Ein liegengebliebener Mietwagen auf einem einsamen Highway, ein düsteres Zirkuszelt voller versteckter Geheimnisse, die flirrende Hitze der ägyptischen Wüste in ihrer menschenfeindlichen Schönheit – ganz gleich, wohin SANDMAN-Schöpfer Neil Gaiman seine Figuren führt, sie werden stets mit Abgründen konfrontiert. Abgründen, in denen manch ein Unglücklicher verloren ging. (erweiterte Verlagsinfo)
Charlène ist dreizehn Jahre alt, als sie Sarah zum ersten Mal begegnet, und sie ist von der Ausstrahlung dieses Mädchens sofort gebannt. Zwischen den beiden entspinnt sich eine tiefe Freundschaft, die doch nur einen Sommer währt. Denn plötzlich beginnt die machthungrige Sarah, ein grausames, unerbittliches Spiel mit ihrer Freundin zu treiben, gegen das sich Charlène schließlich nur noch auf eine Art zu wehren weiß … (Verlagsinfo) Anne-Sophie Brasme – Dich schlafen sehen weiterlesen →
Gräfin Sidonie Stellamare liebt das Geld über alles, sie wettet gern und spekuliert mit Aktien. Als sie durch einen Zufall Hektor van Karkoel kennenlernt, erhofft sie sich von ihm entscheidende Tips und Hinweise. Der Millionär ist dazu auch gern bereit – allerdings unter einer ganz bestimmten Voraussetzung. Die Gräfin muss zahlen, und zwar mit ihrem Körper und ihrer Liebe.
Sidonie Stellamare kennt keine Skrupel und geht auf dieses Angebot ein. Gemeinsam erleben beide in den nächsten Monaten alle Höhen des Liebesrausches, der nicht enden will. (Verlagsinfo) Dieser Klappentext verschweigt verschämt die Beteiligung des Äffchens Mao und des buckligen Karkoel-Partners Udo Lankhout an den Liebesspielen, vom Afrikaner Poulpoul ganz zu schweigen. Anonymus – Die liebestolle Gräfin. Erotischer Roman weiterlesen →
Stella, behütete Ehefrau eines englischen Offiziers, viktorianisch erzogen, wird von den Maori verschleppt und erfährt am eigenen Leib sexuelle Praktiken, von deren Existenz sie nichts ahnte. Eine Hölle, so glaubt sie anfangs, – die sich aber bald verwandelt in ein Paradies der Lust, ein Paradies ohne Tabus und Prüderie, in dem Stellas verdrängte Sexualität erwacht. Und sie hofft nur eines: aus diesem Paradies nie vertrieben zu werden … (Verlagsinfo)
Die schonungslose erotische Beichte eines jungen Malers. Enttäuscht von den ersten Erfahrungen wird Roger von der vorurteilslosen Clotilde während einer hemmungslosen Bildungsreise auf die labyrinthischen Pfade des Eros geführt. Roger wandelt sich zu einem einfühlsamen Liebhaber, der nur in der Lust, die er seiner Partnerin schenkt, auch seine eigene Erfüllung findet. (Verlagsinfo)
Anlässlich des 200. Geburtstags der englischen Autorin Elizabeth Gaskell (1810-1865), die sich vor allem mit ihren Romanen „Mary Barton“ (1848) und „Cranford“ (1853) zu ihrer Zeit eine große Bekanntheit erschrieben hat, hat der |Manesse|-Verlag im Jahr 2010 unter den Titel „Mr. Harrisons Bekenntnisse“ drei ihrer Erzählungen in seiner Reihe |Bibliothek der Weltliteratur| herausgegeben.
1) Die Schafscherer von Cumberland
Mit viel Gefühl für die leisen Töne und einer Fülle von Details beschreibt die Tochter eines Geistlichen, die wegen des frühen Tods ihrer Mutter bei ihrer Tante in Knutsford aufwuchs, in „Die Schafscherer von Cumberland“ einen Ausflug zur Schafschur auf einen Bauernhof. Diese Erzählung erschien wie viele von Gaskells Kurzprosa zum ersten Mal in Charles Dickens‘ Wochenmagazin „Household Words“ und zeigt eine verschworene ländliche Gemeinschaft, deren Tradition zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits durch die beginnende Industrialisierung und die Modernisierung der Landwirtschaft in Vergessenheit zu geraten drohte.
2) Cousine Phyllis
Ist diese erste Erzählung noch mäßig spannend und eher historisch wertvoll, wird es mit „Cousine Phyllis“ bereits interessanter. Die Autorin schreibt aus der Perspektive des jungen Technikers Paul Manning, der seinen Vorgesetzten Holdsworth in die Familie seiner Tante einführt. Der Onkel ist wie Gaskells Großvater Bauer und Priester zugleich. Arbeit und Religion gehen bei ihm somit Hand in Hand und seine gesamte Familie ist mit dem Land und der Gemeinde verwachsen. Man lebt im Einklang mit der Natur und im Rhythmus der Jahreszeiten.
Zwischen dem Eisenbahntechniker Holdsworth und der klugen belesenen Phyllis entspannen sich zarte Bande, die jedoch durch Holdsworth‘ plötzliche Abreise nach Kanada abrupt zertrennt werden, noch bevor eine Beziehung beginnen konnte. Um seine tieftraurige Cousine zu trösten, erzählt Paul ihr von Holdsworth impulsivem Geständnis seiner Liebe für Phyllis ihm gegenüber, worauf sie, auf diese Worte vertrauend, daran glaubt, dass Holdsworth zurückkommen wird, um sie zu freien. Als sie die Nachricht von seiner Heirat in Kanada erreicht, wird sie todkrank, doch nach langer Krankheit findet sie zum Leben zurück und geht gestärkt aus dieser Krise hervor.
Die Schilderung aus der Sicht des jungen Mannes bietet dem Leser dabei die Möglichkeit, mit Pauls jugendlich unreifen Augen auf Phyllis und ihre Familie zu schauen. Gleich Paul wird er zum Beobachter der ländlichen Idylle. Die genaue Beschreibung der Nachmittage in der großen Stube des Bauernhauses mit der zum Fenster herein scheinenden Sonne, der Handarbeiten ausübenden Tante und der in ihre Bücher versunkenen Phyllis und ihrem Vater lesen sich wie die Beschreibung eines Gemäldes der alten Meister. Hier zeigt sich das große Darstellungsvermögen einer gereiften Autorin, der es gelingt, mit Worten zu malen.
3) Mr. Harrisons Bekenntnisse
Den Höhepunkt bildet jedoch die witzige Titelgeschichte „Mr. Harrisons Bekenntnisse„. Der junge Arzt Dr. Harrison, der in London aufgewachsen ist, zieht in das kleine Provinzstädtchen Duncombe, um Partner des dortigen Arztes zu werden. Die relativ abgeschlossene Gemeinschaft des Ortes lebt beschaulich vor sich hin und gewinnt allein durch Klatsch und Tratsch eine gewisse Dynamik. Da stürzt man sich natürlich förmlich auf den Abwechslung versprechenden Neuankömmling. Die Frauen von Duncombe sind dabei allesamt bekannte Typen. Es gibt eine verwitwete Haushälterin, eine Tochter, die von ihrer Mutter mit dem jungen Mann verkuppelt werden soll, die unaufdringliche Pfarrerstochter Sophy, in die sich der Arzt schließlich verliebt, und viele mehr.
Die Ratschläge des alten Arztes befolgend, verhält Harrison sich nett, geduldig und freundlich zu allen Personen und merkt nicht, dass vornehmlich die Frauen des Ortes die Kontrolle über sein Leben übernehmen, sodass er zuletzt nicht einmal mehr über seine Freizeit entscheiden kann und schließlich angeblich mit drei Frauen gleichzeitig verlobt sein soll, womit er seine Karriere sowie seine wirkliche Liebe aufs Spiel setzt. |“Ich stellte fest, daß meine Praxis schlechter ging. Ich hatte die Voreingenommenheit der ganzen Stadt gegen mich … Es hieß – grausame Kleinstadt! -, daß meine Nachlässigkeit oder Unfähigkeit an Walters Tod schuld war, daß Miss Tyrell infolge meiner Behandlung kränker wurde und daß John Brouncker durch mein Ungeschick beinahe gestorben wäre – wenn er nicht schon tot war.“|
Die ironische Beschreibung der Personen bei ihren Teekränzchen und auf Ausflügen erinnert an Jane Austen. Auch bei ihr trachten die Frauen der Oberschicht einzig danach, sich gut zu verheiraten, und richten ihr ganzes Leben danach aus, einen Mann zu finden.
In der traurigen Episode vom Tod von Sophys Brüderchen Walter verarbeitet Gaskell möglicherweise den Verlust des eigenen Sohnes. Doch Sophy, die ebenfalls schwer erkrankt, kann von Harrison durch eine neuartige Medizin geheilt werden. So ist nach der Wiederherstellung des Vertrauens in die Fähigkeiten des jungen Arztes sowie der Aufklärung der zahlreichen Missverständnisse mit einhergehender Wiederherstellung seines guten Rufs endlich der Weg für die wahre Liebe frei.
Unterm Strich
Während ihre Zeitgenossen Dickens und Tennyson den meisten Literaturinteressierten bekannt sein dürften, ist Elizabeth Gaskell außerhalb Großbritanniens etwas in Vergessenheit geraten. Doch für den, der Jane Austen oder die Brontës mag, lohnt es sich, auch die fünffache Mutter, die zeitlebens einen großen Haushalt führte und die damit zusammenhängenden Aufgaben mit einer Schriftstellkarriere verbinden konnte, kennen zu lernen.
Sie hat ein umfangreiches Werk (sieben Romane, 40 Erzählungen und eine Biografie über ihre Freundin Charlotte Bronte) hinterlassen. Ihre Prosa beweist psychologisches Feingefühl, ein meisterhaftes Erdzähltalent sowie einen unverstellten Blick auf die Veränderungen durch die Industrialisierung, der sie gleichzeitig zur Chronistin ihrer Zeit macht. |Manesse|s Erzählband bietet in bewährter Qualität mit Leineneinband, Lesebändchen und Schutzumschlag einen guten Einstieg in dieses Werk.
Aus dem Gefängnis von Cibola sind acht Mörder ausgebrochen und befinden sich auf der Flucht. Einer wurde verletzt und sagt nach seiner Operation aus, die Gruppe hätte sich aufgeteilt: Die eine Hälfte ritt nach Westen gen Vadito, die andere nach Osten.
Die U.S. Marshals Virgil und Everett Hitch machen sich auf den Weg, um die Flüchtigen zu stellen, obwohl sie gerade erst herausgefunden haben, dass ein Ring von Schutzgelderpressern ihre Stadt Appaloosa unsicher macht. Und Everett dachte, er hätte Augustus Driggs in ein Hotel gehen sehen, der mit ihm auf der Militärakademie West Point war. Erst später wird er herausfinden, dass Driggs der Anführer der entflohenen Häftlinge ist… Robert Knott – Robert B. Parker’s Revelation. (Ein Hitch-&-Cole-Western 9) weiterlesen →
Die junge Felicity reist von Amerika nach Rom, um sich dort auf die Suche nach ihrer plötzlich verschwundenen Mutter zu machen. Was sie nicht erwartet, dass sie dort während ihrer Suche auf ein dunkles Familiengeheimnis stößt. In diesem Geheimnis spielen ihre Urgroßmutter Elisabeth und deren Tocher Deborah die Hauptrollen. Felicity führt es um Jahrzehnte zurück in eine schicksalhafte und dramatische Vergangenheit, die bis heute dunkle Schatten auf das Leben der Familie und somit auch auf das von Felicity wirft. Hanni Münzer – Honigtot weiterlesen →
Diana O’Toole ist Kunstexpertin. Eigentlich hat sie auch selbst gern gemalt, doch ihr Vater – ein bekannter Restaurator – ist bei der Arbeit tödlich verunglückt. Und Dianas Mutter ist eine weltbekannte Fotografin, aus deren Schatten sich Diana nie hinaus getraut hat. Daher hat sie sich für einen anderen Weg entschieden und arbeitet für das Auktionshaus Sotheby’s. Sie betreut gerade ein bedeutendes Kunstwerk und soll alles klar machen für die Auktion, als ein unbekanntes Virus Manhattan erreicht und das öffentliche Leben herunter gefahren wird.
Eigentlich wollte Diana mit ihrem Freund Finn auf die Galapagosinseln fahren. Sie hat auch bereits in einer Schublade einen verdächtigen kleinen Schmuckkasten gefunden und ist sich sicher, dass Finn die Gelegenheit nutzen wird, um ihr einen Heiratsantrag zu machen. Doch dann kommt alles anders: Als Assistenzarzt wird Finn im Krankenhaus gebraucht und sagt Diana, sie solle doch alleine fahren.
Marseille ist Izzo. Izzo ist Marseille. Fast schon untrennbar sind die Stadt und der Autor verbunden. Kein Wunder, dass auch Izzos letzter Roman, den er vor seinem Krebstod 2000 geschrieben hat, in „seiner“ Stadt spielt. Ebenso wie schon die „Marseille-Trilogie“ („Total Cheops“, „Chourmo“, „Solea“), mit der ihm der Durchbruch gelang und durch die er in die Topliga der französischen Krimiautoren aufstieg, ist auch „Die Sonne der Sterbenden“ eine Liebeserklärung an Marseille.
Dabei war Izzo nie zwangläufig nur auf Krimis festgelegt. Nur Marseille, Marseille war immer sein wichtigstes Thema – nicht nur die Stadt an sich, sondern auch deren Einwohner, die Izzo stets am Herzen lagen. „Die Sonne der Sterbenden“ ist ebenfalls kein Kriminalroman. Vielmehr eine Lebensgeschichte, ein Reflektieren des Erlebten und eine Analyse des Scheiterns.
Erzählt wird das Leben von Rico, einem Pariser Clochard. Rico lebt schon seit einigen Jahren auf der Straße, losgelöst vom normalen Leben und von der Gesellschaft. Einen Freund und Vertrauten hat er in Titi gefunden. Titi ist ebenfalls Clochard und lebt schon länger auf der Straße als Rico. Die Beiden passen aufeinander auf und können sich aufeinander verlassen – jederzeit. Bis Titi eines kalten Wintertages tot unter der Bank einer Metrostation gefunden wird. Rico zieht es das letzte bisschen Boden unter den Füßen weg. Mit Titi verliert er seinen einzigen Bezugspunkt.
Mit Titis Tod will auch Rico seinem Leben in Paris einen Schlusspunkt setzen. Er erinnert sich der glücklichen Momente in seinem Leben, an die Frauen, die er einst geliebt hat, besonders seine große Liebe Lea, und erinnert sich damit zwangsläufig an Marseille, wo er seinerzeit mit Lea lebte und liebte. Rico zieht Bilanz: Er hat alles verloren, wurde von seiner Frau Sophie geschieden, was den ersten Schritt in den Abgrund markierte, darf seinen Sohn Julien nicht mehr sehen und haust nun schon seit Jahren auf der Straße. Kurzum, Rico hat sein Leben gründlich verpfuscht. Mit Titis Tod fällt diese Bilanz umso schmerzhafter aus und Rico beschließt, Paris zu verlassen. Er macht sich auf in Richtung Süden, Marseille als Ziel seiner Reise vor Augen. An Marseille knüpft er alle seine Hoffnungen …
„Die Sonne der Sterbenden“ erzählt die Geschichte von Rico, allerdings nicht aus seiner Perspektive. Der eigentliche Erzähler der Geschichte ist Abdou, ein junger Araber, der in den Straßen von Marseille zu Hause ist und der in Rico eine Art väterlichen Freund findet. Ihm scheint genauso wie dem Leser Ricos Lebensbeichte zu gelten. Und die fällt, typisch für Jean-Claude Izzo, genauso düster wie ehrlich und unverklärt aus. Doch in all den dunklen Gedanken, in all den schweren Erinnerungen, die auf Ricos verhärteter Seele lasten, glimmt auch ganz klein und fast unscheinbar immer noch ein Funken Hoffnung. Hoffnung darauf, dass sich irgendwann doch noch alles zum Guten wendet. Rico nährt diese Hoffnung durch die Rückkehr nach Marseille, den Ort, an dem er die glücklichsten Momente seines Lebens verbrachte.
Izzos klassische „Hauptfigur“ Marseille betritt dabei erst im letzten Drittel des Romans die Bühne. Bis dahin steht die Reflektion von Ricos Leben im Vordergrund. Während seiner Reise gen Süden denkt Rico immer zurück an die Vergangenheit. Erinnerungen vermischen sich mit neuen Eindrücken. Rico trifft unterwegs neue Menschen, erhält neue Perspektiven, bei denen vor allem zwei prägend sind. Zunächst wäre da der Junge Felix. Etwas zurückgeblieben, stets in Begleitung eines Fußballs, den er unter dem Arm umherträgt, und mit einem tätowierten Eidechsenkopf an der Schläfe, wirkt der Junge stets etwas verschlossen und geheimnisvoll. Und dann wäre da noch Mirjana, die aus Bosnien nach Frankreich geflüchtet ist und nun dadurch, dass sie sich an Männer verkauft, versucht, die Schulden abzubezahlen, die sie bei den Schleppern für die „Einreise“ nach Italien bezahlt hat. Diese Begegnungen hinterlassen bleibenden Eindruck bei Rico und er denkt auch später immer wieder daran zurück.
Das Reflektieren seines eigenen Lebens vollzieht er entlang seiner Reiseroute immer wieder in verschiedenen Momenten. Rico erzählt, wie es zu seinem Absturz kam. Erschreckend und faszinierend zugleich, wie einen Menschen eine beendete Beziehung aus der Bahn werfen kann, wie ihn unerwiderte Gefühle irgendwann an den Rand der Gesellschaft drängen. Rico beschreibt dabei eine fast schon klischeehafte und doch so logische Chronologie des Absturzes: unerwiderte Liebe, Alkohol, Einsamkeit, Jobverlust, Schulden, Obdachlosigkeit. Irgendwann hat Rico einfach kapituliert, die Illusion auf eine Rückkehr ins normale Leben aufgegeben. Izzo drückt das so aus: |“Nicht in die Gesellschaft zurückkehren zu wollen, war kein Unvermögen. Nur eine große Müdigkeit.“| (S. 135)
Während Rico seine Vergangenheit reflektiert, kristallisiert sich immer deutlicher seine gegenwärtige Erscheinung heraus. Rico ist nur noch ein Schatten dessen, was er einmal war, ein Toter, der noch immer unter den Lebenden wandelt: |“Wir ziehen mit unserer alten Haut durch die Gegend. Wir sind nur noch leere Hüllen.“| (S. 142) So bringt Mirjana die klägliche Existenz auf den Punkt, die nicht nur sie selbst führt, sondern auch Rico. Ein Aspekt, der die Figuren verbindet. Beide sind ganz unten angekommen und jeder geht mit seinem Schicksal auf seine eigene Art um. Die Unterschiede in der Existenz der Beiden sind nur marginal und dennoch überdeutlich, was Rico dadurch betont, dass er sich an die Worte seine Freundes Titi erinnert: |“Ich will dir mal was sagen, Rico, wenn ein Mann am Ende ist, geht er betteln, eine Frau dagegen, die verkauft sich. Also denk immer daran, die Erniedrigung, die du empfindest, ist im Vergleich zu der, die sie empfinden müssen, gar nichts.“| (S. 144)
Izzo wäre nicht Izzo, wenn sich aus seiner Geschichte nicht auch gesamtgesellschaftliche Rückschlüsse ziehen ließen, in denen stets auch Kritik mitschwingt. Auch dafür eignet sich „Die Sonne der Sterbenden“ wunderbar, genau wie es schon bei der „Marseille-Trilogie“ der Fall war. Izzo lässt den Leser durch die Augen des Clochards Rico die Gesellschaft von außen betrachten. Er verpasst dem Leser einen veränderten Blickwinkel, indem er ihn Ricos Perspektive einnehmen lässt. Erst eine Figur, die am Rand der Gesellschaft steht, die nicht mehr Teil von ihr ist, macht die Kritik an der Herzlosigkeit der modernen Gesellschaft besonders deutlich und schärft den Blick für die Problematik der an den Rand Gedrängten, die im gesellschaftlichen Auf und Ab irgendwann unter die Räder gekommen sind. Rico ist ein Paradebeispiel dafür: |“Rico gehörte nicht zu denen, die in Wiedereingliederungsstatistiken erfasst wurden. Andere ja, zweifellos. Glücklicherweise. Oder unglücklicherweise, wer weiß. Aber für einen, der wieder auf die Beine kam, wie viele stürzten da wohl im gleichen Moment ab?“| (S. 181)
Rico fühlt sich nicht mehr dazu in der Lage, etwas wie Liebe zu empfinden. |“Die Worte der Liebe wie „ich liebe dich“ und alle anderen, abgeschmackt und infantil, die man erfindet, waren langsam zerfasert. Sie riefen nur noch Erinnerungsfetzen hervor.“| (S. 133) Trotz der offensichtlichen emotionalen Wüste, die Rico durchwandert, merkt man der Erzählung an, dass Izzo große Gefühle mit seinen Figuren verbindet. Er zeichnet sie liebevoll und mit einem feinsinnigen Gespür für ihr Schicksal. Izzo hat eben ein großes Herz, wie seine Bücher immer wieder zeigen, nicht nur für Marseille, sondern auch für Menschen und im Besonderen eben auch für die, die am Rande stehen. Das ist eine der großen Stärken, die einem bei jedem Izzo-Roman aufs Neue ins Auge fallen.
Etwas verwirrend empfand ich im ersten Moment die Erzählperspektive. Der Ich-Erzähler bleibt dem Leser zunächst verborgen. Man weiß nicht, wer er ist, mutmaßt zunächst, es wäre vielleicht der Autor selbst, um dann beim Einstieg ins letzte Drittel der Geschichte mit Abdou in Marseille endlich den Erzähler präsentiert zu bekommen. Marseille spart Izzo sich für sein Finale auf. Mit dem erstmaligen Auftauchen Abdous vollzieht sich ein Bruch. Izzo verändert den Blickwinkel mit dem Auftauchen des Jungen, was beim Lesen im ersten Moment wie ein Stolperstein (bewusst oder unbewusst) wirkt. Man fällt ein wenig aus dem Erzählfluss heraus und mich persönlich hat dieser Bruch ein wenig irritiert. Man braucht danach einen Augenblick, um wieder in die Handlung zurückzufinden und sich wieder voll und ganz auf das Schicksal von Rico einzulassen.
Sprachlich ist „Die Sonne der Sterbenden“ ein fast typischer Izzo. Schon der Titel verheißt Tragik und Dramatik. Einerseits schreibt Izzo klar und gradlinig, ohne zu beschönigen, andererseits aber wunderbar poetisch und melancholisch. Izzo schafft es immer wieder, das Seelenleben seiner Protagonisten in perfekt passende Worte zu kleiden, ohne dabei verschwenderisch mit ihnen umzugehen. Das ist seine ihm eigene Art, die ihn neben der Leidenschaft für seine Figuren so lesenswert macht.
Izzos Figuren gehen einem so schnell nicht mehr aus dem Kopf. Man trägt Rico auch weiter mit sich herum. Ein Einzelschicksal, zweifellos, aber dennoch eines, das einem dank Izzos fabelhafter Darstellung in eindrucksvoller Erinnerung bleibt – packend und ergreifend.
Jeder kennt diesen Traum, einmal in die Rolle einer anderen Person zu schlüpfen. Für Sam bietet sich diese Gelegenheit völlig unerwartet, als sie nach dem Training im Sportsclub versehentlich zur falschen Tasche greift. Der Inhalt unterscheidet sich in jeglicher Hinsicht von ihrem Stil. Bei der wunderschönen Chanel-Jacke und den wertvollen Premium High Heels kann sie nicht widerstehen. Als sie die Kleidungsstücke anzieht, fühlt sie sich plötzlich wie ein anderer Mensch – fernab von Geldsorgen, Tristesse und ohne einen Ehemann, der statt zu arbeiten nur noch auf dem Sofa gammelt.
Nisha ist die Besitzerin dieser Sporttasche. Nach außen hin führt sie la dolce vita. Immer perfekt angezogen, makellos sitzendes Make Up, ein reicher Ehemann und ein Leben, in dem Geld keine Rolle spielt. Doch so erging es ihr nicht immer und gerade scheint dieses mühsam aufgebaute Leben erneut zu scheitern.
Die Kritiker überschlagen sich förmlich vor Lob, wenn es um „Postmann“, den neuesten Roman aus der Feder des amerikanischen Autors J. Robert Lennon, geht. Da wird Lennon schon mal als „literarisches Schwergewicht ersten Ranges“ bezeichnet (|Chicago Tribune|) oder als „Sprachkünstler mit einem abgedrehten Sinn für Humor“ (|The Times|) und „Postmann“ wird mit den schönsten Adjektiven geschmückt: „originell, authentisch, schräg, wunderbar und auf jeden Fall mitreißend“ (ebenfalls |The Times|). Kein Wunder, dass der Verlag selbst nicht davor zurückschreckt, den Roman, mit dem Lennon in den USA und England der Durchbruch gelang, als „eines der beeindruckendsten Werke der amerikanischen Literatur der letzten Jahre“ zu titulieren*. So viel Lob steckt halt an und ermuntert nicht zuletzt auch den Leser, einen genaueren Blick auf einen bis dato eher unbekannten Autor zu werfen.
Für mich ist „Postmann“ ein Roman, der im ersten Moment schwer greifbar ist. Den Handlungsbogen genau zu erfassen, erscheint zunächst nicht ganz einfach. Der Leser begleitet den neurotischen Postboten Albert Lippincott für zehn Tage. Die gegenwärtige Handlung wird dabei oft an den Rand gedrängt und Lennon verliert sich in ausgiebigen Rückblenden, die das Leben von Albert reflektieren. Der Roman zeigt sich bei näherer Betrachtung sehr vielschichtig und entwickelt dabei immer wieder eine Tiefe, die man anfangs nicht vermutet.
Hauptfigur ist also Albert Lippincott, unser neurotischer Postbote, vom Autor stets liebevoll Postmann genannt, wohnhaft in Nestor, einer kleinen Universitätsstadt im Staate New York. Zunächst schauen wir ihm an einem ganz normalen Arbeitstag über die Schulter. Es ist Freitagmorgen, er sortiert seine Post, stellt sie zu und zweigt sich den einen oder anderen Brief als Abendlektüre ab. Den Rest des Tages verbringt er auf dem wenig aufregenden Nestor-Fest, bestaunt die Attraktionen, die alle anderen auch bestaunen, und isst Hühnchensandwiches, die ihm nicht wirklich schmecken. Das klingt zunächst alles wahnsinnig unspektakulär und ist für Postmann der normale Alltag.
Doch genaugenommen ist dieser Freitag für Postmann alles andere als ein normaler Freitag. Er markiert den Beginn eines Prozesses, der sein Leben vollkommen umkrempelt. Am Ende ist nichts mehr wie es war, doch Postmann ahnt davon an diesem Morgen noch gar nichts. Erste Probleme deuten sich an, als er sieht, dass Jared Sprain, einer der Bewohner in seinem Zustellbezirk (und einer, von dem er noch einen Brief zu Hause liegen hat), tot aus seiner Wohnung getragen wird. Selbstmord – was nicht wirklich verwunderlich ist, denn Sprain war schon lange depressiv. Dennoch plagen Postmann Gewissensbisse, hatte er es doch in der letzten Woche versäumt, den Brief eines Freundes von Sprain zuzustellen, in dem dieser ihm (wie so oft) seine Selbstmordgedanken auszureden versucht. War Postmann durch das Nichtzustellen des Briefes etwa schuld an Sprains Selbstmord? Sollte nun auffliegen, dass Postmann sich die Briefe seiner Kunden „ausleiht“?
Im Laufe weniger Tage häufen sich, ausgehend von diesem Ereignis, für Postmann mehrere Probleme an, die seine kleine Welt ins Wanken bringen. Sein trostloses Wochenende über hängt er größtenteils der Vergangenheit nach, bevor sich mit Beginn der neuen Woche die Turbulenzen verschlimmern …
Das Bild, das Lennon von seinem Postmann skizziert, weckt die vielfältigsten Gefühle. Mal wirkt die Gestalt des neurotischen kleinen Briefträgers geradezu zum Lachen, mal stimmt uns seine jämmerliche amerikanische Kleinstadtwelt mit ihrem ganz normalen Wahnsinn traurig oder melancholisch. Mit einem Blick für die tragikomischen Momente im ganz alltäglichen Leben lässt Lennon die markantesten Punkte in Postmanns Dasein Revue passieren.
Wer Postmann aufgrund seines derzeitigen Lebenswandels für einfältig und beschränkt hält, der wird sich im Laufe des Buches wundern. Postmann hat sogar mal ein paar Semester studiert, bevor er seine mittlerweile 30-jährige Postkarriere startete. Postmanns Leben hat viele Facetten: sein gescheitertes Studium, seine schwierige, manchmal etwas zu ungeschwisterlich innige Beziehung zu seiner Schwester, dann seine gescheiterte Ehe mit der Krankenschwester Lenore, das etwas verkorkste Verhältnis zu seinen Eltern und nicht zuletzt eine verrückte Reise in die tiefste Provinz Kasachstans.
Lennon widmet sich dieser vielschichtigen Lebensgeschichte seines oberflächlich betrachtet eher langweiligen Charakters ausgiebig, und so sind es auch die Rückblenden, in denen mit Blick auf den Handlungsbogen die Stärken des Romans liegen. Die Gegenwart gerät dabei schon mal ein wenig ins Hintertreffen und so hatte ich gerade im Mittelteil des Romans hier und da ein wenig das Gefühl, dass Lennon etwas die Ausgewogenheit der beiden Erzählebenen vermissen lässt. Die Rückblenden sind stark, keine Frage, aber man verliert darüber in der Gegenwart hier und da ein wenig den Faden – nicht zuletzt auch, weil die Handlung in der Gegenwart streckenweise nicht so recht vorankommt.
Die Gegenwart spielt vor allem am Anfang und am Ende eine größere Rolle, so dass Lennon den Roman trotz dieser stellenweise auftretenden Gegenwartsschwäche als eine runde, größtenteils stimmige Sache gestaltet. Am Ende schafft er es, die Balance wieder herzustellen. Kern des Romans ist letztendlich die Lebensgeschichte von Postmann und die stellt Lennon ganz hervorragend dar. Thematisch ist dabei im weitesten Sinne mal wieder der viel beschworene amerikanische Traum ein entscheidendes Element, beziehungsweise sind es die Schwierigkeiten, selbigen im alltäglichen Leben zu verwirklichen.
Lennons Roman ist ein Sammelsurium verkrachter Existenzen, von denen jede auf eigene Art scheitert. Postmanns Mutter, die stets von einer großen Gesangskarriere geträumt hat, aber nur Auftritte in billigen Bars auftreiben kann. Postmanns Vater, der ein großer Wissenschaftler hätte werden können, der sich aber zunehmend in seinem Kellerlabor verkriecht und vom Familienleben kaum etwas mitbekommt. Postmanns Schwester, die ihre hart erarbeitete Schauspielkarriere nie so voranbringen konnte wie sie wollte. Und Postmann selbst, der anfangs zunächst einen vielversprechenden Weg mit seinem Studium eingeschlagen hat, der versucht alles richtig zu machen, aber im weiteren Verlauf schon an den kleinsten Dingen scheitert.
Für den Leser fällt Postmanns Scheitern unter Umständen ganz amüsant aus, denn gerade seine Figur ist so tragisch und komisch zugleich, dass man mal über ihn lachen kann, im nächsten Moment den Kopf schüttelt und ihn einen Idioten schimpfen will und im übernächsten Mitleid empfindet. Man kommt nicht umhin, Postmann mit all seinen Macken und eigenartigen Lebensweisen als schräg zu bezeichnen, und spätestens, wenn Postmann mutterseelenallein in der tiefsten Provinz Kasachstans hockt, hat man ihn ins Herz geschlossen. Lennon skizziert die Figur liebevoll und detailreich, so dass der 605-seitige Umfang des Romans durchaus angemessen erscheint – gerade auch mit Blick auf Lennons etwas weitschweifige aber mitreißende Erzählweise.
Lennons Stil braucht ein paar Seiten, bis er sich richtig entfaltet, bis man sich voll und ganz auf Figuren und Handlungsorte einlässt, aber kommt er erst einmal in Fahrt, ist er dem Anschein nach nicht mehr zu bremsen. Auf Basis einer kleinen, nahezu belanglosen Romanfigur an einem verschlafenen Ort entsteht ein Roman, der überraschend tiefgreifend und weitsichtig ist. Lennon schmückt seine Betrachtungen von Postmanns verkrachter, fast schon mickriger Existenz mit philosophischen Fingerübungen und gesellschaftlichen Überlegungen und bereichert seinen Roman damit um eine weitere interessante Facette.
Dank seines gewitzten Umgangs mit der Sprache und seines feinsinnigen, teils schwarz angehauchten Humors übermittelt er seine Ansichten und Eindrücke nachhaltig. Lennon versteht es, treffende Vergleiche zu ziehen und mit seinen ausgeklügelten Formulierungen stets den Nagel auf den Kopf zu treffen. Die Lektüre wird dadurch im Laufe der Zeit zu einem wahren Genuss. Nett verpackt in einem ironischen, gewitzten Ton, mit bildhaften Vergleichen und einer Prise Melancholie schafft es Lennon, den Leser auch sprachlich zu fesseln und einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Lennon gelingt auf diese Weise eine lesenswerte Reflexion des Lebens an sich, mit all den glücklichen Momenten und all den Lebenslügen und dem verloren gegangenen amerikanischen Traum. Man kommt nicht umhin, auch nach der Lektüre immer mal wieder an Postmann zurückzudenken. Er wächst einem trotz aller Schrullen, trotz all der merkwürdigen neurotischen Züge, die er entwickelt, eben doch nachhaltig ans Herz.
Klappt man am Ende das Buch zu und lässt „Postmann“ noch einmal in Ruhe gedanklich Revue passieren, so lässt es sich kaum umgehen, beim Blick auf all das Lob und all die positiven Worte zu Lennons Roman zustimmend zu nicken. Es ist genau so wie der |Independent| schreibt, es gelingt Lennon tatsächlich „meisterlich, die Traurigkeit und Melancholie des Alltags einzufangen“. „Postmann“ ist ein Wechselbad der Gefühle, das mit zunehmender Seitenzahl an Dramatik und Tragik gewinnt und dabei stets ein wenig schräg, sonderbar und auf seine ganz eigene Art liebenswürdig bleibt. Lennons Stil überzeugt von der ersten bis zur letzten Seite. Wer schon mit Freude Jeffrey Eugenides und Jonathan Franzen gelesen hat, für den könnte sich „Postmann“ als Glücksgriff entpuppen.
* Wobei wir nicht so spitzfindig sein und die Kompetenz des |Heyne|-Verlags mit Blick auf die amerikanische Literatur infrage stellen wollen, nur weil sie den Australier Max Barry in den Verlagsempfehlungen amerikanischer Szeneautoren auf der letzten Seite des Buches zum Amerikaner machen. Schließlich gehört Australien in [„Logoland“, 96 Barrys abgedrehter Utopie der globalisierten Welt von morgen, praktisch mehr oder weniger zu den USA. Also ist das gar kein Fehler, sondern höchstens vorausschauend …
Douglas Coupland wurde 1961 geboren und lebt heute in Vancouver. Seinen Durchbruch feierte er Anfang der 90er mit dem Kultroman „Generation X“. Es folgten die Romane „Shampoo Planet“, „All families are psychotic“, „Miss Wyoming“ und „Girlfriend in a coma“. Neben seinen fiktionalen Romanen veröffentlichte er auch Essays und Ähnliches, so auch „American Polaroids“ oder den Fotoband „City of glass“.
_Hey Nostradamus!_
Der Roman beginnt im Jahr 1988. Wir begegnen der Ich-Erzählerin Cheryl, die uns gleich zu Beginn eröffnet, dass sie tot ist. Wie es dazu kam, erzählt sie auf den folgenden Seiten. Cheryl wohnt in Vancouver und geht noch zur High School. Sie hat einen Freund namens Jason, er geht auch zur High School, ist im Gegensatz zu ihr aber in einer sehr religiösen Familie aufgewachsen. Sie lieben sich, beide möchten miteinander schlafen, Jason will davor aber unbedingt heiraten, was sie heimlich auch tun. Cheryl wird daraufhin schwanger. Eines Tages kommt es darüber zum Streit. Am selben Tag stürmen maskierte Schüler die Cafeteria und Cheryl befindet sich mitten in einem Schulmassaker, dessen Opfer sie schließlich wird. Als sie stirbt, schreibt sie noch folgende Zeilen:
|“God is nowhere. God is now here“|
Jason beendet den Amoklauf, indem er einen der Attentäter mit einem Stein erschlägt. Ende des ersten Teils, jetzt springt die Geschichte zum Jahr 1999. Jason ist nun der Ich-Erzähler und schildert das Massaker aus seiner Sicht der Dinge. Wir erfahren eine Menge neuer Dinge; so wurde Jason beschuldigt, von diesem Attentat gewusst zu haben, weil er es schließlich auch beendet hatte. Cheryl wurde wegen ihrer Botschaft zur Heiligen hochsterilisiert und Reg, der Vater von Jason, sagte, dass sein Sohn zur Hölle fahren wird, weil dieser einen Attentäter umgebracht hätte. Egal ob er damit anderen das Leben gerettet hat, Mord bleibt Mord. Daran soll auch die Ehe von Jasons Eltern zerbrechen. Seine Noten werden schlecht und die Leute fangen an, ihn zu meiden. Zwar stellte sich die Vermutung, dass Jason am Amoklauf beteiligt war, als falsch heraus, aber ein bitterer Beigeschmack bleibt natürlich immer und so begegnet der Leser einem Jason, der seinen Glauben verloren hat, nie über den Tod seiner Jugendliebe hinweggekommen ist und versucht, irgendwie durchs Leben zu kommen. Er geht den Weg des geringsten Widerstands, folglich ist er weder auf beruflicher noch auf zwischenmenschlicher Ebene erfolgreich.
Es folgen darauf zwei weitere Kapitel, das dritte führt ins Jahr 2002, diesmal erzählt Heather, die neue Freundin von Jason. Seinen Abschluss findet die Geschichte 2003 aus der Perspektive von Reg, Jasons Vater, der nun auf der Suche nach seinem inzwischen verschollenen Sohn ist.
_Hey, LESENSWERT!_
Dieses Buch ist hervorragend, da es auf mehreren Ebenen funktioniert und die Charaktere so glaubwürdig und echt wirken. Sie sind typisch Coupland. Es sind Außenseiter, zumindest werden sie das. Trotzdem kann man sich sehr gut in sie hineinversetzen, da Coupland ihre Macken nicht überzeichnet und normal wirken lässt. Durch die Erzählperspektive findet man sich zudem in der Gedankenwelt der durchweg interessanten Charaktere wieder, was zur Identifikation beiträgt.
Thematisch spielt Religion eine ebenso große Rolle wie die Frage, ob es ein Schicksal gibt, ob alles im Leben schon vorbestimmt ist, was den Titel „Hey Nostradamus“ erklärt. Für mich steht aber im Mittelpunkt, wie ein einzelnes Vorkommnis, in diesem Fall ein Schulmassaker, das Leben so vieler Menschen für immer verändert, ihr Leben sozusagen steuert. Damit sind nicht nur die Menschen, die direkt etwas mit Cheryl zu tun hatten, gemeint, sondern auch Menschen, die sie nie kannten. Jasons Leben wurde zum Beispiel extrem durch den Tod der Jugendliebe geprägt, die Ehe seiner Eltern ging deswegen auseinander und Heather, die nie etwas mit Cheryl zu tun gehabt hat, soll trotzdem dadurch beeinflusst werden, weil sie eine Beziehung mit Jason eingeht. Man kann aber noch so vieles in diesem Roman finden; so könnte man im Zusammenhang mit den Anschuldigungen gegen Jason die Rolle der Medien diskutieren, aber auch unsere Gesellschaft im Allgemeinen, die jemanden nur aufgrund von Vermutungen verurteilt.
Der Trend geht eindeutig zur Zweitfreundin, jedenfalls wenn man dem Protagonisten aus Wilhelm Genazinos aktuellem Roman „Die Liebesblödigkeit“ Glauben schenken mag. Wieso sollte der Mensch sich auch mit nur einem Partner zufrieden geben, wenn sogar von ihm erwartet wird, dass er beide Eltern liebt und sich dabei nicht auf einen Elternteil beschränken darf? Diese und andere philosophisch angehauchten Fragen sind Thema der „Liebesblödigkeit“ – ein Buch, das schon durch seinen sympathischen Titel zum Kauf verlocken kann. Erst im vergangenen Jahr wurde Wilhelm Genazino mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet und selbst das „literarische Quartett“ hatte nur Worte des Lobes für Genazino übrig; so begann der Verkauf seines neuesten Werkes mit vielen Vorschusslorbeeren.
Der alternde Ich-Erzähler der „Liebesblödigkeit“ hat bereits seit einigen Jahren zwei Freundinnen parallel, die voneinander nichts wissen. Auf der einen Seite wäre da Sandra, die als Sekretärin arbeitet und sich um die Altersvorsorge ihres Partners sorgt und ihn deswegen gerne heiraten möchte, auf der anderen Seite steht Judith, die gescheiterte Konzertpianistin, die nun als Nachhilfelehrerin ihr frustriertes Dasein fristet und den lieben langen Tag in der Straßenbahn sitzt, um von einem Schüler zum nächsten zu fahren. Beide Frauen bevorzugen Lebensweisen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten, sodass es dem Ich-Erzähler ermöglicht wird, sein Doppelleben gefahrlos aufrechtzuerhalten. Doch nun spürt er die ersten Erscheinungen des Alterns, die Krampfadern schmerzen mehr denn je und beeinträchtigen bereits den Sex im Liegen und auch sein Urin sah schon einmal besser aus. In dieser Situation kommen ihm erstmals Gedanken an die Trennung von einer der beiden Frauen. Denn was wäre, wenn er plötzlich ins Krankenhaus müsste und Sandra und Judith sich dort begegnen würden? Eine Entscheidung muss her, denn er kann nicht mehr länger mit beiden Frauen ein Verhältnis haben, auch wenn dieses Arrangement doch so praktisch ist. Als Sandra ihm schließlich einen Heiratsantrag macht, gerät unser Frauenheld in eine Zwickmühle.
Finanziell hält der Ich-Erzähler sich mit Seminaren über die Apokalypse über Wasser, ein Thema, das aktueller denn je zu sein scheint, sodass sich seinem Seminar in der Schweiz kurzentschlossen einige Rentner anschließen, um seinen spannenden Vorträgen lauschen und mit ihm über apokalyptische Themen diskutieren zu können. Den Erzähler erfreut dies, sichern die neuen Seminarteilnehmer ihm doch freie Kost und Logis im Hotel.
Gleichzeitig beobachtet der Erzähler genauestens seine verkommende Umwelt und kommentiert diese mit meist scharfen Worten. Auf diese Weise wird zunehmend das Elend dieser Welt deutlich, das sich oft schon in den kleinen Gesten widerspiegelt. Nebenbei tauchen immer wieder skurrile Gestalten wie Schockforscher und auch Ekelreferenten auf, die mit ihren gewagten Thesen die Welt verbessern wollen. Im Laufe der Geschichte gibt der Erzähler darüber hinaus viele Informationen über sich und seine Vergangenheit preis, der Leser lernt seine Exfrau Bettina kennen und erfährt die Gründe für das Scheitern ihrer Ehe. Am Ende des Buches steht schließlich die wichtige Entscheidung über seine Zukunft aus …
Schon mit den allerersten Sätzen beweist Wilhelm Genazino sein überragendes Erzähltalent, punktgenau und präzise weiß er sämtliche Situationen und Personen zu beobachten und zu analysieren. Dabei entgeht keine Kleinigkeit seinem scharfen Auge, jede noch so vermeintliche Nebensächlichkeit findet eine Erwähnung und trägt zum Gesamtbild des Romans bei. Genazino zeichnet ohne Scheu und Rücksichtnahme ein ehrliches und teilweise sogar abstoßendes Bild von einem gescheiterten Apokalypseexperten, der seine Seminare geben muss, bis er tot umfällt, weil er sich nicht um seine Altersvorsorge gekümmert hat. Selten habe ich eine so gelungene Charakterstudie in einem Roman wiedergefunden wie in diesem, denn durch die schonungslosen Beobachtungen unseres Erzählers lernen wir mehr über ihn, als ihm lieb sein wird. In jeder noch so peinlichen und unangenehmen Situation ist der Leser dabei, sei es der Kauf der ungeliebten fleischfarbenen Stützstrümpfe oder die genaue Beobachtung seines wandelbaren Urins, nichts wird uns vorenthalten. Auch die beiden Lebenspartnerinnen werden detailliert vorgestellt und kritisiert. Wie bricht es dem Erzähler doch fast das Herz, als ihm Sandra stolz ihre talentlosen Bilder vorführt und er peinlich berührt daneben steht und diese gar nicht ansehen mag. Kein Fehler, keine Charakterschwäche wird verschwiegen, die Personen werden regelrecht seziert. Auch für seine Seminarteilnehmer hat der Erzähler oft nur Spott übrig. So versucht er immer wieder, diesen anderen Menschen zu entkommen, um seine Ruhe zu haben.
Genazino spielt mit den Sympathien der Leser, denn als Sandra bereits wie die sichere Siegerin im Liebesduell aussieht, zeigt sie ihre selbstgemalten Bilder und beweist ihr fehlendes kulturelles Verständnis, während Judith gerade auf diesem Gebiet punkten kann. Immer wieder schwankt der Leser hin und her, fiebert mal mit Sandra mit, mal mit Judith. Bis zum Schluss scheint die Entscheidung offen zu sein, wobei Sandra doch der wesentlich größere Raum im Buch zugestanden wird. Obwohl der Erzähler schonungslos ehrlich dargestellt wird mit all seinen Verfehlungen und Ansichten, werden dennoch Sympathien für ihn aufgebaut. Seine Handlungsweisen werden dem Leser verständlich gemacht, seine beiden Liebschaften werden nachvollziehbar, wie ich mir dies nie hätte vorstellen können. Der Erzähler wirkt immer mehr wie eine geradezu armselige Gestalt, die weiß, dass sie gescheitert ist. Eine Identifikation mit dem Erzähler ist über weite Strecken nicht möglich, trotzdem findet man immer wieder eigene Gedanken im Text wieder, oftmals kann man den tragischen Helden irgendwo verstehen.
Die beschriebenen Situationen muten meist völlig skurril an, besonders das Apokalypseseminar in der Schweiz springt dem Leser hierbei ins Auge. Während der Erzähler sich vorher lieblos überlegt, welche Thesen er in seinen Vorträgen anbringen kann, sind seine Seminarteilnehmer restlos begeistert. Als Leser wird man allerdings nie den Eindruck los, dass der Erzähler für seine Mitmenschen oft nur Spott und Mitleid übrig hat. Ganz am Rande lässt er den Gedanken fallen, dass er sich ebenso gut in ein anderes Themengebiet einlesen könnte, aber die Apokalypse ist beliebt und läuft gut, warum also sollte er umschwenken auf ein anderes Seminarthema? Die Apokalypse ist für ihn nur Mittel zum Zweck, um sich seinen Lebensunterhalt zu sichern, seine persönliche Überzeugung kann er jedoch gut verbergen. Trotz all der Skepsis bleibt der Erzähler von seinen apokalyptischen Studien offensichtlich nicht ganz verschont, denn häufig dringen seine gesundheitlichen Ängste durch und wir gewinnen den Eindruck, dass die Hauptfigur sich wohl etwas zu viel mit der Apokalypse beschäftigt hat.
Auch sprachlich weiß Genazino auf ganzer Linie zu überzeugen, seine Sätze klingen ausgereift und überzeugend, seine Geschichte ist einfach nett und sympathisch geschrieben. „Die Liebesblödigkeit“ ist ein kleines aber feines Stück Literatur, das leicht zu lesen, aber nicht leicht zu verdauen ist. So schnell das Buch auch durchgelesen ist, so schnell ist es noch lange nicht vergessen, denn nach Zuklappen des Buches schwirren uns viele Gedanken über das eigene Leben und die Gesellschaft durch den Kopf, sodass das Buch noch lange nachwirkt. „Die Liebesblödigkeit“ ist nicht einfach zu konsumieren, auch über das Ende sollte man nachdenken, um herauszufinden, was Genazino damit sagen möchte. Für mich ist dieser Roman dadurch schon jetzt die persönliche Entdeckung des Jahres. Wie oft habe ich beim Lesen schmunzeln müssen über die Eigenarten der Figuren, wie gut habe ich mich unterhalten gefühlt, dieses Buch werde ich sicherlich bald ein zweites Mal lesen.
„Die Liebesblödigkeit“ erzählt auf den ersten Blick eine nette kleine Geschichte über das Leben und die Liebe, die aber schon auf den zweiten Blick deutlich mehr zu offenbaren hat. Im Mittelpunkt steht nicht so sehr die Frage nach der Trennung von einer Frau. Dieser Punkt ist nur einer von vielen, denn im Leben des Erzählers liegt mehr im Argen als nur seine |ménage à trois|. Wilhelm Genazino beweist neben seinem hervorragenden Erzähltalent auch eine scharfe Beobachtungsgabe, die nicht nur den Charakterzeichnungen zugute kommt, sondern auch für eine besondere Plastizität des gesamten Geschehens sorgt. Die auftauchenden Figuren werden teilweise richtiggehend seziert und absolut schonungslos vorgestellt. Dieser Roman hat zwar nur etwas mehr als 200 Seiten und ist zügig durchgelesen, dennoch wirkt die Erzählung lange nach. Hinter diesem fast seichten Buchtitel und kindlich wirkenden Buchcover versteckt sich eine fein erzählte Geschichte, in der es viel zu entdecken gilt. So bleibt am Ende eigentlich nur festzustellen, dass Genazino sich seine Vorschusslorbeeren vollauf verdient und seine Leserschaft absolut zufrieden gestellt hat. Nur ein einziger kleiner Wehmutstropfen bleibt zurück, denn das Ende des Romans kommt ein klein wenig zu plötzlich und an einem Punkt, an dem der Leser den tragischen Erzähler lieb gewonnen hat und gerne mehr über seine Zukunft erfahren möchte.
Ich habe geweint. Ganz ehrlich. Als die Geschichte zu Ende war, kullerten mir Tränen die Wangen hinunter. Das war mir noch nie passiert. Im Kino ja. Man kommt nicht umhin, hier und da mal auf die Tricks des Hollywoodkinos hereinzufallen und in die Gefühlsfalle zu tappen. Aber bei einem Buch? Nein, bei einem Buch war mir das noch nie passiert. Nur bei Anna Gavaldas neuem Roman „Zusammen ist man weniger allein“. Dabei drückt sie doch gar nicht auf die Tränendrüse, hebt keine hinterhältigen Gefühlsfallen in einem kitschbehangenen Plot aus und winselt nicht um Mitleid für ihre schicksalsgebeutelten Figuren. Warum also gleich anfangen zu heulen? Eine schwierige Frage, also verliere ich vielleicht lieber erst einmal ein paar Worte zur Handlung.
Die Phantasie der Menschen regt sich schaudernd, aber neugierig, wenn die Frage in den Raum geworfen wird: Was wäre, wenn du der letzte Mensch auf Erden wärst? Die Antworten auf diese Frage könnten unterschiedlicher und teilweise dümmer nicht sein. Wenn man der letzte Mensch auf dieser Welt ist, muss man alle Handwerksberufe in sich vereinen, um zu überleben. Strom, Heizung und warmes Wasser gibt es nicht mehr. Es gibt keinen Arzt, der Krankheiten heilt, keinen Bäcker, bei dem man Brötchen kaufen kann, es gibt nicht mal jemanden, der einem zuhört.
Entweder lernt man, mit der Natur zu leben oder man gibt sofort auf und sucht sich einen Baum mit einem starken Ast, der sehr hoch ist.
Die Protagonistin aus Marlen Haushofers „Die Wand“ gibt nicht auf. Sie ist zu Besuch bei ihrer Kusine und deren Mann. Sie ist zu Besuch in einem Jagdhaus, das in einem Kessel liegt, umringt von Bergen und Wald. Sie ist zu Besuch, als die Wand sie vom Rest der Welt trennt und sie zur wahrscheinlich einzigen Überlebenden macht. Ihre Kusine und deren Mann sind ins Dorf gegangen und als sie nicht wieder zurückkommen, macht sie sich in Begleitung des Jagdhundes Luchs auf den Weg und stößt auf eine unsichtbare Barriere, die einfach so da ist. Ohne Sinn, ohne Logik und vor allem ohne Erklärung.
Im ersten Moment völlig verwirrt, hält sie die Wand für eine Illusion, eine Sinnestäuschung, wieder einen Moment später ist die Wand eine militärische Waffe, eingesetzt von einer unbekannten Siegermacht, die sicherlich bald feststellen wird, dass sie irgendetwas nicht verstanden hat und nicht da sein dürfte, wo sie jetzt ist: Auf der anderen Seite der Wand. Auf der Seite, wo alles lebt, wo Vögel ohne Vorwarnung gegen die Wand geflogen sind und jetzt halb zerfetzt am Boden liegen. Auf der Seite, wo die Vögel nicht einfach so vom Himmel gefallen sind und die Menschen nicht in ihrer letzten Haltung erstarrt sind, als wäre plötzlich die Atmosphäre verschwunden. Auf der Seite, wo Luchs nun ihr einziger Freund wird und Angst ihre größte Herausforderung.
Als sie den Bericht beginnt, lebt sie bereits mehrere Jahre alleine im Jagdhaus. Sie glaubt nicht, dass ein menschliches Auge ihre Worte jemals lesen wird. Sie schreibt, um sich einen letzten Rest Menschlichkeit zu bewahren, sieht sich aber selbst, wie sie eines Tages das Geschriebene findet und es animalisch zerfetzt. Sie schreibt auf alte Kalenderrückseiten, um nicht wahnsinnig zu werden.
Innerhalb kurzer Zeit wird Luchs vermenschlicht. Auch die alte Katze, die sich eines Tages bei ihr einnistet, wird zum Menschersatz. Zusammen mit der Kuh Bella, die sie auf einem Erkundungstrip findet, schmelzen die drei zu einer neuen Familie zusammen.
Ihre echte Familie existierte sowieso schon lange nicht mehr. Ihr Mann war vor mehreren Jahren gestorben, ihre Kinder waren längst erwachsen und ihr komplett entfremdet, als die Wand die Scheidung endgültig machte. Sie mochte ihre Kinder als Erwachsene sowieso nicht leiden. In ihrer Erinnerung bleiben sie klein und brauchen ihre Mutter noch. Nun brauchen die Tiere sie. Die Kuh stellt sie alleine vor große Probleme. Sie braucht einen Stall und nach kurzer Zeit keimt der Verdacht auf, dass das Tier trächtig ist.
Sie muss sich um Nahrung kümmern. Sie hasste es schon immer, Tiere zu töten, doch nun ist sie gezwungen, auf die Jagd zu gehen. Dankbar für einen kleinen Vorrat an Bohnen und Erdäpfeln, beginnt sie den Ackerbau zu lernen. Sie lernt, an Rückschlägen, an ihrer mangelnden Kraft, Intelligenz und Courage nicht zu verzweifeln, sondern erneut das Haupt zu heben und verbissen weiterzumachen. Sie lernt das Überleben für sich und ihre Tiere. Und um sie herum hält die Wand, hinter der es offenbar kein Leben mehr gibt, den Tod von ihr fern.
Sie hat keinen Namen, denn in einer Welt, wo sie niemand mehr rufen kann, ist ein Name bedeutungslos geworden. Bedeutung haben nur noch der Wald, die Tiere und ihre Gedanken, die in ihrem Erlebnisbericht herumspringen wie Flöhe auf einem Hundefell. Ihre Worte sind einfach – sie selbst hält sich für eine Frau durchschnittlicher Intelligenz. Doch gerade diese Einfachheit ist schmerzhaft eindringlich. Ihre sprunghafte Analyse der zwei Leben, vor und nach der Wand, klingt hart und abgestumpft und ist doch nur ein Resultat der Distanziertheit – wer soll ihr schon einen Vorwurf machen, wenn sie ihre Kinder als heranwachsende, gefühlskalte Monster sieht? Sie fühlt sich befreit von den Zwängen und Regeln, die andere Menschen ihr aufgedrückt haben. Es gibt keine Menschen mehr und nun kann sie sich selbst die Wahrheit eingestehen: Irgendwie ist die Wand doch das Beste, was ihr widerfahren konnte.
Doch Menschen können nicht ohne andere Menschen leben. So werden die Tiere ihre Gefährten. Der Hund, der ihr bedingungslos vertraut und sie beschützt, sie aufmuntert, sie rüffelt. Die Katze, die launisch mit Zuckerbrot und Peitsche spielt und sie emotional am meisten berührt. Die kleinen Katzen, die ihre Kinder werden und ihr alle wieder genommen werden. Sie nimmt sich vor, ihr Herz nicht wieder zu verlieren und kann doch nichts gegen den nächsten Wurf unternehmen. Sie lernt, dass Abschied nehmen nun einmal mit ihrem neuen Leben untrennbar verbunden ist.
Bella, die Kuh, die ihr größtes Sorgenkind und ihre Nährmutter ist. Bella, die ihr Stier als neuen Sohn gibt, um den sie sich kümmern kann. Bella ist Segen und Fluch zugleich, denn gerade die Kuh zeigt ihr mit ihren Anforderungen, wie klein und schmächtig und unzulänglich sie ist. Und gerade die Kuh treibt sie immer wieder an, noch mehr zu schaffen.
Marlen Haushofer veröffentlichte „Die Wand“ im Jahre 1963. Zu dem Zeitpunkt war sie 43 Jahre alt, verheiratet, geschieden und mit dem gleichen Partner erneut verheiratet. Sie hatte bereits die Novelle „Das fünfte Jahr“ veröffentlicht, für die sie mit dem Staatlichen Förderungspreis für Literatur ausgezeichnet wurde.
Mit „Die Wand“ schuf sie ihr Lebenswerk.
Eingezwängt von den Erwartungen ihrer Familie, floh sie sich ins Schreiben, schuf sich ihre Wand, die sie gegen die Menschen abschottete. In der Natur und in ihrer Arbeit fand sie vorübergehende Erfüllung – wie ihre Heldin in dem Roman. Ihre Sprache ist trostlos und wunderschön, teilt Empfindungen in ihrer höchsten und reinsten Form mit. Der Leser wird mit einer Identitätskrise konfrontiert, die ihn selbst tief erschüttert und ihm zeigt, wie sinnlos und töricht die meisten menschlichen Wünsche und Erwartungen sind. Natürlich kommt unterschwellig die Frage nach dem Sinn des Lebens zum Tragen und das ist bei diesem Roman äußerst legitim. Denn „Die Wand“ zeigt eine neue Einschätzung des Lebens, die unweigerlich zum Nachdenken führt. Hinzu kommt eine unheimliche, düstere Atmosphäre, die schwermütig und hoffnungslos ins Gehirn des Lesers schleicht und gleichzeitig doch von so viel Freiheit und Schönheit spricht, dass einem das Herz noch schwerer wird.
Marlen Haushofer starb im März 1970 an Krebs. „… ein Abschied ohne Bedauern, sachlich-entrückt: fixiert in ihrem geistigen Vermächtnis, luzid ob seiner Erkenntnis und Selbsterkenntnis:
‚Mach dir keine Sorgen. Du hast zuviel und zuwenig gesehen, wie alle Menschen vor dir. Du hast zuviel geweint, vielleicht auch zuwenig, wie alle Menschen vor dir. Vielleicht hast du zuviel geliebt und gehasst – aber nur wenige Jahre – zwanzig oder so. Was sind schon zwanzig Jahre? Dann war ein Teil von dir tot, genau wie bei allen Menschen, die nicht mehr lieben oder hassen können.'“ (Zitat aus dem Nachwort von Klaus Antes)
„Die Wand“ ist das einzige Buch, das ich bisher von der österreichischen Autorin gelesen habe, aber dafür geht es mir nicht mehr aus dem Kopf. Nur wer wirklich an hoher literarischer Kunst interessiert ist, an einer Psychoanalyse auf poetischem Niveau, nur der sollte dieses Werk zur Hand nehmen und sich auf einen einzigartigen Ausflug in ein Jagdhaus in einem Kessel zu Füßen von Bergen und mitten im Wald, ganz allein mit sich und einigen herzgewinnenden Tieren, begeben. Denn so könnte es sich anfühlen, der letzte Mensch auf der Welt zu sein.
Ein alter Mann erzählt von einem verschollenen Entdeckerschiff, will aber vor allem Zeugnis über sein Leben und einige düstere Geschehnisse ablegen … – Vorgeblich ist dies eine Abenteuergeschichte mit Krimi-Elementen, was der Verfasser geschickt als Köder für seine Leser einsetzt, denn primär geht es hier tatsächlich um eine Lebensgeschichte, die jedoch sowohl spannend als auch so geschrieben ist. James Bradley – Wrack weiterlesen →
Annett lebt ein glückliches Leben: Mit ihrem Mann Volker steuert sie auf die Silberhochzeit zu, und die beiden Kinder sind bereits aus dem Haus und stehen selbst mitten im Leben. Nur beruflich macht sie gerade eine Durststrecke durch: Sie bewirbt sich in einem Bamberger Verlagshaus um eine Stelle als Mediengestalterin, da ihre alte Stelle nur eine befristete Elternzeitvertretung war. Sie hat kein gutes Gefühl bei dem Vorstellungsgespräch, auch wenn sie den Job zu gerne hätte.
Um sie aus ihrer Verzweiflung zu holen, bietet ihr Mann Volker, der erfolgreich als Makler arbeitet, eine Stelle in seinem Büro an, die nach dem Selbstmord einer Mitarbeiterin noch nicht neu besetzt ist. Annett zögert: Sie ist zwar glücklich mit Volker, aber Tag für Tag zusammenarbeiten mag sie nicht mit ihm, außerdem sucht sie eine Stelle in einem anderen Bereich.
Um sich selbst zu finden, nimmt sie sich eine kurze Auszeit und fährt in ihre frühere Heimat Wismar. Doch dort reißen alte Wunden auf. Annett denkt an alte Zeiten zurück, an die Clique von fünf Freunden, die im Sommer 1988 viel Zeit zusammen verbracht hat. Und sie denkt an Mischa, mit dem sie einen Sommer lang sehr glücklich gewesen ist.
Inzwischen weiß sie, dass einer der Clique zum Verräter wurde, der vieles zerstört und auch Annetts Leben in ganz neue Bahnen gelenkt hat. Mit 28 Jahren Abstand möchte sie nun herausfinden, was damals geschehen ist – sie ahnt nicht, welche Flut von Ereignissen sie damit herauf beschwört… Ellen Sandberg – Das Unrecht weiterlesen →
„Lola“ erzählt 13 Geschichten von Liebe und Wollust, von Verführungen und Verirrungen, Träumen und sinnlichen Genüssen, heimlichen Wünschen und Ausbrüchen wilder Leidenschaft – Geschichten von den Frauen einer Stadt, die wie keine andere mit den Liebenden im Bunde ist. (Verlagsinfo) Régine Deforges – Lola. Erotische Variationen weiterlesen →
Nach einem langen Auslandsaufenthalt in Französisch-Indochina kehrt ein Mann Anfang der sechziger Jahre wieder in seine Heimat zurück. Dort tritt er das Erbe seiner mit 26 Jahren während eines Gewitters vom Blitz erschlagenen Tante Marie an. Nur einen Monat zuvor war deren Gatte Edouard gestorben. In einem Schreibtisch entdeckt er in einem Geheimfach das erotische Tagebuch seiner Tante. Soll er die Aufzeichnungen, die eine verliebte Frau vor eineinhalb Jahren niedergeschrieben hat, vernichten, aufbewahren oder nach 20 Jahren veröffentlichen?
Er schreibt:
„Obwohl der Text obszön und manche Szenen nur schwer erträglich sind, fand ich, dass er in seiner schonungslosen Offenheit eine der schönsten Liebesgeschichten darstellt, die zu lesen mir vergönnt war.“