; Eschbach versucht nicht, in einem kompakten Abschnitt alles zu erklären. So versteht mit uns als Leser auch die Ich-Erzählerin Marie erst durch ihre Erlebnisse, was den Jungen Armand eigentlich zum Außenseiter macht und wie er damit klarkommt. Gleichzeitig hegt das Mädchen geheime Sympathien für ihn, die durch „ihre“ Erzählung auf den Leser übertragen werden – Eschbach bearbeitet so eine Seite des Themas „Xenophobie“, ohne dass die Botschaft, tiefgründig zu verstehen und nicht vorschnell zu urteilen, plakativ ins Bewusstsein gedrängt wird. Vordergründig erzählt er eine spannende Geschichte, eine Verfolgungsjagd aus der Sicht der jugendlichen Verfolgten und von den zwischenmenschlichen Spannungen, die sich aufbauen, eskalieren – und schließlich zusammenschweißen.

Der Erzählton ist sehr überzeugend, hier erzählt eine etwa Siebenzehnjährige von einem unglaublichen Erlebnis, aber die potenziellen Leser sind schon etwas älter als diejenigen des „Marsprojekts“. Die dortigen wirklich sehr leichten Andeutungen zwischengeschlechtlicher Beziehungen beispielsweise beschränken sich auf Begebenheiten wie das Treffen Gleichaltriger; im vorliegenden Roman wird Eschbach schon konkreter, ohne ins Detail zu gehen. Im Endeffekt wird der Leser auch im Unklaren gelassen, ob die beiden nun „was hatten“ oder nicht. Mit Maries Worten: Das geht uns überhaupt nichts an!

Bei einer Verfolgungsjagd darf natürlich nicht nur die Polizei mitspielen, sondern entsprechend der Wichtigkeit und bisherigen Geheimhaltung der „seltenen Gabe“ ziehen die Geheimdienste in Wirklichkeit die Fäden. Erstaunlich ist, dass Marie im Gegensatz zu gängigen Klischees nicht bei Strafandrohung verboten wird, von ihren Erlebnissen zu erzählen, im Gegenteil: Der deutsche Agent meint dazu nur, dass ihr niemand glauben wird. Würde ihr jemand glauben, in unserer beweissüchtigen Gesellschaft? Sicherlich gäbe es ein paar Astrologen und derartige Gruppen, die sich durch so einen Bericht bestätigt sehen würden. Aber Eschbach hat Recht, wenn er behauptet, man würde es als Fantasie abtun oder als Kunststück à la David Copperfield bewundern. Schade, dass nicht mehr Raum bleibt für unbekannte Phänomene.

Zum Schluss

… bleibt noch das Fazit: Ich würde das Buch sogar für den Deutschunterricht vorschlagen, denn Eschbach ist ein Phänomen der heutigen Unterhaltungsliteratur und diese Erzählung bietet zugleich spannende Unterhaltung und Ansatzpunkte für gesellschaftskritische Diskussionen. Aber bezüglich Deutschunterricht habe ich nichts zu sagen, also lege ich das Buch einfach jedem als Lektüre ans Herz.

Langer, Adam – Crossing California

„Crossing California“ ist das Debüt des im Jahre 1967 geborenen Amerikaners Adam Langer. Der Journalist, Bühnenautor und Filmproduzent lebt in New York, stammt aber aus Chicago. In dieser Stadt hat er auch, anders als es der Titel vermuten lässt, seine rund 600 Seiten lange Erzählung angelegt.

„Crossing California“ entführt den Leser in das Chicago anfang der Achtzigerjahre und beleuchtet das Leben dreier Familien in einem jüdisch geprägten Viertel. Die Wasserstroms, Wills und Rovners sind drei Familien, deren Wege sich immer wieder im dem Viertel, das von der California Avenue durchzogen wird, kreuzen. Die California ist eine besondere Straße, denn sie teilt die obere von der unteren Mittelschicht. Westlich der Straße wohnen die Rovners. Vater Michael ist Arzt, seine Frau Ellen Psychologin. Die Tochter Lana wird von der unterkühlten Mutter als penetrant, ehrgeizig und mäßig intelligent eingeschätzt. Ihr älterer Bruder Larry träumt von einer jüdischen Rockkarriere und sexuellen Abenteuern. Etwas weiter östlich wohnen die Wasserstroms. Vater Charlie erzieht seine Töchter Jill und Michelle nach dem Tod der Frau allein. Noch weiter östlich lebt die Afro-Amerikanerin Deidre Wills mit ihrem Sohn Muley. Sie leben in ärmlichen Verhältnissen und das, obwohl Muleys Vater Carl Silverman in Los Angeles Karriere als Plattenproduzent gemacht hat. Deidre verweigert jedoch jeden Kontakt zwischen Muley und seinem Vater sowie jegliche finanzielle Unterstützung.

Zwei Jahre lang begleitet man diese zehn Protagonisten durch ihr Viertel. Abwechselnd widmet sich der allwissende Erzähler den Charakteren, die allesamt mit sich hadern und allzu menschliche Entwicklungen durchmachen müssen. Ellen und Michael Rovners Ehe ist am Ende, beide schlafen in getrennten Betten, sie sehnt sich nach einem Leben allein, er nach sexuellen Abenteuern mit einer Kollegin. Auch bei der Familie Wasserstrom ist eine Menge los: Michelle will Schauspielerin werden, verbringt ihre Freizeit mit Alkohol, Gras und Sex, während die jüngere Schwester Jill im Stillen gegen scheinbar alles rebelliert. Charlie verliert seinen Job bei einem Fast-Food-Restaurant durch einen bissigen Artikel der Journalistin Gail, in die er sich prompt verliebt. Daraus ergeben sich viele kleine Konflikte, meist aus tragikomischen Zufällen heraus. Der Star unter den unterschiedlichen Handlungssträngen ist jedoch die zarte Liebesbeziehung zwischen den Teenagern Muley und Jill, zwischen denen es einfach nicht so recht klappen will, trotz jedes noch so rührenden Annäherungsversuches Muleys.

An dieser Stelle gelangt man aber auch zu den Problemen des Romans. Die vielen Charaktere und Handlungsstränge machen es dem Leser schwer, sich in das Gefüge einzulesen. Ähnlich verhält es sich mit den vielen Ortsbeschreibungen, da hilft auch die abgedruckte Landkarte des Viertels nicht, im Gegenteil: Das Nachschauen in der Karte oder dem Jiddisch-Glossar am Ende des Buches stören den Lesefluss zusätzlich.
Was diesem vielversprechendem Debüt ebenso fehlt, ist die Fähigkeit des Autors, seine Charaktere messerscharf zu charakterisieren, zudem wahrt der Erzähler eine zu große Distanz zu den Charakteren, was das Identifikationspotenzial für den Leser deutlich nach unten korrigiert. Nichtsdestotrotz hat der Roman seine bestechenden Momente, die Annäherungsversuche zwischen Jill und Muley bieten einige davon. Adam Langer bringt aber noch weitere interessante Aspekte in seine Erzählung ein; so versteht er es blendend, die Geschichte der Achtzigerjahre in seine Handlungen einzubinden und möglichst authentisch in seinen Schilderungen zu wirken. Um so bedauernswerter ist es da, dass es ihm aufgrund seiner schwammigen und distanzierten Schreibweise nicht gelingt, den Leser an dieses Buch zu fesseln, so wie es seinen amerikanischen Kollegen John Irving oder Jeffrey Eugenides immer wieder glückt.

Hesse, Andree – Judaslohn, Der

Gute Kriminalromane kommen nicht nur aus Schweden, sondern auch deutsche Autoren brauchen sich hinter ihren skandinavischen Kollegen nicht zu verstecken – so auch Andree Hesse, der seinen Roman in der norddeutschen Stadt Celle spielen lässt und an vielen Stellen eine Vorliebe für Henning Mankell offenbart.

_Mörderisches aus Celle_

Kriminalkommissar Arno Hennings wohnt seit dem Unfalltod seiner Eltern wieder in seinem Elternhaus in Celle. Der Hauptstadt Berlin und seiner Freundin Aglaja hat er den Rücken gekehrt, um seine Arbeit wieder in seiner alten Heimat aufzunehmen. Als auf dem Truppenübungsplatz die Leiche des jungen Soldaten Grafton entdeckt wird, entpuppt sich dieser Fall für Hennings als Bewährungsprobe in seiner neuen Dienststelle. Er übernimmt zusammen mit Sergeant Emma Fuller von der englischen Militärpolizei die Ermittlungen. Doch zunächst tappt die Polizei im Dunkeln, es werden nur wenige Spuren gefunden und weder Täter noch Motiv zeichnen sich ab. Es dauert nicht lange, bis die Polizei einen teuren Mercedes aus einem Teich nahe des Leichenfundortes bergen kann. Als der Besitzer des Wagens ermittelt wird, führt diese Spur zu einer alten Schulbekanntschaft von Arno Hennings, denn das Auto gehört dem Ehemann seiner alten Freundin Heike Harms.

Von Heikes Ehemann fehlt jedoch zunächst jede Spur. Heike vermutet Knut auf einer Geschäftsreise in Polen, doch telefonisch ist er dort nicht zu erreichen. Als eine weitere Leiche auf dem Truppenübungsplatz entdeckt wird, erklärt sich das Verschwinden von Knut Harms von selbst, denn seine Leiche sitzt gefesselt und verdurstet in einem Kellerraum nahe des Fundortes von Private Grafton.

Mitten in die Ermittlungen platzt eine Schreckensnachricht aus Berlin, denn Arnos Freundin Aglaja wurde mit ihrem Fahrrad von einem LKW überrollt und liegt nun schwer verletzt im Krankenhaus. Überstürzt fährt Arno Hennings nach Berlin und handelt sich für sein unüberlegtes Handeln großen Ärger ein. Von nun an ist er mit seinen Gedanken wieder oft in Berlin, doch findet er bald heraus, dass das Motiv für die beiden Morde in der Vergangenheit des Truppenübungsplatzes liegen muss, wo vor dem zweiten Weltkrieg Höfe standen, die 1936 enteignet wurden …

_Hennings vs. Henning_

Andree Hesse hat sich die kleine norddeutsche Stadt Celle mit ihrem benachbarten Truppenübungsplatz der NATO als Handlungsort für seinen Kriminalroman ausgesucht. An vielen Stellen merkt man den zahlreichen Landschaftsbeschreibungen an, dass Hesse selbst in der Nähe von Celle aufgewachsen ist und die Szenerie zu beschreiben weiß. So lässt er sich auch viel Zeit, um Atmosphäre und Stimmung aufzubauen, denn zunächst passiert nicht viel in seinem Buch. Selbst eine kurze Autofahrt von Celle zum Truppenübungsplatz nimmt anfangs einige Seiten ein, damit ganz nebenbei die Örtlichkeiten genauestens beleuchtet werden können. Zu Beginn erfordert dieser Roman daher etwas Durchhaltevermögen, wenn man nicht gerade aus der Gegend kommt und neugierig auf bekanntes Lokalkolorit wartet. Insgesamt stellen die ausufernden Landschaftsbeschreibungen die einzige Herausforderung an den Leser dar, da sie die Handlung nicht voranbringen und manchmal vielleicht etwas zu weit ausholen.

Doch der Autor nutzt die Zeit auch, um seinen Protagonisten Arno Hennings entsprechend vorzustellen und ein Bild von ihm zu entwickeln. Hennings hat sich nach dem Tod seiner Eltern aus der Großstadt zurückgezogen und scheint Zuflucht zu suchen in seinem ehemaligen Elternhaus, auch wenn sich dort die Mäuse wohler zu fühlen scheinen als Hennings selbst. Auch seine Beziehung zur Polin Aglaja steht auf der Kippe, da er sie mit seiner Entscheidung, aus Berlin wegzuziehen, aus heiterem Himmel überrascht hat. Ein wenig erscheint er uns als tragische Existenz, da zudem einige Probleme mit seinem ungeliebten Vorgesetzten hinzukommen und später auch eine Verletzung seiner linken Hand. Hennings kommen oftmals Zweifel angesichts seiner beruflichen Entscheidung gegen Berlin und gegen Aglaja, und gerade ihr Unfall macht ihm klar, wie sehr er noch an ihr hängt und wie oft seine Gedanken zu ihr zurückkehren. Hennings wird uns als Kriminalkommissar mit menschlichen Alltagssorgen vorgestellt, der auch mal Fehler macht und dadurch umso authentischer wirkt. Der treue Krimileser fühlt sich hier an vielen Stellen an den allseits bekannten Kurt Wallander aus den Romanen von Henning Mankell erinnert, zumal selbst der Name der Hesseschen Hauptfigur an den berühmten schwedischen Autor erinnert.

Auch thematisch eifert Andree Hesse seinem schwedischen Vorbild Henning Mankell nach, denn ähnlich wie in „Die Rückkehr des Tanzlehrers“ führt die Spurensuche in „Der Judaslohn“ zurück bis in die nationalsozialistische Zeit. Hesse nimmt sich ebenfalls dieses brisanten Themas an, entwickelt es allerdings leider nicht ganz so überzeugend wie Mankell. Zu vieler Klischees bedient Hesse sich besonders in der Figurenzeichnung der rechtsradikalen Szene, denn es sind heutzutage nicht mehr nur die intelligenzarmen Fußballfans mit Kahlschlag, die in diesem Zusammenhang auftauchen, doch zieht Andree Hesse dieses etwas ausgelutschte und überholte Bild heran, um einige der Nazis zu charakterisieren.

Natürlich darf in der Romanhandlung auch eine starke weibliche Figur nicht fehlen. So arbeitet Hennings zusammen mit der Engländerin Emma Fuller, die vonseiten der britischen Militärpolizei den Fall aufzurollen versucht. Speziell ihr grammatikalisch oft falsches Deutsch und die häufige Verwendung englischer Floskeln zeichnen sie aus. Auf Dauer störte mich ihre fehlerhafte deutsche Satzstellung aber doch, da man beim Lesen zwangsläufig darüber stolpert. Zumindest erspart uns Andree Hesse die üblicherweise sich entwickelnde Liebesgeschichte zwischen den beiden Hauptfiguren, hier nämlich kommen Aglaja und ihr schwerer Unfall wieder ins Spiel und verhindern die Annäherung zwischen Arno und Emma.

Andree Hesses Charakterzeichnungen sind sehr liebevoll, so erhält jede wichtige Person ihren Raum und wird dem Leser vorgestellt, wobei die offensichtlichen Details genauso Erwähnung finden wie Informationen aus der Vergangenheit und Eigenarten der betreffenden Figur. Hesse stellt hierbei unter Beweis, dass er ein Auge für Details hat und sehr gut zu beobachten weiß.

S. 128: |“Kaum hatte ihnen Jutta die Biere serviert und Arno sich eine Zigarette angesteckt, kam Hans mit seinem schwerfälligen Wiegeschritt aus der Küche, in der karierten Hose und der zweireihigen, weißen Jacke des Kochs, auf der ein paar Fettflecken und Saucenspritzer prangten, die großen Füße in weißen Birkenstocklatschen. Eigentlich habe ich Hans immer nur so gesehen, dachte Arno, während er zuschaute, wie sich sein Cousin ein Bier zapfte, ich kenne ihn eigentlich nur in dieser Montur. Grinsend zwängte Hans schließlich seinen massigen Körper auf die Bank neben Emma, die dagegen wie ein kleines Mädchen aussah.“|

_Nichts ist so, wie es scheint_

An den Beginn seines Buches stellt Hesse einen Prolog, der im Jahre 1936 spielt und von den Enteignungen der Höfe rund um Celle und dem Anschlag auf die berühmte Hitler-Eiche durch den Knecht des Falkenhofes erzählt. Doch bevor der Leser richtig versteht, was eigentlich passiert ist, wechselt Hesse in die Gegenwart und widmet sich der Geschichte rund um Arno Hennings. Eine Verbindung zwischen beiden Ereignissen besteht zunächst nur über die Nähe zu Celle, erst nach und nach streut Hesse Hinweise ein, die den Leser auf eine Fährte locken sollen. Mit der Zeit erahnt man den Zusammenhang zwischen dem Falkenhof und den Leichenfunden auf dem Truppenübungsplatz.

Der Spannungsbogen nimmt immer mehr Fahrt auf, da dem Leser im Laufe der Ermittlungen Informationen präsentiert werden, die das eigene Mitarten ermöglichen und eigene Schlüsse zulassen. Darüber hinaus sorgen die realistischen Szeneriebeschreibungen dafür, dass der Leser überall hautnah dabei ist und auf jeder Seite mitfiebern kann. Der Fall spitzt sich immer weiter zu und lässt offenbar nur eine Schlussfolgerung zu, doch damit hat Hesse uns in die Irre geführt, denn nichts ist so, wie es scheint. Das Ende gefiel mir überwiegend sehr gut, wobei ich es allerdings schade fand, dass Hesse einen Handlungsfaden nicht ganz zum Abschluss geführt hat, aber vielleicht geschieht dies in einer möglichen Fortsetzung?!

_Krimikonkurrenz aus Deutschland?_

„Der Judaslohn“ reicht zwar nicht an sein schwedisches Vorbild „Die Rückkehr des Tanzlehrers“ heran, weiß aber dennoch gut zu unterhalten und sich als eigenständiger Kriminalroman davon abzuheben. Andree Hesse verwendet viel Zeit und Mühe darauf, glaubwürdige Figuren zu entwickeln und ihnen ein Profil zu geben; so wirkt besonders das Bild des Kriminalhauptkommissars Arno Hennings stimmig und führt dazu, dass der Leser mit ihm fiebert und ihm beruflichen und privaten Erfolg wünscht, obwohl er doch in seiner alten Heimat etwas fehl am Platze wirkt und teilweise als unerwünschter Außenseiter angesehen wird.

Auch der Kriminalfall weiß zu überzeugen und erhält seinen Reiz durch die Verbindung zur dubiosen Vergangenheit während der nationalsozialistischen Zeit. Gelungen fand ich auch Arno Hennings Begegnung mit seiner eigenen Kindheit und Jugend, da er in Eichendorf alte Freunde und Bekannte wiedertrifft, die ihr gesamtes Leben bislang in dem kleinen Dorf verlebt haben und daher ihre ganz eigenen Ansichten entwickelt haben. Hesse hat hier eine interessante Mischung erschaffen, die den Leser gut unterhalten kann.

Mit nur kleinen Abstrichen bleibt dieser Roman doch äußerst lesenswert und gefällt insbesondere durch die realistische Figurenzeichnung und Landschaftsbeschreibung, die die Handlung lebendig machen. Andree Hesse ist ein Name, den man sich im deutschen Krimigenre unbedingt merken sollte. Ich werde seine weiteren Veröffentlichungen sicherlich verfolgen.

Kureishi, Hanif – Buddha of Suburbia, The

_“What a mess everything had been“_

|Sex, Drugs und Rock ’n‘ Roll – „Genauso war es!“, werden die Dabeigewesenen nostalgisch seufzen. Die später Geborenen werden sich melancholisch wünschen, sie wären einige Jahre eher zur Welt gekommen. Hanif Kureishis Roman „The Buddha of Suburbia“ (dt. „Der Buddha aus der Vorstadt“) lässt die schrillen Siebziger in England wieder aufleben.|

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines ersten Romans war Kureishi bereits bekannt als Dramatiker und Autor von Filmskripten wie „My Beautiful Laundrette“ (dt. „Mein Wunderbarer Waschsalon“). Sein Erstlingsroman „The Buddha of Suburbia“ gewann den |Whitebread Prize| für den besten Roman des Jahres 1990 und wurde 1993 als TV-Serie von der |BBC| ausgestrahlt.

Der Roman steht in der Tradition des englischen Initationsromans (Fielding: „Tom Jones“ z. B.). Die Integrität einer jugendlichen Hauptfigur wird in der heuchlerischen Erwachsenenwelt getestet. Komisch und traurig zugleich sind die Erlebnisse des Helden im „Buddha of Suburbia“, bis er am Ende die Spielregeln dieser Gesellschaft akzeptiert und seinen Platz in ihr gefunden hat.

So begleitet der Leser den adoleszenten, vom Leben gelangweilten Karim Amir („an Englishman born and bred, almost“) auf seinem verzweifelten Versuch, den Londoner Vororten zu entkommen und dabei alle Möglichkeiten zu nutzen, die die 70er und das Leben selbst ihm bieten. Als erstgeborener Sohn aus einer Ehe zwischen einer weißen Engländerin und einem Vater pakistanischer Herkunft muss er mit ansehen, wie die Ehe seiner Eltern zerbricht, weil sein Vater Haroon eine Beziehung mit Eva eingeht, die sich ihrerseits von ihrem Ehemann getrennt hat. Karim folgt seinem Vater, der mit transzendentalem Geschwafel und Evas Hilfe zu einer Art Guru (ironisch: dem Buddha) aufsteigt und Botschaften verkündet wie |“Follow your feelings. All effort is ignorance. There is innate wisdom. Only do what you love.“| (dt. etwa „Folge deinen Gefühlen. Jegliche Anstrengung ist Ignoranz. Es gibt eine gottgegebene Weisheit. Tu nur, was du liebst.“). Wer hört da nicht die |Beatles| „All You Need is Love“ singen und sieht nicht, wie sich Massen bekiffter Amerikaner im Schlamm von Woodstock wälzen?

Im Verlaufe des Romans zieht die neue Familie nach London um, Karim entwickelt sich zum relativ erfolgreichen Schauspieler. Gemäß den Vorstellungen von freier Liebe erlebt er mit so ziemlich allem erotische Abenteuer, was ihm über den Weg läuft – u. a. mit seinem „Stiefbruder“ Charlie (der seinerseits zu einem gefeierten, international erfolgreichen Rockstar wird), mit seiner „Cousine“ (die sich, ebenso wie ihr Mann, mit den Problemen einer von ihrem Vater arrangierten Ehe auseinandersetzten muss) und mit einem Hund (oder besser der Hund mit ihm) – und an allen Orten, die man sich nur denken kann: im Bett, auf dem Boden, im Park, auf öffentlichen Toiletten. Natürlich darf auch die bei Kureishi übliche Szene nicht fehlen, in der ein Pärchen beim Sex beobachtet wird (pikanterweise sein Vater beim Begehen des Ehebruchs).

Ebenfalls typisch für Kureishi ist, dass sein Protagonist sich mit seiner jugendlichen Verwirrung, mit Rassismus auf verschiedenen Ebenen, mit seiner Identitätsfindung und dem Finden eines Lebensziels sowie verschiedenen Formen des Zusammenlebens auseinandersetzten muss. London bietet dabei alle Möglichkeiten sich auszuprobieren: |“There were kids dressed in velvet cloaks who lived free lifes, there were thousands of black people everywhere, so I wouldn’t feel exposed, there were bookshops with racks of magazines, there were shops selling all the records you could desire; there were parties where girls and boys you didn’t know took you upstairs and fucked you; there were all the drugs you could use …“| (dt. etwa: „Es gab Kids in samtenen Umhängen, die ein freies Leben lebten, es gab überall Tausende Schwarze, so dass ich mich nicht exponiert fühlte, es gab Buchläden mit Regalen voller Magazine, es gab Läden, die alle Aufnahmen verkauften, die man sich nur wünschen konnte, es gab Partys, bei denen dich unbekannte Mädchen oder Jungen mit nach oben nahmen, um dich zu ficken, es gab alle Drogen, die man nutzen konnte …“).

Richtig lesenswert wird der Roman jedoch durch Kureishis Humor. Derbe Witze wechseln mit Ironie, Satire oder komischen Anekdoten. Tragikomisch wirkt zum Beispiel der Hungerstreik von Karims Onkel, der damit die arrangierte Hochzeit seiner Tochter mit Changez erpresst. Tragikomisch geht es weiter, wenn dieser Ehemann sich als beleibter Krüppel herausstellt, der nicht in der Lage ist, die Hoffnung seines Schwiegervaters, der sich für ihn fast zu Tode gehungert und Hilfe in seinem Geschäft erwartet hatte, zu erfüllen. Tragikomisch ist auch die Figur des Changez‘ an sich, der sein Wissen über England aus den Romanen Conan-Doyles bezogen hat und hoffnungsvoll in das gelobte Land kommt, um erfahren zu müssen, dass seine Frau lieber mit Karim und später mit anderen Frauen schläft als mit ihm und, dass er seinen pakistanischen Lebensstandard mit Villa und Dienern letztendlich für das Leben in einer Kommune aufgegeben hat.

Dem Autor gelingt es in seinem teilweise autobiographischen Roman, die asiatische und englische Kultur gegenüberzustellen und zu zeigen, wodurch Vorurteile auf beiden Seiten entstehen. Auf ironisch liebevolle Weise führt er den europäischen Leser in eine für ihn fremde Welt ein und zeigt die Auflösung der östlichen Traditionen und Religion in einer Welt sich mischender Kulturen und Völker. Nach knapp 300 Seiten entlässt Kureishi seine Leser mit dem guten Gefühl, dass das Leben zwar verwirrend und chaotisch sein kann, dass es jedoch nicht so bleiben muss.

Zweifelsohne ist „The Buddha of Suburbia“ ein Höhepunkt in Kureishis Schaffen. Ein komischeres, rührenderes, vielschichtigeres und ehrlicheres zeitgenössisches Werk, das soziale Probleme und jene des Erwachsenwerdens mit dieser Tiefgründigkeit behandelt, habe ich bisher weder von Kureishi noch von jemand anderem gelesen. Die Aussagen pendeln zwischen dem Vulgären und dem Ästhetischen, dem Komischen und Ernsthaften, zwischen schwerwiegenden Fragen und dem Lächerlichen sowie zwischen dem Sentimentalen und dem Obszönen.

Als Londonfan und Anhänger des Musikstils der Siebzigerjahre kommen mir das Setting des Romans und die Anspielungen auf Musiker und Bands dieser Zeit entgegen. Wenn man sich in der Musik der Siebziger auskennt (Beatles, Stones etc.) und die entsprechenden Songs im Ohr hat, kann man während des Lesens quasi einen „Soundtrack zum Buch“ hören. Außerdem findet man Anspielungen auf Künstler dieser und der Folgezeit, die auf der gleichen Schule in Bromley wie Hanif Kureishi waren. Die Geschichte des Stiefbruders Charlie „Hero“ ist angelehnt an die Geschichte von David Bowie. Erwähnt wird auch der spätere Billy Idol (Billy Broad).

Alles in allem ist „The Buddha of Suburbia“ ein lesenswerter Roman über das Aufwachsen in den Siebzigern – für mich ist es Hanif Kureishis bisher bester.

_Corinna Hein_
http://www.corinnahein.net/

|Eine deutsche [Neuauflage]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3499241129/powermetalde-21 ist für November 2005 geplant.|

Richard Panek – Das Auge Gottes. Das Teleskop und die lange Entdeckung der Unendlichkeit

Panek Auge Gottes Cover 2004 kleinDas Teleskop sorgte ab 1609 nicht nur für den Blick in die Ferne, sondern setzte auch eine durch Wissen untermauerte und nicht mehr einzudämmernde Entwicklung in Gang, die ein durch die Religion verkrustetes Weltbild durch wissenschaftliche Realität ersetzte … – Dieser dramatische Prozess wird ebenso knapp wie kundig von einem Wissenschaftsjournalisten geschildert. Das scheinbar trockene Thema wird zu einem lebendigen Panorama realer Geschichte: ein Sachbuch mit Vorbildcharakter!

Kleines Rohr mit großer Wirkung

Früher war zwar keineswegs alles besser. Trotzdem ging es in jenen Momenten, in denen Weltgeschichte geschrieben wurde, ein wenig geruhsamer zu. In einer zwar kalten aber klaren Novembernacht des Jahres 1609 war es keine atomspaltende Hightech-Höllenmaschine, die das Universum aus den Angeln hob, sondern eine scheinbar simple Röhre aus Metall, in der zwei Stückchen Glas steckten. Nachdem man diese durch sorgfältiges Schleifen in Linsenform gebracht und in einem gewissen Abstand voneinander innerhalb besagter Röhre befestigt hatte, war ein Instrument entstanden, für das sich alsbald die Bezeichnung „Teleskop“ einbürgerte. „Fern-Sehen” im buchstäblichen Sinne war es, das dem Menschen plötzlich möglich wurde – der Blick auf weit Entferntes, das bisher verborgen und Objekt der Spekulation und des Rätselratens geblieben war.

Dabei galt es zu unterscheiden zwischen dem ‚gewöhnlichen‘ Fernrohr und dem Teleskop. Während ersteres in der Seefahrt oder im Krieg als nützliches Werkzeug sogleich begeistert angenommen und eingesetzt wurde, erschloss sich der Sinn des Teleskops lange Zeit nur einem kleinen Kreis wissenschaftlich interessierter und ausgebildeter Spezialisten. So stark vergrößerten nämlich schon die ersten Teleskope, dass sie für den einfachen Blick in die irdische Nachbarschaft eigentlich unbrauchbar waren. Da der Mensch von Natur neugierig bzw. an seiner Umwelt interessiert ist, war es nur eine Frage der Zeit, bis ein Forscher auf den Gedanken kam, sein Teleskop gen Himmel zu richten.

Auf einen Schlag wurde alles anders. Seit vielen Jahrtausenden beschäftigt sich der Mensch mit den seltsamen Lichtern, die er besonders des Nachts hoch droben am Firmament stehen sieht. Weil er schon immer Ungewissheit hasst und das Spekulieren liebt, bemüht er sich sehr jeher, den Himmel in sein Weltbild zu integrieren. Im christlichen Abendland der frühen Neuzeit war man zufrieden mit dem, was man schon seit der Antike ‚wusste‘: Das Universum war die von Gott als Höhepunkt der Schöpfung geschaffene Erde im und als Zentrum, umkreist von der Sonne, dem Mond und vielen Sternen, von denen man nur wusste, dass sie offenbar klein, kalt und weit entfernt ihre Bahnen zogen und des Nachts dem Reisenden zur Orientierung dienen konnten. So hatte der HERR es eingerichtet, so stand es in der Bibel vermerkt. Kirche, Könige & wer sonst das Sagen hatte auf Erden, war damit zufrieden und achtete darauf, dass diese Welt geozentrisch blieb. Dem Skeptiker musste genügen, dass sich das Establishment inzwischen immerhin dazu bequemt hatte, die Kugelgestalt der Erde als Tatsache anzunehmen.

Jenseits beruhigend überschaubarer Grenzen

Buchstäblich über Nacht war es vorbei mit dem Frieden. Zwar hatte Galileo Galilei (1564-1642), Naturwissenschaftler in der italienischen Universitätsstadt Padua, das Teleskop nicht erfunden. Auch war er nicht der Erste, der damit den Himmel betrachtete. Aber er gehörte zu jenen raren Menschen, denen es in die Wiege gelegt wird, Grenzen zu sprengen und hinter die Kulissen zu blicken. In der eingangs erwähnten Novembernacht schaute deshalb ein Mensch in die Sterne, der nicht nur das Teleskop unter Berücksichtigung bisher wenig bekannter physikalischer Prinzipien entscheidend verbessert hatte, der nicht nur sah und staunte, sondern begriff, was sich in unglaublicher Ferne abspielte. Er war der richtige Mann am richtigen Ort zur richtigen Zeit. In kürzester Zeit entdeckte, erkannte und beschrieb Galilei neue und fremde Welten, schied Planeten von Sternen, identifizierte Monde und begriff die Milchstraße als Ansammlung unendlich vieler Sterne.

Immer neue Sterne fanden Galilei und jene, die es ihm in der nächtlichen Himmelsbeobachtung nachtaten. Das alte Weltbild stürzte ein, als die Erde als Planet und die Sonne als Stern unter Sternen erkannt wurde. Die Einmaligkeit des geozentrischen Sonnensystems konnte nicht länger gehalten werden. Die neuen Erkenntnisse ließen sich nicht in Einklang mit dem biblischen Weltbild bringen. Das war fatal für die Forscher einer Zeit, in der Naturwissenschaftler immer auch Philosophen waren, die ihr Wissen als Teil der von Gott gegebenen Weltordnung betrachteten. Auch Galilei war kein Rebell im Namen der Wissenschaft. Lange Zeit bemühte er sich, seine Beobachtungen ins Gebäude der traditionellen Lehre zu integrieren. Allerdings war dies irgendwann einfach nicht mehr möglich: Was Galilei sah, sprach eine andere Sprache als das, was er zu sehen erwartete und auch sehen sollte. Dies war endgültig der Startschuss zur wissenschaftlichen Revolution, in der er wider Willen eine so prominente Rolle einnehmen würde.

Wissen ist Macht. Kein Wunder, dass es die Diktatoren und selbst ernannten Führer der Geschichte stets sorgfältig unter Verschluss ge- und dem Volk vorenthalten haben. Das Teleskop hat das politische und geistliche Establishment jedoch schlicht überrascht. Es schien nur eine Spielerei zu sein, aber es war tatsächlich das Auge Gottes: Der Mensch konnte ins All blicken, begriff dessen unendliche Weite und wurde sich der eigenen Nichtigkeit bewusst. Vorbei war es mit der eigenen Größe; nicht einmal im eigenen Planetensystem war man mehr Herr im Haus, denn das Teleskop brachte es bald an den Tag, dass sich die Sonne beileibe nicht um die Erde drehte. Stattdessen war es umgekehrt und der Mensch abermals eine Stufe des universellen Throns hinabgepurzelt.

Zäher Kampf um wahre Erkenntnisse

Diese Revolution verlief bekanntlich nicht friedlich. Galileis Schicksal dokumentiert nur eines von vielen Gefechten in diesem Krieg der Weltanschauungen, den die Wahrheit schließlich für sich entscheiden konnte. Wieder trug das Teleskop seinen Teil dazu bei. Wer Augen hatte zu sehen, konnte sich selbst davon überzeugen, dass die ketzerischen Astronomen in der Tat Recht hatten, während die von ihren Gegnern düster prophezeite Anarchie ausblieb. So trugen sie schließlich den Sieg davon und stiegen sogar in eine eigene Forscher-Elite auf: Der nächtliche Sternengucker an seinem Teleskop wurde zum Idol der Massen, die begierig auf neue Sensationen aus dem nahen und fernen All warteten.

Friedrich Wilhelm Herschel (1738-1822), geboren in Hannover aber schon in jungen Jahren nach England emigriert, erntete die Früchte, die Galilei und andere Pioniere gesät hatten. Ihm gelang eine Bilderbuch-Karriere, er wurde in den Adelsstand erhoben und mit Ehren überhäuft. Das Wissen an sich stand nun im Vordergrund; Streit und Kämpfe fanden höchstens in den eigenen Reihen statt, denn auch Forscher sind nur Menschen, die um des Ruhms, der Eitelkeit und des Geldes willen raufen. Das Fundament für das Haus des astronomischen Wissens aber war gelegt, und unter seinem Dach stand das Teleskop, das in den Jahrhunderten nach Galilei imposante Ausmaße angenommen hatte und entsprechend tiefere Einblicke ermöglichte.

Herschel steht für die nächste Stufe der Himmelsforschung: Neben die Suche nach dem Neuen trat die quantitative Auswertung des inzwischen Bekannten. Herschels systematische, sich über Jahrzehnte hinziehende Kartierung des Sternenhimmels ließ einen Sternenkatalog oder Atlas entstehen, der Ordnung in das galaktische Chaos brachte. Der Mensch konnte den Weltraum zwar noch immer nicht bereisen, aber er verirrte sich nunmehr nicht mehr darin, wenn er ihn von der Erde aus musterte – bis sich herausstellte, dass er nur einen mikroskopisch kleinen Teil des Gesamtgefüges kannte. Aktuelle Schätzungen gehen von einem Universum mit 100 Milliarden Galaxien aus, die ihrerseits aus vielen Milliarden Sternen bestehen, um die wiederum Planeten, Monde u. a. Himmelskörper kreisen.

Rekonstruktion des nur scheinbar Selbstverständlichen

Galilei, Herschel, Isaac Newton und anderen Helden der Forschungsgeschichte setzt Richard Panek, Wissenschaftsjournalist für das „New York Times Magazine“ u. a. Zeitschriften ein Denkmal. Der wahre ‚Held‘ ist allerdings jenes Gebilde aus Metall und gläsernen Linsen (später Spiegeln, Parabol- und Deflektor-Antennen etc.), das den Quantensprung des menschlichen Geistes ermöglichte. Eine „Ode an das Teleskop“ nannte die „Berliner Morgenpost“ Paneks Werk (in der Ausgabe vom 11. Oktober 2001).

Wer meint, Sachbücher über ein recht dröges Thema müssten zwangsläufig trocken und langweilig zu lesen sein, wird hier eindrucksvoll eines Besseren belehrt. Panek weiß genau, wie er sein Publikum ködern muss. Virtuos verquirlt er vorzüglich recherchiertes Wissen mit klug ausgewählten historischen Anekdoten zu einem fabelhaft geschriebenen (und übersetzten) Sachbuch. „Gegen den Frost rieb er [F. W. Herschel] sich mit rohen Zwiebeln ein, während sein Atem am Teleskop und die Tinte im Faß gefror …“: Das waren noch Zeiten! Bemerkenswert ist auch die Geschichte des Teleskop-Veteranen George Ellery Hale, der sich in Zeiten übergroßen Forscherstresses von einer Elfe beraten ließ.

Da ist kein Wort zu viel, wird nie der gefürchtete pädagogische Zeigefinger sichtbar, fehlt völlig die erbauliche Verklärung einsam-entschlossener Heroen der Wissenschaft, mit der hierzulande die lesende Jugend gar zu vieler Jahrzehnte für dumm verkauft wurde. Galilei war eben nicht der Cary Cooper der Forschung, der von der bösen Kirche 12 Uhr mittags in die Kerker der Inquisition geworfen werden sollte. Die geistige Revolution der frühen Neuzeit fand auf einem ganz anderen Niveau statt. Sie zu veranschaulichen ist keine leichte Aufgabe, denn die Prozesse, die dabei abliefen, waren höchst komplex, Aber Panek schafft es mit Leichtigkeit und bereichert das gar nicht so breite Spektrum von Sachbüchern, die man gern liest, weil sie ebenso kompetent wie leicht verständlich – den echten Fachmann erkennt man daran, dass er sich nicht hinter Fachausdrücken & Zitaten verstecken muss – die Welt als Wundertüte der Natur schildern und jene, die wissen wollen, wie sie denn tickt, in ihren Bann ziehen.

Taschenbuch: 197 Seiten
Originaltitel: Seeing and Believing – How the Telescope Opened Our Eyes and Mind to the Heavens (London : Penguin 1998)
Übersetzung: Dieter Zimmer
http://www.dtv.de

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (8 Stimmen, Durchschnitt: 1,50 von 5)

Franzen, Jonathan – 27ste Stadt, Die

Spätestens seit dem grandiosen Erfolg seines 2001 mit dem |National Book Award| prämierten Romans [„Die Korrekturen“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=1233 ist Jonathan Franzen in fast aller Munde. Wann immer es um moderne amerikanische Literatur geht, wird Franzen gerne als Vergleich bemüht, wirkt er doch gleichermaßen lesevergnügen- wie umsatzversprechend. Umsatzversprechend erschien es dem |Rowohlt|-Verlag offensichtlich auch, nach dem Verkaufsschlager „Die Korrekturen“ einmal ganz tief in der Schublade zu wühlen und die Druckmaschinen mit Franzens Erstling von 1988 zu füttern. Zwischen beiden Werken liegen schon allein zeitlich Welten und inwiefern den „Korrekturen“-begeisterten Leser eine sozusagen „Olle Kamelle“ wie „Die 27ste Stadt“ vom Hocker zu hauen vermag (oder vielleicht auch nicht), soll sich im Folgenden klären.

St. Louis, die ehemals so blühende Metropole im Mittleren Westen, ist zum Zeitpunkt der Geschichte Mitte der Achtziger eine stagnierende Stadt. Stand sie früher noch auf Rang 4 der wichtigsten US-Städte, so ist sie zwischenzeitlich auf einen mageren 27. Platz abgesackt. Der Glanz früherer Tage ist verschwunden und die Stadt erreicht aufgrund der begrenzten Fläche ihre Wachstumsgrenze. In dieser Zeit erhält St. Louis einen neuen Polizeichef: S. Jammu – eine Frau und obendrein eine Inderin. Wirkt sie zunächst jung, sympathisch und zerbrechlich, so entpuppt sie sich schon bald als harter Brocken. Gnadenlos räumt sie in den Problemstadtteilen auf und bewirkt eine Senkung der Kriminalitätsrate.

Doch sonderbarerweise taucht etwa gleichzeitig eine nicht minder sonderbare Terrorgruppe auf. Bomben explodieren, Schüsse fallen, die Gewalt greift um sich, doch Jammu, als strahlender Stern am Polizeihimmel von St. Louis, ist stets Herrin der Lage. Wer sich hinter dem Terror verbirgt, bleibt den Bürgern von St. Louis unklar.

Auch das Leben der Familie Probst macht in dieser Zeit eine Reihe merkwürdiger Veränderungen durch. Tochter Luisa geht plötzlich eigene Wege, für Familienvater Martin Probst brechen harte Zeiten an. Dabei hat er als Vorsitzender des Wachstumsvereins von St. Louis und großer Bauunternehmer stets großes Ansehen genossen. Schließlich hat Probst den „Arch“, das Wahrzeichen von St. Louis, erbaut. Mit der Zeit beginnt die heile Welt der Vorzeigefamilie Probst zu bröckeln.

Gibt es zwischen dem Terror und dem Zerfall der Familie einen Zusammenhang? Martin mag das nicht so recht glauben, während Sam Norris, sein sturköpfiger Freund aus dem Wachstumsverein, eine groß angelegte Verschwörung vermutet – genau genommen eine indische Verschwörung …

Die Erwartungen an „Die 27ste Stadt“ konnten eigentlich nur zu hoch sein, nachdem Franzen mit den „Korrekturen“ so zu begeistern wusste. Sein ausgefeiltes Portrait des Zerfalls einer amerikanischen Familie ist sicherlich ein Glanzpunkt am Buchmarkt der letzten Jahre. Die Euphorie ist damit also berechtigt. Wenn dann aber vom gleichen Autor ein Buch hervorgekramt wird, das bereits mehr als 15 Jahre auf den Buckel hat, sollte man mit hochgesteckten Erwartungen lieber vorsichtig sein, denn wer vorher „Die Korrekturen“ gelesen hat, der hat in gewissem Sinne schon die Sahne abgelöffelt.

Was bleibt, ist dennoch mehr als kalter Kaffee, aber eben ohne Sahne. „Die 27ste Stadt“ lässt Franzens großes Talent zwar immer wieder aufblitzen, hat aber dennoch nicht durchgängig Klasse genug, um auf ganzer Linie zu überzeugen. Die Ansätze dessen, was Franzen auch gerade mit Blick auf „Die Korrekturen“ so brillant gemacht hat, sind zwar erkennbar, das Buch damit sicherlich für Franzen-Fans interessanter Stoff, dennoch fehlt am Ende das gewisse Etwas, das man vielleicht auch deswegen vermisst, weil man aus der Rückschau eben weiß, dass er es Jahre später viel besser machen wird.

Ein wenig wirkt „Die 27ste Stadt“ wie ein Roman, der nicht so recht weiß, was er will. Die Komposition verheißt Großes, keine Frage, aber man wird dabei das Gefühl nicht los, dass Franzen sich damit etwas verschätzt. Ein ehrgeiziges Buch hat er geschaffen, das Kritik am Zerfall der amerikanischen Gesellschaft übt, im Großen, sprich auf sozialer Ebene, wie im Kleinen, anhand der Familie Probst geschildert. Während im Vordergrund der Handlung wirtschaftlicher Aufschwung den Beginn einer neuen Epoche für St. Louis verheißt, verfallen im Hintergrund die moralischen Werte. Aufstieg und Zerfall gehen Hand in Hand, was als Grundkomponente des Romans absolut überzeugend wirkt.

Auch der Mikrokosmos der Familie Probst, den Franzen sehr detailliert beobachtet, genau genommen nicht nur beobachtet, sondern richtig gehend seziert, bleibt als Stärke im Gedächtnis. Franzen zeigt damit, was er auch Jahre später in den „Korrekturen“ besonders überzeugend anzulegen weiß: Das mikroskopisch genaue Portrait einer Familie.

Der Kern also überzeugt auch schon in Franzens Erstlingswerk, was aber hier und da Kopfschmerzen verursacht, ist der Rahmen. Weiß die „indische Verschwörung“ als ironischer Seitenhieb anfangs noch zu überzeugen (schließlich heißen im Englischen sowohl Inder als auch Indianer |Indians|), so bleibt das ganze Verschwörungsgerüst über die kompletten 670 Seiten leider ziemlich wackelig.

Wer was warum macht, geht ein wenig unter. Die Motive bleiben genauso blass wie der Sinn und Zweck der Verschwörung, und man hat als Leser das Gefühl, man würde manchmal einen Schritt hinterherhängen. Die Verschwörungsgeschichte wirkt ein wenig so, als wäre sie einfach nur Mittel zum Zweck. Mit ihrer Hilfe vollzieht Franzen den moralischen Zerfall der Gesellschaft und im Speziellen das Zerbröckeln der heilen Strukturen der Familie Probst. Aber vielleicht wäre das anhand eines anderen Handlungsrahmens überzeugender gewesen.

Franzens Hang zum Darlegen sämtlicher Details lässt ihn manchmal über das Ziel hinausschießen. Es tauchen unheimlich viele Figuren auf, die Erzählung wird in unheimlich viele einzelne Erzählstränge aufgesplittet, dass es hier und da schon mal etwas undurchsichtig werden kann. Bei manchen Figuren weiß man auch am Ende nicht so ganz, warum sie eigentlich in die Handlung eingebracht wurden. Das Einordnen der Figuren in den Gesamtzusammenhang fällt etwas schwer, vor allem weil die Erzählebenen sehr unterschiedlich ausbalanciert sind. Es gibt Figuren, die tauchen nur in kurzen Zwischenblenden auf und es fällt nicht ganz leicht, dabei den Überblick nicht zu verlieren.

Auch der Spannungsbogen kommt nicht ohne Kritik davon. Sehr ausschweifend geht Franzen die Geschichte an, baut dabei zwar auch eine dichte Atmosphäre auf, kommt aber im Mittelteil des Buches manchmal nicht so recht von der Stelle. Die Geschichte stockt ein wenig, zieht dann aber zum Ende hin unheimlich das Tempo an. Im Finale überschlagen sich die Ereignisse derart, dass das Buch zu einem wahren „Pageturner“ wird, und erst in den letzten Kapiteln beginnt die Geschichte sich mit aller Macht so richtig zu entfalten. Die unterschwellige Thrillerthematik kommt erst hier vollständig zum Tragen. Über die ersten zwei Drittel des Buches wird sie mehr angedeutet, als dass sie wirklich durchbrechen kann.

Was Franzen auf erzählerischer Ebene an Punkten verliert, bügelt er sprachlich wieder aus. Auch Franzens Erstling zeichnet sich durch sprachliche Treffsicherheit aus. Wohlakzentuierte und stimmige Vergleiche erzeugen beim Lesen reichhaltige Bilder. Figuren und Handlungen wirken durch Franzens gekonntes Formulieren sehr lebendig. Der Roman hat vor allem auch auf sprachlicher Ebene eine faszinierende Tiefgründigkeit.

Unterm Strich stellt man das Buch nach der Lektüre mit eher gemischten Gefühlen zurück ins Bücherregal. Einerseits deutet sich schon in Franzens 88er Werk an, was er später in den „Korrekturen“ zur vollen Entfaltung bringt, andererseits wirkt „Die 27ste Stadt“ nicht immer ganz ausgereift. Franzen hat unverkennbare Stärken im sprachlichen Bereich, wie auch im mikroskopisch genauen Beobachten seiner Figuren und im Schildern der Mechanismen und Denkweisen innerhalb der Familie. Der Handlungsrahmen, in dem er sein Können entfaltet, wirkt allerdings etwas überzeichnet und unpassend. „Die 27ste Stadt“ ist somit sicherlich kein Buch, das man unbedingt gelesen haben sollte, aber Zeitverschwendung ist die Lektüre definitiv auch nicht.

Richard Matheson – Die seltsame Geschichte des Mr. C

matheson mr c cover kleinDas geschieht:

Ein Mann wird gejagt: Scott Carey, Mann der Mittelklasse wie aus dem Bilderbuch, wollte bei seiner Jagd nach dem American Way of Live nur einen Ruhetag einlegen. Mit seinem Bruder unternahm er einen Bootsausflug – und wurde vom radioaktiven Niederschlag eines Atombomben-Tests getroffen. Seitdem schrumpft Carey jeden Tag konstant um 3,6 Millimeter. Sein Leben hat sich in einen ewigen Albtraum verwandelt. Die Ärzte können ihm nicht helfen, die Medien verfolgen ihn, Ehefrau und Kind werden ihm zusehends fremd: Vater ist nicht mehr der Beste in der Familie Carey, und das bedrückt Scott mindestens ebenso wie sein ungewisses Schicksal.

Mehr als ein Jahr währt der Horror, der Carey Stück für Stück seines normalen Lebens beraubt. Die Menschen betrachten ihn als kuriose Missgeburt, und der zunehmend paranoide Mann wird emotional immer instabiler. Ins gesellschaftliche Abseits gedrängt, leidet Carey unter der Einsamkeit. Er fühlt sich schuldig, als seine Familie in wirtschaftliche Not gerät, weil er, der doch die Position des Oberhauptes und Brötchenverdieners ausfüllen müsste, in seiner Aufgabe ‚versagt‘. Dennoch kommt die finale Krise rascher als befürchtet, als die Hauskatze die Gelegenheit nutzt, sich für einige Unfreundlichkeiten ihres einstigen Herrn zu rächen. Dieser entkommt dem Untier zwar knapp, verirrt sich dabei jedoch in den Keller des Hauses. Richard Matheson – Die seltsame Geschichte des Mr. C weiterlesen

Luceno, James – Star Wars – Labyrinth des Bösen

|“Ich habe hier etwas für dich. Dein Vater wollte, dass du das hier bekommst, wenn du alt genug bist. Aber dein Onkel war dagegen. Er fürchtete, du könntest dem alten Obi-Wan auf irgend so einem törichten idealistischen Kreuzzug folgen wie einst dein Vater.“|
Obi-Wan zu Luke Skywalker (Episode IV – Eine neue Hoffnung)

Autor James Luceno, der sich bereits mit den Star-Wars-Romanen „Der Untergang“ und „Die letzte Chance“ seine Sporen im Universum des George Lucas verdiente, schickt die beiden Helden Obi-Wan und Anakin in den Endspurt, an dessen Ende das Finale in Episode III steht. So betrachtet, erlebt der Leser hier einen Teil dieses törichten Kreuzzuges, den Obi-Wan in dem eingangs erwähnten Zitat anspricht.

Vizekönig Nute Gunray ist auf der Flucht. Nach den ersten Intrigen, die zu den Auseinandersetzungen auf Naboo (Episode I) und später auf Geonosis (Episode II) führten, hat die Handelsförderation immer mehr Raum einbüßen müssen. Auf großer Breite befinden sich die Separatisten auf dem Rückzug. Viele haben sich bereits in Territorien am äußeren Rand eingeigelt. Anakin, der ein sehr persönliches Interesse daran hat, dass Gunray gefasst wird – da der Vizekönig mitverantwortlich für das Bombenattentat auf Padmé war (Episode II) –, muss die einstweilige Flucht des Vizekönigs in Kauf nehmen. Allerdings bleibt in der Festung des Flüchtigen ein mechanischer Stuhl zurück, dessen Holoaufzeichnungen einzigartige Bilder offenbaren: Darth Sidious.

Endlich, nach so langer Zeit, gibt es konkrete Beweise für einen weiteren dunklen Lord der Sith. Auch Yoda hatte schon vermutet, Count Dooku sei der geheimnisvolle Mann im Hintergrund, doch nun scheint es sicher zu sein, dass Dooku auch nur ein Schüler ist.

Derweil hat sich auf Coruscant vieles zum Schlechten gewendet. Die Notstandsgesetze erlauben es den Soldaten, sich überall und zu jeder Zeit Zutritt zu verschaffen und Kontrollen sowie Verhaftungen durchzuführen. Die Sicherheit der Regierungswelt ist trügerisch. Kanzler Palpatine schirmt sich hinter einer Unmenge von Beratern und einer illegalen, ganz in rot gewandeten Schutztruppe ab.

Die Einsprüche von Senatoren, allen voran Bail Organa und Padmé Amidala, die eine Entschärfung der strengen Sicherheitsbestimmungen wollen, werden von Palpatine charmant abgeschmettert.

Allerdings verblassen die Einsprüche der Senatoren vor den kommenden Ereignissen. Die Jedi aus Coruscant setzen sich auf die Spur von Sidious und sind ihm alsbald hautnah auf der Spur. Diese Entwicklungen gefallen Sidious und Tyranus alias Count Dooku überhaupt nicht. Doch schnell hat der Sith-Lord seine Pläne neu geordnet. Während Dooku ein Ablenkungsmanöver startet, leitet General Grievous einen Angriff auf Coruscant einzig mit dem Ziel, Kanzler Palpatine zu entführen. Der Krieg hält mit aller Macht auf der Regierungswelt Einzug.

Der vorliegende Star-Wars-Roman ist kein reiner Abenteuer-Roman. Er ist auch eine Geschichte, die die Aufgabe hat, Geheimnisse zu lüften und Zusammenhänge herzustellen. Angesichts der gesammelten Informationen, die hier vorgebracht werden, scheint es eine unglaubliche Aufgabe zu werden, Episode III ohne diese Hintergrundinfos zu verstehen.

Zwei zentrale Themen sind hier ganz besonders interessant. Count Dooku wird rigoros als Lord Tyranus enttarnt, jenen Sith-Lord, der das Werk des Jedi Sifo-Dias fortführte. Meister Sifo-Dias gab dereinst die Klon-Armee in Auftrag. Tyranus beseitigte nicht nur den Jedimeister, sondern auch noch jegliche Daten, die auf den Auftrag hinweisen konnten, ja sogar den Planeten Kamino, den Herstellungsort der Klone, löschte er aus den Archiven des Jeditempels.

Der andere wichtige Aspekt ist die Vorstellung des Generals Grievous. Grievous ist ein Cyborg, der in die Falle der dunklen Lords Sidious und Tyranus tappte. Grievous fiel einem Unfall zum Opfer und wurde in das Maschinenwesen umgewandelt, um dereinst die Droidenarmeen der Sith anzuführen. Ausgestattet mit sechs Gliedmaßen, wird Grievous nur von einem angetrieben: dem Hass auf die Jedi. Sein Wunsch: einmal dem jungen Anakin Skywalker im Kampf gegenüberstehen.

Obwohl das Cover eine solche Begegnung nahe legt, kommt es nicht dazu. Andererseits werden die Zuschauer der dritten Staffel der |Clone Wars| im letzten Viertel des Romans einiges von der Handlung wiedererkennen, einiges wird jedoch völlig neu sein.

Die Zeichentrickserie |Clone Wars|, welche die Lücke zwischen „Angriff der Klonkrieger“ und „Die Rache der Sith“ schließt, ist eindeutig für ein jüngeres Publikum bestimmt. Im vorliegenden Roman wird weniger Rücksicht genommen, einige Szenen und Personen sind durchaus bekannt, aber vieles nimmt eine völlig andere Wendung.

Eine kleine Anekdote am Rande erklärt auch ein wenig die Merkwürdigkeit, dass C3-PO und R2-D2 sich im Verlauf von Episode IV bis VI nicht an ihre Vergangenheit erinnern können. Ein silberner Protokolldroide namens TC-16 (ein ähnlicher sprechender Wasserfall wie C3-PO) hatte eine Begegnung mit einem Sith-Lord in den Tiefen von Coruscant. Seither scheint er über seherische Fähigkeiten zu verfügen. Er gibt C3-PO während der Kampfhandlungen auf Coruscant einen wichtigen Hinweis: Sollte dereinst einmal jemand C3-PO anbieten, den Gedächtnisspeicher zu löschen, solle er annehmen. Das sei besser, als in ständiger Angst und Verwirrung weiterzuexistieren.

|“Über tausend Generationen lang sind die Jedi-Ritter in der alten Republik die Hüter des Friedens und der Gerechtigkeit gewesen. Bevor es dunkel wurde in der Welt, vor dem Imperium.“|
Obi-Wan zu Luke Skywalker (Episode IV – Eine neue Hoffnung)

„Labyrinth des Bösen“ spannt einen guten Bogen hin zur „Rache der Sith“, spannend, mit vielen Auflösungen und Andeutungen, die nicht nur für die absoluten Star-Wars-Fans interessant sind. Beide Daumen rauf!

_Michael Nolden_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de veröffentlicht.|

David L. Robbins – Tage der Entscheidung

Das geschieht:

Europa im Frühjahr 1945: Nazideutschland liegt am Boden. Auch wenn es sich noch heftig wehrt, beginnt es der Übermacht seiner mutwillig selbst heraufbeschworenen Feinde zu erliegen. Im Westen macht sich die Armee der amerikanisch-britischen Alliierten bereit, die Rheingrenze zu überspringen und gen Elbe zu stürmen: Der Krieg hat das deutsche Kernland erreicht. Im Osten fiebert ein gewaltiges Heer darauf, Hitler heimzuzahlen, was er und seine verblendeten Untertanen dem russischen Volk angetan haben.

Der endgültige Sieg der einen und die vollständige Kapitulation der anderen Seite ist nur mehr eine Frage von Monaten. Aber noch bevor der Wolf erlegt ist, beginnen die Jäger um sein Fell zu streiten. Wer wird die Nazis vor den Augen der Welt endgültig zur Strecke bringen? Dreh- und Angelpunkt solcher Überlegungen ist Berlin, die Reichshauptstadt, in der Hitler und sein Mord-Regime sich verschanzt haben. Wer Berlin nimmt, wird der Geschichte als eigentlicher Sieger dieses Weltkriegs gelten. David L. Robbins – Tage der Entscheidung weiterlesen

Heitz, Markus – Schatten über Ulldart (Die Dunkle Zeit 1)

|Caradc erbrach Blut, tiefrot lief die Flüssigkeit über die Kleidung auf die Fliesen, füllte dort kleine Rillen und Unebenheiten der Oberfläche aus. „Tadc … Gefahr … jemand … töten“, heulte der Visionär und sackte zusammen. Er packte Matuc im Genick und zog dessen Ohr an seinen Mund. „Die Dunkle Zeit … kehrt zurück“, flüsterte er.|

Diese Prophezeiung des Mönchs Caradc versetzt den ganzen Kontinent Ulldart in Angst und Schrecken. Man schreibt das Jahr 436 nach Sinured, auf den sich diese Prophezeiung bezieht. Alle 111 Jahre droht die Wiederkehr des bösen Gottes Tzulan, dessen schrecklicher Heerführer Sinured und seine Monsterhorden eine Schreckensherrschaft errichteten, die erst eine Allianz aller Völker Ulldarts unter der Führung ihres Schutzgottes Ulldrael besiegen konnte. Sinured wurde mit seiner schwarzen Galeere auf der Flucht im Meer versenkt, Tzulan von den Göttern bestraft und der Legende nach seine Augen als zornig rot funkelndes Doppelgestirn an den Himmel geheftet.

Für Bruder Matuc ist klar: Stirbt Prinz Lodrik, der „Tadc“ und somit Thronfolger des Kabcar (Königs) von Tarpol, bricht die Dunkle Zeit über das Land herein. Der geheime Rat des Ulldrael-Ordens trifft Vorkehrungen, das Leben des Prinzen unter allen Umständen zu schützen.

Dieser ist jedoch ein fetter Nichtsnutz, über den jedermann spottet, sein stolzer Vater hält ebenfalls wenig von ihm und ist enttäuscht von seinem Sohn, der ganz und gar nicht nach dem Eroberergeschlecht des Hauses Bardric schlägt. Deshalb schickt er ihn mitsamt seinem weisen Berater Stoiko Gijuschka und dem starken Leibgardisten Waljakov unter einer Tarnidentität nach Granburg. Das soll nicht nur das Leben des spöttisch „Keksprinz“ genannten Sohnes schützen, er muss nach den Wünschen seines Vaters dort regieren lernen und ein Mann werden! Unter der Anleitung der beiden verliert Lodrik an Speck, lernt einiges über Politik und beweist ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Seine Reformbemühungen stoßen bei den selbstherrlichen Brojaken (Großbauern) auf Widerstand, doch seine Reformbemühungen bringen ihm den Respekt des Brojaken Miklanowo ein, der ein enger Freund und Berater des Gouverneurs wird, – und die Liebe seiner Tochter Norina.

Doch seltsame Kreaturen, die so genannten „Beobachter“, suchen Lodrik auf und nennen ihn „Hoher Herr“. Er selbst nimmt die Exekution eines Aufrührers vor, der für viel Unheil in der Provinz sorgte – und wird von einem Blitz getroffen. Doch er stirbt nicht, seine Augen glühen jedoch oft in einem unheimlichen Licht, die Flammen des Feuers verfärben sich in seiner Gegenwart. Schließlich erreicht eine Nachricht aus Ulsar den Prinzen: Der Kabcar ist tot! Lodrik macht sich umgehend auf den Rückweg in die Hauptstadt …

Derweil beunruhigen den geheimen Rat Nachrichten von Sumpfkreaturen, welche die alte Hauptstadt Sinureds wieder aufbauen. Der Freibeuter Torben Rudgass befördert einen seltsamen Passagier, der sich als tödlicher und skrupelloser Assassine entpuppt. Der Mönch Matuc wird noch einmal vor den geheimen Rat gebeten, um den exakten Wortlaut der Prophezeiung Caradcs zu wiederholen. Zur Bestürzung aller stellt sich dieser als zweideutig heraus: Ist Lodrik nun der Retter Ulldarts oder der Bote Tzulans? Der Rat entscheidet sich für Letzteres, Matuc erhält den heiligen Auftrag, Lodrik zu ermorden.

Der in solchen Dingen wenig erfahrene Mönch trifft auf seiner Mission die Kensustrianerin Belkala, eine Priesterin Lakastras. Mit dieser freundet er sich nach anfänglichen Problemen (er wollte sie als Ketzerin aufhängen lassen) an, und gewinnt mit ihrer Hilfe den übermäßig stolzen Ritter Nerestro von Kuraschka vom Orden der Schwerter des Gottes Angor als Eskorte.

Der 1971 geborene Markus Heitz, studierter Germanist und Mediävist sowie passionierter Rollenspieler, ist mittlerweile zum Shooting-Star der deutschen Fantasy geworden. Neben den sehr populären „Die Zwerge“ und „Der Krieg der Zwerge“ schrieb er bisher Romane für die Shadowrun-Serie. „Die Dunkle Zeit“ wurde 2003 mit dem Deutschen Phantastik-Preis für das „Beste Roman-Debüt National“ ausgezeichnet.

„Die Dunkle Zeit“ ist ein mittlerweile abgeschlossener Romanzyklus, der zuerst beim |Heyne|-Verlag erschien und mittlerweile von |Piper Fantasy| vertrieben wird. Der damalige fünfte Band wurde gesplittet und Kürzungen beseitigt bzw. der Roman ergänzt und erweitert, deshalb besteht die Serie bei |Piper| aus folgenden sechs Teilen:

1. Schatten über Ulldart
2. Der Orden der Schwerter
3. Das Zeichen des dunklen Gottes
4. Unter den Augen Tzulans
5. Die Magie des Herrschers
6. Die Quellen des Bösen

Ein 7. Band, „Trügerischer Friede“, ist geplant, dieser wird jedoch Auftakt des Folgezyklus „Die Zeit des Neuen“ sein.

Markus Heitz verdient ein großes Lob: Fantasyzyklen dieses Umfangs kennt man normalerweise nur aus den USA, man denke nur an David Eddings „Belgariad“-Saga oder Raymond E. Feists „Midkemia“-Romane. Mit diesen wird dieser Zyklus hinsichtlich des Weltentwurfs beziehungsweise hinsichtlich vieler archetypischer Charaktere verglichen, und ganz kann man dies nicht abstreiten.

Dennoch lassen sich diese Zyklen schwerlich miteinander vergleichen. Heitz hat den Ansatz eines Rollenspiel-Leiters gewählt: Er hat bekannte Figuren und Welten neu miteinander kombiniert, variiert und so mehr oder minder seine eigene, fantastische Welt geschaffen. Diese mag zwar nicht originell sein, denn bei vielen Figuren erinnert man sich sofort an ihr literarisches Vorbild, aber gut geklaut ist immer noch besser als schlecht erfunden.

So möchte ich hier nur die Beschreibung Sinureds anführen, der von seinen Feinden auch „Das Tier“ genannt wurde: Schwarze, verbrannte Haut, glühende Augen und eine gewaltige eiserne Rüstung. Auf dem Schlachtfeld führte er eine eisenbeschlagene Deichsel als Keule.

Mir drängte sich hier das Bild Saurons auf, der im Intro des „Herr der Ringe“ auch gegen eine Allianz aller Völker streitet und ebenfalls mit einem riesengroßen Streitkolben um sich schlägt. Geradezu Spoiler-Charakter hat die Prophezeiung hinsichtlich Lodriks, der seine edlen und guten Motive zunehmend mit brutalen Mitteln erreicht. Lodrik ist quasi der Darth Vader der Fantasyliteratur. Norina kann man getrost als das Äquivalent zu Anakins Padme ansehen, der in den Folgebänden auftretende Mortva Nesreca geht problemlos als dunkler Sith Lord durch, er wird Lodrik zum Entsetzen seiner Berater immer mehr „auf die dunkle Seite“ ziehen.

Diese Figuren sind etwas zu offensichtlich entliehen, aber das tut der Handlung keinen Abbruch. Finesse und subtile Charakterschilderungen sucht man zwar vergebens, alle Charaktere sind von vorneherein klar gezeichnet als gut oder böse, bis auf Lodrik, dessen weitere Entwicklung aber schnell absehbar ist. Dafür hält sich Heitz nicht lange mit Plänkeleien auf, er kommt zu Sache, die Handlung geht flott voran, es passiert immer irgendwo etwas auf der Welt. Sei es bei dem sympathischen Freibeuter Torben Rudgass, dem so wenig zueinander passenden Trio Infernale aus Priester, Fanatiker und Ketzerin – sprich Matuc, Nerestro und Belkala – oder bei meinen persönlichen Lieblingen, dem pralinenfressenden König Perdon von Ilfaris (das natürlich berühmt für sein Konfekt ist) und seinem schlauen Berater und Hofnarr Fiorell, die mit ihrem umfassenden Geheimdienst stets über die Lage in Ulldart Bescheid wissen und diese auf lustige und launige Weise kommentieren.

Alles in allem schlägt zu oft der Rollenspieler in Heitz durch, die klaren Archetypen und Charakterisierungen sind leider dementsprechend auch nicht mehr als Rollenspielfassade – aber auch nicht weniger. Unterhaltung und Abenteuer pur sind garantiert. In diesem Band hält Heitz sich angenehm zurück hinsichtlich des Erzähltempos, auch erlaubt er sich keine allzu verwunderlichen Patzer wie plötzliche Kehrtwendungen moralischer Art oder nicht nachvollziehbares Vertrauen zu einem dahergelaufenen Möchtegern-Verwandten bei unverständlichem Misstrauen gegenüber alten Freunden.

Der Einstiegsroman ist in dieser Hinsicht wesentlich besser als die Folgebände, die weniger ausgereift und teilweise gar hektisch erzählt werden. Die Vielfalt der Welt übertüncht sehr gut den nicht vorhandenen Tiefgang. Was Eddings mit Humor und Augenzwinkern erreichte, macht Heitz mit Tempo und Vielfalt und teilweise sogar originellen Einfällen wett. Mit komplexeren Weltentwürfen wie denen eines Robert Jordan, George R.R. Martin oder Raymond E. Feist kann sich seine Kreation aber nicht messen, in dieser Hinsicht sollte man nicht zu viel erwarten.

_Fazit:_ Ein kurzweiliger Zyklus mit echten Pageturner-Qualitäten. Der Plagiarismus kann bisweilen jedoch stören, ebenso die viel zu simplistische Schwarz-Weiß-Zeichnung der Charaktere. Aber Heitz hat sich erwiesenermaßen gute, erfolgreiche Ideen und Konzepte ausgeliehen und damit seine eigene Welt geschaffen, der es demzufolge nur ein wenig an Eigenständigkeit mangelt.

An einem jedoch gewiss nicht: Kurzweiliger, spannender, abenteuerlicher Unterhaltung – und das ist immer noch das Wichtigste. Wer anspruchsvollere Fantasy mit Tiefgang, neuen Ideen oder Szenarien sucht, wird hier nicht fündig. Wer jedoch von ewigen Endloszyklen genug hat, die Klassiker bereits kennt und einfach nur gut unterhalten werden will, kann bedenkenlos zugreifen.

Die einheitliche (das Amulett Tzulans vor einem jeweils wechselnden Farbhintergrund) und sehr ansprechende Neugestaltung der Romancover durch den |Piper|-Verlag setzt sich auch bei der Formatierung des Buchtextes und der Kapitelüberschriften fort, was zu dem wertigen Gesamteindruck beiträgt. Leider biegt sich der Buchrücken bereits nach einmaligem Lesen deutlich durch. Über eine mangelhafte Übersetzung kann man sich bei einem deutschen Autor naturgemäß nicht beschweren, das Lektorat hat zudem einige beklagte Rechtschreib- und Grammatikfehler der |Heyne|-Ausgabe bereinigt.

Homepage des Autors bzw. des Ulldart-Zyklus:
http://www.mahet.de/ und http://www.ulldart.de/

Cadbury, Deborah – Dinosaurierjäger. Der Wettlauf um die Erforschung der prähistorischen Welt

Lyme Regis, ein kleines Städtchen an der Südküste Englands (Grafschaft Dorset), zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Wie praktisch an jedem Tag ihres an Mühen und Nöten reichen, aber ansonsten bitter armen Lebens durchstreift die junge Handwerkertochter Mary Armstrong die Kalk- und Schieferklippen, die sich über der Stadt erheben. Dort findet sie manchmal eingebettet im Gestein merkwürdige Abdrücke, „Fossilien“ genannt, die an Muscheln oder Schnecken erinnern, sowie versteinerte Knochen wesentlich größerer Kreaturen. Die Touristen schätzen solche Kuriositäten und zahlen dafür, worin sich Marys Interesse an besagten Fossilien zunächst erschöpft.

An einem (leider historisch nicht genau einzugrenzenden) Tag des Jahres 1811 zieht Mary (scheinbar) nicht nur das große Los, sondern gibt gleichzeitig den Startschuss zur Entstehung eines neuen Zweigs der Naturforschung: Im Gesteinsschutt oben erwähnter Klippe entdeckt sie das perfekt erhaltene Skelett einer bizarren Kreatur, die man später zutreffend als „Fischechse“ (Ichthyosaurus) bezeichnen wird.

Bis es so weit ist, werden aber einige Jahre ins Land gehen, denn noch gibt es keine Wissenschaft, die sich mit der Erdgeschichte beschäftigt. Kein Wunder, denn es gilt als der Weisheit letzter Schluss, was im biblischen Buch Genesis geschrieben steht: Gott schuf die Welt in sieben Tagen mit allen ihren Bewohnern – und Punkt: Was damals aus dem Urschlamm geknetet wurde, kreucht & fleucht auch heute unverändert umher; Ausfälle lassen sich höchstens durch die Sintflut erklären, die einiges sündhafte Getier vom Erdboden tilgte.

Wehe dem Frevler, der es wagt, am biblischen Wort zu rühren! In Oxford oder Cambridge und an den übrigen Universitäten Großbritanniens gehören die Dekane stets der mächtigen anglikanischen Kirche an. Auch der Naturwissenschaftler William Buckland sieht sich als Geistlicher Zeit seines Lebens in der verzwickten Lage, die „Untergrundkunde“ oder Geologie, die er in seinem Heimatland quasi gründet, mit der Bibel in Einklang zu bringen; ein elendes Unterfangen, das die junge Wissenschaft immer wieder auf ein totes Gleis zu zwingen droht, während die immer zahlreicheren Funde eine ganz andere Sprache sprechen.

Da haben es die Franzosen besser. Selbstbewusst schüttelt Napoleon die geistigen Fesseln der Kirche ab. Zwar schmachtet er schon wenig später im Inselexil von St. Helena, aber die Saat ist aufgegangen: In Paris feiert die Naturwissenschaft Triumphe. Der große Georges Cuvier, eine auch auf den britischen Inseln bald anerkannte Koryphäe, akzeptiert die Beweise für eine Welt, die nicht nur weitaus älter ist als man sich das bisher vorstellen mochte, sondern auch bevölkert wurde von Wesen, die es heute nicht mehr gibt.

In Lewes, einer kleinen Stadt im ländlichen Sussex, steht derweil der Schuhmachersohn Gideon Mantell in den wissenschaftlichen Startlöchern. Ein gutes Stück abseits der akademischen Zentren Englands wird er zwar von der Gelehrtenwelt lange schnöde mit Missachtung gestraft, kann sich aber andererseits autodidaktisch zu einem echten Fachmann der Geologie heranbilden, ohne dass ihm die argwöhnische Kirche Knüppel zwischen die Beine wirft. Die Kreidefelsen der South Downs stellen eine unerschöpfliche Fundgrube für Fossilien dar, so dass sich die Beweise für eine urzeitliche Welt schließlich nicht mehr unterdrücken lassen. Womöglich belegen die versteinerten Überreste noch eine weitere ketzerische Theorie: Die „Evolutionisten“ behaupten, dass Lebewesen sich im Laufe langer Zeiträume verändern, wobei – Schock! – Gottes lenkender (oder strafender) Arm nicht zwangsläufig vonnöten sei.

Der arme Buckland ist zwar ein Freigeist (und Exzentriker, der seinen Hausgästen gern gebutterte Mäuse auf Toast kredenzt und einen echten Bären hält, den er bei akademischen Feierlichkeiten als Student verkleidet auftreten lässt), aber kein Rebell. Immer schwerer fällt es ihm, Wissenschaft und Religion in Einklang zu bringen, ohne seine geistlichen Gönner vor den Kopf zu stoßen. Doch obwohl die Fossilienforschung nun in ihre zweite Phase eintritt, kann sie sich weiterhin nicht von der biblischen Schöpfungsgeschichte lösen.

1825 betritt der Mann die Szene, der frischen, aber auch fauligen Wind in die Naturwissenschaft bringen wird: Richard Owen ist kein Geologe, sondern Anatom. Er geht bei seinen Untersuchungen von einem anderen Ansatz aus und kann sich außerdem auf die Grundlagenforschung seiner Vorgänger stützen. Diesen Vorgang gilt es mit Bedacht zu erwähnen, denn Owen ist nicht nur ein brillanter Geist, der maßgeblich die „normale“ Geologie um die eigentliche Paläontologie erweitert, sondern auch ein skrupelloser Karrierist. Aus einfachen Verhältnissen stammend, eignet er sich neben einem bemerkenswerten Fachwissen auch die Fähigkeit an, den Reichen und Mächtigen zu gefallen. Das lässt ihn ganz nach oben kommen und geht einher mit dem systematischen „Abschuss“ aller, die ihm auf seinem Weg in den Olymp der Naturwissenschaftler hinderlich oder gar gefährlich werden könnten. Jedes Mittel ist dem jungen Aufsteiger recht, der auch vor übler Nachrede, bewusstem Missbrauch der ihm verliehenen Vorrechte und offener Manipulation keineswegs zurückschreckt.

Erst sind es nur direkte Konkurrenten, die Owen zum Opfer fallen, aber bald wagt er sich auch an kapitaleres Gelehrtenwild. Der ebenfalls ehrgeizige, aber grundehrliche Gideon Mantell hat sich in langen, entbehrungsreichen Jahren zu einem der führenden und auch in London den wissenschaftlichen Ton angebenden Fossilkundlern entwickelt. Doch das Schicksal meint es nicht gut mit ihm; während Owen Stein für Stein das Fundament seiner Karriere setzt und dabei ebenso mächtig wie angesehen und vor allem reich wird, erleidet Mantell Schiffbruch. Sein Traum vom eigenen Fossilienmuseum endet im Ruin, seine Frau verlässt ihn, ein schwerer Unfall macht ihn zum Krüppel, eine unheilbare Krankheit verurteilt ihn zu Depression und elendem Siechtum. Mit eisernem Willen setzt er seine wissenschaftliche Arbeit fort – und kommt dabei ohne bösen Willen Richard Owen in die Quere. Dieser bedient virtuos die Instrumente der Macht und setzt erbarmungslos alles daran, den geschwächten Konkurrenten nicht nur zu verdrängen, sondern vorsichtshalber zu vernichten. Der unglückliche Mantell gehört anders als Owen nicht zu „den Jungs“ und beherrscht die Regeln dieses Spiels nicht. Allzu lange bleibt ihm unklar, dass Talent, Fleiß und Erfahrung längst nicht die wichtigsten Stützpfeiler einer Karriere sind. Auch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sind Verbindungen alles, und der Rest ist PR in eigener Sache. Auch hier legt Owen echtes Naturtalent an den Tag und lädt gebauchpinselte Sponsoren und potenzielle Gönner schon einmal pressewirksam zum Dinner in der Bauchhöhle eines lebensgroßen Saurier-Modells ein.

Bald beherrscht Richard Owen unangefochten die britische Paläontologen-Szene. Auch auf dem Kontinent hat er sich ein Netzwerk von Verbündeten und einen ihm ergebenen Hofstaat geschaffen. Der Wunsch nach wissenschaftlicher Allmacht und Unsterblichkeit treibt ihn zum Äußersten: Owen errichtet ein akademisches Terrorregime, das der forschenden Konkurrenz praktisch eigene Aktivitäten verbietet. Außerdem beginnt er, die Erfolge von Kollegen zu unterdrücken oder gar für sich zu beanspruchen. Für den unglücklichen Mantell ist der Tag der endgültigen Niederlage gekommen, als nicht er, der als verlachter und ignorierter Pionier in aufopferungsvoller Kleinarbeit die Skelette prähistorischer Riesen-Reptilien geborgen und beschrieben hat, diesen ihren Namen geben darf, sondern Owen: „Dinosaurier“ – Schreckensechsen – lautet seit 1841 der nun, da dieses traurige Kapitel der Paläontologie allmählich bekannt wird, recht doppeldeutige Ordnungsname.

Die Rechnung geht auf: Schon lange bevor Gideon Mantell 1852 starb, war er, der sich nicht mehr wehren konnte, fachlich ins Abseits gedrängt, während der robuste Richard Owen als hell strahlender, aber einsamer Stern alles überstrahlte. Mit zunehmendem Alter nahmen seine intellektuellen Fähigkeiten ab, während sein politisches Geschick ungebrochen blieb. Kühne Genialität und wissenschaftliche Klarsicht wurde erst durch Cäsaren- und dann durch Verfolgungswahn ersetzt. Owen schadete der Naturwissenschaft letztlich so, wie er sie in jungen Jahren zu ihrem Nutzen geprägt hatte – eine tragische, vor allem aber düstere Geschichte, die lange unter den Teppich gekehrt wurde, denn die unheilvollen Folgen der Owen-Ära sollten die britische Paläontologie noch lange begleiten.

Dass heute dieser Schleier auch vor den Augen des Laien, dessen Kenntnisse in Sachen Dinosaurier sich auf den Besuch der drei „Jurassic Park“-Kinofilme beschränken, fortgerissen wird, verdanken wir der englischen Wissenschafts-Journalistin Deborah Cadbury. In guter alter, im MTV- und Privat-TV-Zeitalter fast schon vergessen geglaubter BBC-Tradition und Güte präsentiert sie eine Geschichte, die nur den absoluten Ignoranten kalt lassen dürfte. Wissen ist immer faszinierend, wenn es denn nicht nur papageienhaft nachgeplappert, sondern strukturiert und fesselnd vorgetragen wird. Wo sich in diesem Punkt die Spreu vom Weizen trennt, markiert Cadbury mit dem vorliegenden Werk, das im angelsächsischen Sprachraum nicht ohne Grund zum Bestseller avanciert ist.

Ohne Furcht vor staubigem Kalk und alten Knochen steigt Cadbury hinab in die Gewölbe der Forschungsgeschichte – und recherchiert nicht nur fesselnd den dornenreichen Weg zu der Erkenntnis, wie die Welt und ihre Bewohner wurden, was sie heute sind, sondern auch einen echten Krimi um Betrug, Intrige und (Ruf-)Mord in einem Umfeld, das gewöhnlich nicht mit solchen Untaten in Zusammenhang gebracht wird. Die Wissenschaft bzw. jene, die sich ihr widmen, gelten als hehre Geister, die im Dienst ihrer Sache dem kleinlichen Hader des normalsterblichen Alltags weit enthoben sind. Wer einmal selbst in der Forschung tätig war, kann über diese Haltung freilich nur laut oder müde (je nachdem ob mehr Owen oder mehr Mantell) lachen. Forscher sind auch nur Menschen, und vielleicht trifft dieser Spruch sogar noch mittiger ins Schwarze, da im akademischen Elfenbeinturm über dem hamsterhaften Sammeln von Wissen die Entwicklung sozialer Kompetenzen nicht selten zu kurz kommt. Der Fall Richard Owen – und das ist er tatsächlich – ist ein Paradebeispiel für die Pervertierung von Privilegien, für Vetternwirtschaft und das Versagen jener Selbstregelmechanismen, die in der Wissenschaft angeblich die Wahrheit immer ans Licht kommen lassen. Das ist mitnichten so, und dies nachzulesen ist deprimierend, aber höllisch spannend, weil Cadbury ihren Stoff so fabelhaft im Griff hat. Wenn man im Jahr nur ein Sachbuch liest, gehört dieser Band auf die Liste der möglichen Kandidaten!

p. s.: Noch eine weitere Lektion über die Ungerechtigkeit gefällig? Im Jahr 1847 starb in Lyme Regis Mary Armstrong. Vier Jahrzehnte hatte sie Wind und Wetter getrotzt, war in den Kalkklippen umhergeturnt, hatte mit der Findigkeit des echten Entdeckers wunderbare Fossilien zum Vorschein gebracht und sich selbst zu einer versierten Expertin ausgebildet. Und doch starb sie als arme Frau, deren Verdienste zu würdigen nie einer der hohen Herren und Sammler ihres Landes für nötig fand, eine bittere Ungerechtigkeit, die ihr sehr wohl bewusst war und die ihr die späten Jahre vergällte.

Isaac Asimov – Die Stahlhöhlen (mit: Die nackte Sonne) [Foundation-Zyklus 2]

Der Heyne-Verlag bringt derzeit den „erweiterten Foundation-Zyklus“ neu in einer einheitlichen Ausgabe heraus – ohne dabei allerdings chronologisch vorzugehen. So erschienen die Bände, die direkt mit der Foundation in Verbindung stehen, zuerst, und erst nach und nach folgen die frühen Romane, mit denen Asimov den Brückenschlag zwischen seinen beiden großen Werken vollführte: Robotergeschichten und Foundation. Der erste Band der Reihe, „Meine Freunde, die Roboter“, umfasst die wichtigsten und bekanntesten Robotergeschichten, in denen Asimov „Die drei Gesetze der Robotik“ formulierte und in jede denkbare Richtung diskutierte.

Erstes Gesetz:
„Ein Roboter darf keinem menschlichen Wesen Schaden zufügen oder durch Untätigkeit zulassen, dass einem menschlichen Wesen Schaden zugefügt wird.“

Zweites Gesetz:
„Ein Roboter muss Befehlen gehorchen, die ihm von menschlichen Wesen erteilt werden, es sei denn, diese Befehle stünden im Widerspruch zum Ersten Gesetz.“

Drittes Gesetz:
„Ein Roboter muss seine eigene Existenz schützen, es sei denn, dies stünde im Widerspruch zum Ersten oder Zweiten Gesetz.“

Im zweiten, vorliegenden Band „Die Stahlhöhlen“ finden sich die zwei Romane „The Caves Of Steel“ und „The Naked Sun“. Hier sind bereits zwei menschliche Gesellschaften anzutreffen, aus denen Asimov das spätere Galaktische Imperium entwickeln sollte. Die so genannten „Spacer“ sind Nachkommen der ersten großen Siedlungswelle der Menschheit, sie besiedeln fünfzig fremde Planeten, die so genannten „Äußeren Welten“. Durch Genmanipulation sind sie sehr langlebig, da einigermaßen keimfrei, allerdings auch sehr anfällig bereits gegenüber für Erdenmenschen unbemerkbaren Bakterien. Daraus entwickelte sich eine Angst vor Ansteckung, die schließlich zur Isolation der Erde führte. Außerdem benutzen die Spacer Roboter und entwickelten sie weiter, so dass sie auch technisch der Erde überlegen sind. Ihre Isolationspolitik und ihre instabile Immunität verhindert eine weitere Ausbreitung der Spacer über die bewohnbaren Welten der Galaxis.

Auf der Erde werden Roboter gehasst. Man sieht in ihnen vor allem Konkurrenten um die Arbeitsplätze, aber die Regierung kooperiert mit den Spacern, die sich für eine langsame Einführung der Roboter in die irdische Gesellschaft aussprechen.
Die Menschen leben in gigantischen Städten, riesige Bauten aus Stahl (= die Stahlhöhlen) und haben schon seit Generationen kein natürliches Licht oder die Freiheit unter offenem Himmel gesehen. Hier hat sich sogar eine Phobie entwickelt.

Es gibt eine kleine, abgegrenzte Siedlung der Spacer auf der Erde, und genau dort geschieht ein unerhörtes und für die wackeligen Beziehungen gefährliches Verbrechen: Ein Spacer wird ermordet! Elijah Baley, Ermittlungsbeamter der Polizei, wird auf den Fall angesetzt. Ihm zur Seite steht der absolut menschliche Roboter R. Daneel Olivaw, der ursprünglich dazu gebaut wurde, sich unauffällig unter den Menschen zu bewegen.

Baley fängt an, Informationen zu sammeln, tappt aber mehrmals in Sackgassen, ehe sich Licht am Horizont zeigt. Und plötzlich findet er sich in einer Intrige wieder, durch die ihm eine schlimme Bestrafung droht.

Der Autor

Isaac Asimov wurde 1920 in der Sowjetunion geboren, 1923 schon wanderten seine Eltern nach New York aus. Asimov studierte Chemie und arbeitete zeitweise als Dozent; bereits im Studium schrieb er seine ersten Kurzgeschichten. Er war ein sehr produktiver Autor, der neben Science-Fiction-Erzählungen auch populärwissenschaftliche Bücher veröffentlichte. Neben Robert A. Heinlein und Arthur C. Clarke zählt man Asimov zu den bedeutendsten SF-Schriftstellern des zwanzigsten Jahrhunderts. Er starb im Jahr 1992.

Ein „typischer Asimov“

Stilistisch gesehen, ist Asimov ein Unikat. Seine Romane sind geprägt durch Dialoge, die nur skizzierte Beschreibungen und beschriebene Handlung zulassen und trotzdem eine farbige Welt für die Vorstellung des Lesers entwerfen, in die er sich versenken kann. Gleichzeitig stellen sich den Protagonisten oft knifflige Aufgaben, die meist eine Jagd nach Informationen nach sich ziehen und im Kopf gelöst werden, ehe der Protagonist in einer verbalen Konfrontation die Lösung präsentiert und etwaige Täter überführt. Asimovs Geschichten erhalten dadurch oft den Anstrich einer Kriminalgeschichte, zumal die Protagonisten meist im Auftrag einer gerechten Organisation handeln (wie zum Beispiel Lucky Starr die Robotpsychologin Susan Calvin, die wiederum Anfang 2005 in dem ansonsten recht stimmigen Film „I, Robot“ sehr untypisch dargestellt wurde).

Elijah Baley ist Ermittlungsbeamter, passt also hervorragend in das typische Asimov-Muster. Im ersten Teil kommt Baley etwas christlich daher, kennt scheinbar die gesamte Bibel auswendig und zitiert mehrmals moralische Stellen. Es lässt sich aber zum Glück bemerken, dass dieser Charakterzug einen wichtigen Teil in der Stimmung der Geschichte ausmacht, indem er dem unpersönlichen R. Daneel einen Hauch Menschlichkeit verleiht.

Asimov stellt dem Leser nacheinander die Charaktere vor und fängt uns in einem Netz aus Indizien, die fast jeden für die Tat (es handelt sich in beiden Teilen um Mord) denkbar erscheinen lassen. Im ersten Teil ist das Rätsel sogar noch undurchsichtiger für uns, das tut dem zweiten Band allerdings keinen Spannungsmangel an, denn gekonnt werden wir durch die Details geleitet, aus denen sich die Welt der Menschen (Erdlinge und Spacer) zusammensetzt, und viele von Baleys Gedankengängen bleiben uns ebenso verborgen wie seinem Partner Daneel oder den Außenstehenden. So werden wir von Asimovs immer bestechender Logik überrascht, mit der er Baley die Fälle aufdröseln lässt, bis sich die Erkenntnis einstellt.

Es ist erstaunlich, wie detailliert Asimov eine Welt zu beschreiben vermag, indem er eine Ermittlung in einem Mordfall durchführen lässt. Dass dabei wieder einmal die Gesetze der Robotik attackiert und überprüft werden, macht erstens die Geschichte für den interessierten Leser noch lesenswerter und spricht außerdem für Asimovs Ehrgeiz, seine ambitionierteste Entwicklung hieb- und stichfest zu untermauern.

Es gibt ein paar kleine Schönheitsfehler, von denen einige wahrscheinlich in der Übersetzung gesucht werden müssen. So heißt Baleys Frau, genannt Jessie, zuerst noch „Jezebel“, was in biblischer Form „Isebel“ bedeutet. Am Ende des ersten Bandes wird es so dargestellt, als heiße sie wirklich Isebel. Noch härter ist, dass sie im zweiten Band plötzlich mit „Jessica“ vorgestellt wird … Einzig wirklich geärgert hat mich, als mir ein gedrucktes „frägt“ in die Augen sprang. Bisher war ich der Meinung, so was gäbe es wirklich nur umgangssprachlich, aber keinesfalls sollte es in einem Buch auftauchen! Nun, dagegen verblassen Kleinigkeiten wie „dass er neben mir gesessen war“ und solche Dinge.

Bleibt als Fazit zu ziehen, dass der Doppelroman wirklich außerordentlich unterhaltsam ist, für jederman empfehlenswert, der sich an der interessanten Art von Asimovs Stil und Logik erfreuen kann. Und glücklicherweise bleibt uns die Gewissheit, dass ein Roboter uns nicht ersetzen kann, denn „er ist zwar logisch, aber nicht vernünftig“.

Der erweiterte Foundation-Zyklus

Meine Freunde, die Roboter
Die Stahlhöhlen
Der Aufbruch zu den Sternen
Das galaktische Imperium
Die frühe Foundation-Trilogie
Die Rettung des Imperiums
Das Foundation-Projekt
Die Foundation-Trilogie
Die Suche nach der Erde
Die Rückkehr zur Erde