
Albert Sánchez Piñol – Pandora im Kongo weiterlesen
Archiv der Kategorie: Belletristik
Toutonghi, Pauls – Geschichte von Yuri Balodis und seinem Vater, der eigentlich Country-Star war; Die
_Von großen und kleinen Umbrüchen_
|“‚Die Geschichte von Yuri Balodis und seinem Vater, der eigentlich Country-Star war‘ ist ein Buch voller Geschichten und über Geschichte, meiner Meinung nach.“| – würde Rudolf Balodis vielleicht sagen, wenn man ihn bäte, die Handlung des überaus komplexen Romans von Pauls Toutonghi kurz zu umreißen. Vermutlich würde der dauerbetrunkene lettische Familienvater, der sich in Amerika seinen Traum vom Country-Star-Dasein erfüllen wollte und stattdessen Nachtwächter in einem Autohaus geworden ist, dabei ein Glas Bourbon in der Hand halten und von seinem Balkon aus auf das zehntärmste Wohnviertel Amerikas schauen, während seine Frau leise seufzend die Haare ihres Sohnes Yuri verwuschelt. Im Grunde ist Familie Balodis mit ihrem Leben jedoch ganz zufrieden, wäre da nicht das Entsetzen darüber, dass sich der Filius ausgerechnet einer sozialistischen Parteigruppe angeschlossen und sich Besuch aus der alten Heimat angesagt hat, was zusammengenommen sämtliche Wunden der Vergangenheit aufreißt.
Der amerikanische Autor Pauls Toutonghi mit lettischen und ägyptischen Wurzeln schildert, autobiografisch inspiriert, die Geschichte einer Familie in der Zeit des Umbruchs in den Jahren um 1989. Die Mauer in Deutschland ist gefallen. Die Sowjetunion bricht zusammen. In Milwaukee feiert Familie Balodis den Sieg über ein Machtsystem, welches den Großvater für zehn Jahre in einen Gulag verbannt hatte, der Yuris Vater folterte, verkrüppelte und ihm keine andere Wahl ließ, als Familie und Freunde mit seiner Frau auf einer abenteuerlichen und menschlich degradierenden Flucht für immer hinter sich zu lassen. Der Leser hat aufgrund der abgewrackten Existenz des Mannes den Eindruck, dass Yuris Vater trotz des kleinen Körnchens Wahrheit, das in den Geschichten verborgen sein mag, eigentlich nur ein liebenswerter Spinner ist. Erst auf den letzten Seiten offenbart der Autor die ganze Tragik der Geschichte und lässt den Leser betroffen und gleichzeitig gerührt zurück. So kauzig und tragikomisch die Helden dieses Romans aber sein mögen, Pauls Toutonghi beschreibt sie doch stets herzlich und voller Wärme, so dass man diese auch noch Tage nach der Lektüre vor dem geistigen Auge behält. Leider ist „Rudolf Balodis“ längst gestorben, doch er wäre mit Sicherheit stolz auf seinen Sohn, der ihm und seiner Familie mit diesem Roman kritisch, aber voller Liebe ein Denkmal gesetzt hat.
Yuris Teenagerleben wird zunächst von diesem historischen Hintergrund wenig beeinflusst. Er kennt die Heimat seiner Eltern nur von Geschichten, die sein Vater manchmal wie Märchen erzählt. Die lettische Sprache und alle Erinnerungen haben die Balodis konsequent aus ihrem betont amerikanisch eingerichteten Leben verbannt. Yuri soll als ganz normaler amerikanischer Teenager aufwachsen. Doch durch seine Liebe zu Hannah, die mit ihrem Vater in einer sozialistischen Parteigruppe aktiv ist, stehen sich mit den beiden Familien plötzlich zwei grundverschiedene politische Ansichten gegenüber. Yuri ist zum ersten Mal gezwungen, sich über ein komplexes Thema eine eigene Meinung zu bilden, und zwischen dem Respekt für seine Familie und dem Unverständnis für ihre Ansichten hin- und hergerissen. Dazu kommen die verwirrenden Gefühle der ersten Liebe, die Yuri dazu verleiten, eine Straftat zu begehen, die zunächst ungesühnt bleibt, jedoch sein Gewissen belastet. Und als wäre alles noch nicht kompliziert genug, nistet sich plötzlich die Verwandtschaft in Gestalt von Onkel, Tante, Cousin sowie Großtante in der kleinen Dreizimmerwohnung mit ein und denkt scheinbar gar nicht daran, jemals wieder nach Lettland zurückzukehren.
Um diese chaotische Zeit überstehen zu können, um in ihr zu reifen und zu wachsen, wird es somit höchste Zeit für den jungen Bücherwurm, vom Leben selbst statt nur aus den Geschichten anderer zu lernen. Da sich die Erwartungen seiner Eltern an das Land der unbegrenzten Möglichkeiten für sie selbst nicht erfüllt haben, ist es nun erst recht an Yuri, die ihm gebotene Freiheit zur Entfaltung einer eigenen Persönlichkeit zu nutzen. Humorvoll (besonders in den Dialogen) sowie berührend, ohne rührselig zu wirken, erzählt Toutonghi seine melancholische Geschichte vom Scheitern des amerikanischen wie des sozialistischen Traums und doch von einem neuen Anfang im ausgehenden 20. Jahrhundert, in welchem jeder Mensch seinen ganz individuellen Weg finden und leben muss.
|Originaltitel: Red Weather
Deutsch von Eva Bonné
366 Seiten, kartoniert
ISBN-13: 978-3-87134-634-7|
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Tokarczuk, Olga – Unrast
Olga Tokarczuk ist eine der bekanntesten und auch erfolgreichsten zeitgenössischen Autorinnen Polens. Mehrmals hat sie den |NIKE|, den wohl wichtigsten polnischen Literaturpreis, gewonnen, unter anderem für das jetzt auch auf Deutsch erschienene Buch „Unrast“ – es wurde 2008 sowohl mit dem Preis der Jury als auch mit dem Leserpreis ausgezeichnet.
Die Bezeichnung „Buch“ ist durchaus mit Bedacht gewählt, denn schon bei der Einordnung in ein literarisches Genre sträubt sich Tokarczuks „Unrast“ unwillig. Es ist weder ein Roman noch ein Band mit Erzählungen. Man kann es weder als Kurzgeschichtensammlung noch als Essayband bezeichnen. Stattdessen borgt es von allen diesen Gattungen und bildet somit einen Hybriden, ein fragmentarisches Gedankenspiel der Autorin zum Thema Reisen, Globetrotten und Unterwegssein. Die Übersetzerin Esther Kinsky hat mit „Unrast“ einen treffenden deutschen Titel für Tokarczuks Sammelsurium von Gedankenspielen, Aphorismen, Notizen und Geschichten gefunden. Er bezeichnet sehr genau die stete Bewegung, die Unfähigkeit zum Verweilen, die Tokarczuk im modernen Menschen ausgemacht hat – die dieser aber gleichzeitig von seinen urzeitlichen Vorfahren, den Nomaden, geerbt hat.
Es ist schwer, einen kurzen Überblick dessen zu vermitteln, was der Leser in „Unrast“ vorfinden wird. Es gibt keine übergeordnete Handlung; nichts, das sich im klassischen Sinne nacherzählen ließe. Manchmal ist Tokarczuk knapp, bietet dem Leser kaum mehr als eine Momentaufnahme auf einem Flughafen, einen vermeintlich spontan heruntergeschriebenen Geistesblitz oder eine Beobachtung. Manchmal beschäftigt sie sich indes eingehender mit Figuren, Orten oder Ideen. In „Unrast“ finden sich neben ganz kurzen Formen auch Kurzgeschichten oder Erzählungen, die sich über mehrere Kapitel erstrecken, jedoch nicht zwingend aufeinanderfolgen. Da geht es um einen Mann, der auf einer Urlaubsinsel seine Frau und seinen Sohn quasi verliert. Da geht es auch um eine Frau, die eines Abends beschließt, nicht zu ihrem Mann und behinderten Kind zurückzukehren, und stattdessen ihre Tage in der U-Bahn verbringt, ständig von einer Endhaltestelle zur nächsten fahrend. Da geht es auch um das Leben Philip Verheyens, eines Chirurgen und Anatomen aus dem 17. Jahrhundert, der nach einer Beinamputation sein Bein konserviert aufbewahrt und immer wieder untersucht.
Überhaupt die Medizin. Tokarczuk ist studierte Psychologin und hat in ihrer Jugend einige Jahre in diesem Beruf gearbeitet. Das kommt auch „Unrast“ zugute, am auffälligsten in ihren Essays zur „Reisepsychologie“, die durchaus auch ironisch zu lesen sind. Doch hat Tokarczuk für „Unrast“ offensichtlich ein neues Steckenpferd ausgemacht: nämlich die Haltbarmachung des menschlichen Körpers in Lösungen oder mit Hilfe der Plastination. Oft und ausgiebig beschäftigt sie sich mit der Zusammensetzung der Alkohollösung für Präparate von menschlichen Embryonen. Sie beschreibt Sektionen und einen Rundgang durch von Hagens Panoptikum plastinierter Leiber. Sie erfindet einen Mann, dessen Interesse für die Anatomie bei der Betrachtung der Gläsernen Frau im Dresdner Hygiene-Museum geweckt wurde. Sie begeistert sich für die Schönheit von Innereien oder die Fantasie der Natur, wenn sie von missgebildeten Embryos spricht. Doch warum diese Faszination für den in seine Einzelteile zerlegten Körper? Dieses schonungslose Sezieren? Vielleicht ist es die Tatsache, dass für den modernen Nomaden der Körper der einzige stete Begleiter ist. Vielleicht ist es die Frage, wo oder wie eine Seele diesem in Alkohol eingelegten Körper einst Leben einhauchte. Vielleicht ist es eine Illustration der Tatsache, dass Verheyens Bein, das in einem Glas vor ihm auf dem Tisch steht, trotzdem immer noch Teil eines Ganzen ist: „(…) dass das, was einmal ein Ganzes darstellte, dann aber in einzelne Teile zerschlagen wird, immer noch auf unsichtbare, schwer zu ergründende Weise innig miteinander verbunden bleibt. Die Natur dieser Verbindung ist nie eindeutig und wird unter keinem Mikroskop zu erkennen sein.“
Der Zusammenhang des Zersplitterten, Fragmentarischen mit dem Ganzen, dem kompletten Bild ist es, was Tokarczuk interessiert. Darum attestiert sie sich selbst wohl auch ein „episodisches Bewusstsein“. Sie ist der Meinung, dass menschliche Wahrnehmung wie ein Bienenauge funktioniert, das tausende Einzelbilder aufnimmt und diese dann zu einer Ganzheit zusammenfügt. Insofern sind auch die Puzzleteile aus „Unrast“ als ein großes Bild zu betrachten. Wer Tokarczuk hier unzusammenhängend und ziellos findet, der hat sich nicht auf den Text eingelassen, der hat einzelne Geschichten nur insulär betrachtet, jedoch nicht im Zusammenhang mit ihren Nachbarn.
Das jedoch fordert Tokarczuk immer wieder subtil ein. Sie arbeitet sich nicht nur an Themen ab, die sie schon immer interessiert haben (z. B. Zeit, Tod oder Gender) und stellt „Unrast“ damit in Beziehung zu ihren früheren Büchern. Gleichzeitig verknüpft sie ihre Texte auch untereinander durch Motive oder fast unauffällige Wiederholungen. Wie ein Spinnennetz durchziehen diese das Buch und beweisen, dass tatsächlich alles miteinander in Verbindung steht.
Im Original heißt Tokarczuks Buch „Bieguni“, nach einer orthodoxen Sekte, die annahm, dass nomadisches Leben und der totale Rückzug aus der realen Welt der einzige Weg seien, dem Teufel zu entkommen. Tokarczuk beschreibt Reisende, Nomaden, Suchende – kurz, die Bewegung. Ganz zu Anfang postuliert einer ihrer Charaktere den folgenden Gedanken: „(… mir wurde klar), dass aller Gefahren zum Trotz das, was in Bewegung ist, immer besser sein wird als das, was ruht, dass der Wandel edler ist als die Stetigkeit, dass das Unbewegliche Zerfall und Auflösung anheimfallen muss und zu Schutt und Asche wird, während das Bewegliche sogar ewig währen wird.“
Insofern bleibt nur zu hoffen, dass Olga Tokarczuk nie zum Stillstand kommt und dass sie weiterhin durch die stete Bewegung ihres Federhalters auf dem Papier dem Teufel entwischt. Die Alternative wäre ein allzu herber Verlust für die polnische Literatur.
|Originaltitel: Biegun
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
456 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-89561-465-1|
Saramago, José – Eine Zeit ohne Tod
|“Am darauffolgenden Tag starb niemand.“|
So unauffällig und doch eindringlich beginnt der Literaturnobelpreisträger [José Saramago]http://de.wikipedia.org/wiki/Jos%C3%A9__Saramago sein vorliegendes Buch. In einem nicht näher benannten Land zu einer nicht näher benannten Zeit stirbt ab einer Silvesternacht niemand mehr. Die Todkranken, die kurz davor waren, ihren letzten Atemzug zu tun, bleiben am Leben – auch wenn sie alles andere als gesund werden. Sie vegetieren und leiden vor sich hin und können doch nicht sterben. Nirgends wartet der erlösende Tod auf sie, zumindest nicht in diesem Land. Und so kommen einige findige Menschen auf die Idee, ihre sterbenskranken Freunde und Verwandten über die Grenze zu bringen, um sie von ihrem Leid zu erlösen. Eine Bauernfamilie ist es, die den Anfang macht und zwei Menschen im Nachbarland beerdigt. Fortan will die Maphia diese schreckliche Aufgabe übernehmen, denn immerhin stellt sich doch die Frage: Ist es Mord, jemanden zum Sterben über die Grenze zu bringen?
Aber noch weitere Probleme tauchen auf, die niemand vermutet hätte: Was machen die Bestattungsunternehmer, die von einem Tag auf den anderen nichts mehr zu tun haben? Was geschieht mit den Krankenhäusern, in die weiterhin Kranke eingeliefert werden, in denen aber niemand stirbt und ein Bett freimacht? Was wird aus den Lebensversicherungen der Menschen? Und was passiert mit der Kirche, denn ohne den Tod gibt es schließlich auch keine Auferstehung, womit der Kirche ein tragender Pfeiler entrissen wird?
Doch dann erhält ein Fernsehintendant einen violetten Brief, der ihn zutiefst erschüttert. In Panik eilt er zum Premierminister und will die Verantwortung über den Brief abgeben, denn in diesem verkündet der „tod“ (klein geschrieben!) höchstpersönlich eine wichtige Botschaft, die die Welt von einem auf den anderen Tag – zumindest in dem nicht näher benannten Land – komplett verändern könnte …
José Saramago ist ein Meister des visionären Romans. Seine Ideen sind oft einfach, doch die Konsequenzen, die daraus entstehen, umso komplexer und schwerwiegender. Während er eine hellweiße und doch so düster bedrückende Welt in [„Die Stadt der Blinden“ 5382 gezeichnet hat, in der alle Menschen erblinden, widmet er sich hier einem neuen Problem: Niemand stirbt mehr. Was auf den ersten Blick nicht wie ein Problem scheint, sondern die Menschen in Lobeshymnen ausbrechen lässt, entpuppt sich schnell genug als Katastrophe. Und hier beweist Saramago wieder einmal, dass er seine Ideen konsequent zu Ende denkt. Er führt aus, was geschehen könnte, und scheut sich nicht davor, die Welt komplett auf den Kopf zu stellen. Nichts entgeht seinem Blick – ganz im Gegenteil, er entdeckt Probleme, wo man sie zunächst nicht erwartet hätte.
Auch einem anderen Stilelement bleibt er treu, denn seine Figuren erhalten keine Namen, sondern bleiben bloße Figuren. Seine Charaktere – so es sie denn gibt – stehen allein für Funktionen bzw. eine Berufsgruppe. Den besagten Fernsehintendanten lernen wir nicht weiter kennen, wir wissen nicht, ob er Familie hat, welchen Hobbys oder Interessen er nachgeht oder wie alt er ist. Er steht allein für den Berufstypus des Fernsehintendanten, der schleunigst einen erdrückenden Berg von Verantwortung auf jemand anderen abwälzen will.
Doch „Eine Zeit ohne Tod“ erhält schließlich seine Hauptfigur, nämlich den tod höchstpersönlich. tod ist weiblich schreibt sich mit einem kleinen „t“, und tod ist eigen, denn sie hat beschlossen, den Menschen einen kleinen Denkzettel zu verpassen, indem sie einfach niemanden mehr ins Reich des Todes abholt. Ihre Sense, die es tatsächlich gibt, bleibt tatenlos neben ihr stehen. tod ist diejenige, die wir im zweiten Teil des Buches ständig begleiten – eine abstruse, aber doch sehr pfiffige Idee.
|“… wobei der Grund dafür, dass ich meine frühere Aktivität, das Töten, unterbrochen und die sinnbildliche Sense, die phantasievolle Maler und Kupferstecher früherer Zeiten mir in die Hand gelegt haben, in ihrer Scheide habe stecken lassen, darin liegt, dass ich den Menschen, die mich so sehr verabscheuen, mit einer kleinen Kostprobe demonstrieren wollte, was es für sie bedeuten würde, immer, sprich, ewig zu leben, auch wenn ich Ihnen ganz im Vertrauen gestehen muss, Herr Fernsehintendant, dass ich keine Ahnung habe, ob die beiden Wörter immer und ewig wirklich so gleichbedeutend sind wie allgemein angenommen …“|
Sprachlich bleibt José Saramago wie gewohnt eine Herausforderung. Kaum Absätze laden zum Verweilen ein und alle Zeilen sind voll bedruckt, da die wörtliche Rede in den Fließtext integriert ist (s. o.). Daran muss man sich gewöhnen, denn leicht lassen sich seine Bücher nicht lesen. Doch wenn man erst einmal in seine Sätze hineintaucht, sich auf die komplexe Sprache einlässt, entdeckt man vieles, das nur zwischen den Zeilen steht. Wieder einmal erzeugt Saramago eine dichte und bedrückende Atmosphäre, die den Leser mitreißt – und das, obwohl man sich jede Seite in diesem Buch erarbeiten muss.
„Eine Zeit ohne Tod“ ist zweigeteilt: Im ersten Teil schildert José Saramago die Konsequenzen aus dem ausbleibenden Tod und im zweiten widmet er sich dem tod persönlich. Er begleitet sie und stellt sie uns näher vor. Und dann erfahren wir, dass tod ein Problem umtreibt, denn sie hat versprochen, den Menschen ihren Tod anzukündigen – per Brief, den sie eine Woche vorher an den Betroffenen schickt. Nur ein Brief weigert sich konsequent zugestellt zu werden. Immer wieder landet er auf tods Tisch, sodass sie schließlich beschließt, die Person kennenzulernen, die nun nicht über den bevorstehenden Tod informiert werden kann.
Und das ist leider der Punkt, ab dem Saramago mich mit seiner Geschichte nicht mehr mitreißen konnte. Mir gefiel die Wendung nicht und ich finde sie auch nicht sonderlich gelungen. Hier bahnt sich eine Liebesgeschichte zwischen tod und einem Todgeweihten an, die mir doch zu abstrus erscheint und die Saramago auch nicht wirklich schlüssig darstellt. Konsequenter wäre es gewesen, die Geschichte weiterzuerzählen, wie sie begonnen hat, auch die letzte Konsequenz darzustellen; so wirkte es eher, als wären Saramago auf der halben Strecke die Ideen ausgegangen.
Unter dem Strich hebt sich „Eine Zeit ohne Tod“ nichtsdestotrotz weit vom Durchschnitt ab. Alleine durch Saramagos einzigartiges Sprachgefühl, seinen Ideenreichtum und die dichte und packende Atmosphäre bleibt dieses Buch positiv in Erinnerung. Allerdings kann ich mich nach wie vor nicht mit der Wendung auf der Hälfte des Buches anfreunden. Im Vergleich mit Saramagos sagenhaft genialem Buch [„Die Stadt der Blinden“ 5382 fällt das vorliegende Werk leider inhaltlich etwas ab – lesenswert bleibt es allerdings dennoch, zumal die Geschichte rund um den tod und den Todgeweihten sicherlich auch eine Geschmackssache ist.
|Originaltitel: As Intermitencias da Morte
Deutsch von Marianne Gareis
252 Seiten Broschur
ISBN-13: 978-3-499-24342-4|
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French, Ray – Ab nach unten
Ray French erzählt in seinem Roman „Ab nach unten“ die Geschichte eines Arbeitskampfes der besonderen Art. Schon jahrelang hat Aidan in Crindau, einem Ort in Südwales, für den Elektronik-Konzern „Sunny Jim“ gearbeitet, als die Konzernleitung beschließt, zwecks Senkung der Kosten den Standort zu schließen und die Produktion nach Asien zu verlagern. Nun sollen Aidan und seine Kollegen sich also in das ohnehin in Südwales schon nicht kleine Heer der Arbeitslosen einreihen.
Aidans Leben hat seit dem Tod seiner Frau sowieso schon kaum mehr eine Perspektive. Die Kinder sind längst aus dem Haus und gehen ihre eigenen Wege und des Abends sinniert Aidan mit seinen Kumpels im Pub über die immer gleichen alten Geschichten. Aidan war nie ein großer Rebell, aber der drohende Jobverlust und das damit einhergehende Schwinden jeglicher Perspektive treibt ihn schließlich auf die Barrikaden.
Aidan entschließt sich zu einer einzigartig radikalen und bisher nie dagewesenen Strategie, um seinen Arbeitsplatz zu kämpfen. Er kauft sich einen Sarg, um sich lebendig in seinem Garten begraben zu lassen und erst dann wieder zurück in die Welt der Lebenden zu kehren, wenn „Sunny Jim“ von seinen Schließungsplänen abrückt.
Aidans Kumpels unterstützen ihn nach anfänglichem Zögern bei der Sache. Mobiltelefone werden angeschafft – für den Notfall – und die Verpflegung sowie die Entsorgung von Aidans Ausscheidungsprodukten wird organisiert. Als der große Tag kommt, steigt Aidan mutig in seinen Sarg und lässt sich von seinen Kumpels begraben.
Das ungewöhnliche Spektakel ruft schon bald die Medien auf den Plan, die sich wie die Geier auf Aidans Aktion stürzen. Schon bald wird Aidans Garten zu einer Pilgerstätte für eifrige Journalisten und die unterschiedlichsten verkrachten Existenzen, die dem Mann im Sarg ihr Herz ausschütten. „Sunny Jim“ hingegen zeigt sich zunächst gänzlich unbeeindruckt. Wie lange muss Aidan nun in der Tiefe ausharren?
Der Klappentext zieht von „Ab nach unten“ Vergleiche zu Filmen wie „Brassed Off – Mit Pauken und Trompeten“ und „Ganz oder gar nicht“. Eine tragikomische Geschichte aus dem britischem Arbeitermilieu, scheinbar einfach gestrickte Charaktere und eine Geschichte, die vor dem Hintergrund von Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise in den letzten dreißig Jahren immer zu irgendeinem Zeitpunkt etwas bestechend Aktuelles an sich hatte.
Von den Zutaten her reiht sich Ray French mit seinem Roman hier wunderbar ein. Seine Geschichte ist so tragisch, wie sie komisch ist, und so skurril, wie eigentlich nur Geschichten aus dem Vereinigten Königreich sein können. Wer den britischen Humor und insbesondere tragikomische Geschichten von der Insel mag, der kommt auch bei „Ab nach unten“ voll auf seine Kosten.
Zwar reiht French nicht gerade einen Schenkelklopfer an den anderen – sein Humor ist sehr viel feinsinniger und ironischer -, dennoch gibt es so manche schöne Stelle mit reichlich Stoff zum Schmunzeln. Sehr schön ist z. B. gleich eingangs Aidans Versuch, bei seinem örtlichen Bestatter einen Sarg „anprobieren“ zu dürfen. Unvergessen auch die Szene, in der des Nachts der „echte“ Tom Jones an Aidans Sarg pilgert, um ihm sein Herz auszuschütten.
„Ab nach unten“ kann einiges an skurrilen und herrlich komischen Situationen vorweisen, steckt aber nichtsdestotrotz auch voller tragischer und trauriger Momente. Aidan ist ein ziemlich einsamer Mensch. Obwohl er seine Kumpels hat, gibt es doch so richtig niemanden, dem er sein Herz ausschütten kann – eine Sache, die ihm in der drückenden Einsamkeit unter der Erde erst so richtig bewusst wird. Und so ist „Ab nach unten“ eben auch ein Lehrstück über den Wert echter Freundschaft.
French schafft es, all diese Dinge so einfühlsam zu verpackend, dass „Ab nach unten“ zugleich unterhält und nachdenklich stimmt. Es gibt viele leise Zwischentöne, Momente, die rührend sind, und Szenen, die herrlich komisch sind. „Ab nach unten“ ist trotz der eigentlich etwas absurd anmutenden Grundidee wunderbar realitätsnah, einfach weil die Protagonisten so gelungen authentisch skizziert wurden. Man kann sich Aidan und seine Kumpels wunderbar als real lebende Figuren vorstellen, denn French beweist ein Händchen im Umgang mit seinen Darstellern.
Auch sprachlich ist „Ab nach unten“ ganz angenehme Lektüre. Getragen von Frenchs feinsinnigem Humor, mit durchaus spürbaren dramaturgischen Akzenten im Plot, liest sich der Roman ganz locker von der Hand weg.
Bleibt unterm Strich ein wirklich positiver Eindruck zurück. Anlass zur Kritik gibt es kaum. „Ab nach unten“ ist ein wunderbarer Unterhaltungsroman mit toller Figurenskizzierung, einer schönen Mischung von Tragik und Komik und einer herrlich schrägen Grundidee – Freunden britischen Humors wärmstens zu empfehlen.
|Originaltitel: Going Under
Deutsch von Martin R. Becker
412 Seiten, kartoniert
ISBN-13: 978-3-423-24694-1|
http://www.dtv.de
Roberts, Gregory David – Shantaram
Bombay – wie die indische Metropole noch bis 1996 hieß, die anschließend offiziell in Mumbai umbenannt wurde, was dort allerdings selbst von einigen Behörden noch nicht durchgehend umgesetzt wird – ist eine multiethnische und multikulturelle Stadt und zudem eine der größten und sicherlich auch faszinierendsten der Welt. Unzählige einheimische Volksgruppen sowie Menschen aus vielen anderen Nationen der Welt haben ihre Spuren hinterlassen, prägen und entwickeln diese Metastadt laufend weiter.
Mit ihrem Hafen ist Bombay der wichtigste wirtschaftliche Dreh- und Angelpunkt des Subkontinents für Im- und Export und deswegen zur Hauptstadt des Handels geworden. Als eine der größten Städte der Welt produziert Bombay natürlich auch die größten Probleme; inmitten der Stadtteile reihen sich wohlhabende Siedlungen direkt an die zahlreichen Slums an, die mal größer und mal kleiner werden, sofern sie zumindest von den Stadtoberen akzeptiert werden.
Zugleich mit der Wirtschaft floriert auch die kriminelle Organisation der Stadt. Ebenso wie den offensichtlichen Reichtum, der gerne auch zur Schau gestellt wird, gibt es hier Armuts- und Elendsviertel, die von kriminellen Bossen beherrscht werden. Indien ist so weit entfernt von den westlichen Wirtschaftsräumen, dass es für flüchtige Verbrecher wie ein Paradies wirkt. Der Einfluss nationaler und internationaler Gerichtsbarkeit sowie die Verfolgung durch Staatsanwalt und Polizei sind gering bis gar nicht vorhanden.
An humanitärer Hilfe in den Slums mangelt es an jeder Ecke; Drogen beherrschen hier stattdessen den Handel und das (Über-)Leben in der Unterwelt. Medikamentöse und ärztliche Versorgung bleibt der privilegierten Gesellschaft vorbehalten, so dass es hier ganze Viertel gibt, in denen durch Krankheit die regelrecht zum Tode Verurteilten ein jämmerliches Dasein fristen.
Indien ver- und bezaubert durchaus; die märchenhafte Aura des Landes begegnet dem Besucher an vielen Orte. Das Leben, Denken und Handeln der Inder ist so ganz verschieden von unserem. Nüchtern betrachtet allerdings verflüchtigt sich hierbei schnell jedes romantisierte Weltbild. Für zahllose Einwohner des Landes ist das dortige Leben mit all seinen Entbehrungen und Gefahren ein schmerzvoller Überlebenskampf.
Gregory David Roberts hat in seinem Roman „Shantaram“ ein raues, aber zugleich umfassendes und faszinierendes Bild der Metropole Bombay entworfen und damit einen leidenschaftlichen Roman verfasst.
_Inhalt_
Lindsay, ein junger Australier, hat zwei Jahre seiner langjährigen Haftstrafe in einem Hochsicherheitsgefängnis verbracht, als ihm seine spektakuläre Flucht gelingt. Lindsay hat alles verloren, Frau und Kind, seinen Job. Diese Schicksalsschläge haben ihn mit Drogen und Verbrechen konfrontiert, eine Spirale, die im Gefängnis endete.
Um internationalen Fahndern zu entkommen, flüchtet Lindsay mit falschen Papieren ausgestattet nach Bombay. Die indische Kulturhauptstadt wirkt verstörend und anfangs fremd auf ihn. Durch Zufall lernt er den jungen Inder Prabaker kennen, der Lindsay zunächst als Fremdenführer die schillernde und übergroße Stadt zeigt und erklärt.
Als Gestrandeter lernt er andere Menschen kennen, die in Bombay ähnlich wie er selbst einen Neuanfang suchen. Lindsay wird durch Prabaker, der inzwischen sein Freund geworden ist, in die ungeschriebenen Gesetze der Stadt und deren Unterwelt eingeführt. Er lernt einflussreiche Menschen aus dem Drogenmilieu kennen, die die Stadt mit beherrschen und regieren. Alles scheint miteinander verwoben zu sein, jeder macht in seiner Welt Geschäfte und ist abhängig von anderen – dies zu durchschauen, wäre ohne die Hilfe des jungen Inders unmöglich.
Lindsay baut sich eine Art von Familie auf, die viele unterschiedliche Persönlichkeiten umfasst, die bald alles für ihn bedeuten. Da ist Karla, eine bildhübsche, aber kühle Frau mit schweizer Wurzeln, in die er sich verliebt. Auch einflussreiche Männer aus Bombays Unterwelt begleiten den jungen Mann, und er entwickelt zu diesen kriminellen Männern ein tiefsinniges, fast schon väterliches Verhältnis.
Prabaker der spürt, dass Lindsay auf seine Art verloren ist, und führt ihn in seine Familie ein, in der dieser wie ein Sohn aufgenommen und akzeptiert wird. Diese Zeit prägt den jungen Mann und lässt ihn über seine Vergangenheit und seine vielen Möglichkeiten der Zukunft nachdanken.
Prabaker ist es auch, der Linbaba, wie Lindsay jetzt genannt wird, sein eigenes Haus vermittelt. Inmitten der Slums lernt Lin Menschen kennen, die ungeachtet ihrer Nöte und Sorgen füreinander einstehen und Verantwortung übernehmen. Diese exotische Welt birgt viel Gnadenlosigkeit, aber auch viel Hoffnung für die dort lebenden Menschen, die in Baracken hausen, die notdürftig aus Blech, Plastik und Holz eher schlecht als recht zusammengezimmert wurden.
Lindsays neue Heimat wird wenig später zum Teil durch ein Feuer vernichtet, viele Menschen werden durch Flammen und Rauch verletzt, und durch seine rudimentären Medizin- und Erste-Hilfe-Kenntnisse wird Lin schnell zum Arzt in diesem Slum. Doch auch hier ist er abhängig von der Unterwelt und den Bossen, die die Slums regieren und mit Nahrungsmitteln und Medikamenten versorgen. Obwohl Lin keine medizinischer Ausbildung genossen hat, wird er von den Menschen schnell als Slumarzt akzeptiert.
Seine Praxis ist Anlaufstelle für die vielen Verletzten und Kranken, die ihn in immer größerer Anzahl aufsuchen, ebenso wie die vielen Leprakranken, die in eigenen Slums etwas abgegrenzt wohnen. Lin wird zu „Shantaram“, wie ihn Prabaker tauft – ein Mann des Friedens. Durch seine Naivität und nicht zuletzt durch seine ominösen Verbindungen zur Unterwelt wird Lin verraten und in Bombays gefürchtetes Arthur-Road-Gefängnis gesteckt. Dort wird er brutal gefoltert und fast zerbrochen …
Als Lin durch einen einflussreichen Unterwelt-Boss aus dem Gefängnis herausgeholt wird, verfolgt er das alleinige Ziel, sich an demjenigen zu rächen, der für seinen Gefängnisaufenthalt verantwortlich ist …
_Kritik_
Selten hat ein Autor Bombay ein so intensives Gesicht verliehen, wie es Gregory David Roberts gelungen ist. Roberts weiß auch, wovon er schreibt, denn die Person „Shantaram“ oder Lindsay ist er selbst. „Shantaram“ ist seine Biografie, und seine abenteuerlich anmutenden Erlebnisse hat er in diesem Roman verarbeitet.
Der Leser erlebt den Alltag Bombays an der Seite des Autors. Die exotische Stadt besitzt viele Facetten, wir erleben aber vor allem in den Slums Drogen, Alkohol, familiäre Gewalt, Krankheit, Armut und medizinische Missstände. Die sozialen Schichten mit ihrer ungeschriebenen Hierarchie begegnen uns ebenso wie die vielen Sorgen und Nöte der in den Slums wohnenden Menschen. Der Autor lässt uns aber auch an philosophischen Gedanken der Protagonisten teilhaben, wenn in Männerrunden oder Dialogen über verschiedene Themen des Lebens diskutiert wird.
Die Atmosphäre von „Shantaram“ ist eine besondere. Der Leser taucht ein in die Metropole Bombays, in die Straßen der Slums und in die Gedankenwelten der Protagonisten. Der über tausend Seiten umfassende Roman bietet dabei spannende Literatur, die den Leser schon ab den ersten Seiten in Bombays Atmosphäre katapultiert. Die Protagonisten sind zwar zahlreich, aber so grandios präsentiert, dass man mit diesen Figuren leidet, wütend und verzweifelt ist und zugleich einen tiefsinnigen Schauer empfindet, folgt man den Dialogen, die wirklich etwas zu sagen haben.
Philosophisch interpretiert, geht es in „Shantaram“ immer um die Liebe. Der Fokus der Liebe zu anderen, zu sich selbst, zu etwas Höherem, zu einer Aufgabe – Liebe verfolgt den Leser durch alle Kapitel. Dass Lindsay/Linbaba/Shantaram/Roberts von einem Schicksalsschlag in den nächsten geschubst wird, ist dabei nicht unglaubwürdig erzählt. Das Tempo in „Shantaram“ ist nicht überdimensioniert, es überfährt den Leser nicht, lässt ihn aber auch nicht zur Ruhe kommen.
Die Haupthandlung selbst ist dabei ausnehmend spannend, allerdings wird diese Spannung nicht durch Gewalt und Action erzeugt, sondern durch liebevolle Figuren aufgebaut, die der Geschichte ihren Anteil an Leben, Dramatik, Philosophie und auch Gewalt einhauchen.
Der „Guru“, der sensible und etwas schlitzohrige Prabaker, ist eine Figur, die man fast schon mehr liebgewinnt als den Handlunsgträger Lindsay. Seine Botschaften sind nicht ohne Humor und hintergründig in Worte gefasst. Ohne Prabaker wäre Lindsay verloren gewesen, in psychischer wie auch physischer Hinsicht. Selten erlebt man in Erzählungen derartig präsente Figuren, die man faszinierend verfolgt, selbst wenn sie lediglich Nebenfiguren sind, aber nicht im Schatten der Schlüsselgestalt stehen.
Karla, in die sich Lindsay Hals über Kopf verliebt und sich dabei benimmt wie in den Anfängen der Pubertät, ist nicht nur schön an Gestalt, sondern auch sensibel, verletzbar und gerade wegen Letzterem emotional nach außen stark unterkühlt. Bindungen und Gefühlen will sie sich nicht stellen, sie scheut die Verantwortung, doch bringt sie dies so schonend und plausibel rüber, dass man ihre Beweggründe logisch und auch emotional nachvollziehen kann.
_Fazit_
„Shantaram“ ist ein epischer Roman, ein wunderbarer Exot in der literarischen Welt, der leidenschaftlich versucht, die Liebe als umfassendes Konzept in Worte zu fassen, und dem dies auch gelingt. Zwischen den Zeilen und den vielen Handlungsebenen gibt es so viel Wissenswertes und Imposantes zu erleben, dass jedes Gefühl ausgelebt werden kann.
„Shantaram“ ist auch oder gerade deswegen so faszinierend, weil der Schöpfer Gregory David Roberts seine Geschichte autobiografisch erzählt und dabei nicht nur sein Alter Ego, sondern auch sich selbst entdeckt und lieben lernt.
Das moderne Indien hat für westliche Leser mit „Shantaram“ eine umfassende Betrachtungsperspektive bekommen, mit vielen Blickwinkeln und vielen Persönlichkeiten, in denen wir uns trotz ihrer Andersartigkeit so manches Mal wie in einem Spiegel erkennen. Wenn Geschichten wie diese Emotionen in uns wecken und uns unsere Menschlichkeit bewusst machen, so sind sie besonders wertvoll und nach meinem Dafürhalten bedenkenlos zu empfehlen.
Die Filmrechte von „Shantaram“ sind längst verkauft, gesichert hat sie sich Johnny Depp. Und eines ist schon jetzt deutlich: Die Geschichte von „Shantaram“ lebt von ihren Charakteren und ihren Schicksalen. Ein Roman, vielleicht auch später ein Film, an den man sich erinnern und auf eine Fortsetzung warten wird – die bereits in Arbeit ist.
„Shantaram“ bietet Tragik, Dramatik und Liebe in Reinform.
_Der Autor_
Gregory David Roberts (* 1952 in Melbourne) ist ein australischer Buchautor und verurteilter Schwerverbrecher. Roberts sollte im australischen |HM Prison Pentridge| eine 24-jährige Haftstrafe absitzen. Dort brach er nach zwei Jahren aus.
Nachdem er das Sorgerecht für seine damals dreijährige Tochter nicht erhielt, wurde er heroinabhänging. Um seine Sucht zu finanzieren, beging er zahlreiche Raub- und Banküberfälle (allerdings mit vorgehaltener Spielzeugpistole). Nach seiner gelungenen Flucht über die Frontmauer des |HM Prison Pentridge| – am helllichten Tag – ließ er sich nach einem Zwischenaufenthalt in Neuseeland in Mumbai, Indien nieder. 1990 wurde er in Frankfurt gefasst und an seine Heimat ausgeliefert. Dort verbrachte er dann sechs Jahre im Gefängnis, davon zwei in Isolationshaft. In dieser Zeit begann er auch an seinem bekanntesten Buch „Shantaram“ zu arbeiten, das auf seinen Erfahrungen in Mumbai basiert.
Der Titel des autobiografischen Romanes „Shantaram“ basiert auf seinem Spitznamen, der ihm von der Mutter seines besten Freundes Prabaker verliehen wurde. Roberts schrieb außerdem ein Drehbuch des „Shantaram“-Romans und ein weiteres für den Film „Allegra“.
|Originaltitel: Shantaram
Originalverlag: St. Martin’s Press
Aus dem Amerikanischen von Sibylle Schmidt
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 1088 Seiten
Mit Vignetten von Oliver Weiss|
http://www.goldmann-verlag.de
http://www.shantaram.com/
Filz, Sylvia – Kirschklößchen
Hanna ist 29, allein und verzweifelt: Nach drei gemeinsamen Jahren hat ihr Freund Reinhold sie einfach abserviert – wegen einer anderen. Und dann muss Hanna auch noch feststellen, dass es sich dabei um die platinblonde Tochter von Reinholds Chef handelt, die ja so wundervoll parlieren kann, wie Reinhold ihr bei der Trennung doch glatt unter die Nase gerieben hat! Eine Frau von Welt sei die andere, während Hanna so blöd war, ihre Karriere als Journalistin für Reinhold hintenanzustellen, damit er beruflich weiterkommt. Glücklicherweise hat Hanna das „Casa Regina“, einen kleinen, aber feinen Geschenkeartikelladen, bei dem sie Teilhaberin ist. Und nicht nur das: Die Besitzerin des Ladens, Regine, ist für Hanna zu einer guten Freundin geworden, und so versucht diese nun, die verzweifelte Hanna mit gemeinsamen weinseligen Abenden wieder aufzubauen.
Aber eines Tages geschieht etwas, das Hannas gesamtes Leben unverhofft auf den Kopf stellt: Wieder einmal hastet sie in Eile die Treppe hoch und ärgert sich über die weißhaarige Dame aus der Wohnung über ihr, die vor ihr schleicht. Doch dann strauchelt die Rentnerin und kippt nach hinten. Ohne nachzudenken, lässt Hanna alles fallen und fängt die Dame auf und rettet ihr damit womöglich das Leben. Hanna bietet noch an, die alte Dame – Frau Spitzer, wie Hanna am Türschild ablesen kann – in ihre Wohnung zu begleiten.
Auf den Schreck lädt Frau Spitzer ihre Retterin auf einen Likör ein. Schon von der Wohnungseinrichtung ist Hanna, die am liebsten gleich wieder in ihre eigene Wohnung geeilt wäre, überrascht, denn die ist gar nicht so altbacken, wie sie das gedacht hätte, und auch der Likör schmeckt nicht wie der typische Oma-Fusel. Die beiden Frauen kommen ins Plaudern. Ein Foto in Frau Spitzers Wohnung ist es dann, das Hannas Blicke auf sich zieht und sie fasziniert. Kaum ist ihre Neugierde geweckt, ist auch der Fluchtinstinkt verschwunden, denn nun möchte Hanna mehr über die Personen auf dem Foto erfahren. Überrascht stellt sie fest, dass Frau Spitzer viele spannende und bewegende Dinge aus ihrem über neunzig Jahre langen Leben zu erzählen hat. Ganz unverhofft wird die „nervige alte Schachtel“ aus der Wohnung über ihr zu „Omi Spitzer“, die sie gar nicht häufig genug besuchen kann.
Die größte Überraschung wartet aber noch auf Hanna, nämlich Frau Spitzers Enkel, der ihr auf den ersten Blick mehr als sympathisch ist. Nur leider wohnt Nils hunderte von Kilometern entfernt und arbeitet als Tierarzt auf dem platten Land. Und das ist nun wirklich nichts für die Stadtfrau Hanna – oder doch? Und natürlich ist auch die Geschichte mit Reinhold längst nicht ausgestanden …
Sylvia Filz erzählt die Geschichte von Hanna, die an einem Wendepunkt in ihrem Leben angekommen ist: Ende zwanzig beginnt die Suche nach dem Mann ihres Lebens erneut, auch wenn sie eigentlich gedacht hatte, mit Reinhold bereits den Richtigen gefunden zu haben. In Hannas Umfeld freuen sich allerdings alle über die Trennung, da niemand Reinhold ausstehen konnte. Schon auf den ersten Seiten wird Hanna zu einer guten Freundin, deren Trennungsschmerz man fast schon zu gut nachfühlen kann, aber man ahnt als Leser natürlich bereits, dass ein neuer Mann auf Hanna wartet.
Als Nils Hansen, Frau Spitzers Enkel aus Norddeutschland, dann endlich seinen ersten richtigen Auftritt hat, verteilt Amor großzügig seine Pfeile. Doch Hanna und auch Nils sind unsicher – fühlt der andere das Gleiche? Und passen sie überhaupt zusammen? Beide haben schwere Enttäuschungen erlitten; Nils ist von seiner ersten Frau geschieden, die ein anderes Leben führen wollte als jenes, das er als Tierarzt ihr bieten konnte. So dauert es ein wenig, bis die beiden sich zaghaft annähern, und tatsächlich sind einige Hürden und Distanzen aus dem Weg zu räumen, zumal auch Reinhold später noch den einen oder anderen denkwürdigen Auftritt haben wird …
Die zweite Lebensgeschichte, die wir zu hören bekommen, ist die von Omi Spitzer. Frau Spitzer hat viel in ihrem langen Leben erlebt, sie erzählt vom Krieg, ihrem geliebten Mann Alfons und natürlich von einem ihrer Lieblingsrezepte – den Kirschklößchen! Eigentlich ist es ein Arme-Leute-Rezept, doch Hanna würde es am liebsten gleich nachkochen, aber Omi Spitzer wehrt – zunächst! – ab, weil sie meint, dass man Kirschklößchen nur mit frischen Kirschen machen könne, und nun steht bereits Weihnachten vor der Tür. Auch mir ist beim Lesen das Wasser im Mund zusammengelaufen – schade, dass ich keine Omi Spitzer habe, die mir zeigen könnte, wie man Kirschklößchen zubereitet!
Mit Hanna und Omi Spitzer hat Sylvia Filz zwei starke Frauencharaktere gezeichnet, die uns durch das gesamte Buch begleiten und schnell ans Herz wachsen. Die liebe Omi Spitzer, die zwar schon über 90 Jahre alt, aber noch längst nicht eingerostet ist, erzählt ihre Lebensgeschichte dermaßen mitreißend, dass ich mitunter selbst einen Kloß im Hals hatte. Aber auch die Nebencharaktere – angefangen von der Geschäftsfrau Regine, die selbst noch auf der Suche nach der Liebe ihres Lebens ist, über die Wegmanns, die ebenfalls häufig bei Omi Spitzer zu Gast sind, bis hin zu Nils, der in seinem großen Traumhaus mit zahlreichen Tieren in Norddeutschland lebt – überzeugen auf ganzer Linie und bleiben stets authentisch. Die Sympathien sind dabei stets klar verteilt, denn Reinhold kann das ganze Buch über keinen einzigen Sympathiepunkt sammeln. Dennoch bereichert er das Buch durchaus mit seinen denkwürdigen Auftritten …
Mit viel Esprit und Liebe zum Detail und zu den Tieren erzählt Sylvia Filz eine Geschichte, die wie aus dem Leben gegriffen scheint. Die Autorin schafft es, uns in jede Situation hineinzuziehen, sodass wir das Gefühl haben, immer mittendrin zu sein. Trotz des geringen Buchumfangs von nur 185 Seiten erfahren wir viel über die Charaktere, ihr Leben und ihre Gedanken. Als Leser sind wir dabei allwissend, denn wir können nicht nur Hannas Gedanken lauschen, sondern kennen auch Nils‘ widerstreitende Gefühle. Wir wissen, was sich Nils erhofft, welche Überraschungen er Hanna bereiten will, und von Hanna wissen wir, wie sehr sie sich wünscht, mit Nils gemeinsam Weihnachten zu feiern, und zwar in allen noch folgenden Jahren. Nur leider trauen sie beiden sich oftmals nicht, ihre Gefühle offen auszusprechen, und so fiebern wir immer mehr mit ihnen mit.
Die Geschichte in „Kirschklößchen“ ist herzerfrischend, ergreifend und einfach nur schön. Bei der Lektüre fühlte ich mich ins Rheinland entführt, und bei Hannas Besuchen im hohen Norden konnte ich die frische Landluft förmlich schnuppern und hörte im Hintergrund das Bellen der Hunde und das Schnurren der Katzen. Sylvia Filz‘ Schreibstil ist dermaßen lebendig und erfrischend, dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag und immer das Gefühl hat, sich von seinen Freunden zu verabschieden. Und so hoffe ich natürlich sehr, dass es noch ein Wiederlesen mit Omi Spitzer und Hanna geben wird!
Stein, Garth – Enzo. Die Kunst, ein Mensch zu sein
Es ist eine Kunst, ein Mensch zu sein, vor allem, wenn man ein Hund ist! Enzo ist ein Hund, aber kein gewöhnlicher. Er beobachtet seine Mitmenschen ganz genau und würde zu gerne mit ihnen kommunizieren, doch bleiben ihm nur Gesten. Nun ist er alt und auf dem Weg, aus seinem Hundeleben auszuscheiden, um als Mensch wiedergeboren zu werden. Und so erzählt er uns seine lange und ereignisreiche Lebensgeschichte …
_Tierisch!_
Enzo lebt bei Denny, einem talentierten Rennfahrer, und teilt die Leidenschaft für schnelle Autos mit seinem Herrchen. Gemeinsam schauen sie sich die Rennen an, besonders die mit ihrem Idol Ayrton Senna (der im Übrigen gar nicht hätte sterben müssen, wenn er nur auf seine Intuition gehört hätte) und analysieren jede Kurve, jedes Abbremsen und Beschleunigen. Sie sind einfach unzertrennlich und ein eingespieltes Team, bis plötzlich Eve auftaucht und in Dennys Leben eine ganz wichtige Rolle einnimmt. Enzo ist zunächst eifersüchtig, stand er doch bislang immer im Mittelpunkt. Doch Enzo ist schlau und weiß, dass Denny Eve zwar liebt, dass ihm Enzo aber nach wie vor sehr wichtig ist. Als die Tochter Zoë geboren wird, ist das kleine Familienglück perfekt – zunächst.
Eve plagen immer häufiger starke Kopfschmerzen. Enzo spürt mit seiner feinen Nase, was mit ihr los ist, aber wieder einmal kann er sich nicht mitteilen, denn ihm fehlen die Worte. Insgeheim träumt er von einem Computer, der ähnlich wie bei Stephen Hawking seine Gedanken in Worte verwandelt, über die sich Enzo den Menschen mitteilen könnte.
Durch einen Sturz kommt alles ans Licht: Eve rutscht aus und fällt auf ihren Kopf. Denny vermutet eine Gehirnerschütterung und bringt sie ins Krankenhaus, vor dem Eve sich bislang immer mit Händen und Füßen gewehrt hatte. Dort erfahren alle die Wahrheit: Eve hat einen Tumor und ist unheilbar krank. Ihre letzten Monate verbringt sie bei ihren Eltern, die sie Tag für Tag pflegen können. Zoë zieht dort ebenfalls ein, um mehr Zeit mit ihrer Mutter zu verbringen. Als Eve dann schließlich stirbt, verlangen die Großeltern das Sorgerecht für ihre Enkelin und stürzen Denny ins Unglück, der hart um seine Tochter kämpfen muss. In seiner schlimmsten Zeit ist es Enzo, der nie von seiner Seite weicht und versucht, ihm eine Stütze zu sein.
_Wuff!_
Tierische Romanhelden sind inzwischen gar nicht mehr so ungewöhnlich. Heutzutage lösen Schafe Kriminalfälle, aber auch Katzen, Hunde und Aale haben sich in diesem Metier schon hervorgetan. Und dennoch schlägt man ein solches Buch immer wieder mit einer gewissen Portion Skepsis auf, denn die Grenze zum Albernen ist bei tierischen Ich-Erzählern besonders schnell überschritten. Garth Stein überschreitet diese allerdings im gesamten Buch nicht – ganz im Gegenteil. Er verleiht Enzo dermaßen menschliche Züge, dass man zwischendurch manchmal vergessen könnte, dass wir einen tierischen Erzähler vor der Nase haben.
Enzo ist ein ganz besonderer Hund, er versteht die Menschen, er fühlt mit ihnen, er kommentiert ihre Gefühle und Taten, aber manchmal bleibt er doch sichtbar ein Hund, beispielsweise, wenn er den Sex zwischen Denny und Eve beschreibt und das genauso tut, wie ein Hund es vermutlich tun würde. Seine Sichtweise schwankt immer zwischen dem Hündischen und Menschlichen, wobei Letzteres meist überwiegt. Besonders bedauert er, dass er sich nicht über Worte mitteilen kann, denn oftmals weiß er eben doch mehr als die Menschen; so spürt er Eves tödliche Krankheit sehr früh und kann niemanden warnen. Erst als er mit Denny einige Runden in einem Rennauto drehen und per Bellen die Geschwindigkeit bestimmen darf, hat er ein Mittel gefunden, um seinem Herrchen zumindest zu bedeuten, dass es schneller gehen soll.
Der Mix aus tierischen und menschlichen Charakterzügen ist hervorragend gelungen. Besonders gefallen hat mir eine Szene, in der Enzo mit seinem recht menschlichen Einfühlungsvermögen eine Situation genau durchschaut und auch genau seine Grenzen kennt. Er möchte einen Menschen für seine Bosheit bestrafen und ergreift ganz listig tierische Mittel, indem er diesem ungeliebten Menschen einen stinkenden Haufen auf den teuren Teppich setzt. Hätte er den Menschen einfach gebissen, wäre er womöglich als bösartiger Hund abgestempelt und bestraft worden, aber so ist er einfach nur ein dummer Hund, dem es mal passieren kann, dass er sein Geschäft in der Wohnung verrichtet. Wer hätte ahnen können, dass dies Berechnung war?
Garth Stein zeichnet ganz hervorragende Charaktere. Neben Enzo sind Denny und Eve zu nennen. Leider lernen wir Eve nicht sonderlich gut kennen und wissen von Anfang an, dass sie sterben wird. Aber auch in der kurzen Zeit, die sie zu leben hat, erweist sie sich als ungewöhnliche Persönlichkeit, indem sie immer versucht, Stärke zu zeigen und sich ihre Schmerzen und die Krankheit nicht anmerken zu lassen. Sie will Denny glücklich machen und ihn nicht belasten. Neben Enzo ist aber vor allem Denny eine Stütze der Geschichte. Er sammelt nicht nur fleißig Sympathiepunkte, weil er Enzo so gut behandelt – und zwar tatsächlich oft eher wie einen Menschen -, sondern auch, weil er zu allen Menschen immer freundlich ist und sich nie unterkriegen lässt. Er kämpft um seine Tochter, auch wenn die Situation gänzlich ausweglos wird. Und dennoch schafft er es, sich und Zoë nie aufzugeben. Die Stärke, die er hier zeigt, fand ich beachtlich.
Möglicherweise drückt Garth Stein am Ende ein klein wenig zu sehr auf die Tränendrüse, indem er die Situation immer schlimmer werden lässt, bis eigentlich kein Fünkchen Hoffnung mehr bleibt. Mich persönlich hat das dennoch nicht gestört, da Stein nie ins Kitschige abdriftet.
_Mehr Mensch als Hund_
Das Buch funktioniert, weil Garth Stein es schafft, einen sympathischen Ich-Erzähler zu zeichnen, der uns damit beeindruckt, wie er Situationen durchschauen und Gefühle ausdrücken kann. Zwar fehlen Enzo die Worte, aber glücklicherweise nicht die Gedanken, und an denen können wir reichlich teilhaben. Da er sich nicht mitteilen kann, beschreibt er in Gedanken alles ganz genau für uns. Er kommentiert die Szenen, er durchschaut Menschen und ihre Pläne und analysiert das Leben oftmals anhand von Autorennen. Dank seiner Leidenschaft für Autorennen weiß er, dass man ein Rennen nur gewinnen kann, wenn man über die Ziellinie kommt, und dass ein Rennen nicht in der ersten Kurve gewonnen, sehr wohl aber verloren wird. Und so ist das Leben für Enzo auch ein Autorennen, anhand dessen er viele Situationen im wirklichen Leben genauestens analysieren kann. Wie Garth Stein dies umgesetzt hat, ist nicht nur einzigartig schön, sondern auch unglaublich einfühlsam.
„Enzo. Die Kunst, ein Mensch zu sein“ hat mich tief bewegt; der kleine Hund, der im Laufe der Geschichte alt und krank wird, wächst einem dermaßen ans Herz, dass man ihn gar nicht mehr verlassen möchte. Dieses Buch sollte man nicht verpassen!
|Siehe ergänzend dazu auch unsere [Rezension 5261 der Hörbuchfassung.|
Delphine de Vigan – No und ich

Lou ist dreizehn Jahre alt und geht in die zehnte Klasse. Das ist ungewöhnlich in ihrem Alter, aber Lou ist hochintelligent und hat zwei Jahrgangsstufen übersprungen. Das macht es nicht gerade einfach für sie. Sie ist von Natur aus eine Einzelgängerin, sie liebt Experimente mit alltäglichen Dingen und ihre Familie ist am Tod ihrer kleinen Schwester zerbrochen.
Frankenberg, Mika – Käferfrau, Die
_Handlung:_
Die Diagnosen, die Dörte attestiert werden, sind beeindruckend: Somatisierungsstörung, autistische Züge, antisoziale Persönlichkeit, stark narzisstische und schizoide Züge. Nichtsdestotrotz ist Dörte hochintelligent und schafft es binnen kürzester Zeit, sich als Biologin mit Schwerpunkt Käfer einen Arbeitsplatz in einem renommierten Pharmakonzern zu sichern.
Ihr Leben beginnt allerdings aus den Fugen zu geraten, als ein Pathologe sie um Rat bezüglich einer seltenen Käferart bittet, die auf einer Leiche gefunden wurde. Der Tote gehörte zum Institut, an dem Dörte tätig ist, und die Käfer sind eine seltene madagassische Art, die in Deutschland ebenfalls nur in dem Pharmakonzern vorkommt. Ist Dörtes Arbeitgeber in finstere Machenschaften und obskure Geschäfte verwickelt? Und sucht der Russe, der Dörte augenscheinlich liebt, wirklich nur aus emotionalen Gründen die Nähe der hübschen, aber widerspenstigen Biologin? Dörte droht sich in einem Netz aus Verschwörung und Verfolgungswahn zu verstricken …
_Meine Meinung:_
„Die Käferfrau“ ist ein amüsanter und fesselnder Unterhaltungsroman der Schriftstellerin Mika Frankenberg und wurde mit einem Literaturstipendium des Landes Hessen gefördert. Der Roman lebt durch die originelle, freche Charakterisierung der Protagonistin, welche die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt. Dabei schiebt die Autorin immer wieder Episoden aus Dörtes Vergangenheit ein, an die sich die Heldin erinnert und dadurch Authentizität hinzugewinnt. Besonders die Akten und der Schriftverkehr zwischen dem Jugendamt und Dörtes Pflegeeltern kündet von einer gewissenhaften Recherche der Verfasserin, die sich sehr viel Mühe bei der Ausformulierung des Plots gegeben hat. Schlussendlich geht es allerdings mehr um die dubiosen Geschäfte von Pharma-Firmen als um Insekten und Käfer. Daher könnten Titel und Klappentext leicht missverstanden werden.
Der Schreibstil von Mika Frankenberg ist leicht verständlich, flüssig und sehr unterhaltsam, ohne dabei anspruchslos zu wirken. Trotz ihrer humorvollen und teils satirischen Ausrichtung besitzt die Geschichte viel Gehalt und beschäftigt den Leser noch nachhaltig. Käferfans werden vermutlich enttäuscht sein, dass die kleinen Krabbler nur Staffage sind, doch wer Lust hat auf einen packenden und witzig geschriebenen Pharma-Thriller mit einer skurrilen Persönlichkeit als Protagonistin, der ist hier goldrichtig.
_Fazit:_ Ein wunderbar geschriebener Pharma-Thriller mit einer frechen, kantigen Heldin. Mal humorvoll, mal ernsthaft und dennoch anspruchsvoll, ist „Die Käferfrau“ eines der bemerkenswertesten Bücher des Frühjahrs 2009.
|334 Seiten, kartoniert
ISBN-13: 978-3-423-24698-9|
http://www.dtv.de
_Florian Hilleberg_
Daniel Glattauer – Alle sieben Wellen

Ein Treffen, das ist es, was sich Leo und Emmi immer noch wünschen. Während sie sich in [„Gut gegen Nordwind“ bis zum Schluss erfolgreich um das Treffen herumlaviert haben, lässt sie dieses Thema auch in der Fortsetzung des Bestsellers von Daniel Glattauer nicht los. Und dieses Mal scheint es endlich dazu zu kommen …
Aug‘ in Aug‘
Birbæk (Birbaek), Michel – Nele & Paul
|“Aber ich kam nicht umhin festzustellen, dass die anderen Frauen in meinem Leben eine Urlaubsreise gewesen waren. Nele war meine Heimat. Sie war die Küste, an der ich später sitzen und übers Meer schauen wollte. Neleland.“|
Nele war und ist Pauls große Liebe. Er ist mit ihr zusammen aufgewachsen, hat mir ihr seine erste große Liebe erlebt – und seine einzige bis zum heutigen Tag. Nun ist er Anfang 30, einsam und wohnt immer noch bei seiner Mutter. Das tun eigentlich nur Serienmörder, wird Pauls Mutter nicht müde, ihm zu erklären.
Doch als Nele ihn vor neun Jahren verlassen hat, um in den USA als Model ihr Glück zu (ver)suchen, brach für Paul eine Welt zusammen. Er sprach mit niemandem und verlor bei einem Unfall nicht nur seinen Führerschein, sondern auch seinen Job im Außendienst bei der Polizei, da er schlappe zwei Promille Alkohol im Blut hatte.
Kurz: Pauls Leben ist keines, er ist nicht in seiner Heimat (dem Neleland), sondern auf einer Wanderschaft ohne Ziel. Keine Frau interessiert ihn oder kann ihm annähernd das geben, was Nele ihm bedeutet. Doch dann steht sie plötzlich vor ihm – sie ist zurück. Nach neun Jahren. Ihre einst langen Haare sind kurz geschnitten, ihre zarte Figur weiblicher geworden. Ihr Vater Hans ist gestorben, daher ist sie aus den USA zurückgekehrt. Doch dann gesteht sie Paul, dass sie bereits seit einigen Monaten wieder in Deutschland ist und in Köln gearbeitet hat, um das Pflegeheim ihres Vaters zu bezahlen.
All das trübt Pauls Wiedersehensfreude aber nicht, er ist einfach nur glücklich, seine große Liebe wieder an seiner Seite zu haben und endlich wieder angekommen zu sein in seinem Neleland. Die beiden erleben das pure Glück, auch wenn sie feststellen müssen, dass die Villa von Neles Vater völlig verwüstet und damit erst einmal unverkäuflich ist. Innerlich grinst Paul sich eins, denn die langwierige Renovierung wird Nele Wochen oder Monate an sich binden. So stürzt er sich mit Feuereifer in die Arbeit, unterstützt von seinem besten Freund und Kollegen Rokko, der zurzeit allerdings in einem haarigen Clinch mit seiner Lebensgefährtin Anita liegt.
Dennoch scheint alles perfekt, bis Paul eines abends unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückkehrt, denn plötzlich muss er erkennen, dass Nele nicht die Alte ist. Etwas verschweigt sie ihm. Was ist nur passiert?
_Die große Liebe_
Mit seinem hervorragenden und gefühlvollen Roman [„Beziehungswaise“ 3970 hat sich Michel Birbæk in mein Herz geschrieben. Das vorliegende Buch „Nele & Paul“ versprach, in die gleiche Kerbe zu schlagen. Und tatsächlich beginnt das Buch in gewohnter Manier: Paul ist verzweifelt und trauert seit neun Jahren seiner großen Liebe hinterher. Ihn interessieren nicht die Dorfschönheiten oder die Kontaktanzeigen, die ihm sein bester Kumpel Rokko ständig vorliest. Ihn interessiert nur Nele, sie ist sein Ein und Alles, und das nicht nur in einer verklärten Erinnerung. Denn als sie wieder vor ihm steht, scheint alles perfekt.
Hier zeichnet Michel Birbæk über lange Strecken ein perfektes Glück. Nele und Paul knüpfen dort an, wo sie vor neun Jahren aufhörten, und auch wenn sie eigene Erfahrungen gemacht haben, andere Partner hatten und reifer geworden sind, passen sie zusammen wie der Topf zum Deckel. Auch Pauls Mutter Mor, die nach einem Unfall nur noch ein Bein hat und nun keinen Mann mehr kennenlernt, der in ihr die liebenswerte Frau und nicht den Krüppel sieht, fasst wieder Mut und schmiedet Pläne für die Zukunft.
Alles ist perfekt. Bis Pauls heile Welt einen erneuten Riss bekommt. Von einem Moment auf den anderen erkennt er Nele nicht wieder. Sie ist völlig weggetreten, aggressiv und apathisch. Kurz darauf „erwacht“ sie aus diesem Zustand und kann sich an nichts erinnern. Was ist bloß los mit ihr? Ist etwas unvorstellbar Schlimmes geschehen? Oder ist sie gar schwer krank? Paul macht sich daran, es herauszufinden.
Das ist der Moment, in dem „Nele & Paul“ fast zu einem Krimi wird, denn auch der Leser will nun unbedingt wissen, was eigentlich geschehen ist, was Nele so sehr zusetzt. Leider zeichnet sich recht schnell ab, in welche Richtung es weitergeht. Und leider geht es in eine Richtung, die mir zu abgeschmackt vorkommt. Zu dramatisch ist das, was uns Birbæk hier präsentiert, zu weichgespült das, was darauf folgt. Seine Geschichte nimmt an diesem Punkt eine Wendung, die ich nicht stimmig fand und die mir nur konstruiert erschien, um dem perfekten Liebesglück mehr Authentizität zu verleihen. Schade, denn diese Wendung und das daraus unweigerlich folgende Buchende trübten meinen Gesamteindruck sehr. Eine solche Wendung würde besser zum ZDF-Sonntagabendfilm passen.
_Mehr als nur Worte_
Doch eine Stärke bringt Michel Birbæk mit, auf die er sich offensichtlich stets verlassen kann, nämlich sein Talent, Situationen und Gefühle in die passenden Worte zu verpacken. Birbæk findet treffende Metaphern, die mitunter ins Komische abdriften und dem Leser ein Lächeln ins Gesicht zaubern:
|“Als November merkte, dass niemand den Kühlschrank ansteuerte, trottete er zu seiner Decke und ließ sich dort fallen wie Andy Möller bei einem Windhauch.“|
Auch als Leserin hatte ich sofort Andy Möller vor Augen, der selbst dann filmreif zu Boden geht, wenn der gegnerische Spieler noch fünf Meter entfernt ist und eher eine Ahnung am Bildschirmrand. November ist übrigens der Hund von Paul – mit seinen unvergleichlich schönen Seidenohren, die Paul gern liebevoll streichelt.
Aber es sind nicht nur die Metaphern, sondern auch die herrlichen Übertreibungen, die Ausschmückungen, die uns Situationen genau vor Augen halten und mir immer wieder positiv aufgefallen sind:
|“Wäre Van Gogh anwesend gewesen, hätte er gemalt, Shakespeare hätte gedichtet, Rio komponiert. Aber es waren bloß Dorfbewohner da, und das Einzige an Kunst, das hier betrieben wurde, war der Versuch, nicht zu viel neben die Schüssel zu kotzen.“|
Zuvor beschrieb Birbæk die Anmut, in der Nele und ihre gute Freundin Anita eine Kneipe schmissen. Er beschreibt sie als zwei schöne Frauen, die vom Leben gezeichnet sind, die dadurch aber noch mehr Ausstrahlung besitzen und mit ihren Komplimenten die Kneipenbesucher zum Erröten bringen. Dennoch relativiert Birbæk die Schönheit des Momentes, da außer Paul niemandem auffällt, welch einzigartiges Schauspiel die beiden Frauen abliefern. Herrlich!
Aber auch schwarzer Humor ist Michel Birbæk nicht fremd, denn eine seiner Hauptfiguren ist Mor, die ihren Lebensmut nicht verliert, obwohl sie sich einsam fühlt und die Hoffnung aufgegeben hat, einen Mann kennenzulernen, der über das fehlende Bein hinwegsehen kann. Birbæks große Kunst ist es, diese Figur nie dramatisch zu zeichnen. Zwar ist Mor ebenfalls vom Schicksal schwer gezeichnet, ihr amputiertes Bein findet mindestens genauso oft Erwähnung wie der allgegenwärtige kleine Hund November, aber in keiner Situation tendiert man dazu, Mitleid für Mor aufzubringen, einfach deshalb, weil sie ihr Leben so gut meistert. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, streut Birbæk Sätze ein, die fast schon unverschämt schwarzhumorig sind, aber so perfekt zu ihm passen:
|“Sohn einer Behinderten schneidet sich aus Solidarität Bein ab! Gemeinsamer Schuhkauf möglich!“|
Michel Birbæks Sprache ist nie eintönig, nie langweilig. Einmal bringt er den Leser zum Lachen, dann aber auch wieder zum Träumen. Denn die Liebe steht in diesem Buch nun einmal im Vordergrund, und hierfür findet Michel Birbæk wunderbare Worte, die nicht ins Kitschige abdriften, sondern einfach nur eine tiefe Liebe zum Ausdruck bringen:
|“Sie sah mich einen Moment lang an, dann schloss sie die Augen, rollte sich auf die andere Seite und schlief wieder ein. Ich lauschte in die Runde. Bis auf eine Amsel, die den Tag begrüßte, war nichts zu hören. Ich ließ meinen rechten Arm aus dem Bett hängen. November leckte mir die Hand. Ich suchte seine Seidenohren und streichelte sie. Links meine große Liebe, rechts meine tierische. Vielleicht würde ich für diese Nacht noch zu zahlen haben, aber was es auch kostete, nie würde mich jemand über den Preis jammern hören.“|
_Wie Topf und Deckel_
Im Mittelpunkt stehen, wie schon der Titel des Buches vermuten lässt, natürlich Nele und Paul. Die beiden verbindet eine gemeinsame Vergangenheit, die bis in die Kindheit der zwei zurückreicht, und vor allem eine ganz große Liebe, die auch nach neun Jahren Trennung nicht erloschen ist. Michel Birbæk zeichnet zwei sympathische Figuren, die in ihrem Leben viel erlebt haben und mitunter an ihrem Leid zu zerbrechen droh(t)en. Dadurch werden sie richtig menschlich, auch wenn die Liebe zueinander fast schon zu blütenweiß gewaschen scheint. Dennoch bleiben Paul und Nele stets greifbar und ihre Gefühle füreinander nachvollziehbar. Am Ende des Buches sind sie zu guten Freunden geworden, in deren Leben man einen kleinen Blick hineinwerfen durfte.
Fast noch besser gefallen hat mir aber Rokko – Pauls bester Freund, der mit ihm zusammen im Außendienst tätig war. Nach besagtem Unfall hat sich auch Rokko in den Innendienst zurückgezogen, um Paul Gesellschaft zu leisten. Eigentlich ist Rokko glücklich mit Anita liiert, doch dann zieht es ihn immer wieder zu anderen Frauen hin, was Anitas Geduld ziemlich strapaziert. Rokko ist ein Draufgängertyp mit einem schnellen Auto, der im Dienst nicht immer tut, was er soll. Dennoch verleiht Michel Birbæk ihm auch eine sehr gefühlsbetonte Seite.
Auch wenn November „nur“ ein kleiner Hund ist, lernen wir ihn fast so gut kennen wie die handelnden Personen. November ist allgegenwärtig. Er begleitet Paul beim Joggen, hechelt Mor in ihrem neuen schnellen Rollstuhl hinterher, er fängt all die Essensreste auf, die vom Tisch „fallen“ und er lässt sich immer wieder gerne die Seidenohren streicheln. Richtig schmunzeln musste ich, als Paul und Nele einen hohen Felsen erklimmen und von dort ins Wasser springen. Anschließend toben sie im Wasser und legen sich in Ufernähe auf eine Wiese, doch obwohl November den Weg nach unten kennt, bleibt er geduldig auf dem Felsen sitzen und wartet treu darauf, dass Paul ihn von dort abholt. Und auch wenn das einige Stunden dauern kann, so trägt November seinem Herrchen nichts nach, sondern begrüßt ihn freudig. So bekommt auch der kleine Hund richtig menschliche Züge.
_Abschied vom Neleland_
„Nele & Paul“ ist ein traumhaft schönes Buch, zumindest bis etwa hundert Seiten vor Schluss. Michel Birbæk erweckt seine Figuren zum Leben, sodass wir sie richtig liebgewinnen. Außerdem schafft er es mit seinen detaillierten Beschreibungen, uns in seine Geschichte hineinzuziehen. Es war wie ein Sog, der mich immer weiterlesen ließ – bis zu dem Punkt, an dem ich ahnte, wie sich alles auflösen würde. Nicht nur fand ich das Ende so vorhersehbar wie das Happy End bei Rosamunde Pilcher, sondern auch so abgeschmackt und kitschig, dass ich wirklich enttäuscht war. Dennoch ist „Nele & Paul“ ein echtes Wohlfühlbuch, das weit aus der Masse herausragt.
|397 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-7857-2350-0|
http://www.birbaek.de
http://www.luebbe.de
_Mehr von Michel Birbæk auf |Buchwurm.info|:_
[„Beziehungswaise“ 3970
[„Wenn das Leben ein Strand ist, sind Frauen das Mehr“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=714
Daniel Glattauer – Gut gegen Nordwind

Lieber Leo …
Harris, Robert – Ghost
Robert Harris ist ein absoluter Ausnahme-Autor. Punkt. Ob man nun seine erschreckenden Zukunftsvisionen „Vaterland“ oder „Aurora“ zur Hand nimmt oder ihn durch ein Stück antike Geschichte in „Pompeji“ oder „Imperium“ begleitet: Der Mann erstaunt immer wieder mit einer begeisternden Tiefe, die weit über die eigentliche Geschichte des jeweiligen Romans hinausgeht. Mit „Ghost“ hat der britische Bestseller-Schreiber ein weiteres ambitioniertes Projekt aus der Taufe gehoben. Eine Art Abrechnung mit der Politik soll es sein – allerdings eine, die sich erwartungsgemäß nicht auf die üblichen Klischees des Polit-Thriller-Sektors stützt.
_Inhalt:_
Der kürzlich aus dem Dienst geschiedene britische Premier Adam Lang bereitet traditionsgemäß eine Nachlese zu seinem Abschied vor. Michael McAra, ein langjähriger Begleiter des Staatsoberhaupts, soll die Memoiren des einstigen Ministers schreiben und ihn so noch einmal als Ehrenmann würdigen. Doch McAra kommt auf mysteriöse Art und Weise ums Leben und räumt seinen Platz für einen Skandal-Biografen, der dafür bekannt ist, selbst die glattesten Karrieren bloßzustellen.
Doch als McAras Nachfolger seinen Dienst antritt, wird er mit zahlreichen ominösen Hindernissen konfrontiert. Er darf das Manuskript seines Vorgängers nicht aus seinem zeitweiligen Arbeitsplatz entnehmen, sieht sich einer verschworenen Mannschaft um den geschiedenen Politiker ausgesetzt und erlebt zudem, dass die Familienbande im Hause Lang deutlich angeknackst sind.
Verheerender als dies scheint jedoch der Umstand, dass die Gerüchte um einen unnatürlichen Tod McAras nicht abflauen. Unbedarft forscht Langs neuer Memoiren-Spezialist inkognito im Skript des Dahingeschiedenen und begibt sich schließlich auf dessen Spur. Als Lang dann auch noch öffentlich angeklagt wird, mit der CIA gemeinsame Sache gemacht zu haben und bei der Entführung und Folterung vier mutmaßlicher Terroristen beteiligt gewesen zu sein, scheint der Eklat perfekt. Ränke und Intrigen scheinen sich im Umfeld es Ex-Premiers zu manifestieren – und mittendrin steht ein Mann, der einen Mythos analysieren soll, der als solcher womöglich gar nicht existiert.
_Persönlicher Eindruck:_
Auf dem Buchrücken von „Ghost“ hat der Verlag die Anmerkung platziert, dass dieses Buch die endgültige Abrechnung mit dem Politiker Blair sein soll. Diese Suggestion weckt natürlich gewisse Erwartungen, die Harris jedoch nur bedingt erfüllen kann, vor allem aber auch nur bedingt erfüllen möchte. Der Autor beschäftigt sich nämlich im Wesentlichen keinesfalls mit einer Politiker-Biografie, sondern entblättert vielmehr das Leben einer Führungspersönlichkeit und die merkwürdigen Gerüchte und potenziellen Skandale, die sich um eine solche Existenz aufbauen können.
Der Ansatz ist dabei mal wieder unheimlich interessant und eröffnet dann auch die Parallele zu besagtem früheren Premier: Harris unterstellt eine Art Selbstbetrug durch die offensichtliche Fälschung des eigenen Handelns in der literarischen Nachlese. Mittels der karriereträchtigen Memoiren soll die politische Führung nicht nur beschönigt, sondern die gesamte Autobiografie ins Rosarote verschoben werden, damit die verdeckten Skandale und Affären unter dem Schwarzweiß-Druck für immer ins Reich der Mythen befördert werden. Gewohntermaßen hat der Autor hierzu wieder einige kluge Charaktere in den Plot eingebaut, wie etwa den Protagonisten, der die Geschichte aus seiner eigenen Perspektive erzählt, hierbei anonym bleibt, aber eben nicht den naiven Typen mimt, den die Lang-Familie für diesen Posten gerne gehabt hätte. Seine Ermittlungen und Analysen der Historie des Premierministers stoßen alsbald auf Widersprüche, die er wiederum dem peniblen Forschungsdrang seines offensichtlich nicht natürlich umgekommenen Vorgängers zu verdanken hat. Und hier beginnt die Geschichte eigentlich erst richtig …
Zu Beginn zieht sich die Handlung allerdings erst einmal ziemlich träge vorwärts. Die Zusammenkunft des Ghostwriters, der hier im Hintergrund für die rechte Politur der Memoiren sorgen soll, mit seinem Auftraggeber ist unspektakulär und langwierig, vor allem aber noch nicht besonders stimmungsvoll. Die Geschichte baut sich verhalten auf, wird dabei Gott sei Dank mit Harris‘ typischem, beißendem Zynismus vorangetrieben, kommt aber erst relativ spät auf den Punkt. In der Zwischenzeit zeichnet der Autor ein feines Diagramm des Lebens in der High Society und beleuchtet hierbei die menschlich-emotionalen Anteile, dies aber wiederum mit einer Nüchternheit, die zuerst abschreckt, dafür aber umgehend den Zugang zu den Personen verschafft. Viele paradoxe Gegebenheiten kommen in „Ghost“ zusammen und stellen letzten Endes die solide Basis für den Plot.
Die (politische) Brisanz hat sich Harris indes für den letzten Teil seines Romans aufgespart, dem Grand Finale, in dem er aber weiterhin auf Effektreichtum und große Ausschweifungen verzichtet und stattdessen ein echtes Drama ausmalt, das genauso rasant wieder beendet wird, wie es kontinuierlich bis zu einem gewissen Höhepunkt wahrlich begeisternd authentisch geschildert wurde.
Die Krux der Rezension besteht nun darin, auf dieses stille Meisterwerk aufmerksam zu machen, ohne jedoch die wesentlichen Inhalte zu verraten. Während dies allgemein jederzeit eine lösbare Aufgabe scheint, tut man sich diesbezüglich mit „Ghost“ unheimlich schwer. Es passiert im Grunde genommen gar nicht viel, doch das, was passiert, ist von einer solchen Tragweite, dass es durchaus auch langfristig zum Nachdenken anregt. Die Story ist pikant, der Umgangston meisterhaft, die Erzählung informativ, aber dennoch lebhaft und der tiefgründige Humor fabelhaft. Oder um es anders zu sagen: Harris hat es wieder geschafft, ein Buch zu schreiben, das gerade deshalb so gut zu ihm passt, weil es eigentlich gar nicht zu ihm zu passen scheint. Paradox? Auf jeden Fall. Aber das sind die Bücher des begnadeten Briten eigentlich immer – und dennoch so beängstigend realistisch.
_Fazit:_
„Ghost“ ist im Gesamtkatalog vielleicht das unauffälligste Buch von Robert Harris, deswegen aber sicher nicht weniger lesenswert. Enttäuschend ist lediglich das Ende, aber das womöglich auch deshalb, weil man ein Spektakel erwartet, das dieser Autor jedoch bewusst nicht liefert. Lässt man diesen Aspekt außer Acht, darf man sich wirklich über ein neues Klassewerk des Bestseller-Garanten freuen.
|Originaltitel: Ghost
Originalverlag: Heyne
Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
Taschenbuch, Broschur, 398 Seiten
ISBN-13: 978-3-453-40614-8|
http://www.heyne.de
Mehr von Robert Harris auf |Buchwurm.info|:
[„Vaterland“ 1485
[„Pompeji“ 274
[„Pompeji. Das Hörspiel“ 3530
[„Imperium“ 2916
Ferris, Joshua – Wir waren unsterblich
Als Debütant ist es nicht immer leicht, mit seinem Werk eine Nische auf dem Buchmarkt zu finden, die noch halbwegs unbesetzt ist. Joshua Ferris‘ Büro-Roman ist ein guter Schritt in diese Richtung. So attraktiv ein gut bezahlter Job in einem Hochhaus im alltäglichen Leben auch ist, glaubt doch niemand, dass sich aus Überstunden und Kaffeepausen eine gute Geschichte spinnen lässt.
„Wir waren unsterblich“ spielt in einer Abteilung einer erfolgreichen Chicagoer Werbeagentur. Die Mitarbeiter zeichnen sich durch lasches Arbeitsverhalten, Hang zum Tratsch und sehr unterschiedliche Charaktere aus. Doch das ändert sich, als die Aufträge weniger und Sparmaßnahmen ergriffen werden. Nun lästert man nicht mehr darüber, wer was mit wem hat, sondern wer als Nächster „spanisch den Flur hinuntergehen“ wird – wie man eine Kündigung in Anlehnung an einen Tom-Waits-Song nennt.
Die Reihen in der Abteilung lichten sich, auch wenn die Fehlenden keine große Lücke hinterlassen. Nicht alle kommen dabei mit der Kündigung gut zurecht. Chris Yop taucht auch danach im Büro auf und kann das Projekt, das er begonnen hatte, nicht unvollendet lassen. Tom dagegen greift zu verheerenderen Maßnahmen. Währenddessen unterhält man sich darüber, ob die Chefin Lynn Mason wohl Brustkrebs hat, warum Janine in der Mittagspause bei McDonalds in einem Ballbad sitzt und ob Amber das Kind abtreiben wird, das einer Büroaffäre mit Larry entsprungen ist.
Zugegebenermaßen stellt man sich ernsthaft die Frage, wie ein Autor für diesen Stoff beinahe 450 Seiten aufbringt. Das ist ja nicht unbedingt spannend, denkt man sich, und trotzdem fällt es schwer, den Roman aus der Hand zu legen. Hauptsächlich in Form von Kollegentratsch, teilweise aber auch aus der Perspektive der Betroffenen verfolgt der Autor die Schicksale der einzelnen Personen. Diese sind von ganz alltäglicher Natur und spiegeln die heutige Gesellschaft und auch die Sitten in Büros wider. Der eine oder andere wird sich sicher wiedererkennen in den ausgefeilten, sehr unterschiedlichen Charakteren (oder zumindest seine Kollegen darin entdecken …). Über allen schwebt dabei eine Wolke aus Tristesse, die mit gut bezahlten Jobs einhergeht, auch wenn Ferris nicht den Fehler macht, dieses Thema auszuschlachten. Die Annehmlichkeiten, die mit einem gefüllten Konto einhergehen, werden häufig nur am Rande erwähnt. Im Mittelpunkt steht der Büroalltag, und diesen weiß er gut zu beschreiben und mit diversen komischen Situationen aufzupeppen.
Komisch ist das Buch sicherlich, aber eher im Sinne einer Tragikomödie. Für alles andere ist das Buch zu authentisch. Außerdem bringt der Autor nicht auf Teufel komm raus einen Kalauer nach dem anderen, sondern lässt den Humor aus dem Zusammenspiel aus Personen und Ereignissen entstehen. Überspitzt dargestellte Szenen sorgen dafür, dass der Leser mit einem Auge lacht und mit dem anderen weint. Auf der einen Seite sind die Geschehnisse amüsant, auf der anderen erinnern sie ziemlich stark an das eigene Verhalten.
Zu den Besonderheiten des Buches gehören der Umgang mit den Personen und die Erzählperspektive. Von einigen Ausnahmen abgesehen, schreibt Ferris aus der Wir-Perspektive, um den Abteilungscharakter aufrechtzuerhalten. Die Personen werden dabei häufig mit Vor- und Nachnamen genannt und es findet nur selten ein Einblick in ihr Gefühlsleben statt. Es wird viel geredet, manchmal berichtet er aus dem kollektiven Gedächtnis der Abteilung. Er wahrt Distanz zu seinen Figuren, so dass dem Leser die Rolle als Beobachter zugewiesen wird. Unweigerlich entwickelt man Sympathien für bestimmte Charaktere, während andere entweder Mitleid erregen oder abstoßend wirken. Der Autor selbst nimmt dabei keine Wertung vor. Alle unsympathischen Figuren haben irgendeine Geschichte oder zumindest Gründe für ihr Verhalten, die nüchtern geschildert werden.
Der Schreibstil ist entsprechend beinahe analytisch, chronistisch, ohne kühl zu wirken. Die Konzentration auf menschliche Schicksale und das Miteinander unter den Kollegen sorgt für eine angenehme, warme Atmosphäre. Diese wird zusätzlich unterstützt durch die Wir-Perspektive und den amüsanten Anstrich. Ferris zielt mit seiner Wortwahl nie auf Schenkelklopfer ab. Vielmehr wird es häufig dann witzig, wenn die Personen in Dialog treten und sich gegenseitig einen Schlagabtausch liefern.
Und so kommt, was kommen muss, wenn im Autorenporträt mit einem weltweiten Verkauf des Manuskripts geworben wird: „Wir waren unsterblich“ gewinnt vor allem dank des einnehmenden Schreibstils und der Quintessenz der Geschichte – die Lebensgeschichten sehr unterschiedlicher Menschen und deren Miteinander in einer Abteilung – an Fahrt. Joshua Ferris‘ Debütroman wird sicherlich nicht jedem zusagen. Wer es spannend und actionreich mag, wird wenig mit dem Roman anfangen können, doch wer gerne in die Leben anderer Menschen schaut, ist hier an der richtigen Adresse.
|Originaltitel: Then we came to the end
Deutsch von Frank Wegner
443 Seiten, Paperback
ISBN-13: 978-3-499-24410-0|
http://www.rowohlt.de
Auster, Paul – Mann im Dunkel
Dies ist keine Buchbesprechung, sondern eine Huldigung. Wem das missfällt, der sollte sofort die Lektüre einstellen. Wer die nicht existente, durch äußeren Anstrich verdeckte Grenze zwischen Literatur und Kult nicht erkennt oder einfach eine andere Art der Literaturkritik erwartet, muss unabwendbar enttäuscht werden. Dies ist ein Tanz auf dieser Grenze.
Wir huldigen keinem Schöpfer, auch wenn ich innerlich mit mir streite, es vielleicht doch zu tun. Auch wollen wir kein Buch ins Zentrum unseres Kultes erheben. Stattdessen soll einer Idee, einem Thema gehuldigt werden. Das mag recht absichtsvoll klingen, doch fällt es mir schwer, einen passenden Begriff für das Sujet zu finden, das wir hier verehren wollen. Fest steht, dass unser Sujet das Thema von Paul Austers neuem Buch „Mann im Dunkel“ ist. Es ist ein rätselhaftes Buch, vielleicht Austers rätselhaftestes. Austers Thema entbehrt eben eines eindeutigen Begriffes. Ich kann nicht benennen, ich muss beschreiben:
Ein alter Mann erinnert sich, macht sich Gedanken über sein Leben, seine Familie und seine Fehler. Er versetzt sich an besondere Orte innerhalb seiner Gedanken, die allesamt von demselben Zustand berichten: von der Zerrissenheit zwischen Welt und Selbst. Hier haben wir unser Sujet.
In eben diesem Gedankenspiel entstehen unterschiedliche Parallelwelten: Die „wunderliche Welt“, die ganz Poesie ist. Die „große kaputte Welt“, in die es gilt hinauszuziehen, um zu entdecken, „wie es sich anfühlt, ein Teil ihrer Geschichte zu sein.“ (S. 212). Und dann die „unsichtbare Welt“, die scheinbar nicht existiert und doch schmerzhaft ihre Spuren im Leben hinterlässt. Alle diese Welten werden in der Zerrissenheit des Subjektes erst deutlich, die Weltgeschichte verläuft keinesfalls parallel, sie verändert sich je nach Erinnerung, Einbildung und Gedanke. Gewiss gibt es eine kollektive Instanz, ein Alltagsmuster, das rügt und mahnt, dass es nur eine kollektive Geschichte gäbe. Das erfährt auch Austers Mann im Dunkel, doch kollektive Instanzen können sich irren, und dann fügt sich am Ende doch alles zusammen: Subjekt wird Welt und Welt wird Subjekt. „Das Reale und die Einbildungen sind eins.“ (S. 216)
Paul Austers „Mann im Dunkel“ beschreibt keine herkömmlichen Reflexionen eines Menschen im letzten Lebensabschnitt. Es geht um mehr. Um Möglichkeitsräume, um Realitätsmodelle und die huldigungswürdige Idee, dass sich der Mensch von Alltagsmustern befreien kann, um nicht wie Austers Romanfiguren Brick und Flora „in ihrem ehelichen Nichts“ (S. 120) nur dahinzutreiben, um das „kleine Leben“ eines Menschen zu leben, der dem Irrtum auferlegen ist, „dass es nur diese eine Welt gibt und das alltägliche Einerlei“ (S. 120). „Mann im Dunkel“ ist auch ein nachdenkliches Buch. Ein poetisches. Und in eben dieser Poesie, die beschreibt, nicht benennt (keinen exakten Begriff findet), legt Auster seine Geschichte an, lässt den Mann im Dunkel wachliegen, nachdenken, erinnern und resümierend erkennen: „Gedanken sind real, selbst Gedanken an nicht reale Dinge.“ (S. 216) Und dem wollen wir huldigen.
|Originaltitel: The Man in the Dark
Deutsch von Werner Schmitz
219 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-498-00080-6|
http://www.rowohlt.de
Shepard, Lucius – Hobo Nation
_Reiter des ‚Stahls‘: Hobos zwischen Himmel und Hölle_
Im Jahr 1998 schreibt der Autor Lucius Shepard eine Reportage über eine mutmaßliche Hobo-Mafia namens FTRA für die amerikanische Zeitschrift „Spin“. Im Rahmen seiner Recherchen reist er mit den Tramps, den Ausgestoßenen und Gescheiterten der Gesellschaft, auf Güterzügen durch die USA. Es wird eine Reise ins dunkle, sagenumwobene Herz des amerikanischen Kontinents, dorthin, wo die Legenden und Mythen von Woody Guthrie und Jack Kerouac noch lebendig sind. Aber es gibt auch die Hardpunks, die ganz anders als romantisch drauf sind. Und es gibt Mörder.
Wie ist es tatsächlich um die die „große Freiheit der Schienen“ und des weiten Landes fernab aller gesellschaftlichen Zwängen und Konventionen bestellt? Die Reportage verrät es uns. Der Band vertieft diese Informationen mit zwei Erzählungen, darunter das laut Verlag preisgekrönte „Drüben“ (der Name der Auszeichnung wird aber nicht angegeben). Sie entstanden aus Shepards Erfahrung des Lebens am Rande heraus und soll laut Verlag zeigen, „wie die Phantasie des Schriftstellers reales Erleben in große Literatur verwandelt“. Da bin ich mal gespannt.
_Der Autor_
Lucius Shepard, geboren 1947, zunächst ein Rockmusiker, Bordellrausschmeißer und Dichter, war in den achtziger Jahren einer der wichtigsten SF-Autoren, der mehrfach mit Preisen des Genres ausgezeichnet wurde. In seinen Erzählungen „Salvador“ (1984) und mit dem Roman „Das Leben im Krieg“ (1987) setzte er sich sehr kritisch und provokativ mit dem Engagement der Vereinigten Statten unter Präsident Reagan in Mittelamerika auseinander. Die CIA, das Pentagon und sicherlich noch andere Behörden des Geheimdienstapparates bildeten Contras aus: Sie sollten in El Salvador und Nicaragua gegen das sozialistische Regime operieren. Die Folge war ein Stellvertreterkrieg, in dem nicht nur Tausende von Zivilisten ums Leben kamen, sondern auch die Iran-Contra-Affäre (Waffenschmuggel) die totale Amoralität der Verantwortlichen im Pentagon offenlegte.
Mit seinen anderen Werken war Shepard nicht so erfolgreich. In „Grüne Augen“ (1984) stellt die CIA illegale Experimente zur Wiederbelebung von Leichen an; in dem Kurzroman „Kalimantan“ wandelt die Hauptfigur auf den Spuren Joseph Conrads. Aber jede Erzählung Shepards hält ein gutes Leseerlebnis bereit, so etwa in „Delta Sly Honey“ (1989) und „Muschelkratzer-Bill“ (1994). Die Fantasy-Story „Der Mann, der den Drachen Griaule malte“ (1984) bildet mit „The Scalehunter’s Beautiful Daughter“ (1988) und „Father of Stones“ (1988) eine schöne Sequenz aus der High Fantasy.
Zuletzt veröffentlichte |Edition Phantasia| die Kurzromane „Endstation Louisiana“, „Aztech“ und „Ein Handbuch amerikanischer Gebete“. „Hobo Nation“ ist teils Reportage, teils Erzählungen.
Mehr von Lucius Shepard auf |Buchwurm.info|:
[„Ein Handbuch amerikanischer Gebete“ 3176
[„Endstation Louisiana“ 5517
_1) Einleitung: Der Stahl_
Der Autor berichtet von seinem Auftrag für die Reportage und wie er sie umsetzte. Er stieß auf die Güterzug-Tramps, die es seit Ende des Bürgerkriegs 1865 gibt, auf ihr Leben und ihre Mythen. Poeten und Künstler wie Portland-Dave verehren die Güterzüge als den Gott „Stahl“ oder als „Die Kreatur“, und selbst den Autor erinnern sie an die Riesen-Sandwürmer in [„Der Wüstenplanet“. 5333
Diesen Mythos wollte er einfangen und für die Nachwelt bewahren. Denn die Hobos sind vom Aussterben bedroht. Die Eisenbahngesellschaften statten ihre Rangierbahnhöffe mit immer raffinierterer Warntechnik aus, um illegale Mitfahrer abzuschrecken. Aber es sei Aufgabe des Künstlers, so der Autor, diese Lebensform und Kultur zu bewahren, als handle es sich um einen versinkenden Kontinent. Ohne diese Region werde die Landkarte Amerikas stets unvollständig sein.
Hier ist der Autor ebenso sachlich wie in seiner Reportage. Allerdings fasst er hier bereits seine Beobachtungen zusammen. Danach erst folgt der „Ermittlungsbericht“, der sie rechtfertigt und belegt. Die Spannung steigt …
_2) Die FTRA-Story (Reportage)_
Gibt es wirklich eine Hobo-Mafia, wie manche Gazetten und TV-Berichte unterstellen? Der Autor machte sich für einen Artikel auf die Socken, um dieser Frage auf den Grund zu gehen. Er hört überall bei den Behörden die Bezeichnung FTRA: Freight Train Riders of America. Ja, die seien gefährlich, tönt der Polizist Grandinetti, und sie seien Mörder. Zu ihrem Aufnahmeritual für Frauen gehöre Vergewaltigung. Na, das klingt aber martialisch, denkt Shepard. Und obendrein nach einer Verschwörung wider die Rechtschaffenen Amerikas. Ob da was dran ist?
Er beschäftigt sich mit der Tradition und der Geschichte der Hobos. Er hört von berühmten Hobos wie dem Folksänger und Aktivisten Woody Guthrie, der zu Bob Dylans Vorbild wurde. Aber die modernen Hobos scheinen doch einiges auf dem Kerbholz zu haben. In Kneipen, Missionen und auf geheimen Treffen der Hobos hört er immer wieder, dass es ganz schön rau und blutig zugehe unter den Güterzugfahrern. Auch von etlichen Morden ist die Rede. Und das klingt ganz schön authentisch.
Aber von der FTRA hält keiner was. Ja, Leute wie der Poet Adman lehnen jede Verbindung zur FTRA ab. Und die Leitung der Eisenbahngesellschaft Union Pacific kennen Grandinettis „Horrorgeschichten“ über die FTRA, aber von einer Verschwörung könne keine Rede sein. Shepard merkt, dass man zwar schwer an die bekannten FTRA-Mitglieder wie Erie Flash rankommt, sie sich dann, nach ein paar Flaschen Whisky, aber als ganz umgänglich erweisen können. Militant sind sie jedoch nicht, und eine Organisation sind sie erst recht nicht. Es gibt keinen Anführer.
Ein Bild von verschiedenen Generationen und vielen kulturellen und ethnischen Gruppen schält sich heraus, von den alten, romantisch veranlagten Konservativen, den etwas Abgehobenen wie Adman bis hin zu Punks und Gossenpunks, den härtesten und jüngsten Gruppen. Darunter sind Aussteiger, Ausgestoßene, verkrachte Existenzen, kurzum: lauter Treibgut am Rande und außerhalb der US-Gesellschaft. Was sie alle eint, sind das Fahren und das Leben unter den Sternen. Kurzum: die Freiheit, nichts mehr zu verlieren zu haben. Außer dem Güterzugfahren.
|Mein Eindruck|
Die Reportage müllt den Leser nicht mit Fakten und Zahlen zu. Stattdessen vermittelt der Autor Ansichten, Berichte, Meinungen und viele eigene Beobachtungen. Das sind die besten Szenen und glaubwürdigsten, wenn auch subjektivsten Eindrücke, die er vermittelt. Fazit ist, dass es weder eine Hobo-Mafia noch eine Verschwörung gibt. Dafür sind die Hobos viel zu heterogen und auf Unabhängigkeit bedacht.
Aber auf diesem Fundament kann der Autor seine zwei Erzählungen aufbauen. Ergo muss man durch die Reportage durch, wenn man die Erzählungen verstehen will.
_3) Drüben (Kurzroman)_
Billy Long Gone ist ein Hobo. Auf dem Güterbahnhof von Klamath Falls, Oregon wird ihm jedoch sein Deutscher Schäferhund Stupid gestohlen. Und als Hobo einen Hund zu verlieren, ist wie eine treue Seele zu verlieren. Stupid muss wieder her. Billy packt den Axtstiel, den er immer zur Verteidigung bei sich hat, fester und durchsucht die Züge in Klamath Falls. In einem langen Monsterzug findet er auch Stupid, doch auch einen seltsamen Mann, der den Hund nicht mehr hergibt. Das macht Billy wütend, doch er muss auch herausfinden, dass er gegen den Fremden nichts auszurichten vermag. Das Einzige, was ihm zu tun übrig bleibt, ist die Mitfahrt, egal wohin.
Der Zug fährt nach Drüben, verrät ihm Pie alias Pieczynski, der Fremde. Es ist ein besonderer Zug, versteht sich, und die Strecke ist ebenso besonders: durch unbekannte Berge und an Sümpfen vorbei durch eine Ebene, bis sie wieder zu Bergen gelangen: zur Endstation. Unterwegs sieht Bill zu seinem Entsetzen schwarze geflügelte Wesen, die wie Vampire den benachbarten Zug angreifen, der auf dem Parallelgleis fährt. Es sieht aus, als wäre der Zug lebendig und würde von den Vampiren angegriffen und ausgesaugt.
|Das Drüben|
Die Endstation Drüben stellt sich als ein Riesenbaum heraus, doch das Haus hat jede Menge Zimmer mit anderen Ex-Hobos wie Billy. Eine längst Verflossene namens Annie Ware (= anywhere, überall), an die sich Billy, der Ex-Alki, nicht mehr zu erinnern vermag, weist ihm wütend sein Zimmer zu. Er muss ihr wirklich was Schlimmes angetan haben, aber was nur? Sie verrät es ihm nicht. Er muss wohl seinen halben Verstand versoffen haben. Nachdem sie es ihm gesagt hat, bittet er sie reumütig um Verzeihung, so dass sie ein richtig gutes Paar werden können.
Doch dieses Drüben scheint für Billys Geschmack zu sehr in Stagnation zu versinken. Ist dies ein Paralleluniversum oder nur eine Computerspielsimulation? Es ist einerlei für den, der darin lebt. Aber das Drüben kennt auch Grenzen und Gefahren. Als erst ein guter Angelfreund von einem Wasserungeheuer verschlungen und dann der Baum auch noch von fladenförmigen Flugwesen angegriffen wird, die Menschen mit Gift töten, platzt Billy endgültig der Kragen: Er muss hier weg!
|Zum Jenseits|
Annie erklärt sich nach einigen Protesten bereit, ihn über die „Mauer“ des Gebirges zu begleiten. Nach einer Abschiedsfeier besteigen sie den nächsten Zug und kuscheln sich in den Schlafsack, denn es wird saukalt. Zudem wird der Zug wird von den schwarzen Flugmonstern, den Beardsleys, angegriffen, und sie verletzen Billy. Dennoch hält das Paar so lange durch, bis es die Endstation erreicht.
Hier liegt überall Schnee, und über den weißen Hügeln und Gipfeln zucken violette Blitze, die das schweigende Land in ein gespenstisches Licht tauchen. Billy und Annie wollen in den Wald, doch die Hügel, die zuvor so harmlos aussahen, erheben sich und entpuppen sich als eine Art Yeti – mit einem eindrucksvollen Gebiss. Die einzige Rettung bietet der schnurgerade verlaufende Fluss, und Annie springt ohne zu zögern hinein. Sie taucht nicht wieder auf, was Billy so besorgt macht, dass er hinterherspringt.
Er erwacht in einer Mulde auf einem trockenen Hügel. Aber neben Annie liegen noch drei weitere „Besucher“ hier. Nirgendwo Schnee. Er späht ins Tal hinab, dort liegt eine Blockhüttenstadt wie im Wilden Westen. Mit einem kleinen, aber unübersehbaren Unterschied: Aus ihrer Mitte ragt ein weißer Turm, der durchsichtig ist. Violette Blitze zucken darin, und er ragt bis in den Himmel. Liegt dort seine Bestimmung? Er wird es herausfinden.
|Mein Eindruck|
Die Handlung folgt dem klassischen Muster der amerikanischen Reisegeschichte. Es ist immer eine Reise der Hauptfigur zu sich selbst und darüber hinaus. Insofern weist eine Reise immer auch einen spirituellen Aspekt auf. Billy folgt einem Gefährten (Stupid) und gerät in eine Abenteuer, doch nach einer Phase der Stagnation und des Kennenlernens eines weiteren Gefährten (Annie), bricht er aus diesem Pseudo-Elysium aus, um die Grenze zu überschreiten. Er wird zum Pionier, wie ihn die amerikanische Mythologie verherrlicht. Jenseits der Grenze und allgemeiner Erfahrung erschaut er das Mysterium, das ihm hilft, sein bisheriges Dasein zu transzendieren (lat. „transcendere“: überschreiten).
In diesem Handlungsverlauf spiegelt sich, wie gesagt, eine innere Entwicklung des Helden wider, nur dass dieser diesmal ein Hobo ist, ein Outlaw. Billy folgt dem Weg wie die Hauptfigur in Shepards Kurzroman „Kalimantan“ und wie Malory in Joseph Conrads Roman [„Herz der Finsternis“, 1538 der Vorlage zu Coppolas „Apocalypse Now“. Dieser Hinweis genügt, um klarzumachen, dass das jenseits der Grenze liegende Territorium ein innerer Raum der Seele ist, an dem sowohl unaussprechlicher Schrecken (der Herrschaftsbereich von Colonel Kurtz) als auch größte Schönheit im Mysterium liegen.
Wenn dies also sowohl Hölle als auch Himmel auf Erden ist, erhebt sich die Frage, welche Art von Jenseits für einen reuigen Hobo vorgesehen ist. Dieser Pilger hat den „Stahl“, die Züge, benutzt, um die Fahrt zu ertragen, hat Angriffen widerstanden, Wunden davongetragen und seine Gefährtin beschützt. Sicherlich genügt dies doch, um ihn für den Eintritt in den Himmel zu qualifizieren, oder? Der in den Himmel ragende Schacht deutet dies an, doch ganz sicher darf man sich da bei Shepard nie sein.
_4) Die Ausreißerin_
Madcat ist vor Jahren wegen seiner Migräneanfälle und Blackouts arbeitsunfähig geworden und hat Arbeit und Familie verloren. Inzwischen hat er sich zu einem gewieften Hobo entwickelt. Er mag zwar seinen Schnaps wie jeder andere auch, aber er weiß, wo das Leben als Hobo halbwegs gut ist. Deshalb will er von der kalten Nordgrenze runter nach Tucson, ins warme Grenzgebiet nach Mexiko.
In Spokane, Idaho, schließt sich ihm eine junge Ausreißerin an, die vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein mag, aber unter ihrem T-Shirt schon schwere Brüste verbirgt. Grace will nach Kalifornien, um bei einem reichen Onkel ein leichtes Leben anzufangen. Aber gerade hat jemand ihren Begleiter Carter erschlagen und sie warnt Madcat vor dem Irren, der hier rumläuft. Sie bittet Madcat, sich ihm anschließen zu dürfen, und würde auch in „Naturalien“ für ein wenig Schutz und Begleitung bezahlen. Gegen die weibliche Art von „Naturalien“ hat Madcat nichts einzuwenden, und Grace scheint trotz ihrer roten Dreadlocks in Ordnung zu sein. Ihre tiefblauen Augen haben es ihm sogar angetan.
In Klamath Falls, Oregon, kommt es jedoch zu einer schicksalhaften Begegnung. Sie treffen auf zwei Hobos, von denen der eine, F-Trooper, ein Indianer, sich sofort beim Anblick der Neuankömmlinge verdrückt. Kaum hat sich Madcar ein bisschen mit dem anderen Hobos unterhalten, als F-Trooper wieder auftaucht und wütend einen Axtstiel gegen Madcat schwingt. Ist er eifersüchtig wegen Grace? Im Handgemenge werden beide verletzt und Madcat erleidet einen schweren Migräneanfall, der ihn halluzinieren lässt. Grace warnt Madcat, dass F-Trooper vielleicht der Mörder von Carter ist. Und der Indianer ist keineswegs tot und erhebt sich noch einmal zum Kampf …
|Mein Eindruck|
Dies ist eine wunderbar actionreiche, sinnliche Kurzgeschichte, die man wohl nicht so schnell in einer Science-Fcition-Anthologie finden dürfte. Madcat ist ein Hobo, wie er im Buche steht, aber Grace ist eine explosive Mischung aus Aphrodite und Medusa, die Madcats Leben ganz schön aufmischt, bis es zu einem Showdown kommt. Und danach wartet auf das ungleiche Paar an diesem Scheideweg entweder die Hölle oder der Garten Eden. Blutrot ist der Abendhimmel, doch in dieser Richtung, das weiß Grace ganz genau, liegt Kalifornien, das Gelobte Land.
Grace, das versteht sich von selbst, ist für die Sinnlichkeit in der Geschichte zuständig und Madcat für die abschließende Action im Showdown. Die beiden sind zwar nicht gerade Romeo und Julia, aber dass sie eine gemeinsame Bestimmung haben, wird dem Leser – und Madcat – bald klar. Bis der Schatten des Bösen und der Vergangenheit überwunden ist, ist eine heftige Auseinandersetzung notwendig, bei der sich Madcat selbst überwinden muss.
Er hat die Wahl: Will er ein Mörder wie der besoffene Indianer F-Trooper werden? Ist er am Ende selbst an Carters Tod, begangen in einem Blackout, schuldig? Oder kann ihn Grace erlösen? Am Schluss sagt sie einen wunderbaren Satz, der sehr simpel und altklug klingt: „Du bist meine Stärke, aber ich bin dein Herz.“ Klasse.
|Die Übersetzung|
Während der sprachliche Stil ziemlich in Ordnung ist, stolperte ich immer wieder über doppelte Wörter und ausgelassene Buchstaben. Am meisten verwirrten mich jedoch Entstellungen der ursprünglichen Namen. So müsste es statt „Bitterfoot Mountains“ (S. 25) wohl „Bitterroot Mountains“ heißen, wie jeder weiß, der schon mal die Geschichte des „Wilden Westens“ gelesen hat. Aus „Kalipsell“ müsste „Kalispell“ werden. Aber das sind lässliche Sünden. Im unten erwähnten Artikel aus der |Süddeutschen Zeitung| hat die automatische Rechtschreibung aus dem Ort „Klamath Falls“ das lächerliche „Klamauk Falls“ kreiert. Es geht also schlimmer.
_Unterm Strich_
Vom Faktischen der Reportage bewegt sich der Tenor des Inhalts dieser Sammlung hin zum Fiktionalen und Fiktiven der zwei Erzählungen. Die Reportage fand ich recht spannend, aber man muss ein wenig Geduld aufbringen, denn der Autor führt sehr viele Zeugenaussagen an, um seinen Befund zu belegen, dass es keine Hobo-Mafia gebe.
Von den beiden Erzählungen hat mir die Shortstory „Die Ausreißerin“ sehr gut gefallen, denn der Autor kommt schnell zur Sache. Ich habe mich gefragt, warum sie nicht dem Kurzroman vorangestellt wurde, aber dann fiel mir auf, dass es hier um ein Pärchen unter den Hobos geht. Und die Paarbildung ist eine komplizierte Sache, der erst einmal in der Novelle ausführlich dargestellt werden muss, bevor man sie in der Kurzgeschichte in ihrer ganzen Bedeutung würdigen kann.
Außerdem bietet der Schluss der Novelle einen transzendenten Ausblick auf den Himmel der Hobos, das „Drüben“ und das „Jenseits“. Damit der Eindruck des Mystischen und Spirituellen nicht zu stark zurückbleibt, bringt die Kurzgeschichte den Leser wieder auf den Boden der Tatsachen, und die sind alles andere als spirituell (sondern haben mehr mit Spirituosen zu tun). Der Himmel der Hobos wird hier zu einem ziemlich weltlichen Ort, nämlich Kalifornien, das Gelobte Land der „Hobo Nation“. Wer weiß, ob nicht die schwere Rezession, der sich die USA gegenübersehen, viele weitere „Reiter des Stahls“ erzeugen wird.
Habe ich mich durch die Mitte des Kurzromans durchquälen müssen – das „Drüben“ steht für Stagnation in Billys Entwicklung -, so entschädigten mich der Romanschluss und die Kurzgeschichte vollauf für diese Mühe. Hier passiert etwas, es wird erotisch, und nach dem Showdown wird die Kurzgeschichte für zwei Seiten regelrecht poetisch.
HINWEIS: In der |Süddeutschen Zeitung| vom 15.1.2009 findet ihr eine weitere [Rezension]http://www.buecher.de/shop/USA/Hobo-Nation/Shepard-Lucius/products__products/content/prod__id/23448115/#sz dieses Buches.
|Originaltitel: Two Trains Running, 2004
Aus dem US-Englischen von Joachim Körber
207 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-937897-29-5|
http://www.edition-phantasia.de
Gavalda, Anna – Alles Glück kommt nie
Die Messlatte liegt hoch für Anna Gavalda, nachdem ihr vorangegangener Roman [„Zusammen ist man weniger allein“ 938 so enorm erfolgreich war. Entsprechend hoch sind nun die Erwartungen an den Nachfolger mit dem etwas holprig klingenden Titel „Alles Glück kommt nie“.
Charles Balanda ist 46 Jahre alt, lebt als erfolgreicher Architekt mit seiner Lebensgefährtin Laurence und deren halbwüchsiger Tochter Mathilde in Paris. Charles steht mit beiden Beinen im Leben – zumindest glaubt er das – und jettet um den Globus, um die Baustellen seiner illustren, internationalen Projekte zu betreuen.
Eines Tages erhält er einen Brief, in dem nur drei Worte stehen. Drei Worte, die Charles völlig aus der Bahn werfen: „Anouk ist tot.“ Anouk hat einmal eine wichtige Rolle in Charles‘ Leben gespielt. Sie war nicht nur die Mutter seines besten Freundes Alexis, sondern wurde im Laufe der Jahre zu seiner großen Liebe. Doch zusammen mit der Geschichte um Anouk hat Charles viele ebenso schöne wie schmerzhafte Erinnerungen verborgen. Nach und nach drängt all das zurück an die Oberfläche und sorgt dafür, dass Charles immer mehr ins Straucheln gerät.
Charles versucht herauszufinden, was mit Anouk geschehen ist, und je mehr er sich gedanklich mit Anouk befasst, desto mehr stellt er fest, dass er eigentlich gar nicht das Leben führt, das er gerne hätte. So richtig merkt er das aber erst, als er Kate kennenlernt, die zusammen mit einer Schar von Kindern auf einem abgelegenen Herrensitz in der Provinz lebt. Das Chaos und die Herzlichkeit, die Charles hier erfährt, lassen ihn umdenken und sein Leben auf den Kopf stellen …
Auch in ihrem neuesten Roman konzentriert Anna Gavalda sich auf das, was sie am besten kann: lebendige Figurenskizzierung und eindrückliche Gefühlswelten, die sie so einfach, klar und präzise wiederzugeben vermag, dass man glauben könnte, die Protagonisten stünden neben einem. Viel Plot brauchte Anna Gavalda noch nie.
Da wäre Anouk, die in ihrer Bewältigung des alltäglichen Leben manchmal der Verzweiflung nahe ist, aber als Krankenschwester wahre Wunder bewirkt. Da wäre Charles, der orientierungslos durch sein straff organisiertes Architektenleben hastet und dabei völlig aus den Augen verliert, was Leben eigentlich bedeutet. Da wäre Alexis, ein begnadeter Musiker, der seiner Mutter so viel Kummer bereitet. Da wäre Nounou, ein alter Zauberer, dessen Anouk sich eines Tages angenommen hat und der im Geheimen ein Doppelleben führt. Und da wäre natürlich Kate mit ihrer Kinderhorde, die herrlich chaotisch auf einem alten Herrensitz leben. Wieder einmal lebt Anna Gavaldas Roman von den Figuren und ihren Beziehungen zueinander.
Und dennoch haftet Gavaldas neuestem Werk auch ein nicht zu ignorierender Makel an. Nie zuvor hatte ich bei einem Text von ihr solche Schwierigkeiten, in die Geschichte einzutauchen. Lange dauert es, bis die Geschichte überhaupt auf Touren kommt, und das gesamte erste Romandrittel stellt den Leser auf die Probe. Ein bisschen schleicht sich das Gefühl ein, Anna Gavalda wollte es diesmal auf irgendeine Art und Weise besonders machen – aber das heißt leider nicht, dass sie es gut macht.
Der Roman gliedert sich in vier Teile, und erst mit Ende des zweiten Teils geht es eigentlich so richtig los. Bis dahin hadert Charles mit der Vergangenheit. Er kommt mit seinem Alltag nicht mehr zurecht, stolpert nach der Nachricht von Anouks Tod durch sein Leben und verzettelt sich ganz in Gedanken und Erinnerungsfetzen – so gesehen gibt Anna Gavalda Charles‘ Lebenssituation höchst authentisch wider. So richtig lesenswert ist dieser Teil des Romans dennoch nicht, denn wie ihre Hauptfigur scheint auch Anna Gavalda sich dabei ein wenig zu verzetteln.
Sie springt von hier nach dort, erhascht überall nur einen Bruchteil eines Eindrucks, einer Schwingung oder Erinnerung, und als Leser kann man dabei nicht immer ganz genau folgen. Man kommt dadurch nicht so leicht wie sonst typischerweise in Anna Gavaldas Romanen auf Augenhöhe mit den Protagonisten, und krass formuliert, hätte man die ersten 250 Seiten sicherlich auch auf gute 50 Seiten zusammenraffen können, ohne dass der Leser etwas verpasst hätte. Gerade das war ja auch immer Anna Gavaldas Stärke: kurz und prägnant, aber nicht minder einfühlsam und plastisch ihre Figuren zu skizzieren. Diesmal gelingt ihr das leider nicht so gut.
Auch stilistisch unterscheidet sich „Alles Glück kommt nie“ von den Vorgängern. Straff und auf den Punkt genau hat Anna Gavalda sonst meistens formuliert – diesmal stückelt sie mit Ein- und Zweiwortsätzen herum oder schleppt einen einzigen Satz auch mal über mehr als zwei Seiten. All das wirkt gekünstelter, als man es von Anna Gavalda gewohnt ist – dabei hat sie diesen gekünstelten Erzählstil nie nötig gehabt.
Und so muss der Leser eben sehr viel Geduld mitbringen, um bis zum Ende des zweiten Teils durchzuhalten, wenn der Plot dann endlich auf Touren kommt, und um ganz ehrlich zu sein, ob ich mit einem anderen Autoren so viel Geduld gehabt hätte wie mit Anna Gavalda (weil sie eben Anna Gavalda ist), weiß ich nicht.
Erst mit Charles‘ Aufbruch in die Provinz nimmt die Geschichte Fahrt auf. Die Figuren nehmen Formen an und so langsam tritt auch wieder der vertraute Gavalda-Effekt beim Lesen ein: Man klebt an den Seiten, und auch wenn eigentlich nichts Weltbewegendes passiert, kann man schlecht die Finger von dem Buch lassen. Anna Gavalda beherrscht ihr Handwerk eben doch noch.
Und so stimmt einen die zweite Buchhälfte doch noch einigermaßen versöhnlich. Die Seiten fliegen dahin und die Figuren wirken so lebensecht, als würden sie neben dem Leser stehen. Lediglich die Figur der Kate hinterlässt in diesem guten Eindruck einen Kratzer. Was Kate an Gutmenschentum heraushängen lässt, ist ein bisschen viel des Guten. Sie opfert ihr Leben einer Horde Kinder, lebt in der letzten Ecke der Provinz in einer Art idyllischem, chaotischem Zirkus, der das reinste Paradies zu sein scheint, und steckt Charles mit ihrem Gutmenschentum auch noch an. Das klingt dann doch alles ein bisschen zu dick aufgetragen für meinen Geschmack – aber wie immer bei Anna Gavalda, liest es sich wunderbar. Als besonderen Leckerbissen gibt es dann noch ein herrliches Wiedersehen mit altbekannten Figuren, die Charles in Paris bei einem Bistrobesuch trifft – eines der absoluten Highlights dieses Romans.
Letzter Fehlgriff, der nicht unerwähnt bleiben soll, ist die Buchgestaltung. Die deutsche Übersetzung, die holprig und verkitscht zugleich klingt, gepaart mit einem Titelbild, das mehr auf die Generation Rosamunde Pilcher abzuzielen scheint – das kann auf den ersten Blick schon abschreckend wirken, und in der Buchhandlung hätte ich diese Buch wohl gar nicht wahrgenommen.
Bleiben am Ende etwas enttäuschte Erwartungen zurück. Anna Gavalda hatte sich mit ihren bisherigen Büchern in die Riege meiner persönlichen Lieblingsautoren geschrieben, „Alles Glück kommt nie“ wird sich aber definitiv nicht in die Liste meiner persönlichen Lieblingsbücher einreihen.
Zu lange braucht das Buch, um in Fahrt zu kommen, zu aufgebläht wirkt das erste Buchdrittel, und so kommen Anna Gavaldas markanteste Fähigkeiten diesmal erst sehr spät zum Tragen. Erst ab der zweiten Hälfte des 608-seitigen Romans schafft Gavalda es, den Leser mit ihrer prägnanten und einfühlsamen Figurenskizzierung um den Finger zu wickeln.
Bleibt zu hoffen, dass dies nur ein Ausrutscher war, denn der sei Anna Gavalda gerne verziehen, wenn sie sich dafür mit ihrem nächsten Roman wieder ihrem gewohnten Qualitätsniveau annähert.
|Originaltitel: La consolante
Aus dem Französischen von Ina Kronenberger
604 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-446-23057-6|
http://www.hanser.de
Dunthorne, Joe – Ich, Oliver Tate
_Die Mannwerdung hat schon so ihre Tücken …_
… Das ist auch die leidvolle Erfahrung des fünfzehnjährigen Oliver Tate. Oliver lebt mit seinen Eltern in Swansea und weiß alles – zumindest glaubt er das. Und weil er ja schon so gut Bescheid weiß, wird es Zeit, den Worten Taten folgen zu lassen. Das Motto lautet: Weg mit der Jungfräulichkeit! Dabei helfen soll ihm seine Freundin Jordana, die nicht abgeneigt ist, obwohl Oliver küsst, als wolle er Zahnfüllungen spachteln.
Oliver Tate macht es seinen Mitmenschen auch sonst nicht immer leicht. Er sammelt Fremdwörter, ist klug und selbstgerecht, quält dicke Mädchen und hasst Jordanas Hund. Darüber hinaus überwacht er penibel das Sexleben seiner Eltern. Als Oliver feststellt, dass der Dimmerschalter im Elternschlafzimmer schon seit zwei Monaten morgens nicht mehr auf dunkelster Stufe eingestellt ist (laut Oliver ein eindeutiges Zeichen vollzogenen Beischlafs), diagnostiziert er das Ende der Ehe seiner Eltern.
Das kann und will Oliver nicht hinnehmen, und so macht er sich auf, das Eheleben der Eltern in Schwung zu bringen. Dazu ist ihm jedes Mittel recht, und schon bald schießt er mit seiner Mission ein wenig über das Ziel hinaus …
Erster Kuss, erste Liebe, erster Liebeskummer – das mag literarisch schon ziemlich abgegrastes Terrain sein, dennoch hat Joe Dunthorne mit „Ich, Oliver Tate“ einen durchweg unterhaltsamen Debütroman abgeliefert. Dabei braucht der Roman eine gewisse Einlesezeit. Immer wieder streut Dunthorne in Olivers Erzählung Zitate ein: Kühlschrank-Botschaften, Tagebucheinträge, Lexikondefinitionen. Dadurch wirkt der Erzählfluss anfangs etwas unruhig, hat man sich aber erst einmal auf die Art des Romans eingelassen, macht die Lektüre dann richtig Spaß.
Was Joe Dunthornes gelungenes Debüt besonders ausmacht, ist sein gewitzter Ton. Treffend ironisch beschreibt er Olivers pubertäres Gehabe, lässt ihn nichtsdestotrotz aber immer wieder als den klugen Menschen durchschimmern, der er tatsächlich zu sein scheint. Ihm gelingt die Balance, die Figur des Oliver von allen Seiten zu beleuchten, mit all ihren Macken, ihrer Selbstgerechtigkeit und der Verletzlichkeit, die sich hinter einer Fassade aus Fremdwörtern verbirgt.
Oliver durchlebt ein Wechselbad der Gefühle, erlebt den ersten Sex, muss aber gleichzeitig bangen, dass die Ehe seiner Eltern auseinanderbricht. Dieses drohende Unheil bestimmt sein Denken dermaßen, dass er seiner Freundin Jordana, die eigentlich viel Schlimmeres durchmacht, nicht wirklich eine Stütze ist. Und so folgt auf den unausweichlichen Bruch mit Jordana schließlich auch der unausweichliche erste Liebeskummer – mit Weltuntergang und allem, was dazugehört.
Olivers Leben stellt sich innerhalb weniger Wochen komplett auf den Kopf, und so durchlebt er so manche hoffnungslos absurde Situation. Das verleiht dem Buch eine weitere wunderbar komische Note. Die Methoden, die Oliver anwendet, um die Ehe seiner Eltern zu retten, sind schon herrlich skurril und gipfeln in einem verzwickt schrägen Finale.
Es ist zwar nicht so, dass man bei der Lektüre pausenlos von Lachkrämpfen geschüttelt wird, dennoch gibt es viele Szenen zum Schmunzeln und das ganze Buch ist ein feiner Unterhaltungsspaß. Dunthorne weiß seinen Sprachwitz wunderbar einzusetzen, und so ist „Ich, Oliver Tate“ weniger ein Roman der Schenkelklopfer als vielmehr feinsinnige und schräge Lektüre, die mit jeder Seite Spaß macht.
Bleibt unterm Strich ein positiver Eindruck zurück. Joe Dunthorne hat mit „Ich, Oliver Tate“ einen bemerkenswerten Debütroman abgeliefert. Humorvoll, feinsinnig und anrührend zugleich beschreibt er die Tücken der Pubertät auf wunderbar lesenswerte Art. Bleibt zu hoffen, dass der Waliser uns nicht zu lange auf sein nächstes Werk warten lässt.
|Originaltitel: Submarine
Aus dem Englischen von Mayela Gerhardt
379 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-498-01326-4|
http://www.rowohlt.de
Saramago, José – Stadt der Blinden, Die
|“[…] ein Mensch wird nicht blind, nur weil er einen Blinden ansieht, Blindheit ist eine private Angelegenheit zwischen dem Menschen und den Augen, mit denen er geboren wurde.“|
_Alles weiß_
In einer namenlosen Stadt springt eine Ampel auf grün. Ein Auto bleibt stehen, und die anderen Autofahrer hupen wild, bis die Worte des Fahrers nach außen dringen – ich bin blind! Urplötzlich hat der Mann – der erste Blinde – sein Augenlicht verloren. Die Blindheit taucht seine Welt nicht in ein tristes Dunkel, sondern in ein helles Weiß. Von nun an herrscht immer Tag für ihn. Ein anderer Mann bietet dem ersten Blinden seine Hilfe an und bringt ihn nach Hause. Dort endet seine Hilfsbereitschaft, denn er nutzt die Blindheit des Mannes aus und entwendet ihm sein Auto. Kurz darauf erblindet auch der Dieb. Zu Hause wartet der erste Blinde auf seine Frau, die ihn schleunigst zu einem Augenarzt bringt. Der Augenarzt und seine Patienten sind die nächsten, die erblinden.
Wie eine Epidemie greift die Blindheit in der Stadt um sich. Die Regierung beschließt, die Blinden und diejenigen, die mit ihnen in Kontakt waren, in einer ehemaligen Irrenanstalt zu internieren, um sie vom Rest der Bevölkerung zu isolieren. Soldaten bewachen die Anstalt und stellen den Internierten dreimal am Tag Lebensmittel vor die Tür. Doch das Essen reicht für die schnell wachsende Gruppe der Internierten hinten und vorne nicht. Lange dauert es auch nicht, bis sämtliche Toiletten verstopft sind und die Blinden ihre Notdurft verrichten, wo sie sich gerade befinden, sei es im Bett, auf dem Flur oder sonstwo. Nur eine Frau ist dort untergebracht, die das ganze Elend, den ganzen Ekel noch sehen kann – die Frau des Augenarztes, die ihre Blindheit nur vorgetäuscht hat, um ihren Mann begleiten zu dürfen. Sie ist der Rettungsanker in der Irrenanstalt, auch wenn niemand außer ihrem Mann weiß, dass sie noch sehen kann.
Die Frau des Arztes versucht unauffällig, das Leben in der Irrenanstalt zu organisieren. Doch als immer mehr Blinde eingeliefert werden, schließt sich in einem anderen Saal eine Gruppe von Männern zusammen, die sämtliche Lebensmittel für sich beanspruchen und von den anderen Internierten Wertsachen als Bezahlung einfordern. Als diese schließlich verteilt sind, verlangen die Männer Frauen als Gegenleistung. Die Situation in der Irrenanstalt läuft nun völlig aus dem Ruder …
_Anarchie, und niemand sieht zu_
Der portugiesische Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger José Saramago zeichnet in diesem Buch ein Schreckensszenario, wie man es sich niemals ausgemalt hätte. Nach und nach erblinden alle Menschen einer Stadt oder sogar eines ganzen Landes. Alle Arbeit liegt brach, niemand kann mehr Auto, Bus oder Straßenbahn fahren und auch kein Pilot lenkt mehr ein Flugzeug. Niemand kümmert sich um die Lebensmittelversorgung, und als schließlich alle Menschen erblindet sind, fällt überall der Strom aus. Die Menschen irren blind durch die Straßen – auf der Suche nach Lebensmitteln und Obdach, denn wenn sie auf der Straße erblindet sind, finden sie ihr Zuhause nicht mehr. Jede Wohnung, jedes Haus oder jeder Laden wird nun zur zeitweisen Unterkunft. Niemand hat mehr eine Heimat.
Davon ahnen die Internierten noch nichts, sie hausen unter unvorstellbaren Bedingungen, haben kein Wasser, um sich zu waschen oder etwas zu putzen. Sie hungern, weil es immer wieder Blinde gibt, die sich bei der Essensverteilung mehrfach anstellen – wer sollte es schließlich sehen und für Ordnung sorgen? Alles stinkt, alles ist verdreckt, sodass es eigentlich ein Wunder ist, dass nicht mehr Menschen in der Irrenanstalt sterben.
Die Blinden führen Krieg untereinander, sie bestehlen sich gegenseitig und misstrauen allem und jedem, denn niemand kann die anderen sehen und sie kontrollieren. Niemand sorgt für Ordnung, niemand sieht die Schuldigen. Und so wundert es nicht, dass eine Gruppe Männer die Führung an sich reißt und sämtliche Lebensmittel für sich beanspruchen kann. In der Anonymität der Blindheit und ausgestattet mit einer Pistole und einem „echten Blinden“ trauen sie sich, sich über die anderen Blinden zu erheben. Niemand sieht sie dabei und könnte hinterher gegen sie vorgehen. Doch zwei gequälte Frauen, die mehrfach brutal von den aufrührerischen Männern vergewaltigt wurden, wagen den Aufstand: Die Frau des Arztes bringt den Anführer um und sorgt für Chaos unter der Gruppe der Männer. Doch diese lassen sich das Zepter immer noch nicht aus der Hand nehmen, und so schleicht sich heimlich des Nachts eine blinde Frau mit einem Feuerzeug zu den Männern und zündet die Barrikade aus Betten im Zimmereingang an.
Nur eine Frau kann dem Elend zusehen und doch nicht helfen, da niemand wissen darf, dass sie sehen kann. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn jemand erführe, dass die Frau sehen kann. Sie müsste sich um alle Kranken kümmern, Menschen zu den nicht funktionierenden Toiletten bringen, andere Menschen trösten oder sich vermutlich vor Angriffen schützen, da andere ihr das Augenlicht neiden würden. So wird sie zur Zeugin, wie die Menschen angesichts der Blindheit zu Tieren werden. Sämtliche Menschenwürde ist verschwunden, als die Blinden beginnen, ihre Notdurft an allen möglichen und unmöglichen Stellen zu verrichten. Männer und Frauen fallen blindlings übereinander her, um sich gegenseitig Trost und Nähe zu spenden, auch wenn sie sich sonst vermutlich nie miteinander abgegeben hätten. Verzweifelt versucht die Frau des Arztes, für Ordnung zu sorgen, doch misslingt es ihr immer mehr. So flüchtet sie sich immer häufiger unter die Bettdecke, um still in sich hineinzuweinen.
_Die Macht der Sprache_
José Saramagos Schreibstil ist gewöhnungsbedürftig: Kaum Absätze sorgen für Zäsuren, die wörtliche Rede findet sich durch Kommas abgetrennt mitten im Fließtext, und keine Anführungszeichen deuten darauf hin, ob diese Worte wirklich gesagt oder nur gedacht wurden. Dieser Schreibstil (den Andrzej Sapkowski in seiner historischen Trilogie vom Narrenturm ähnlich einsetzt) fordert den Leser heraus, passt aber wunderbar zur Geschichte, denn auch dort fließen Worte ineinander, niemand kann den Sprechenden erkennen, und so wundert es nicht, dass keine handelnde Person einen Namen erhält. Bis zum Ende werden die Personen über Merkmale charakterisiert, mit denen die Blinden etwas anfangen können. Was bedeuten Namen, wenn man die Person ohnehin nicht erkennen kann? Saramagos Figuren stehen für bestimmte Rollen, nicht aber für eine individuelle Person; er will uns keine konkreten Menschen vorstellen, sondern eine grausame Situation zeichnen, in der Menschen mit ihrem Schicksal hadern und um ihr Leben kämpfen. Doch was ist das überhaupt für ein Leben?
Saramagos Sprache ist unauffällig und still, aber manchmal umso poetischer. Seine Sätze sind lang und verschachtelt und beschwören eine spannungsgeladene Atmosphäre herauf. Meist sind es die wenigen Worte, die still und unbemerkt daherkommen, die dem Leser einen Schauder über den Rücken laufen lassen, oder es sind die langen detailgetreuen Beschreibungen. So verwendet Saramago mehrere Seiten darauf, um die schrecklichen Lebensbedingungen in der Irrenanstalt zu schildern – die verstopften Toiletten oder die Gänge, die vor Dreck und Kot überschwemmt sind, Menschen, die schon aus Gewohnheit jeden Winkel des Gebäudes in ein Scheißhaus verwandeln, den Gestank, den jeder einzelne Blinde ausdünstet, sodass auch die morgendlichen Blähungen oder die schweißgetränkten Körper die Luft nicht weiter verpesten könnten.
Der Wechsel aus diesen ausschweifenden Beschreibungen und den Dingen, die nur angedeutet werden, sorgt für eine unglaublich dichte Atmosphäre. Viele Schrecken muss man sich als Leser ausmalen, und manchmal kann die Fantasie noch schrecklicher sein als die Worte, die explizit aufgeschrieben werden. In einer Szene verbrennt eine Frau, und hier beweist José Saramago sein unglaubliches Sprachgefühl, denn er nimmt sich zurück und überlässt es dem Leser selbst, wie er sich diese Situation vorzustellen hat:
|“[…] o ja, sie sind nicht vergessen, die Schreie der Wut und der Angst, das Brüllen vor Schmerz und Agonie, das sei hier erwähnt, es werden auf jeden Fall immer weniger, die Frau mit dem Feuerzeug zum Beispiel schweigt schon seit langem. […] Lieber sterbe ich durch einen Schuß als im Feuer, es schien die Stimme der Erfahrung zu sein, deshalb war es vielleicht nicht er selbst, der sprach, sondern vielleicht hatte durch seinen Mund die Frau mit dem Feuerzeug gesprochen, die nicht das Glück gehabt hatte, von einer letzten Kugel durch den blinden Buchhalter getroffen worden zu sein.“|
Das Schweigen der Frau wird den Schreien der Wut und Angst gegenübergestellt und wirkt dadurch noch dramatischer. Diese Worte, die Saramago fast schon lapidar dahingeschrieben hat, erhalten dadurch eine viel stärkere Wirkung. Erst zwei Seiten später deutet Saramago das Unglück an, das der Frau mit dem Feuerzeug widerfahren ist, denn sie ist bei lebendigem Leibe verbrannt.
Besonders gelungen empfand ich auch Saramagos Beschreibungen des Hausstaubs, der die Abwesenheit der Bewohner genutzt hat, um sich friedlich und still auf den Möbeln zu verteilen. Niemand hat ihn dabei gestört, niemand ihn aufgewirbelt oder gar abgewischt. Kein geöffnetes Fenster hat für Durchzug gesorgt und den Staub verteilt. Erst als die Bewohner zurückkamen, begann der Reinigungsprozess – Finger, die über Möbel wischten und den Staub verteilten und Spuren auf der Oberfläche hinterließen. José Saramagos Schreibstil versetzt den Leser mitten in die Szene, der Autor nimmt uns an die Hand und zeigt uns alles, das er für wichtig erachtet. So kann man tief in diese aufreibende Geschichte abtauchen.
_An der Menschlichkeit festhalten_
|“[…] jemanden mit sehenden Augen unter uns zu haben, die letzten, die geblieben sind, wenn sie eines Tages erlöschen, daran möchte ich gar nicht denken, dann wird der Faden, der uns an die Menschheit bindet, zerreißen, es wird sein, als würden wir uns einer vom anderen im Weltraum entfernen, für immer […]“|
Nur dieses eine zarte Band – die sehenden Augen der Frau des Arztes – ist es, das für einige Blinde Hoffnung bedeutet, doch auch Verzweiflung, denn die Augen sind so empfindlich – und was wäre, wenn auch diese letzten erlöschen würden? Fragen der Hoffnung, der Menschlichkeit, des Zusammenlebens, des Misstrauens und der Freundschaft sind es, die José Saramago hier aufwirft. Nie hätte ich mir die Situation so dramatisch ausgemalt, wenn plötzlich alle Menschen erblinden würden, doch natürlich müsste die Situation eskalieren – zunächst durch die Angst der noch Sehenden und dann durch das Chaos, wenn niemand sich mehr um eine geordnete Lebensmittelversorgung oder um die Elektrizität kümmern könnte. Die Menschen müssten zugrunde gehen, und wie dieses Zusammenleben dann aussehen könnte, stellt uns Saramago eindrucksvoll vor.
„Die Stadt der Blinden“ ist ein Buch, das sehr nachdenklich stimmt. Sind wir wirklich so kurz davor, unsere Menschenwürde aufzugeben und allen Mitmenschen zu misstrauen, wenn uns das Augenlicht verloren geht? Werden wir nicht nur mit den Augen blind, sondern auch mit dem Herzen? Und was bedeutet es, wenn niemand mehr sehen kann – kein Arbeiter, keine Regierung …? Dieses Buch fordert den Leser inhaltlich und sprachlich heraus, erzählt aber eine umso bewegendere Geschichte, die nachwirkt und mich tief beeindruckt hat. Ein Buch, welches das Prädikat ‚besonders wertvoll‘ definitiv verdient hat!
|Originaltitel: Ensaio sobre a Cegueira
Deutsch von Ray-Güde Mertin
398 Seiten, kartoniert
ISBN-13: 978-3-499-22467-6|
http://www.rowohlt.de
[Wikipedia-Eintrag]http://de.wikipedia.org/wiki/Jos%C3%A9__Saramago















